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Kapitel 1

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Die Sonne brannte bereits den ganzen Tag unaufhörlich auf die Domstadt und das obwohl es schon Herbst war. Es war der 09. Oktober 2012 und ich saß mal wieder in einer dieser Programmierschulungen in einem luxuriösen Herrenhaus am Ufer des Rheins etwas außerhalb der Innenstadt und war froh, dass man es irgendwie geschafft hatte, die Räume mit einer Klimaanlage auszustatten. Ohne diese hätte ich längst aufgegeben, wäre an den Rhein gegangen und hätte meine Füße im Wasser abgekühlt. Seit meinem Jobwechsel war ich schon sehr oft hier gewesen und es half mir in eine sehr komplexe Welt der Programmierung einzusteigen um damit den Anforderungen meines Jobs gerecht zu werden. Bei meinem Vorstellungsgespräch hatte ich großspurig erklärt, dass ich affin in der Analyse von Zahlen war und mich gerne in Zukunft in diese Richtung entwickeln würde. Ich war allerdings nicht darauf vorbereitet, dass ich dafür gefühlt ein Informatikstudium absolvieren musste und auch sonst in eine ganz neue berufliche Welt eintauchen würde. Aber ich wollte ja unbedingt eine berufliche Veränderung und Ela hatte mich bei diesem Vorhaben unterstützt und mich darin bestärkt, diesen Weg zu gehen, auch wenn er in der Anfangszeit sehr steinig werden sollte.

Ich blickte aus dem Fenster und machte mir Gedanken, was Ela und ich nach der Schulung am Nachmittag mit dem wunderschönen Tag noch anstellen könnten. Bis ich wieder zu Hause sein würde, wird es schon früher Abend sein, die Temperaturen aber bis dahin auf ein Niveau gesunken sein, die einen schönen Spaziergang ermöglichen sollten. Vielleicht gingen wir im Anschluss daran in einer der Biergärten in der Nähe eine Kleinigkeit essen. Gerade an so sonnigen Tagen hatte man aber eher das Gefühl, dass der Schulungsleiter besondere Freude daran hatte, die Teilnehmer bis an ihre Grenzen zu bringen und so machte er überhaupt keine Anstalten so langsam aber sicher den heutigen Schulungstag beenden zu wollen.

Mir fiel das Treffen mit unseren Freunden am vergangenen Wochenende ein. Seitdem Jennifer und Mark eine Tochter hatten, waren unsere Treffen verständlicherweise seltener geworden und die Male wo wir uns trafen, versuchten wir immer etwas Besonderes zu unternehmen. Dieses Mal waren wir in einem mongolischen Restaurant verabredet, wo man sich sämtliche Zutaten an einem Buffet zusammenstellen konnte. Man stellte die fertigen Teller dann an eine große Kochplatte, auf der von einem Koch die Auswahl frisch zubereitet und von einem Kellner an die Tische verteilt wurde. Ela und ich waren schon öfters dort gewesen und immer wieder von der Vielfältigkeit der Speisen beeindruckt gewesen. Auch Jennifer und Mark fühlten sich sehr wohl und wir verbrachten einen sehr lustigen Abend.

Kurz bevor wir völlig übersättigt auf den Heimweg aufgebrochen waren, hatte Ela offensichtlich anhand der Speisenwahl von Jennifer bemerkt, dass sie rohen Fisch, wie Sushi, außen vor gelassen hatte.

„Sagt mal. Ihr wollt uns ja nicht zufällig irgendetwas sagen?“ fragte Ela direkt heraus. Ela gehörte nicht zu den Menschen, die große Umwege bei der Formulierung von Fragen machte, wollte sich aber bei so einem heiklen Thema auch nicht genauer fassen.

Kurz blickten sich Jennifer und Mark an. „Ja wir sind zum zweiten Mal schwanger.“ teilte uns Jennifer mit. Die Freude darüber war riesig und wir drückten beiden die Daumen, dass mit der Schwangerschaft alles so verläuft wie man es sich wünscht. Vor kurzem hatten die beiden ein Haus gekauft und aufwändig renoviert, sodass ein zweites Kind auch von den Räumlichkeiten ohne weiteres möglich war und ihre Tochter sich über ein Geschwisterchen sicherlich freuen würde.

In unserer schönen Dachgeschosswohnung, die zwar nicht klein aber aufgrund der vielen Schrägen doch räumliche Einschränkungen mit sich brachte, wären zwei Kinder undenkbar gewesen, nicht zuletzt weil es zum Erreichen der Wohnung gefühlt unendlich viele Treppenstufen zu bezwingen galt. Ela und ich hatten in der Vergangenheit zwar schon darüber nachgedacht in etwas Eigenes zu investieren, aber da kamen dann die beruflichen Veränderungen von Ela und mir dazwischen, sodass wir diesen Plan erstmal auf Eis gelegt hatten.

„Herr Schlüßel? Herr Schlüßel, möchten Sie die Aufgabe vielleicht übernehmen?“ Ich wurde schonungslos in die Realität und in den Schulungsraum zurückgeholt, als mich unser Kursleiter darum bat eine Aufgabe vor der Klasse zu programmieren und dann gemeinsam verschiedene Lösungsansätze zu diskutieren. Verdammt, sowas passierte mir normalerweise nie, aber ich sammelte meine Gedanken wieder zu diesem Thema und versuchte so gut es ging die Aufgabe vor der gesamten Runde zu bearbeiten. Die anderen Teilnehmer dieser Schulung waren ebenfalls von meinem Arbeitgeber entsendet worden und ich wollte mich auf keinen Fall vor den anderen blamieren. Die Aufgabe verlief so wie ich es mir gewünscht hatte und ich kehrte stolz wieder an meinen Platz zurück und verschwand erneut in Gedanken aus dem Fenster.

„So meine Damen und Herren. Solangsam wird mir hier auch zu warm und ich sehe, wie einige von ihnen mehr den Blick aus dem Fenster richten, als sich auf die Monitore zu konzentrieren.“ lenkte er gefühlt viel zu spät und vor allem mitten zur gefürchteten Berufsverkehrszeit ein. So machte ich mich auf den Weg zu Fuß ein ganzes Stück am Rhein entlang bis zu dem Parkplatz an dem ich mein Auto abgestellt hatte. Es war immer noch fast unerträglich heiß und ich bahnte mir den Weg zwischen unendlich vielen Absperrgittern, die für den am Wochenende anstehenden Domstadt Marathon bereits entlang der Strecke aufgestellt worden waren. Auf dem Weg befragte ich mein Handy nach einer empfohlenen Strecke nach Hause und erhielt als voraussichtliche Fahrzeit nichts Geringeres als anderthalb Stunden. Na toll, jetzt haben wir in Domstadt mal das Glück so ein Wetter im Oktober genießen zu können und ich würde den Rest des Tages in meinem Auto verbringen müssen das sich inzwischen in einen Glutofen verwandelt hatte und mich in die Staus entweder auf der Autobahn oder dem Grüngürtel einreihen dürfen. Anderthalb Stunden für fünfundzwanzig Kilometer? Das schaffte ich morgens in unter einer halben Stunde. Verdammt und das Navigationssystem rechnete solche Strecken um diese Uhrzeit auch immer etwas optimistisch. Da Ela diese Woche noch Urlaub hatte, würde sie wahrscheinlich eh nicht zu Hause sein und bereits den ganzen Tag die Sonne genießen.

Als ich von dem Parkplatz herunterfuhr, stand ich auch schon im Stau und fragte mich, ob es nicht schneller sein würde, wenn ich das Auto einfach stehen ließe und mich zu Fuß auf den Weg nach Hause machen würde. Ich rechnete im Kopf die geschätzte Dauer eines Fußmarsches bis nach Hause aus und wägte das schlimmere Übel ab. Entweder schmerzten die Füße vom Fußmarsch oder würden taub werden nach einem zweistündigen Kunststück aus Kupplung schleifen lassen und Gaspedal antippen. Meine Überlegungen brachten mich immerhin fünfhundert Meter weiter.

Warum entschlossen sich Eltern, die bereits ein Kind hatten, noch ein Weiteres Kind bekommen zu wollen? Mir fielen wieder Jennifer und Mark ein. Also ich wäre froh, wenn Ela und ich Eltern eines Kindes wären und irgendwann ,wieder eine Zeit käme, in der man keine Windeln mehr wechseln müsste und das Kind einem endlich sagen könnte, was es hatte. Ich stellte mir gerade die ersten beiden Jahre sehr anstrengend vor. Und dann nach dieser Zeit erneut ein Kind zu bekommen und diesen ganzen Aufwand erneut durchzumachen, dass konnte ich einfach nicht nachvollziehen. Die Nächte würden wieder schlaflos und davor fürchtete ich mich schon bei einem Kind. Ela und ich waren uns einig darüber gewesen, dass wir wenn überhaupt nur ein Kind bekommen wollten. Ich respektierte die Entscheidung anderer Eltern, aber für mich wäre das nichts. Vielleicht lag das aber auch an der Tatsache, dass ich froh wäre, wenn Ela und ich es überhaupt schafften ein Kind zu bekommen.

Da war es. Das Trainingsgelände unseres Heimatvereins. Ich setzte mir bei solchen Autofahrten immer Ziele und freute mich darüber wenn ich eines davon erreicht hatte. Wir dümpelten mal wieder in der 2. Liga und schlugen uns mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg gegen mir leider fast unbekannte Mannschaften durch. „Ob die es denn diese Saison schaffen werden wieder aufzusteigen und dann mal für eine längere Zeit im Oberhaus zu bleiben werden?“ säuselte ich vor mich hin. Was mögen da in diesem Wäldchen nach dem gestrigen 1:1 wieder für wahnwitzige Pläne geschmiedet werden, wo man doch nur einem Punkt vor einem Abstiegsplatz in die 3. Liga stand. Egal man war nur vierzehn Punkte hinter dem Tabellenführer, es war erst der 9. Spieltag und ich fürchtete man glaubte in der Geschäftsstelle wirklich daran mit einem Stürmer und zehn Torhütern den Aufstieg perfekt zu machen, in der neuen Saison freundlich dem üblichen Tabellenführer zuzuwinken und im ersten Anlauf Meister, Pokal- und Champions League Sieger zu werden.

Ich stand mitten auf einer hoffnungslos überfüllten Kreuzung als mein Handy klingelte. Gottseidank freute ich mich, endlich jemand mit dem ich die langweilige Zeit im Auto überbrücken konnte. „Hallo Schatz!“ hörte ich durch mein Headset Ela in frohem Ton sagen. „Na wie war Dein Tag? Bist Du schon auf dem Weg nach Hause? Ich hätte Lust nachher eine Runde spazieren zu gehen, aber erst wenn ich was gegessen habe. Wir haben nämlich Hunger!“ Ich versuchte mich an die hundertprozentig richte Wortwahl des letzten Satzes zu erinnern. Hatte Ela wirklich gesagt, wir haben Hunger? Wer war wir? Auf Besuch irgendeiner Freundin hatte ich nach so einem Tag eigentlich nicht sonderlich viel Lust und vor allem, was erwartete Ela jetzt von mir? Sollte ich nach über zehn Stunden Schulung, drei Stunden Stau und endloser Hitze erstmal den Kochlöffel schwingen, wenn ich zu Hause angekommen war? „Wer ist wir?“ fragte ich überrascht und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich irgendwie schon leicht genervt und frustriert war. „Der Hannemann und ich haben Hunger. Thommy ich glaube, ich bin schwanger!“

Was hatte Ela da gerade gesagt? Schwanger? Mich haute es im Auto fast aus dem Sitz. Seit Anfang des Jahres hatte Ela die Pille abgesetzt und seitdem versuchten wir einen kleinen „Hannemann“ zu bekommen. Irgendwie redeten wir immer vom „Hannemann“, wenn wir uns in letzter Zeit über unsere Zukunft mit einem gemeinsamen Kind unterhielten. Die Entscheidung ein Kind bekommen zu wollen, hatten wir uns nicht leicht gemacht. Abende lang hatten wir Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen und uns überlegt, wie wir unser Leben gestalten würden, wenn wir keine Kinder bekämen und wie es wäre wenn wir uns doch für ein Kind entscheiden würden. Aus meiner Sicht wurde einem das in der heutigen Zeit mit dem Kinderkriegen gleichzeitig so leicht und so schwer wie niemals zuvor gemacht. Es war ein gesellschaftliches Problem geworden, wenn man sich gegen eigene Kinder entschied und irgendwie wartete jeder darauf, dass nach der Hochzeit so schnell wie irgendwie möglich verkündet wurde, dass man ein Kind erwartete. Bekam man keins, saß man sehr schnell am Wochenende abends mit seiner Liebsten auf der Couch und guckte sich das Musikantenstadl im Fernsehen an. Die meisten mit Kindern waren am Wochenende entweder froh, das sie die Woche überlebt oder es geschafft hatten eine Betreuung zu organisieren um dann lieber etwas zu zweit zur Aufrechterhaltung der eigenen Beziehung zu unternehmen. Ohne Kinder hatte man diese Zweisamkeit von Montag bis Sonntag und das dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr. Die wenigen Menschen in meinem unmittelbaren Umfeld die man ohne Kinder kannte, waren in der Regel Singles welche noch im absoluten Partymodus schwebten und noch auf der Suche nach der richtigen Partnerin waren. Finanziell waren Ela und ich eher von der Sorte, lieber nur fünfzig Euro Dispo-Kredit, dann konnte man auch nur das Geld ausgeben was man tatsächlich hatte und dadurch hatten wir uns auch noch nicht zu dem Kauf eines Eigenheimes durchringen können.

Aber gut, man muss auch mal die Kirche im Dorf lassen. Ich spreche hier von einer zweiunddreißig jährigen Frau und einem siebenundzwanzig jährigen Mann, die seit fünf Jahren zusammen und seit drei Jahren glücklich verheiratet sind. Meine berufliche Entwicklung stand neben meinem Privatleben an vorderster Stelle, weil von irgendetwas die Zukunftspläne ja auch bezahlt werden wollten. Seit dem ich nun auch beruflich an die Zahlenaffinität herangeführt wurde, war es kein Hexenwerk die Kosten für ein Kind in den ersten Jahren hochzurechnen. Ich habe eine sehr behütete Kindheit gehabt und finde es im Nachhinein sehr wertvoll, dass meine Mutter nachmittags für mich da war. Ela und ich waren uns einig darüber, dass es nicht im Sinne des Kindes wäre, wenn man im Grunde direkt nach der Geburt wieder die Arbeit aufnehmen müsste, um sich ein Leben mit einem Kind leisten zu können. Es gibt viele begründete Ausnahmen, wo es finanziell nicht möglich ist, lange zu Hause zu bleiben, aber wir arbeiteten beide bei einem der größten Versicherungsunternehmen weltweit und nicht zuletzt mein Jobwechsel hatte die Bahnen für diese Einstellung geebnet. Zu guter Letzt hatten wir uns Gedanken über unsere aktuelle Wohnsituation gemacht und waren zu dem Entschluss gekommen, nichts übers Knie brechen zu müssen und auch gut und gerne die ersten Jahre mit Kind in der Wohnung bleiben können.

„Wirklich? Mir fehlen die Worte, Schatz!“ Mir stockte der Atem, meine Sicht wurde schlagartig durch das ansteigende Wasser in den Augen verschwommen. „Hast Du den Test gemacht, oder warum bist Du Dir so sicher?“ fragte ich. Ela hatte sich beim Essen am Samstag mit Jennifer lange Zeit darüber unterhalten, dass seit ein paar Tagen das Eintreten der Periode ausblieb, sie aber keinerlei bewusste Veränderung in ihrem Wohlbefinden feststellen würde. Letzte Woche waren Ela und ich noch im Norden im Urlaub gewesen und Ela hatte dort jeden Nachmittag eine Auszeit genommen, was eigentlich ungewöhnlich für sie war, mich aber noch lange nicht darauf gebracht hatte, dass das aufgrund einer Schwangerschaft gewesen sein könnte. Ich hatte den Gedanken vom Wochenende eigentlich schon wieder etwas in den Hintergrund verdrängt, wenn gleich wir gestern einen Schwangerschaftstest für alle Fälle gekauft hatten. Einen Test hatte Ela bereits im Sommer dieses Jahres gemacht, der aber negativ ausgefallen war. Ihre Enttäuschung war damals so groß gewesen, dass ich ihr gestern davon abgeraten hatte, direkt wieder einen Test zu machen, nur weil die Periode fünf Tage überfällig war. Man war bei sowas auf einmal hin und hergerissen. Auf der einen Seite wollte man am liebsten direkt wissen ob es funktioniert hatte, auf der anderen Seite war man maßlos enttäuscht, auch wenn man es sich anders vorgenommen hatte, wenn der Test nicht die gewünschten Balken zeigte.

„Ja, ich habe den Test den wir gestern gekauft haben, gemacht. Das Ergebnis hat keine zwei Sekunden auf sich warten lassen und die Balken haben sich sofort verfärbt. Ich muss schwanger sein! Freust Du Dich?“ fragte Ela in einem nervösen Ton. „Natürlich freue ich mich, ich kann es überhaupt nicht fassen. Jetzt ist das eingetreten, was wir uns als nächstes in unserem Leben so sehnlich gewünscht haben und auf die bevorstehende Zeit mit Dir und unserem Baby freue ich mich riesig!“ antwortete ich und blickte gleichzeitig auf das Schild welches anzeigte, dass es links in Richtung Vereinsheim ging. Jetzt war für alle Ewigkeit der Moment an dem ich erfahren habe dass ich Vater werde mit diesem Verein verbunden. Für einen überzeugten Fan des Serienmeisters gab es schönere Orte, die ich mir vorstellen könnte, aber sei es drum. Ich werde Vater, unglaublich.

Als ich auflegte und erst nachdem ich einen lauten Freudenschrei ausstieß und wie wild in einem Auto gestikulierte, bemerkte ich, dass neben mir ein Auto stand und mich der Fahrer sehr verwundert und verständnislos anstarrte. Der dachte wahrscheinlich, ich hätte die Nerven wegen der Verkehrssituation verloren, aber mein Grinsen im Gesicht müsste ihm eigentlich ein Zeichen genug gewesen sein. Wahrscheinlich hatte er in seinem Leben aber noch nie so eine Nachricht bekommen und konnte den Moment des Glückes überhaupt nicht nachempfinden. Sei es drum, mir war auf einmal die Hitze völlig egal, mein Drang nach Hause zu kommen aber ab jetzt größer denn je.

Ich gehörte eigentlich eher zu der Fraktion „das Glas ist halbleer“, aber dass die Streifen des Tests augenblicklich in Erscheinung getreten waren, ließ bei mir sogar die Unsicherheit in Optimismus umschlagen und ich versuchte mir vorzustellen, wie lange Ela schon schwanger war und wann wir das Testergebnis durch den Frauenarzt bestätigen lassen könnten.

Als ich zu Hause nach einer gefühlten Ewigkeit ankam, nahm ich Ela ganz fest in die Arme und sie zeigte mir voller Stolz den Test. Zweifellos, ich hätte nie gedacht, dass diese Teststreifen das Ergebnis so überzeugend hervorheben konnten, aber das erkannte auch ich, dass da sämtliche Farbe zum Vorschein kam, welche im ungebrauchten Zustand völlig verdeckt blieb, um ja keine Hoffnungen zu schüren wo keine sein sollten. Das hatte ich von dem ersten Test noch zu gut in Erinnerung. Am Abend drehten wir überglücklich unsere Ortsrunde und malten uns gemeinsam aus, was die Zukunft für das Baby und uns bringen würde. Ob es ein Junge oder ein Mädchen wurde, war eigentlich schon klar, da wir den Spitznamen „Hannemann“ bereits in der Vergangenheit gewählt hatten, wenn wir über ein Baby gesprochen haben. Vor allem waren wir glücklich darüber, dass der Geburtstag irgendwo im Sommer liegen würde, wie lange Ela schon schwanger war, wussten wir natürlich noch nicht.

Unsere Vorfreude war riesig, wenn gleich wir uns selbst beruhigten, da in einer Schwangerschaft auch Komplikationen vorkommen konnten und wir vor allem die Schwangerschaft durch den Frauenarzt bestätigt wissen wollten. Ela machte direkt am nächsten Tag einen Termin, der aber erst am 25. Oktober stattfand. Zwei Wochen konnten unendlich lange sein und die Anspannung war zum Ende hin kaum noch auszuhalten. Mit unseren Eltern und den engsten Freunden sprachen wir bereits am Wochenende vor der Untersuchung darüber, da wir jemanden brauchten, mit dem wir unsere Freude teilen konnten, aber auch um uns zu beruhigen, dass alles gut würde und wir nach dem Arzttermin ein erstes Bild unseres „Hannemanns“ in der Hand halten würden.

Nach schier endlosem Warten auf den wichtigen Tag, war er nun endlich gekommen. Der Termin wurde bewusst sehr spät angesetzt, aber Elas Frauenarzt war schon immer berühmt dafür, es mit der Termineinhaltung nicht so ernst zu nehmen. Schön für denjenigen, der bei ihm in Behandlung war, da er sich alle Zeit der Welt für seine Patienten nahm, schlecht für die, die in dem Wartezimmer saßen und hofften noch irgendwann mal an der Reihe zu sein. Wir wurden aufgerufen und der erste Weg ging direkt in Richtung Labor, wo Ela Blut abgenommen und derselbe Schwangerschaftstest vorgenommen wurde, wie der, den Ela vor zwei Wochen selbst schon gemacht hatte. Endlich konnte auch ich mir nun ein Bild davon machen, wie extrem schnell die Balken des Tests sichtbar wurden und ein Grinsen bei der Arzthelferin hervorrief. Es bestätigte noch einmal das was wir eigentlich schon wussten. Wir waren schwanger und erwarteten ein Kind. An diese Art der Untersuchung würde Ela sich gewöhnen müssen, denn eine Blutuntersuchung würde bei jedem Kontrolltermin gemacht und erst dann wurden wir in das Behandlungszimmer gebracht. Dr. Engels hatte eine hoch moderne Praxis mit modernster Technik und so lag Ela nach kurzer Begrüßung auf der Behandlungsliege, ich saß neben ihr und hielt ihr die Hand, in einem abgedunkelten Raum während vor uns an der Wand ein Beamer eingeschaltet wurde, der das Ultraschallbild direkt in einem riesigen Format an die Wand projektierte. Die Anspannung war zum zerreißen groß und es dauerte nicht lange bis der Ultraschallkopf sich über den Bauch bewegte und erste Bilder zu sehen waren. Ich suchte krampfhaft nach einem Bild, welches mir durch die Medien geläufig war, wenn man mittels Ultraschall ein Baby im Bauch der Mutter ausfindig machte und sah alles aber keine Umrisse eines Babys, sondern die Aufeinanderfolge hektischer Bewegungen und hier und da mal irgendetwas Pochendes. Dr. Engels veränderte ständig die Position des Ultraschallkopfes und so war es fast unmöglich ein Bild anzuschauen und zu begreifen, als bereits das nächste Bild erschien. Er sagte kein einziges Wort, was die Spannung ins unermessliche trieb und bat Ela nach einem ersten Überblick ein Kissen unter das Becken zu schieben. Was sollte das bedeuten? Neben den unerkennbaren Bildern versuchte ich den Gesichtsausdruck des Arztes zu deuten. Dr. Engels war bei seinen Untersuchungen aber schon immer sehr ernst gewesen. Erst vermittelte er einem das Gefühl er sah etwas ganz schlimmes und dann auf einmal veränderte sich sein Gesichtsausdruck in ein breites Grinsen und verkündete das Ela kerngesund war. An diesem Tag war er irgendwie anders. Er sprach gar nicht, was eigentlich überhaupt nicht seine Art war, da er immer bemüht war, die Bilder die er bei seinen Patienten machte zu erklären. Ela und ich wurden immer nervöser und irgendwann machte er an einer Stelle halt und schaute sich ein Bild sehr lange und genauestens an. Das war auch meine Chance endlich eine eigene Interpretation für das Bild zu erstellen. Ich hatte den Eindruck als wären das Bild und der pochende Impuls doppelt auf dem Bild zusehen. Erst einmal war ich für mich erleichtert, dass ich glaubte erkannt zu haben, dass Ela auch auf dem Bild schwanger zu sein schien wenngleich meine Hände immer feuchter wurden und mich die Angst plagte, ob mit dem Baby alles in Ordnung war.

Ela und ich suchten immer wieder den Augenkontakt und ich merkte wie groß ihre Angst war, dass irgendetwas nicht stimmen könnte. Nach einer Weile fing Dr. Engels an vor sich hin zu murmeln und wirbelte minutenlang über Elas Bauch und verschaffte sich ein Bild von der aktuellen Lage. Immer wieder änderte er die Einstellungen, mal war alles bunt, dann wieder schwarz-weiß, mal bewegte er sich durch verschiedene Ebenen und dann versuchte er mit dem Ultraschallkopf das Baby in eine andere Lage zu bringen. Dann kam der erste zusammenhängende Satz von ihm „Frau Schlüßel, kommen bei Ihnen Zwillinge in der Familie vor?“ Nach diesem Satz verließen sie mich. Für einen Moment hatte ich Angst, von dem Hocker neben Ela zu fallen und bewusstlos den Rest der Untersuchung zu verpassen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich schwitzte, als würde ich gerade zum Schlusssprint einer Alpenetappe mit dem Rennrad ansetzen. War das Bild, was ich eben in meiner völligen Ahnungslosigkeit gesehen und in doppeltes Pochen interpretiert hatte wirklich das, woran Ela und ich nie einen Gedanken verschwendet hatten? Zwillinge? Ela beantwortete die Frage mit einem zittrigen „Nein. Nicht das ich wüsste!“ und der Arzt verstummte erneut und schaute sich weiter die verschiedensten Bilder an. Ela und ich suchten sekündlich den Augenkontakt und versuchten in den Augen des anderen zu lesen, was dieser in diesem Moment dachte. Dann kam der alles entscheidende Satz von ihm. „Herzlichen Glückwünsch, Herr und Frau Schlüßel, sie sind tatsächlich schwanger. Ich habe aber eine noch viel schönere Information für sie als die Tatsache alleine das sie schwanger sind. So wie ich die Bilder sehe und da gibt es keinen Zweifel, werden es Zwillinge. Daher habe ich sie auch gefragt, ob Zwillinge in ihrer Familie vorkommen. Herzlichen Glückwunsch, das ist etwas ganz Besonderes!“

Es war raus. Von nun an hatten wir Gewissheit, dass wir Eltern werden. Aber nicht wie erwartet sollten wir ein Kind bekommen, sondern gleich zwei auf einmal. Ela und mir stiegen Tränen in die Augen und es breitete sich Panik aus. Die Untersuchung musste abgebrochen werden, da Ela am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand und unglaubliche Angst in ihr aufkam. Ich hatte mich so auf den Augenblick gefreut, dass uns durch einen Arzt bestätigt wurde, dass wir Nachwuchs erwarteten, aber die Information dass es Zwillinge wurden, haute uns völlig aus der Bahn und die Freude schwenkte in große Panik um. Der einzige hoch erfreute Mensch in diesem Raum war nur der Arzt. Er freute sich so sehr, dass man das Gefühl hatte, auf der Untersuchungsliege würde seine Frau liegen und er würde sich gerade selbst gratulieren, Zwillinge zu bekommen. „Jetzt beruhigen wir uns erst einmal.“ sagte er. „Zwillinge sind doch etwas ganz Besonderes auf der Welt. Denken sie mal daran wie schön es ist, dass beide immer einen zum spielen haben und nie alleine sind. Und außerdem haben sie es geschafft ihre Familienplanung mit einem Mal erledigte zu haben. Das ist doch viel besser, als nach zwei oder drei Jahren noch einen Nachzügler zu bekommen.“

Verdammt ja, Zwillinge sind etwas Besonderes, aber das Glück konnten gerne andere erleben und vor allem warum war jetzt seiner Meinung nach die Familienplanung abgeschlossen? Für Ela und mich wäre die Familienplanung bereits nach einem Kind abgeschlossen, da wir beide das Einzelkind-Dasein sehr genossen hatten und unserem einzigen Kind die volle Aufmerksamkeit zuteil werden lassen wollten. Von einem Moment auf den nächsten verfiel ich wieder in meine Zahlenwelt und sämtliche Faktoren die zu dem Entschluss geführt hatten ein Kind zu bekommen verwandelten sich von grünen Häkchen in rote Kreuze. Ela und ich bekamen zwei Kinder und das obwohl wir uns zu hundert Prozent einig waren, dass wir nur ein Kind bekommen wollten.

Die nachfolgenden Patienten im Wartezimmer würden wohl heute nicht mehr an die Reihe kommen, denn das was Dr. Engels bei uns ab dem Moment leisten musste, war wohl eher dem Aufgabengebiet eines Psychologen zuzuordnen. Er redete lange mit uns und versuchte unser erschüttertes Bild wieder in die richtige Bahn zu lenken, was ihm auch oberflächig gelang. Im Anschluss setzte er die Ultraschalluntersuchung fort und zeigte uns auch die ersten 3D-Bilder unserer Babys. Ab jetzt wich meine Angst schon mehr der Zuversicht und ich war stolz bereits die Ansätze der Gesichter und der Ärmchen erkennen zu können. Die wichtigste Feststellung machte er am Ende der Untersuchung, beiden Babys ging es sehr gut, er konnte keine Unregelmäßigkeiten erkennen und nach der Vermessung legte er sich auf die sechste Schwangerschaftswoche plus ein Tag fest. Demnach sollte der errechnete Geburtstermin der 19. Juni 2013 sein. Er redete erneut auf uns ein, dass wir uns über das Geschenk von zwei Babys freuen sollten und dass wir zusammen das alles hinkriegen würden. Zwillinge machten zwar am Anfang viel Arbeit, er war sich aber sicher so wie er Ela und mich bereits in den letzten Jahren kennengelernt hatte, dass wir das gemeinsam meistern würden und eine sehr schöne Zeit vor uns lag.

So ganz konnten wir ihm das nicht abkaufen und verließen sehr verwirrt das Behandlungszimmer und stellten uns an die Informationstheke, wo uns ein breites Grinsen von allen noch anwesenden Arzthelferinnen entgegen sprang. Die einzigen, denen es irgendwie nicht zum Grinsen war, waren Ela und ich. Wir wurden mit Infoheftchen überschüttet, in den Mutterpass wurden alle Einträge doppelt vorgenommen und der nächste Termin vereinbart. Auch der Termin lag wieder gefühlt viel zu weit in der Zukunft. Wir verabschiedeten uns, trotteten langsam und wie in Hypnose zu unserem Auto, setzten uns und fingen beide an zu weinen.

2 - Wunderkinder

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