Читать книгу Urlaubsküsse - Liebesroman - Thomas Tippner - Страница 5

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Geschafft!

Sie hatten es geschafft!

Endlich!

All das, was sie für unmöglich gehalten hatten, lag nun hinter ihnen. Der Stress, die Angst, es nicht zu bewältigen, die unendlich vielen, quälend langen Nächte, in denen einem die Gedanken gehässig zuflüsterten: Allen wird es gelingen. Nur du, du kleiner Loser, du wirst es nicht schaffen. Niemals.

Diese Zweifel hatten zugeschlagen wie Fäuste in den Magen.

Wieder und wieder.

Solange, bis man schließlich das Gefühl bekam, sich vor Aufregung, Angst und dem heillosen Chaos im Kopf übergeben zu müssen.

So war es jedenfalls für Tom gewesen. Jetzt noch, als er längst in Cala Millor am Strand war und den Alkohol wohlig warm durch seinen Kopf streichen fühlte, konnte er sich plastisch daran erinnern, wie er sich die Woche vor den Prüfungen gefühlt hatte und wie ihn die Furcht von innen heraus zerfressen hatte. Immer noch, jetzt, da alles hinter ihm lag und er mit den Jungs bis zu den Waden im lauwarmem Wasser stand, die Wellen auf sie zurollten und sich hinter ihnen rauschend am Sandstrand brachen, war es ihm, als werde er in Gedanken immer wieder in die Vergangenheit getragen. Dorthin, wo er mit versteinertem Gesicht den dicht bewachsenen Waldweg entlangging, der ihn geradewegs zur Schule führte. Der ihm so düster, so unendlich lang und nebelverhangen vorkam, wie er es sicherlich niemals gewesen war. Der sich aber an sein Empfinden anpasste und ihm das zeigte, was er in diesem Augenblick hören und sehen wollte. Da war keine Freude, dass durch den morgendlichen Tau ein Sonnenstrahl glitt, sich tausendfach glitzernd brach und Farbspektren abdeckte, die er nur jenes eine Mal gesehen hatte, als er so bekifft gewesen war, dass er meinte, fliegen zu können.

Nein, er hatte nur für die dunklen, am Wegesrand lauernden Schatten Augen und war sich sicher, dass sich dort irgendwo in der Dunkelheit einer der Lehrer versteckte, um ihn hinterrücks anzugreifen und ihn, während er von schweren Schlägen getroffen zu Boden ging, anzuschreien: „Alles für die Katz, Junge. Völlig umsonst gelernt. Wir gehen gar nicht die Themen durch, die wir dir genannt haben. Haha, du kleiner Penner. Wir lassen dich auflaufen. Das war es dann mit dem Abitur und deinen Träumen. Es wird nie was aus dir! Schriftsteller willst du werden? Vergiss es! Einmal Loser, immer Loser! Aus! Vorbei! Deine Zukunft am Arsch, Bengel!“

Geschafft …

Sie hatten es wirklich geschafft.

Unbegreiflich und doch wahr.

Tom, der die Erinnerungen nicht aus dem Kopf bekam und die aufwallenden Gefühle nicht zurückdrängen konnte, war sicher, dass da am Wegesrand wirklich etwas gewesen war. Ein Albtraum, ein Fluch, irgendetwas, das auf ihn lauerte, um ihn anzuspringen. Irgendetwas, das all seine Ängste und Befürchtungen Wahrheit werden ließ, damit er seine eigenen, negativ aufgeladenen Erwartungen erfüllen konnte.

Nicht, dass er durchs Abitur hatte fallen wollen.

Ganz gewiss nicht.

Aber wenn er sich damals mit Oliver unterhielt, der nun links neben ihm stand, das nächste Bier reingeschüttet und dabei ein lautes, zufriedenes Seufzen ausgestoßen hatte, in den Momenten war ihm das Herz in die Hose gerutscht. Dann war er wie gelähmt gewesen von der Furcht, niemals auch nur irgendetwas begreifen, geschweige denn behalten zu können. Und als dann Konrad „Conny“ Talver dazu stieß mit seiner pessimistischen, seiner merkwürdigen Art, dann war für ihn der Ofen aus gewesen.

Conny, der auch jetzt bei ihm war, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick starr aufs Meer hinaus gerichtet, war damals, in der Woche vor den Prüfungen, in sein Zimmer gekommen, als hätte er einen Blick in die Zukunft geworfen. Düster war sein sowieso immer dunkles, von Sorgenfalten dominiertes Gesicht gewesen und hatte Tom angst und bange werden lassen. Schließlich, als er dann auch noch sagte: „Es sind noch sieben Themen, die wir abarbeiten müssen und die wir niemals in sieben Tagen lernen können …“ war für ihn eine Welt zusammengebrochen.

Sieben Themen, die sie nicht in sieben Tagen lernen, begreifen und verinnerlichen konnten!

Er hätte am liebsten geheult!

Dann aber, als wäre Oliver ein Engelchen auf seiner Schulter – ein stark betrunkenes und immer nach dem Leichtsinn des Lebens suchendes Engelchen –, rief er plötzlich: „Vergiss es, Mann! Lieber einmal vom Saufen gekotzt, als gar nicht gesoffen!“

Was nicht sehr philosophisch, geschweige denn tiefgründig gewesen war. Doch es hatte etwas in Tom freigesetzt.

Er musste schmunzeln, als er daran dachte, und er war Oliver heute noch dankbar dafür, dass er damals so unbeholfen prollig geschrien hatte. Denn so war die Angst zwar nicht verschwunden, aber doch gemindert worden. Der Ruf hatte in ihm wie ein in der Nacht lodernder Feuerschein gewirkt, der die Dunkelheit vertrieb und ihn glauben ließ: Ja, ich schaffe das. Verdammt noch mal, ich werde das packen. Und wenn es nur vier oder fünf Themen sind, die ich begreife und lerne, so habe ich wenigstens die Chance von vier bis fünf zu acht, dass mein Thema kommt, anstatt null zu acht, wenn ich jetzt aufgebe!

Aufgeben?

Hatte er das wirklich so gedacht?

Jetzt, da alles bestanden war und sie ihren redlich verdienten Urlaub genossen, konnte er das gar nicht mehr glauben.

Es war ihm, als sei der Gedanke so albern, so fern, so unfassbar gewesen, dass er gar nicht mehr zu ihm passen wollte.

Aber er war damals da gewesen.

Er hatte ihn angesprungen wie eine wildgewordene Katze, die man in die Ecke drängte.

Und hatte ihn zu Boden gezwungen.

Dann aber war die Fünf-zu-acht-Erkenntnis in ihm gewachsen. So einfach, so minimalistisch, aber dennoch alles beherrschend.

Die beschissene, kleine Erkenntnis hatte alles in ihm zum Leuchten gebracht und ihm ein wenig der Furcht genommen, die ihn drohte fertigzumachen.

Und so war er dann an die Prüfung gegangen.

Von dunklen Gedanken begleitet und sicher, dass die Lehrer ihm auflauern und ihn niederringen wollten, um ihm vor Augen zu halten, was für ein elender Versager er doch war. Trotzdem hatte in ihm das kleine Licht weitergeleuchtet, das Oliver in ihm entfacht hatte.

Dafür war er ihm dankbar.

Unendlich dankbar.

Besonders, weil es eben genau jener Funke war, der ihm den Mut schenkte, einen Schritt weiter zu denken und sich auszumalen, wie schön das Leben einmal wurde.

Das Leben mit …

… und das war der nächste Punkt, weswegen er Oliver dankbar sein musste.

Louisa!

Louisa Marie Christofferson, um ganz genau zu sein.

Die Frau, die ihm den Kopf verdrehte. Die ihn dazu brachte, ein stammelnder Blödmann zu werden, der sich, sobald sie sich von ihm wegdrehte, am liebsten selbst in den Hintern gebissen hätte.

Louisa …

„Seine“ Louisa …

Und eben weil Oliver so ein Draufgänger war, hatte er sie ohne zu zögern gefragt, ob sie nach der bestandenen Abiturprüfung mit nach Mallorca fliegen wolle, um am Ballermann richtig einen draufzumachen.

Sie und ihre Freundin Katrin!

Tom, der von Olivers Idee ganz entsetzt war, war wie erstarrt gewesen. Am liebsten wäre er seinem Freund mit dem nackten Hintern ins Gesicht gehüpft, in der verzweifelten Hoffnung, ihm noch rechtzeitig den Mund zu verschließen, damit er diese unvorstellbare Frage nicht zu Ende bringen konnte.

Aber jetzt war er dafür umso glücklicher.

Ja, er schwärmte schon lange für Louisa.

Hatte sich das eine oder andere Mal abends, wenn er allein im Bett lag, überlegt, wie es wohl wäre, wenn er seinen fast nicht vorhandenen Mut zusammennahm und sie ansprach.

Doch allein der Gedanke, in ihrer Nähe zu sein und dann auch noch das Wort an sie zu richten, war für ihn absurd. Beinahe schon lächerlich.

Warum sollte sie mit ihm reden wollen?

Ihm, dem einfachen Jungen, der die Zulassung zum Gymnasium nur mit Ach und Krach bekommen hatte. Von den vielen Diskussionen mit den Lehrern auf der Grundschule ganz zu schweigen ...

Er, der nicht ansatzweise „in“ oder „cool“ war oder je in die Nähe davon kommen würde.

Obwohl er nie verächtlich auf seinen Vater geschaut hatte – der hatte seine eigene Firma gegründet –, war sich Tom bei der Vorstellung, sagen zu müssen: „Mein Vater ist einfacher Elektriker“, so klein vorgekommen. Ja, er hatte sich nicht getraut, zuzugeben, dass sein Vater Handwerker und seine Mutter einfache Kassiererin war.

Es waren einfache, bodenständige Berufe, die dazu beitrugen, dass seine beiden Geschwister und er eine bescheidene, aber doch glückliche Kindheit verbringen konnten.

Aber Louisa … So hübsch und gebildet, so ehrgeizig und elegant, wie sie war … Sie als Tochter zweier Polizisten wäre er niemals würdig gewesen.

Er hatte sich in die blond gelockte, schlanke junge Frau Hals über Kopf verliebt.

Wenn er an sie dachte, bekam er schweißnasse Hände.

Kam er in ihre Nähe, wurden ihm die Knie weich.

Und schloss er die Augen, dann sah er keinen Porsche, nicht das Tor, das er in der Bundesliga für den HSV hüten wollte.

Nein, er sah sie.

Er sah Louisa!

Meist stand sie vor ihm und lächelte ihn an, die grüngrauen Augen auf ihn gerichtet, das linke Knie angewinkelt, über das rechte geschoben, in einer Position der Unsicherheit gefangen. Dann fragte sie ihn leise: „Willst du heute Abend mit mir ausgehen?“

Das war Louisa!

Und sie war hier, mit ihm, auf Mallorca.

Und all das nur, weil Oliver seine große Klappe nicht halten konnte und seinen Penis nicht konTrollieren wollte.

Was manchmal ein Nachteil sein konnte.

Denn als er auf dem Schulhof herausposaunte: „Tom, Conny und ich fliegen nach dem bestandenen Abi nach Mallorca, wollt ihr beide nicht mit?“, war es Tom gewesen, als müsste er im Erdboden versinken.

Er stand nur da, grinste debil und zuckte hilflos mit den Schultern, während Louisa und Katrin auf sie zukamen und sie mit zur Seite gelegtem Kopf musterten.

Und dann das Lächeln!

Dieses verschmitzte, hintergründige Lächeln, das er so an ihr liebte und das ihm sagte, dass in ihrem hübschen Kopf mehr zu finden war als die Hoffnung darauf, einen Schönheitssalon zu entdecken, der ihre Haut rein und sauber hielt. Nein, es war ein Lächeln, das ihm verriet, dass sie ganz genau wusste, was Oliver mit seinem Spruch beabsichtigte.

Louisa und Katrin oder beide, gleichzeitig oder nacheinander, einmal ins Bett zu bekommen.

Ja, sie hatte ihn durchschaut und machte sich einen Spaß daraus, ihn einfach dastehen zu lassen, breit grinsend, die durchtrainierten Arme in die Hüfte gestemmt, den angedeuteten Sixpack durch das eng anliegende T-Shirt schimmern lassend und auf eine Antwort wartend. Nur, um dann zu sagen:

„Eine gute Idee!“

„Nicht wahr?!“

„Unter einer Bedingung!“

„Jede, die du willst!“, rief Oliver selbstsicher, wohl in Gedanken schon damit beschäftigt, Louisa auszuziehen.

„Fasst du mich nur einmal an, wirst du mir den ganzen Urlaub bezahlen!“

Jetzt ist es aus, dachte Tom und war einerseits enttäuscht, andererseits aber auch erleichtert.

Erleichtert, da er so nicht in die peinliche Lage katapultiert wurde, zehn Tage mit der Frau verbringen zu müssen, die ihm Tag und Nacht den Kopf verdrehte, ohne es zu wissen. Enttäuscht aus genau demselben Grund.

So paradox es klang: Als ihm bewusst wurde, dass Oliver ihn vielleicht um die einzige Möglichkeit gebracht hatte, Louisa jemals näherzukommen, fühlte er sich wie von einer Dampfwalze überrollt.

Nur um einen Moment später vor Freude insgeheim in die Luft zu springen.

Denn als sich Oliver zu ihm umdrehte und ein betretenes, beinahe entschuldigendes Gesicht machte, sah Tom seine Felle davonschwimmen. Es wusste in diesem Moment, dass er niemals, nicht eine Sekunde, mit Louisa zusammen im Flugzeug sitzen würde. Die Kehle trocken, die Augenlider halb geschlossen, in der Brust den tiefsten und enttäuschtesten Seufzer, den die Menschheit jemals gehört hatte.

Nur, um dann zu hören, wie Oliver sagte:

„Einverstanden, für dich gehe ich dann mal auf den Deal ein!“ Er nickte Louisa zu, die mit vor Traurigkeit durchtränkter Stimme sagte: „Versprochen.“

Danach schob er zwinkernd hinterher: „Du weißt nicht, was dir entgeht ...“

Louisa lachte dazu nur.

Katrin ebenso, obwohl sie neugierig ausgesehen hatte. Ja, sie hatte sich das angehört mit ihren zu einem Pferdeschwanz gebundenen braunen Haaren, dem quietschgelben Tweety-T-Shirt und der lässig nach vorn geschobenen Hüfte, als wollte sie Oliver damit bedeuten: „Angucken reicht, Baby!“

Und doch …

… da war noch etwas anderes gewesen.

Ein Blick oder ein kurzes, neugieriges Zucken in den Mundwinkeln, das zeigte, dass sie wissen wollte, ob der großmäulige Frauenheld wirklich so ein heißer Kerl war, wie er von sich selbst behauptete.

In dem Moment, wo sie Oliver den Blick zuwarf, hätte Tom schwören können, dass die beiden etwas miteinander anfangen würden.

Wie man sich doch irren konnte.

Bis jetzt, da die ersten fünf Urlaubstage verstrichen waren, waren sich beide nicht näher als eine Handtuchbreite gekommen. Obwohl sie viel miteinander lachten und scherzten, so schien es nicht, als würden sie sich auch nur irgendwie sexuell füreinander interessieren.

Was auch daran liegen konnte, dass Oliver jeden Tag damit beschäftigt war, irgendwelche jungen Frauen anzusprechen, um mit ihnen feiern, schwimmen oder Beachvolleyball spielen zu gehen.

Nicht, dass er bei jeder Frau Erfolg hatte. Aber diejenigen, die ihn „ranließen“, schienen mit Katrin so gar nichts gemein zu haben. Und Tom glaubte, dass eben genau das der Grund war, weswegen zwischen den beiden nichts zustande kam.

Katrin und Oliver mochten sich, lachten gern zusammen und veralberten die anderen - aber mehr als eben nur Freundschaft war da nicht.

Ganz im Gegensatz zu ihm und Louisa.

Jetzt noch, da er abermals eine Welle auf sich zurollen sah, da er hörte, wie Oliver die Dose zerdrückte und Conny auf der anderen Seite einen missmutigen Laut ausstieß, bekam er Magengrummeln, wenn er nur daran dachte, wie sie sich am Flughafen getroffen hatten. Er, von seinem Vater begleitet, der vor Stolz schon fast am Platzen war, sprang von seinem Stuhl, winkte wie wild und rief: „Hier, Louisa, hier sitze ich!“

Um im gleichen Moment zu merken, was er da gerade getan hatte. Er hatte sich zum Hampelmann gemacht!

Tom schämte sich jetzt noch dafür, dass er so ungestüm gewesen war.

Auch wenn eben der Ausbruch seiner Gefühle dazu geführt hatte, dass das zwischen ihnen bestehende Eis gleich gebrochen war.

Sie hatte ebenfalls gewinkt, ein fröhliches „Huhu“ ausgestoßen, um, von ihren Eltern flankiert, auf ihn zuzukommen.

Ihm war heiß und kalt zugleich geworden.

Schweiß brach ihm aus, um prompt zu gefrieren.

Alles in seinem Kopf stand verkehrt herum und ließ ihn glauben, in sich zusammensinken zu müssen.

Besonders, weil sein Vater neben ihm stand, ihm unbeholfen den Ellenbogen in die Seite stieß und murmelte: „Ich wusste schon immer, dass du einen guten Geschmack hast. Wie der Vater, so der Sohn!“

Dabei hatte er wieder stolz gegrinst, ihn aus blitzenden Augen angeschaut und darauf gewartet – ja, auf was eigentlich? Dass Tom irgendetwas erwiderte oder tat?

Tom aber hatte ihn nur angestarrt. Er hatte sich das Bild seiner Mutter ins Gedächtnis gerufen und sich ernsthaft gefragt, wie sein Dad glauben konnte, dass sie beide denselben Geschmack besaßen, was Frauen betraf.

Mag sein, dachte er bei sich, dass Dad Mom mit anderen Augen sieht. Dass sie für ihn der personifizierte Männer-Traum ist. Aber wenn ich nur daran denke, wie sie nach der Arbeit abgekämpft und müde auf der Couch liegt, um Serien zu gucken, dann finde ich sie alles andere als schön, wie Louisa es ist.

Nur um dann im nächsten Moment einen relativierenden Gedanken nachzuschieben, da er es nicht ertragen konnte, dass er schlecht über seine Mutter, die alles für ihn tat, dachte: Sie war damals ja auch sehr hübsch, wenn man sich die Bilder anschaut. Nicht mein Typ. Aber hübsch …

Sein Dad hatte übers ganze Gesicht gestrahlt, als er zuerst Louisas Mutter begrüßte und dann ihren Vater.

Die beiden wiederum hatten Tom – ganz Polizei - gemustert, in einer Art, als sei er ein Verbrecher, den es ganz genau zu analysieren galt. Ein Mann, der eine Gefahr für Leib und Seele ihrer Tochter darstellte. Besonders ihr Vater hatte Tom ganz genau ins Auge gefasst, sodass es ihm unangenehm geworden war. Was Tom wiederum dazu veranlasste, schüchtern die Hand auszustrecken und sich mit Vor- und Nachnamen vorzustellen, als wollte er ein Bewerbungsgespräch beginnen.

Fast angeekelt, als sei Toms Hand voller Eiterbeulen, hatte Martin Christofferson nach ihr gegriffen, ein unfreundliches „Morgen“ geknurrt, um ihn dann weiter anzustarren.

Ein Anstarren, wie er jetzt wusste, das ihm egal sein konnte.

Denn nachdem Louisa ihre Eltern, ebenso wie Tom seinen Vater, dazu gedrängt hatte, endlich zu verschwinden, war das Gefühl der Beklemmung und Bedrückung verschwunden. Einem durch die Hitze des Sommers wehenden Windhauch gleich, der einem Erfrischung und Linderung verschaffte.

So wie das Wasser, in dem sie gerade jetzt standen. Es umspielte ihre Beine und riss Tom hin, zu sagen: „Besser kann es nicht mehr werden!“

Was er auch damals am Flughafen gedacht hatte.

Denn nachdem ihre Eltern endlich verschwunden waren, hatten sie gleich miteinander geredet, als sei es nie anders gewesen. Als wären sie Freunde und das seit vielen Jahren.

Louisa hatte erzählt, wie sehr sie sich freute und wie schön sie es fand, einmal nicht an die Polizeischule denken zu müssen, auf der sie sich beworben hatte. Ihr Vater arbeitete dort als Ausbilder.

Und er hatte ihr – was sonst niemand außer Oliver und Conny wussten – von seinem Traum berichtet.

Schriftsteller werden.

Wider Erwarten war sie nicht in Gelächter ausgebrochen, sondern in faszinierendes Staunen.

Ja, sie hatte dagesessen, ihre schlanken, langen Beine, die in der weißen, kurzen Hose ausgesprochen malerisch und berauschend zugleich aussahen, übereinander geschlagen und hatte ihn aufgefordert, mehr darüber zu erzählen. Sie hatte ihm gelauscht, was er plante, was für Ideen er hatte und hatte dann, zu seiner Überraschung, nach seiner Hand gegriffen.

„Das ist oberaffengeil. Mach das bloß! Das ist der beste Berufswunsch, den ich gehört habe, seit wir die Schule verlassen haben. Abgesehen von Katrins Traum, Schauspielerin zu werden.“

„Schauspielerin?“

Louisa nickte, presste anerkennend die Lippen aufeinander. „Sie geht für vier Semester nach Berlin, um dort zu studieren.“

„Oh!“

„Ärgerlich für mich“, lachte sie, „weil ich dann allein sein werde. Aber geil für sie, da sie so ihren Traum leben kann!“

Und heute lebe ich meinen, dachte Tom bei sich, selig hinaus aufs Meer schauend. Er freute sich auf den Abend …

*

Der Abend konnte nicht besser laufen.

Gar nichts konnte besser sein.

Allein die Tatsache, dass er jetzt hier am Tresen stand, neben sich eine blonde, langbeinige Schönheit, die es sichtlich genoss, umgarnt zu werden, war für Oliver Grund genug, in Jubelchöre auszubrechen.

Er hatte den ganzen Abend damit verbracht, Bianca anzubaggern. Eine Studentin aus Mainz, die ihm heute Mittag aufgefallen war, als er mit Tom und Conny zusammen im Meer gewesen war, um sich auszumalen, was aus ihnen werden würde.

Einem Sonar gleich, das unaufhörlich den Meeresgrund nach Unebenheiten absuchte, so waren auch seine Blicke über die Mädchen am Strand geglitten. Mädchen, die allesamt hier waren, weil die Semester beendet waren oder sie ihre Reifeprüfung feiern wollten. Daher kamen sie ausgesprochen locker und zügellos daher. Ja, er hatte längst bemerkt, dass viele, die hier auf Mallorca weilten, an nichts anderem interessiert waren als an einem schnellen Abenteuer, einer lustigen Party und einem laxen Leben, so wie er es bevorzugte.

Das hier war genau sein Ding!

Und jetzt, da gerade „Tanze Samba mit mir“ aus den Boxen dröhnte, die Menschen grölten, tanzten und tranken, versuchte er ganz ungeniert, die Mainzerin davon zu überzeugen, wie gut es für sie sei, jetzt und hier mit ihm einen Sauren Apfel zu trinken und ihm danach einen Kuss zu geben.

Sie sollte schließlich so schnell wie möglich begreifen, was für einen tollen Fang sie gemacht hatte.

Um ganz genau zu sein, einen Fang, der ihr Leben von Grund auf verändern würde.

Ein Fang, der so fett war, dass sie davon die ganze Nacht zehren konnte.

Und so schrie er gegen die Musik an: „Hoch die Tassen und weg das Zeug!!“

Die Blonde lachte, hob das zu ihr hingeschobene Glas und prostete ihm zu, um dann ohne groß darüber nachzudenken den sauren Alkohol in sich hineinzuschütten.

Das tat sie, als hätte sie in ihrem Leben nie etwas anderes gemacht.

Sie setzte das Glas mit demonstrativ lautem Ächzen ab, wischte sich elegant, ja, beinahe verführerisch mit dem Handrücken über die Lippen und beugte sich zu Oliver. Während ihm ein Hauch ihres lieblichen Parfüms um die Nase wehte, rief sie ihm ins Ohr: „Ich bin Chantal!“

„Oliver!“

„Seid ihr schon lange hier?“

„Lange genug, um dich bemerkt zu haben“, sagte er schmierig lächelnd, ohne zu bemerken, wie plump seine Anmache war. Eine Anmache, die es ihm ermöglichen sollte, nur ein einziges Mal zwischen Chantals Beine zu gelangen, um mit ihr den besten Sex ihres Lebens zu haben.

Allein die Tatsache, dass sie gerade so dicht vor ihm stand, ihr warmer Atem sein Ohr streifte und ihr nackter Arm den seinen sanft berührte, ließ ihn glauben, verrückt zu werden.

Schon als er sie entdeckt hatte, hatte er an nichts anderes mehr denken können, als bei ihr zu sein.

Ja, er hatte sie gesehen, hatte kurz aufgestöhnt und es mit einer für ihn völlig untypischen Angst zu tun bekommen, die sich dahingehend veränderte, dass er sich straffte. Ja, es war ihm, als würde er einem inneren Impuls folgen, der ihm riet, sich mit solch einem abartigen, seine Knie weich werdenden Gedanken gar nicht mehr zu befassen. Er wischte ihn einfach beiseite, indem er sich vorzustellen begann, wie sein Leben einmal verlaufen würde.

Er sah viel.

Unendlich viel!

Frauen! Heiße Wagen! Unmengen von Geld! Eine steil verlaufende Karriere! Einfach alles, was er sich je erträumt hatte!

Und so war die Angst zur Furcht und schließlich zu einem sich im Sonnenlicht auflösenden, diffusen Nebel geworden, aus dem ihm zugewispert wurde, es besser zu machen!

Immer weiter gehen!

So war es bei ihm immer gewesen.

Spürte er Unsicherheit, musste er sich Hals über Kopf ins Abenteuer stürzen.

Egal, ob beim Lernen fürs Abitur, beim Fußball, wenn er allein auf den Torwart zulief, oder bei starken, schönen Frauen, die ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, wegstoßen konnten.

Eben diese Angst, dass diese ihn ätzend finden oder ihm intellektuell überlegen sein konnten, hatte ihn dazu getrieben, aufs Ganze zu gehen.

„Schieß den Ball da rüber“, hatte er zu Tom gesagt und auf die Gruppe Mädchen gedeutet, in deren Mitte sich Chantal aufhielt. Sie war gerade dabei, ihr Handtuch auf dem feinen, gelben Sand auszubreiten. Sie, in der weißen, knapp sitzenden Hose, die ihren apfelförmigen Hintern so einladend betonte, dass man sich zurückhalten musste, um ihr nicht auf den Po zu hauen.

Und dann ihre Beine!

Himmel!

Was waren das für Beine!

Lang, braun gebrannt, am Knöchel ein golden schimmerndes Kettchen, das Zartheit und Grazie ihrer Füße noch mehr betonte und Oliver meinen ließ, komplett den Verstand zu verlieren. Und so war er also aus dem Wasser gestampft, hin zu dem Ball, um ihn Tom zuzuwerfen.

„Du machst die besten Abschläge“, stellte er fest und erinnerte Tom daran, weshalb sie in ihrem letzten gemeinsamen Spiel gewonnen hatten. „Durch dich konnte ich das Tor erzielen.“

„Was hast du vor?“, wollte Tom wissen.

„Er will, dass du den Ball zu den Mädchen da hinten schießt und er stolpert, um in ihre Mitte fallen zu können“, sagte Conny mit gelangweiltem, geringschätzigem Ton und warf Oliver einen vernichtenden Blick zu.

„Bingo!“ Oliver grinste und tat so, als würde er auf Conny mit seinem Zeigefinger schießen.

„Echt jetzt?“ Skeptisch sah Tom ihn an.

„Tu mir den Gefallen, Alter. Ich bitte dich drum.“

„Das ist echt peinlich!“

„Die Mädels brauchen mich“, hielt er entgegen und setzte seinen Schmollmund auf.

Eine Waffe, die ihm das Aussehen eines Eichhörnchens verlieh und die jeden dazu brachte, sämtliche Vorbehalte zu vergessen.

Dass er dadurch reichlich albern aussah, hatte Tom ihm schon mehr als einmal gesagt – und dennoch das getan, worum Oliver ihn gebeten hatte. So wie auch jetzt, da er den Kopf schüttelte, lachte und den Ball aufhob, der in einem Wäschekorb gelegen hatte. Die Jungs hatten ihn sich von der Rezeption geliehen und nahmen ihn immer zum Strand mit, um allen Menschen auf der Promenade zu zeigen, dass sie es hier mit individuellen, echten und aus dem Leben gegriffenen Spinnern zu tun hatten.

Kein anderer schleppte einen Wäschekorb mit sich herum.

Nicht einmal die coolen Jungs aus Kiel, die mit ihrem Handballclub hier waren und morgens schon so laut und besoffen waren, dass man annahm, es handele sich bei ihnen um waschechte Barbaren aus einem einschlägigen Film.

Selbst die Coolsten hatten KEINEN Wäschekorb!

Die hatten Rucksäcke, Umhängetaschen oder einfach nur ihre Arme, um alles Mögliche hinunter zum Strand zu schleppen.

So sah er dann, wie Tom den Ball, der wie funkelndes Gold im Sonnenlicht strahlte, aufhob, kurz hinüber zu den Mädchen schaute und dann zu einem seiner gefürchteten Abschläge ansetzte.

Oliver sprintete los.

Er wirbelte Sand auf, stolperte über eine Unebenheit und kam dann doch noch rechtzeitig bei den Mädels an, um zu rufen: „Ich hab den Ball!“

Mit einem viel zu lauten, viel zu aufgesetzten Schrei ließ er sich in die Gruppe der Mädchen fallen.

Die kreischten wie am Spieß.

Was Musik in seinen Ohren war.

Als er sich schließlich vom Rücken auf die Seite rollte und sich das Knie hielt, fragten sie: „Alles gut bei dir?“

Bei ihm war nicht nur alles gut, bei ihm war alles bestens! Aber er würde einen Teufel tun und ihnen das sagen.

Und jetzt, da Chantal neben ihm stand, er sie anschaute und sich nicht sattsehen konnte an ihren dunklen Augen, glaubte er, im Himmel angekommen zu sein.

Sie war alles, was er heute Abend wollte.

Und so fragte er: „Noch einen?“ und sah mit einem zufriedenen Lächeln, dass sie ihm mit einem schwerer und schwerer werdenden Kopf zunickte und mit leichtem Lallen meinte: „Klar!“

„Noch einen!“, rief er dem Barkeeper zu, der soeben zwei dunkelhaarigen Frauen Cocktails gereicht hatte.

Frauen, wie Oliver – den Verstand in Testosteron versunken – feststellte, die noch heißer, noch lasziver, noch begehrenswerter waren als Chantal. Frauen, die kein T-Shirt trugen wie die blonde Mainzerin, die gerade den Kurzen anhob, sondern blankes Fleisch zur Schau stellten.

Ihre Trägerhemdchen waren ein Hauch von Nichts und bedeckten nur ansatzweise die runden, prallen Brüste. Sie ließen die Nippelchen hervorstechen, als wollten sie mit dem Stoff die kleinen, hübschen Dinger mehr betonen als verbergen.

Oliver schluckte.

Er war im Paradies …

„Prost!“, rief Chantal ihm zu, und er antwortete nur mit einem heiseren „Prost“, trank den Sauren Apfel in einem Schluck, um die Trockenheit seiner Kehle zu vertreiben, die sich in ihm ausgebreitet hatte wie die Dürre in einem Flussbett.

„Lass uns tanzen!“, rief Chantal, packte ihn am Arm, zog ihn vom Tresen weg und bemerkte nicht, dass Oliver den beiden Frauen nachstarrte. Diese zogen sich in eine dunkle, nicht von dem grell blitzenden Licht der Discokugel erleuchtete Ecke zurück und setzten sich dort, ihrer Schönheit bewusst, an einen der runden Tische.

Als wollte das Schicksal, dass er von nun an nur noch Augen für Chantal hatte, entdeckte er plötzlich Conny bei den beiden Frauen auftauchen, im Schlepptau Katrin, die hinter seinem stämmigen Körper wie verloren wirkte.

Katrin, lustiger, als Oliver es sich jemals vorgestellt hätte, rief Conny irgendetwas zu, während sie sich rhythmisch im Takt der Musik bewegte und dadurch etwas zeigte, das er selbst nicht genau beschreiben konnte.

Sie hatte etwas, das ihn verunsicherte.

Oder besser gesagt: etwas, das ihm fremd war.

Natürlich, er war ein Aufschneider, ein Großmaul, immer die Nase auf die nächste Party gerichtet.

Katrin war ihm da ähnlich, wenn auch deutlich unterschwelliger. So, als wollte sie nicht durch ihre Frechheit auffallen, sondern durch ihr Selbst.

Oliver konnte das nicht genau beschreiben.

Aber gerade jetzt, da er sie hinter Conny her tanzen sah, fiel es ihm erneut auf. Sie bewegte sich zu elegant, zu grazil, hatte die Arme in die Höhe gerissen und die Augen halb geschlossen. Den Mund zu einem verführerischen O halb geöffnet und in den Haaren eine viel zu große Sonnenblume.

Sie war …

… anders.

Und er wurde plötzlich geküsst …

… und war damit der geilste Macker auf der Welt!

*

Sie würde es zu etwas bringen!

Das wusste sie!

Woher auch immer diese Vermutung kam, Katrin wusste einfach, dass ihr Entschluss, sich in Berlin bei der Schauspielschule von Ursula Brackenhorst einzuschreiben, die einzig richtige Entscheidung gewesen war. Die beste Entscheidung ihres ganzen jungen Lebens, stellte sie jetzt fest, als sie hinter Conny her tanzte und merkte, wie sich die Blicke der Männer bewundernd und die der Frauen eifersüchtig auf sie richteten.

Nicht nur, dass sie seit mehr als drei Jahren streng Diät hielt, sich dreimal die Woche zum Sport schleppte und am Wochenende mindestens zwei Stunden schwamm, sie hatte auch schon begonnen, sich in das Thema Schauspiel einzulesen. Sie hatte sich Bücher besorgt, hatte sie studiert, sich Notizen gemacht und bei den Laiengruppen aus Bergedorf schon mehrmals auf der Bühne gestanden.

Mit Erfolg.

Jedes Mal, wenn sie nach der Vorstellung aus dem Tross der Kollegen getreten war, um sich ihren wohlverdienten Beifall abzuholen, hatte sie gemerkt, wie ihr die Herzen des Publikums zuflogen. Dass es dort unten Menschen gab, die nicht genug von ihrem freundlichen Lächeln und ihrer natürlichen, ihrer erfrischenden Art bekamen.

Und dann erst das Lob der Familie und des Freundeskreises ...

Allein die Worte ihrer Mutter, die ihr wieder und wieder sagte, wie wunderschön Katrin sprechen konnte, wie frei sie sich bewegte und wie leichtfüßig sie über die Bühne schwebte, waren Honig auf ihrer nach Anerkennung lechzenden Seele.

Eine Anerkennung, mit der sie etwas zu kompensieren versuchte, wie sie in ganz stillen, einsamen Momenten feststellte. Die versuchten, sich mehr und mehr in ihre Gedankenwelt zu drängen, um ihr dann etwas zuzuraunen, das sie bis heute nicht einmal genau verstanden hatte.

Gerade jetzt, da sie merkte, wie einer der Handballer aus ihrem Hotel mit dem Gedanken spielte, sie anzusprechen, kam der Wunsch nach Anerkennung wieder in ihr auf. Einem dem Himmel entgegenschießenden Lavastrom gleich. Sie wusste einfach, dass sie mit ihrer Art den Menschen gefiel.

Und so blieb sie dann vor einem Tisch stehen, an dem zwei hübsche Frauen saßen, die ihrer allerdings nicht würdig waren. Lasziv wackelte sie mit ihren schlanken, von dem Mini betonten Hüften und warf dem hochgewachsenen Handballer einen Schmollmund zu. Sein Barcadi-Cola-Glas in der Hand, straffte er sich, sodass man seine voluminöse Brust erkennen konnte, wie sie sich unter dem hauteng anliegenden Hemd, das bis zum Brustbeinansatz aufgeknöpft war, abzeichnete.

Er würde zu ihr kommen.

Das wusste sie.

So wie alle zu ihr kommen würden, wenn sie erst einmal in Berlin war und mit ihrer Ausbildung zur professionellen Schauspielerin begonnen hatte.

Deshalb interessierte sie das hämische Gegacker der beiden Frauen auch nicht, die irgendwas wie: „Die nimmt sich aber wichtig“ sagten oder: „Wenn ich mich so falsch zum Takt der Musik bewegen würde, würde ich mich nicht auf die Tanzfläche trauen!“

Drauf geschissen!, dachte sie amüsiert. Ich mach‘, was mir Spaß macht. Ich habe Talent. Unendlich viel davon, sodass man nicht an mir vorbeikommen wird! Ich werde eine unschlagbare Schauspielerin sein. Die Welt wartet auf mich!

„Hast du Tom und Louisa gesehen?“, riss Conny sie aus ihrer Selbstbeweihräucherungsfantasie und ließ sie verwundert zu ihm schauen. Zu dem hochgewachsenen, immer etwas plump wirkenden Conny, dessen Blicke sie bis heute nicht richtig hatte deuten können.

Louisa hatte einmal im Leistungskurs Philosophie gemeint:

„Er sieht aus, als würde er alles ganz genau analysieren, um sich dann seinen Vorteil zu sichern.“ Sie hatte sich geschüttelt. „Der ist mir unheimlich!“

Das nun nicht gerade, dachte Katrin bei sich. Aber etwas Abschätzendes, etwas Suchendes hat er schon. Er wirkt immer unzufrieden.

„Die sind raus, glaube ich“, sagte sie schulterzuckend und wartete kopfwippend - während „Ich hab ein knallrotes Gummiboot“ über die Tanzfläche dröhnte - darauf, dass der Handballer endlich zu ihr kam.

„Warum das denn?“

„Keine Ahnung. War denen vielleicht zu laut hier drinnen.“

„Wir wollten doch zusammen was trinken“, meinte er, während sein dumpf riechender Alkohol-Atem ihr übers Gesicht wehte – und sie gar nicht störte.

Nein, sie war gerade in einem Zustand, der einer Trance nahe kommen musste – falls es nicht sogar eine Trance war.

Sie war so auf sich selbst fokussiert, so unendlich mit sich im Reinen, dass sie ernsthaft anzunehmen begann, dass die Welt ihr zu Füßen lag und sie nur mit dem Finger auf jemanden deuten musste, damit er sich vor sie hinwarf und ihr sagte, dass er sie verehrte.

Allein der Gedanke daran machte sie ganz wirr im Kopf.

Zu glauben, einen Blick in die Zukunft werfen zu können, löste in ihr eine Freude aus, die sie dazu brachte, nach Connys Hand zu greifen, ihn dann mit einem Ruck zu sich hin zu ziehen und ihm mitten ins Gesicht zu sagen: „Hol mir einen Sex on the Beach!“

Conny, überrascht und verwundert, nicht dazu in der Lage, die Initiative zu ergreifen und verbal zu kontern, nickte nur unterwürfig.

„Klar“, sagte er heiser und taumelte dann mehr, als dass er ging, zur Theke, um die Bestellung auszuführen.

Und dabei, das merkte sie und genoss es sichtlich, warf er immer wieder einen verwirrten Blick in ihre Richtung und schien nicht zu begreifen, was da gerade eben über ihn hereingebrochen war.

Was Katrin jedoch verwunderte, war ein beinahe ängstlich klingender Gedanke, der sich meldete und ihr zuraunte: Hoffentlich verliebt er sich jetzt nicht in mich!

Nur um sofort einen anderen, einen alles dominierenden, herablassenden Gedanken zuzulassen, der bittersüß lächelnd feststellte: Ist er eben der Erste, dem du das Herz brichst. Hat er in zehn Jahren der Bild-Zeitung was zu erzählen, während ich mich auf den Weg mache, Hollywood zu erobern.

Obwohl sie wusste, dass der Gedanke albern war – denn welcher deutsche Schauspieler hatte es bisher wirklich nach Amerika geschafft? –, liebte sie ihn heiß und innig. Ihr war, als habe sich etwas in ihr verfestigt, das bislang nur auf schwammigem Boden gestanden hatte. Und wie damals, als sie von ihrer Mutter zu hören bekommen hatte, dass ihr Mann, Katrins Vater, die Familie verlassen hatte, fühlte sie sich auch jetzt – nur eben andersherum. Nicht niedergeschlagen, nicht dem Schicksal trotzig das Kinn entgegenreckend, sondern losgelöst und sich selbst liebend, weil sie um das Potential wusste, das in ihr steckte. Sie musste sich nur die Videos ansehen, die ihre Mutter zu Dutzenden im Regal stehen hatte, um zu wissen, was für eine Karriere sie einmal einschlagen würde.

Berauscht davon genoss sie den in ihr zirkulierenden Gedanken und stieß ein erleichtertes: „Endlich“ aus, als sie wahrnahm, wie sich der hochgewachsene Rückraumspieler in Bewegung setzte und sich mit einem siegessicheren Lächeln auf den Lippen in ihre Richtung bewegte.

Nachdem der Handballer sie mit der dämlichsten aller Fragen kontaktiert hatte - „Was machst du denn hier?“ - , hatte sie Conny schon wieder vergessen.

Während sie „Feiern“ sagte, griff sie schon nach dem Bacardi-Cola-Glas und schlug das warnende: „Ist stark und haut einen schnell um“ in den Wind.

Sollte die Mischung doch hart sein.

Was kümmerte sie das?

Nichts konnte sie umhauen.

Nicht einmal eine wirklich unangenehme, nach purem Alkohol schmeckende Bacardi-Mischung, die sie glauben ließ, ihre Speiseröhre stehe in Flammen, während ihr die Flüssigkeit brennend in den Magen rann.

Sofort musste sie husten, kniff die Augen zusammen und hätte dem Kerl am liebsten eine Ohrfeige verpasst, als sie ihn lachen hörte.

„Hab ich doch gesagt. Ist nicht für jeden!“

„Ich hab immer noch Durst“, knurrte sie und nippte noch einmal an der Mischung, um sich auf das Brennen und Ziehen in Speiseröhre und Magen einzustellen. Als hätte sie soeben den höchsten aller Berge ohne Sauerstoffgerät erklommen, reichte sie ihm das Glas zurück und bewegte sich weiter zu dem lauten und kreischenden roten Gummiboot.

„Ich bin Roland!“, stellte er sich mit weit aufgerissenen Augen vor – beinahe so, als erwartete er nun einen bewundernden Jubelchor und eine La-Olà von ihr.

Katrin nickte ihm jedoch nur zu. Langeweile fühlte sie in sich aufsteigen.

Seltsam aber war daran, realisierte sie verwundert, sie schaffte es spielend, diese zu ignorieren.

Vielleicht hab ich von Roland doch noch was zu erwarten. Eine Information, die mich weiterbringt. Die mir vermittelt, dass er jemanden aus der Schauspielbranche kennt ... Dass er weiß, wie man sich bei einer Agentur bewirbt …

So irrational dieser Gedanke auch war, sie ließ ihn zu und lächelte Roland gewinnend an, während sie darauf wartete, dass er das Gespräch fortsetzte.

„Seid ihr noch lange hier?“, wollte er wissen, während er sich ungelenk zur Musik bewegte, weil er lieber an seinem Glas nippte, als wirklich zu tanzen.

„Noch fünf Tage.“

„Cool.“

Mehr kam von ihm nicht.

Katrin merkte schon jetzt, da sie noch keine Minute miteinander gesprochen hatten, keine gemeinsame Ebene finden würden – finden konnten, um genau zu sein. Oder besser gesagt: dass Roland nicht imstande war, ein neues Thema zu anzusprechen, über das es sich lohnte, zu sprechen. Deswegen fragte sie eher pflichtbewusst als ehrlich interessiert: „Und du?“

„Drei!“ Dazu hob er die Hand, um Daumen, Zeige- und Mittelfinger in die Höhe zu halten, damit sie es visualisiert bekam.

„Und dann?“

„Wie und dann?“

„Wie geht es dann für dich weiter?“, wollte sie wissen.

„Ach so. Arbeiten.“

„Und als was?“

„Maschinenbau. In der Firma meines Vaters.“

In dem Moment, da Katrin nach einer weiteren, irgendwie sinnigeren Frage suchte, bemerkte sie, dass sich Roland noch gar nicht nach ihren Träumen und Zielen erkundigt hatte. Weswegen es aus ihr herausplatzte: „Ich werde Schauspielerin.“

„Wow“, machte Roland, ohne irgendetwas mit dem anfangen zu können, was sie gerade gesagt hatte. Er nickte zwar pflichtbewusst, ging auf das Thema aber nicht weiter ein. Er sagte nur: „Du bist hübsch!“

„Danke.“

„Hier, dein Sex on the Beach!“ Conny kam ihr gerade gelegen, um sich von dem doch alles andere als unterhaltsamen Roland abwenden zu können.

„Danke“, sagte sie erleichtert, nahm Conny das kühle Glas ab und steckte sich sofort den Strohhalm in den Mund, um den süßen, lieblichen Cocktail zu trinken und Roland damit deutlich zu signalisieren, dass sie froh war, nicht noch mehr von ihm zu hören.

„Schenk‘ ich dir“, meinte Conny und nickte Katrin in einer Weise zu, als habe er gerade eine große Geste vollbracht.

„Ich hatte auch nicht vor, den Drink zu bezahlen“, sagte sie ehrlich und war verwirrt darüber, dass Conny das so sehr betont hatte.

Nur um sich dann über gar nichts mehr zu wundern oder zu ärgern. Sie hatte einen anderen, einen noch interessanteren Mann entdeckt, der sie seit einigen Minuten auffallend offen musterte.

Wollen wir doch mal sehen, was er mir heute so bringt, dachte sie und tanzte dann in dessen Richtung.

*

Warum waren Tom und Louisa rausgegangen?

Sie hatten doch alle hier drin feiern wollen!

Nicht nur, dass Oliver schon den ganzen Abend an Chantal herumbaggerte und sich wieder einmal benahm wie der letzte Vollpfosten, nun hatte selbst die Konstante Tom damit begonnen, gegen die Verabredungen zu arbeiten.

Das hatte er nie zuvor getan.

Oder zumindest nicht so, dass es Konrad gestört hätte.

Das konnte aber auch daran liegen, dass er bisher immer das Gefühl gehabt hatte, bei Tom ein wenig freier, ein wenig unkonntrollierbarer sein zu dürfen als bei den anderen. Was ihn zusätzlich störte, war, dass er ihre Absprache deswegen missachtete, weil er mit Louisa zusammen sein wollte.

Auch das war bisher nicht der Fall gewesen …

Natürlich, der Urlaub auf Mallorca war ganz anders verlaufen als ursprünglich geplant. Da hatten Oliver, der Stürmer, Tom, der Torwart, und Konrad „Conny“ Talver, der Abwehrhüne, sich vorgenommen, allein in den Urlaub zu fliegen. ALLEIN. Ohne Mädchen.

Und noch dazu jetzt mit einem Mädchen, das Konrad ausgesprochen interessant gefunden hatte – bis zu jenem Augenblick, da er missmutig zum Flughafen gekommen war und dort sehen musste, dass Tom und Louisa in ein freundschaftliches Gespräch vertieft waren. Sie verstanden sich offenbar so gut, dass es schon beinahe Zärtlichkeit glich, wie sie miteinander umgingen.

Und jetzt verließen sie ihn auch noch.

Obwohl er das gar nicht wollte.

Wie sollte er dann sehen, was sie taten oder wie sie miteinander umgingen?

Er schnaufte böse, als er sich an Tanzenden vorbeizwängte und dann in der Ferne Oliver entdeckte, Chantal im Arm, die Zunge immer wieder in ihrem Mund und danach auf seinen Lippen ein zufriedenes, selbstgefälliges Lächeln.

Ein Grinsen, wie Conny feststellte, das er auch gern einmal gehabt hätte. Ein Grinsen, das, wenn er es aufsetzte, aussah wie eine Grimasse.

Alle anderen schienen viel glücklicher als er zu sein.

Sie alle hatten das, was er so gern hätte.

Tom hatte Louisa, Oliver das schnell abgeschleppte Abenteuer, Katrin das Selbstvertrauen, aller Welt zu erzählen, dass sie einmal Schauspielerin wurde. DIE Schauspielerin.

Und er?

Was konnte er vorweisen?

Nur ein lupenreines, einfaches Abitur, das ihn dazu befähigen würde, Medizin, Jura oder auf Lehramt zu studieren. Mehr nicht.

Bis heute hatte Conny nicht gefunden, was er gesucht hatte.

Weder in der Schule noch beim Fußball oder in seinem Schachclub. Irgendwie gab es immer etwas, das ihn an der momentanen Situation störte und ihn dazu brachte, unzufrieden zu sein.

So wie jetzt.

Am liebsten hätte er seine ganze Wut herausgeschrien und der Welt damit gezeigt, dass sie nicht alles mit ihm machen konnte, was sie glaubte. Und das war der nächste Punkt in seiner inneren Auffassung.

Das Gefühl, nicht derjenige sein zu können, der er gern gewesen wäre.

Er spielte Fußball, klar. Und er war ein rustikaler, niemals zu höheren Aufgaben berufener Abwehrspieler, der nur deshalb bei jedem Match dabei war, weil keiner seiner Mannschaftskollegen Lust hatte, in der Innenverteidigung zu stehen. Spielerisch, das wusste er, war er lange nicht so gut wie die anderen. Eher ein limitierter Holzfuß, der die auf ihn zustürmenden Angreifer mit Respekt erfüllte, wenn er schnaubend vor ihnen stand.

Conny wusste um sein Erscheinungsbild.

Hochgewachsen, breit in den Schultern und den Hüften, die Beine kurz und stämmig. Dazu von dichten, dunklen Brauen umgebene Augen, die ebenfalls düster wie die Nacht waren. Durch die vorgewölbte Stirn erschien das Gesicht klein. Es war rund und von einem dichten Bart bewachsen, sodass er mit seinen achtzehn Jahren eher aussah wie ein Fünfundzwanzigjähriger, der in einem Sondereinsatzkommando arbeitete, das sich auf das Ausschalten von Terroristen spezialisiert hatte.

Er gab zu, solch ein Job würde ihm gefallen.

Ein Job, wo die Menschen zu ihm aufblickten und er ohne Weiteres sagen konnte: „Ich rette euch, damit ihr feiern könnt.“

So jemand war er aber nicht.

Er war Conny Talver, der Abwehrspieler, der auf dem Platz stand, weil die anderen seine Position nicht wollten. Dabei wäre er auch viel lieber im Mittelfeld gewesen. Ein Rodolfo Esteban Cardoso, der das Spiel lenkte, der den entscheidenden, sämtliche Abwehrreihen in den Schatten stellenden Pass spielte.

Oder Stürmer, so wie Oliver.

Ein Mann, der sich, ohne zu zögern, in den Zweikampf stürzte und jederzeit darauf wartete, dass der passende Moment für das Siegtor kam.

Torwart wäre auch nicht schlecht.

So wie Tom. Was der dieses Jahr gehalten hatte, passte auf keine Kuhhaut. Die Saison seines Lebens hatte er gespielt und die Mannschaft mehr als einmal vor dem Rückstand bewahrt.

Er aber war niemand von diesen Jungs.

Er blieb immer nur der gemütliche, liebenswerte Conny, dem alle auf den Rücken klopften, wenn er mal wieder einen Gegner umgegrätscht hatte oder zu dem sie kamen, wenn sie seine Hilfe brauchten.

Was er sich wirklich wünschte, interessierte keinen.

Nicht einen.

Sich darum zu kümmern, wohin sie nach dem Abitur fliegen sollten, das hatten sie ihm überlassen. Dass er ihren Lehrplan aufstellte, damit sie den Stoff rechtzeitig gelernt hatten, ja, dafür war er der Beste gewesen.

Aber ihn fragen, ob er wollte, dass Louisa und Katrin mit in den Urlaub flogen – Pustekuchen!

Niemand erkundigte sich danach, was er gern wollte, geschweige denn, wohin ihn seine Wege führten. Ihm war, als würden ihm seine Eltern, seine Geschwister, seine Freunde, einfach jeder absichtlich Steine in den Weg werfen, damit er stolperte.

Gerade jetzt, während er sich durch das Getümmel der Leute in Richtung Ausgang quälte, drängte sich ihm dieser Gedanke mehr und mehr auf. Es schien, als würde in ihm eine Sonne aufgehen und ihm eine neue Sicht auf die Dinge präsentieren, so wie sie bei nebelverhangenen Tagen das dichte Grau zerfasern ließ und man wieder klar sehen konnte.

Deswegen wollte er auch zu Tom und Louisa.

Sie sollten die Ersten sein, die von ihm zu hören bekamen, was er davon hielt, dass sie ihm seine eigenen Träume kaputt zu machen begannen.

Er musste es ihnen sagen – auch wenn er damit Gefahr lief, dass Louisa sich von Tom abwandte, weil sie mit solchen Vorwürfen nicht konfrontiert werden wollte. Besonders, weil Conny insgeheim auch hoffte, dass er mit seiner Offenheit eine Tür aufstieß, die Louisa gern aufgestoßen haben wollte.

Obwohl, und das irritierte ihn zusätzlich, ihn das Intermezzo eben mit Katrin ausgesprochen stark verwirrt hatte. Er wusste nicht, wieso, aber als sie ihn an sich herangezogen und ihm den „Befehl“ gegeben hatte, ihr einen Sex on the Beach zu holen, hatte er ein merkwürdiges, ein ihm völlig unbekanntes Gefühl der inneren Aufgeregtheit gespürt.

Es war mit dem Empfinden zu vergleichen, das er gehabt hatte, als er gerade fünfzehn Jahre alt geworden war und unter dem Bett seiner älteren Schwester Zeitschriften entdeckt hatte, die sich mit Dingen befassten, die er so noch nie gesehen hatte. Da war ihm erst klar geworden, dass seine Schwester doch mehr Mensch war, als er es je für möglich gehalten hatte.

Dass auch sie körperliches Verlangen hatte wie jede junge Frau von neunzehn, die nicht wusste, auf welches Ufer des Lebens sie eigentlich gehörte. Und wie damals, als er mit zitternden Fingern die Zeitschriften hervorholte und sich die schönen Frauen betrachtete, die sich mit Vibratoren, mit Butterflys und Liebeskugeln hatten ablichten lassen, so hatte er auch bei Katrin gefühlt …

… oder vielmehr gehofft.

Gehofft, dass er ebenfalls einmal in die Verlegenheit kommen würde, dass sich eine Frau zu ihm hingezogen fühlte und sich von ihm küssen, berühren und verführen lassen wollte.

Wollte Katrin das?

Er wusste es nicht.

Deswegen hatte er auch sein Heil in der Flucht gesucht und sich zur Bar durchgeschlagen, um so viel Abstand wie möglich zwischen sie beide zu bekommen. Zusätzlich zu seiner schlechten Laune verwirrte ihn das.

Er wühlte sich weiter durch die Mengen von schwitzenden und tanzenden Menschen, die sich nicht im Geringsten dafür interessierten, ob er gerade an ihnen vorbei wollte oder nicht.

Sie tanzten und tranken einfach weiter, grölten: „Mit dem Taxi nach Paris“ - und schienen ernsthaft zu glauben, dadurch irgendetwas Besonderes zu tun.

Sie soffen und schunkelten und versuchten, Mädels oder Jungs zu beeindrucken, um diese Nacht nicht allein in ihren Betten zu liegen.

Nein, sie waren alle unwichtig. Sie richteten ihre Gedanken nicht auf die entscheidenden Punkte.

Sie waren nicht wie er.

Mit dem erhabenen Gedanken, der Einzige zu sein, der das alles hier ganz genau durchschaute, trat er dann endlich nach draußen, raus aus der Großraumdisco. Er kniff die Augen zusammen und suchte nach Tom und Louisa. Irgendwo hier mussten sie sein.

Weder standen sie an der mit Stroh verdeckten Wand und unterhielten sich leise flüsternd miteinander, noch hatten sie sich einen lauschigen Platz unter den Palmen gesucht, um sich dort eng umschlungen auf eine der zahlreichen Liegen niederzulassen wie all die anderen Paare.

Sie waren gar nicht mehr hier, wie es schien.

Sie waren fort … und er mal wieder allein.

Von all seinen Freunden verlassen, von seinen Hoffnungen weiter entfernt als jemals im Leben und sich sicher, dass sich in den nächsten Tagen alles noch verschlimmern würde …

*

So aufgeregt war Louisa noch nie gewesen.

Dabei kannte sie diese Situationen doch.

Was nicht heißen sollte, dass sie mit einem Jungen schon mehr als einmal bei lauem Wind, der vom Meer herüberstrich, an einem Strand spazieren gegangen war, der dazu noch vom klaren, milchigen Weiß des Mondlichtes erhellt wurde. Nein, das ganz bestimmt nicht. Aber sie hatte schon mehr als einmal mit einem Jungen den Abend verbracht und dabei bisher immer das Gefühl gehabt, bei so etwas eine gewisse Routine zu besitzen.

Sie brauchte nur an die sechste Klasse zu denken, wo es losging, dass sie sich für Jungen und Jungen sich für sie interessierten. Ja, damals war sie noch nervös gewesen. Aber als sie dann in der achten Klasse ihren vierten oder fünften Freund gehabt hatte und die eine oder andere Knutsch-Affäre, war sie der festen Überzeugung gewesen, ein alter Hase in dem Geschäft zu sein.

Sogar letztes Jahr, als Marc Altenburger sie zu einem Date eingeladen hatte, das letztlich auf dem Rücksitz seines Wagens geendet hatte, war sie nicht so nervös gewesen wie jetzt – und das, obwohl sie Marc ausgesprochen gut hatte leiden können. Er besaß einen gewissen Charme. War lustig und geistreich, wenn auch ein wenig zu aufgesetzt intellektuell. Das hatte wiederum ihrer Mutter ausgesprochen gut gefallen und ihren Vater zustimmend nicken lassen, als Altenburger sich bei ihnen vorstellte.

Sie aber war da anderer Meinung gewesen.

Sie wollte lieber etwas anderes.

Etwas … Sie wusste es selbst nicht.

Außerdem, und das war ihr das Wichtigste gewesen, hatte sie endlich einmal ihrem beengten und sie einsperrenden Elternhaus entfliehen wollen und hatte die kesse Frage Olivers als einen Wink des Schicksals gesehen. Ja, sie war sich sicher gewesen, dass es irgendwo jemanden gegeben hatte, der sich plötzlich an sie und ihren Kummer erinnerte. Ein Kummer, den sie immer dann verspürte, wenn sie allein mit ihren Eltern am Essenstisch saß und sie beim gemeinsamen Schweigen beobachtete. Ja, es hatte da jemanden gegeben, der sie am Leben der anderen teilhaben lassen wollte.

Und so stimmte sie zu, nachdem sie klargestellt hatte, dass Oliver sie weder berühren noch begrabschen würde, um gleich darauf zu ihrer Oma zu laufen und sie zu fragen, ob es das Sparkonto noch gab, das sie für Louisa damals eingerichtet hatte.

„Natürlich gibt es das noch, mein Schatz. Warum sollte es das denn nicht mehr geben?“, hatte sie verwundert gefragt, während Louisa bei ihr auf der neuen und doch alt riechenden Couch gesessen hatte, einen Berliner vor sich auf dem Teller und einen Kakao im Becher.

„Hätte ja sein können wegen Opa … Nun ja, du weißt schon.“

„Wegen seiner Beerdigung? Liebling, die ist doch längst bezahlt gewesen. Wir haben doch vorgesorgt“, war Omas Antwort gewesen.

Louisa hätte sich das denken können.

In ihrer Familie war immer alles abgesichert …

Alles!

Nichts wurde dem Zufall überlassen.

So hatte sie dann, schüchtern und leise, sich kaum trauend, die Frage zu stellen, danach erkundigt, ob Oma ihr den Flug und das Hotel für ihre Reise nach Mallorca bezahlen würde, weil sie so gern einmal nach Spanien wollte.

Ihre Oma hatte bezahlt.

Anstandslos.

Und sie hatte auch mit ihrem Sohn – Louisas Vater - gesprochen und ihm ins Gewissen geredet, dass solch ein Urlaub, fernab der Heimat und ohne die eigenen Eltern, zur Entwicklung eines Kindes dazugehörte und die Eigenständigkeit deutlich fördern konnte.

Worte, die wie Wasser auf den Mühlen ihres Vaters gewirkt haben mussten.

Er selbst sprach immer von Verantwortung, davon, dass Louisa ihren Weg allein gehen musste – ohne dabei zu erwähnen, dass er jeden ihrer Schritte genau überwachte, um sicherzustellen, dass sie auch das tat, was er von ihr erwartete.

So aber war er in seine eigene Falle gelaufen und hatte nur zähneknirschend seine Einwilligung geben können, dass er nichts dagegen hatte, wenn Louisa mit ihrer besten Freundin Richtung Mittelmeer aufbrechen würde.

Und sein Gesicht erst, als er sah, dass da nicht nur Katrin auf ihn wartete!

„Davon hast du nichts gesagt!“, hatte er ihr zugezischt, als sie in die große Halle des Hamburger Flughafens getreten waren und Tom sofort wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen war. Er hatte so verunsichert gewirkt wie ein kleiner Junge, der zum ersten Mal bemerkte, dass sich Männer und Frauen in gewissen Merkmalen ausgesprochen auffällig voneinander unterschieden.

Wie niedlich er da wirkte.

So hilflos.

So allein, obwohl sein Vater bei ihm war.

Der irgendetwas zu ihm sagte, das Tom nicht gefiel, da der danach ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter machte und aussah, als wollte er so schnell wie möglich in den Flieger steigen, um so viel Distanz wie möglich zwischen sich und seinen Vater zu bringen.

Wobei Tom für alles dankbar war, was sein Dad für ihn getan hatte. Das hatte er mehr als einmal betont, wenn er einen getrunken hatte.

„Er macht mir immer Mut“, hatte er erst gestern verraten, nachdem Oliver wieder einmal dazu aufgerufen hatte, eine Runde Kurze in sich hineinzuschütten, damit der „Abend erst mal so richtig anfangen kann“.

Unter anderem das war es, was sie so sehr an Tom faszinierte.

Er konnte Dinge aussprechen, die für sie unmöglich waren.

Während er in sanfter Hochachtung von seinen Eltern sprach, fühlte sie ihren gegenüber eine ausgesprochene Leere, die ihr körperlichen Schmerz bereitete. Was nicht bedeuten sollte, dass sie ihre Eltern nicht liebte.

Ganz gewiss nicht!

Sie vergötterte ihre Eltern.

Doch weil sie eben alles kontrollierten, alles ganz genau planten und keinerlei Gehör für die wirklichen, die innigen Wünsche ihrer Tochter hatten, war sie ihnen gegenüber so distanziert, dass sie manchmal meinte, mit Fremden an einem Tisch zu sitzen.

Außerdem, und das war noch wichtiger als Toms ehrliche Kommentare, schaffte er es, dass sie sich in seiner Nähe wohlfühlte.

Dass sie nicht glaubte, dass er das, was er tat, nur machte, weil er sie einmal ins Bett bekommen wollte.

Nein, er wirkte bei allem, was er sagte und wie er sich ihr gegenüber benahm, als käme es von Herzen.

So wie eben, als er sie auf einen Sekt einlud und sie dann fragte – gefolgt von einer sanften Berührung an ihrem Arm –, ob sie nicht hinauswollten.

„Oliver baggert rum, Conny zieht wieder mal ein Gesicht, und Katrin scheint schon durch Hollywood zu flanieren“, hatte er gesagt, als er ihren fragenden Blick bemerkte und den Moment wohl für passend hielt, ihr vorzuschlagen, einmal Zeit allein miteinander zu verbringen.

Was sie bisher nicht wirklich getan hatten.

Das eine Mal, als sie gerade gelandet waren und im Hotel eincheckten, hatte er wissen wollen, ob sie nicht zusammen zum Pool gehen wollten.

„Geile Idee!“, hatte Oliver sofort geschrien und ihm auf die Schulter gehauen. „Erst mal plantschen, bevor wir die Kneipen und Discos unsicher machen!“

Dann war da noch der vorgestrige Abend gewesen.

Katrin hatte sich mit einem der Handballer auf dem Volleyballplatz unterhalten, während Conny und Oliver sich an Hotelbar Cocktails besorgten. Da hatten sie beide einen kurzen, einen innigen Moment miteinander erleben dürfen, der ihr jetzt noch ein sanftes Kribbeln in den Bauch zauberte.

Sie hatten dagestanden, beide auf dem Balkon ihres jeweiligen Zimmers, die Arme auf der Brüstung liegend, Angesicht zu Angesicht, gegenüber. Sie hatten nichts weiter getan, als sich anzuschauen.

Sie hatte in seine dunklen Augen gesehen, hatte sein sanft geschnittenes Gesicht bewundert und sich gefragt, wie sie das Lächeln eines Kerls so niedlich finden konnte, von dem sie doch so gut wie gar nichts wusste.

Natürlich, sie hatten zusammen Abitur gemacht. Hatten sich das eine oder andere Mal oberflächlich im Bus unterhalten oder gemeinsam auf die Bahn gewartet. Aber so wirklich aufgefallen war er ihr bisher nie.

Das hatte sich erst am Flughafen ergeben.

Da war ihr bewusst geworden, was für ein sensibler und liebenswürdiger Mensch er eigentlich war.

Und so hatte sie ihm da gegenüber gestanden, ihn gesehen, ihn gerochen und auch schon geschmeckt.

Obwohl sie sich nicht geküsst hatten, meinte sie doch zu wissen, wie ein Kuss von ihm sich auf ihren Lippen anfühlte und wie sehr sie seine Zungenspitze auf der ihren genießen würde.

Aber ebenso wie ihr zweiter Moment war auch ihr erster gestört worden.

Oliver, der mit zwei Cocktails zurück zu den Zimmern gekommen war, hatte nur gebrüllt, als er die beiden da so vertraut miteinander hatte stehen sehen: „Was soll das denn für ein Mist sein? Macht ihr beiden da auf Barbie und Ken, oder was?“

Und so war der Augenblick verflogen, der Louisa verwirrt und gleichzeitig verzaubert hatte.

Erst am Abend, als Katrin sich neben sie ins Bett kuschelte und sie fragte, was sie von dem Urlaub bisher hielt, hatte sie versucht, zu begreifen, was das überhaupt passiert war. So merkwürdig und verwirrt wie in dem Moment, als sie Toms zart geschnittene Gesichtszüge bemerkte, seine schönen Augen betrachtete und sich in seinem Lächeln verlor, hatte sie sich noch nie zuvor gefühlt.

Die Ruhe, die unerwartet von Katrin ausging, war noch nie von ihr zu Louise herüber gekommen.

Bisher war es immer Katrin gewesen, die versuchte, den einen oder anderen Augenblick mit Leben zu füllen, beinahe so, als könnte sie es nicht ertragen, der Zukunft die Zeit zu lassen, um für sie alle ein eigenes Schicksal zu entwerfen.

Diesmal aber war Katrin ganz in sich gekehrt gewesen und hatte nur gefragt: „Was hältst du bisher vom Urlaub?“

„Er ist wunderschön“, war Louisas zweifelsfreie Antwort gewesen.

Was Katrin wiederum nur zu einem müden: „Hm“ veranlasste, das Louisa nicht deuten konnte.

Oder nicht wollte. Sie konnte es nicht genau sagen. Sie wusste nur, dass sie auf die Frage keine weitere Frage gestellt bekam und, von Tom träumend, eingeschlafen war.

Um dann lange keine Gelegenheit mehr geboten zu bekommen, mit Tom allein zu sein.

Die hatte sich erst einige Tage später ergeben.

Sie waren, von Olivers Protesten begleitet, nach Porto Cristo gefahren, um sich die Tropfsteinhöhlen anzuschauen, wo sie sich mehrmals – ganz aus Versehen natürlich – an Händen und Armen berührten. Und bei dem Konzert, das auf dem unterirdischen See in stimmungsvollem Ambiente und völliger Dunkelheit abgehalten wurde, hielten sie sich gegenseitig an den Händen.

Sie genossen die zehn Minuten in völliger Dunkelheit, die Blicke auf die über das Wasser gleitenden Boote, und glaubten, dass sie ganz allein waren.

Da gab es keine spanische Reisegruppe mehr. Keine zwei Pärchen, die unentwegt miteinander plapperten und keinen Sinn für die Schönheit der unterirdischen Stalagmiten und Stalaktiten hatten. Was immer ihnen gerade in den Kopf schoss, sprachen sie aus und drohten die bezaubernde Atmosphäre, die sich zwischen ihr und Tom aufgebaut hatte, zu zerstören.

Warum sie sich ausgerechnet auf die beiden Pärchen so eingeschossen hatte, konnte sie nicht einmal genau sagen.

Sie merkte nur, dass sie sich wegen der beiden grellblond gefärbten Frauen und ihrer unscheinbaren, wie Holzklötze wirkenden Männer gestört fühlte. Wäre Tom nicht gewesen, der zu ihr sagte: „Schau mal da runter, da sieht das Wasser wie gefärbt aus“, wäre ihr sicherlich der eine oder andere Spruch eingefallen, der sie in Schwierigkeiten gebracht hätte. So aber hatte sie sich, neben Tom stehend, an das von einem leichten Feuchtigkeitsfilm bedeckte Geländer gelehnt und war mit ihren Blicken seinem ausgestreckten Zeigefinger gefolgt.

Tatsächlich! Unter ihnen, ganz still, hatte sie das türkis schimmernde Wasser gesehen. Beschienen von einem in den Fels eingelassenen Lichtstrahler, der entsprechend gedimmt war, dass er nur die Schönheit des Wassers hervorhob und das umliegende Areal seines im Halbschatten liegenden Zaubers nicht beraubte.

Dicht an dicht standen sie so nebeneinander. Schauten gemeinsam auf das Wasser. Louisa durchströmte ein Schauer des Entzückens, der sich während des Konzertes noch verstärkte. Der sie wie eine Welle durchfuhr und von ihrem Magen in die Füße und von dort in ihren Kopf jagte. Während sie das Gefühl hatte, dass in ihrem Kopf unendlich viele Blitze wie aus Gewitterwolken gen Erde zuckten und es ihr unmöglich machten, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, fingen ihre Knie an, ganz weich zu werden.

Sie schluckte, während sie neben ihm saß und ernsthaft mit dem Gedanken spielte, ihre Hand nach der seinen auszustrecken und sie zu greifen.

Doch wie immer, wenn sie eine richtungsweisende Entscheidung treffen sollte, hielt sie sich zurück.

Es war, als bekomme sie plötzlich Angst vor ihrer eigenen Courage und wollte weder sich noch andere mit einer falschen Entscheidung enttäuschen.

So fasste sie dann nicht nach seiner Hand, rückte nicht näher an ihn heran und genoss nur seine Nähe, während er ihr zuflüsterte: „Das ist wunderschön.“

„Herrlich“, antwortete sie, ohne genau sagen zu können, ob sie damit das Konzert meinte oder die Situation, in der sie beide gerade steckten.

Hinzu kam, dass Oliver hinter ihnen sagte: „Langweilig, Alter. Komm, lass uns rausgehen. So ein Gefiedel kann man sich ja nicht anhören!“

Katrin protestierte: „Wir müssen das Konzert bis zu Ende gucken, hat der Führer doch gerade gesagt!“

„Echt?“

„Hörst du denn gar nicht zu?“

„Hab dir auf den Hintern geschaut, während der Typ gelabert hat“, war Olivers dämlicher Spruch, der Katrin aber – zu Louisas Verwunderung – zum Lachen brachte. Nicht zu einem geschmeichelten oder einem nett klingenden Lachen, sondern eher zu einem hysterischen, aufgekratzten Kichern, das ihre Unsicherheit, aber auch ihr Verlangen nach noch mehr solcher anzüglichen Aufmerksamkeiten unterstrich.

Das alles trat jedoch in den Hintergrund, nachdem das Konzert beendet war und der Fremdenführer sagte, dass man sich, wenn man denn wolle, aus der Höhle herausrudern lassen konnte. Hinaus, hin zu einem kleinen Anleger, der geradewegs wieder nach Porto Cristo führte.

Tom, ganz bedächtig, wartete, bis die ungeduldigen Leute allesamt zu den Booten geströmt waren, um dann zu fragen: „Willst du auch?“

„Mit dem Boot fahren?“

Er nickte und klang ganz verlegen: „Ja.“

„Gern.“

Mit einem zufriedenen Lächeln, das sie gar nicht bewusst auf die Lippen gelegt hatte, war ihr klar, dass ihn die Frage unendlich viel Kraft gekostet hatte. Ja, er schien die ganze Zeit mit dem Gedanken schwanger gegangen zu sein und hatte sich nicht getraut, sie zu fragen.

Und jetzt, da er sie gestellt hatte und sie zustimmte, atmete er lange und mit geschlossenen Augen aus, um dann ein leises, kaum verständliches „Okay“ zu murmeln.

Fast so, als würden seine unentwegt kreisenden Gedanken, er werde doch nie bei ihr landen, plötzlich verstummen und ihm den Triumph des kleinen Sieges lassen.

Die Fahrt aus der Höhle heraus war wunderschön.

So wunderschön, dass sie das erste Mal mit ihrem kleinen Finger nach dem seinen tastete, als er steif und unbeholfen neben ihr saß und sie ihn berührte. Länger als sonst. Ohne ein schnelles „Entschuldigung“.

Sie hatten beide dann nur auf der Querbank gesessen, waren durch die atemberaubend schöne Höhle gefahren und hatten sich berührt und ihre Nähe miteinander genossen.

Es war verrückt gewesen …

… und so unendlich schön.

So wie jetzt. Wo sie zusammen die Disco verlassen hatten, um hinaus auf die Promenade zu schlendern und den angebrochenen Abend zu genießen. Vom Alkohol der noch immer in ihnen brodelnden Nervosität beraubt und die Zunge ein wenig leichter, als sie es sonst gewesen wäre.

Louisa ging neben Tom her und fragte: „Was wird nach dem Urlaub?“

„Nach dem Urlaub?“, wiederholte er, schien damit nicht gerechnet zu haben und schaute sie verwundert an. „Was soll nach dem Urlaub sein?“

„Gehen wir dann beide unserer Wege?“

Er zuckte mit den Schultern, wusste offenbar nicht, was er dazu sagen sollte.

Oder, und der Meinung war Louisa wirklich, sie hatte ihn mit ihrer Frage einfach nur überrascht, weil er sich den Spaziergang ganz anders vorgestellt hatte. Denn so, wie sie Tom bisher kennengelernt hatte, war er ein nachdenklicher, ein die Situationen abwägender Typ. Immer auf der Suche nach einem Weg, den er beschreiten konnte, ohne in Unebenheiten zu gelangen.

Was nicht bedeutete, dass er jemand war, der das Risiko scheute.

Das ganz gewiss nicht.

Bisher war er so viele Risiken eingegangen wie noch nie zuvor. Genau das war es, was Louisa so sehr an ihm faszinierte.

Der Moment feuerte ihr Hunderte und Aberhunderte von Szenarien in den Kopf, sodass sie glaubte, ihr Schädel müsste platzen.

Sie fühlte sich plötzlich wie zu Boden geworfen und glaubte, ihr Herz müsste stehen bleiben, als sie bemerkte, dass Tom nach reiflicher Überlegung zum Sprechen ansetzte.

Was würde er sagen?

Dass sie für ihn nur ein Flirt war?

Dass er gern einmal mit ihr ins Bett wollte, um gigantischen – womöglich ersten – Sex zu haben?

Oder sagte er ihr, dass er sich doch nicht für sie interessierte?

Dass er lieber wollte, dass sie beide Freunde blieben? Gute Freunde. Fest miteinander verbundene Freunde. Freunde, die sich immer und ewig aufeinander verlassen konnten. Freunde, die es kein zweites Mal im Leben gab.

Oder würde er ihr das sagen, was sie so sehr hoffte?

Was sie sich die letzten Nächte immer wieder ausgemalt hatte. In rosaroten, in mädchenhaften Farben, in der Annahme, sich den Traum erfüllen zu können, den sie seit den ersten Tagen ihrer Pubertät gehegt hatte.

Was jetzt, da sie das dachte, reichlich übertrieben klang.

Das Merkwürdige aber war, dass sie genau so dachte.

Dass sie gar nicht anders gekonnt hätte, auch wenn sie es wollte.

„Ich glaube nicht“, sagte er schließlich nach einem quälend langen Augenblick.

So hörte sie ihn diese Worte sagen, die ihr einen ganz flauen Magen bescherten.

„Nicht?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Das will ich nicht. Und du?“, schob er mit seiner ängstlich klingenden Stimme hinterher und blieb unversehens stehen, ignorierte es, dass die Menschen hinter ihm gegen ihn prallen könnten.

„Ich auch nicht“, sagte sie und holte dabei tief Luft. „Ich auch nicht.“

Er gestattete sich ein knappes Grinsen.

Sie lächelte ebenfalls.

Und dann, als hätte er endlich den Mut gefunden, den er brauchte, griff er nach ihrer Hand, streichelte sie zärtlich sanft mit dem Daumen und zog sie dann hin zu der steinernen Begrenzung, die die Promenade vom Strand trennte, zog sie auf diese und setzte sich hin.

Da saßen sie dann, schweigend, hinaus auf das im Mondlicht liegende Meer schauend, jeder seinen eigenen und doch miteinander vereinten Gedanken nachhängend. In vertrauter Zweisamkeit verstrickt, die Gegenwart des anderen genießend. Mit genügend Mut ausgestattet, schließlich ganz dicht aneinander heranzurücken, die Köpfe aneinandergelegt, die Hände ineinander verschlungen – endlich Sicherheit fühlend.

Mit der Sicherheit zu wissen: Er gehört zu mir …

*

Als Conny die beiden endlich entdeckt hatte, blieb er, wie vom Blitz getroffen, stehen. Die Augen auf das gerichtet, was er nicht sehen wollte, was er nicht akzeptieren konnte – der Hals plötzlich trocken, die Hände nass vor Schweiß.

Während er sah, wie Louisa an Tom heranrückte, sie ihren Kopf gegen den seinen legte, sein bester Kumpel, der Torwart des Jahrhunderts, nach ihrer Hand griff, war es ihm, als hätte er einen Tritt direkt in die Eier bekommen.

Er hörte sich selbst keuchen.

Der Trubel um ihn herum verblasste.

Da war nicht mehr das kreischende und gackernde Mädchen, das ihren Freundinnen wieder und wieder zurief: „Schaut mal, was ich mache, schaut mal, was ich tue, schaut doch endlich mal!“

Da waren auch nicht die beiden Proleten in den Jogginghosen und den Feinrippunterhemden, die sich dreimal kurz nacheinander die Bierdosen am Kopf zerschmetterten, noch die Clique unten am Strand, einen Sangria-Eimer vor sich, jeder mit meterlangen Strohhalmen ausgestattet, laute Musik aus einem tragbaren CD-Player schallend.

Da war niemand mehr.

Nicht ein Mensch.

Nur Conny, der inmitten der über die Promenade strömenden Menschenmasse stand, den Mund halb geöffnet, die Augen zu Schlitzen verengt, die Hände zu Fäusten geballt.

Es war alles sinnlos.

Alles.

Alle Chancen, die er sich ausgemalt hatte, von einem Augenblick zum anderen wie weggewischt.

Louisa hatte sich entschieden.

… Und ihm ein weiteres Argument geboten, jeden und alles dafür verantwortlich zu machen, niemals das zu bekommen, was ihm nach eigenem Gutdünken zustand.

Conny drehte sich herum – nicht imstande, den Mut aufzubringen, zu den beiden zu gehen und ihnen zu sagen, was er fühlte und dachte.

Er ging einfach wieder hin zur Disco, aus der nun „Tanze Samba mit mir“ dröhnte, begleitet von einem brüllenden und lallenden Chor, der ihm wie Hohngesang entgegenhallte und eine unangenehme Enge im Hals hervorrief.

Eine Enge, die verhinderte, dass er anfing zu weinen.

Eine Enge, die die Wut, die in seinem Kopf mehr und mehr Gestalt annahm, davon abhielt, in seinen Magen zu wandern und dadurch ein wenig von ihrer Kraft zu verlieren.

Seine ganze Enttäuschung, zu der er fähig war, blieb in seinem Kopf, verankerte sich dort.

Blieb da …

… und kreischte ihm mit viel zu schriller, ihn an seine Schwester erinnernder Stimme, die ihn dabei erwischte, wie er in ihren Magazinen blätterte, wieder und wieder zu: „Du bist es nicht wert, glücklich zu werden! Du bist ein Nichts. Ein Niemand. Ein Idiot. Niemand will, dass du glücklich bist! Niemand!“

*

Als die Flugnummer 7345 aufgerufen wurde, breitete sich betriebsame Hektik aus. Die neben Tom und Louisa sitzende Familie, deren Vater schon latent genervt war, versuchten ihre drei durch die Abflughalle laufenden Kinder einzusammeln. Die Mutter, eine ruhige, ausgeglichene Frau, wie Tom feststellen zu können glaubte, rief die Namen der Kinder sanft, jedoch bestimmt. Der Vater hingegen, der die ganze Zeit über auf die Koffer achtgegeben hatte, knurrte: „Wenn die Gören nicht gleich hier sind, knallt es.“

„Wir fliegen ja noch nicht los“, versicherte seine Frau ihm und rief wieder nach den Kindern.

Die Älteste des Trios, ein viel zu dünnes Mädchen mit bis zur Hälfte des Pos reichenden, braunen, glatt gekämmten Haaren, lief ihrem kleinsten Bruder hinterher und packte ihn am Arm.

Der, natürlich, wehrte sich dagegen. Er fing an zu schreien und sich zu winden und ließ eine hilflose große Schwester zurück, ebenso wie einen die Wangen aufblasenden Vater und eine wie die Ruhe selbst wirkende Mutter, die sagte: „Melanie, lass deinen Bruder los! Mark, hör auf, so zu brüllen. Beruhige dich. Benny? Benny, wo bist du?“

„Der wühlt, glaube ich, da hinten im Mülleimer“, sagte Tom trocken und deutete über die sich immer mehr verdichtende Menschenmasse vor der Flugabfertigung.

„Benny, das ist bäh-bäh … Lass das. Das macht man nicht!“

„Ich platze hier gleich. Kommt jetzt endlich her!“

Louisa musste ebenso lachen wie Tom.

Beide beobachteten das Schauspiel der ganz normalen Familie und waren davon fasziniert, wie ruhig man bleiben konnte, während das eine Kind den Mülleimer ausleerte, das andere wie am Spieß schrie, weil es glaubte, man wolle ihm den Arm ausreißen, während das älteste der drei mit den Tränen kämpfte, weil es der Meinung war, Ärger zu bekommen, weil es dem kleinsten Bruder gerade ungeheure Schmerzen verursacht hatte.

Hinzu kam, dass die gezwungene Ruhe des Vaters derart negative Schwingungen auslöste, dass man meinte, neben einer tickenden Zeitbombe zu stehen, deren Explosion man auf keinen Fall miterleben wollte.

Negative Schwingungen, die auch Oliver, Conny und Katrin abbekommen hatten.

Waren sie eben noch alle fröhlich ihren eigenen Interessen nachgegangen, so war es nun, da ihre Flugnummer wieder aufgerufen wurde, als versammelten sie sich um einen ruhigen, sicheren Punkt abseits der Menschenmenge.

Oliver, der eben noch in einem aufgeregten Gespräch mit einer rothaarigen, blassen Frau war, die etwas Puppenhaftes besaß, stand nun, die Hände in den Taschen seiner Shorts vergraben, neben Katrin und fragte: „Willst du dir das noch einmal antun?“

„Noch mal mit dir in den Urlaub fahren?“

„Ha, ha, ha“, machte er. „Du weißt, was ich meine.“

„Nein, weiß ich nicht“, tat Katrin blöd und klimperte mit den Augen, die linke Hand würdevoll vom Körper abgespreizt, den Mund zu einem dümmlich wirkenden O geöffnet.

„Bist du blöd oder so? Was soll das? Nimm mich bloß nicht auf den Arm, das kann ich nicht ab. Echt nicht.“

„Oh, der Herr mag es nicht, wenn eine Frau tut, was sie will.“

„Blödsinn“, verteidigte er sich, nachdem er gesehen hatte, dass die Rothaarige einen Blick zu ihm geworfen hatte, während sie ihre Unterhaltung mit der Freundin neben ihr unterbrach und versteckt auf Oliver zeigte. „Frauen dürfen bei mir alles. Ist doch klar.“

„Was bei dir nicht klar ist, das weiß ich schon lange. Dein Verstand!“

Damit wandte Katrin sich von ihm ab und winkte der noch immer neben Tom stehenden Louisa zu, die zurückwinkte und ihrem Freund – wie sich das anhörte! – einen liebevollen Blick zuwarf. Der, noch immer von der erzwungenen Selbstbeherrschung des Vaters schwer beeindruckt, wurde von einer älteren Dame angerempelt, die wiederum von einem jungen Mann gestoßen wurde, der nach dem Aufruf aufgesprungen war und aussah, als fürchte er, den Flug zu verpassen.

„Entschuldigen Sie bitte“, bat die alte Dame.

„Schon gut. Kann passieren.“

„Die Menschen sind aber auch unhöflich!“

Tom, der der Unterhaltung kein Interesse beimaß, nickte nur stoisch und meinte, Olivers Frage wie ein Echo in den Bergen nachhallen zu hören. So merkwürdig es auch war, so anrüchig und falsch, so musste er sich die Frage doch selbst stellen.

Wollte er das?

Alter, du hast gerade dein Abi bestanden. Hast den geilsten Urlaub deines Lebens hinter dir und denkst darüber nach, ob du dir einmal eine Familie antun möchtest? Du schießt aber schnell aus der Hüfte, Cowboy.

Wenn man die Richtige gefunden hat, dann weiß man, was man will, verteidigte er seinen Gedanken und löste seine Blicke von der noch immer mit den Tränen kämpfenden Tochter und Benny, der nun endlich den Müll in Ruhe ließ.

Die Mutter, die sich nun endlich dazu bequemte, in aller Seelenruhe zu ihren Kindern zu gehen, um sie zu beruhigen, schaffte es sogar inmitten des ganzen Trubels, eine Gelassenheit auszustrahlen, wie Tom sie noch bei niemandem gesehen, geschweige denn je bemerkt hatte.

„Wollt ihr euch nicht anstellen?“, riss Conny Tom aus seinen Gedanken und ließ ihn einen überraschten Blick zu dem breiten, vollbärtigen Hünen werfen, der seit gut einer Woche ausgesprochen schlecht gelaunt war.

Obwohl sie beide sich seit Jahren kannten, gemeinsam die Grundschule und auch die Gesamtschule in Bergedorf-Lohbrügge besucht hatten, hatte Tom sich nicht getraut zu fragen, was mit seinem ältesten Freund los war. Die Furcht davor, etwas zu erfahren, was ihm nicht gefiel, hatte ihn zögern lassen.

Ein ungutes, ein sich in seinen Magen fressendes Gefühl der Unsicherheit hatte ihn befallen, als er Conny am Abend nach der Party begegnet war. Der Abend, der Tom all das geschenkt hatte, was er nie für möglich hielt.

Ihm war, als wisse er insgeheim, was Conny bewegte und was ihn beschäftigte.

Und jetzt, da sie sich näher waren als jemals zuvor, machte Tom einen Rückzieher und traute sich nicht, seinen Freund zu fragen, was ihm denn über die Leber gelaufen war.

Das Leben, hörte er sich selbst lautlos sagen und schämte sich im gleichen Moment dafür, dass er so abfällig über Conny dachte.

Aber es war doch wahr.

Egal, was man sagte, egal, was man tat, egal, wie man sich verhielt, es schien, als sei Conny mit allem und jedem unzufrieden. Als erwartete er, dass man nach rechts ging, obwohl man nach links musste. Als wollte er, dass man hustete, wenn man doch ein Niesen in der Nase stecken hatte.

Es war ein Kreuz.

Tom, der bisher immer der Meinung gewesen war, dass man über jedes Problem reden konnte, warf seinem Kumpel nur einen verwunderten Blick zu, der mit einem gequälten Gesichtsausdruck einherging.

Er fühlte sich unwohl in Connys Nähe.

Es war, als umgebe seinen Kumpel eine negative Aura, die alle anderen Gefühle in den Hintergrund drängte, damit man sich ebenso schlecht wie er fühlte.

„Alter, mach mal halblang“, plärrte Oliver. „Wir sitzen im vorderen Teil des Flugzeugs. Wir sind noch gar nicht dran.“

„Man sollte immer …“

„Blalabla, Dicker.“ Olli schüttelte den Kopf. „Nimm doch mal den Finger aus dem Po und atme entspannt durch die Unterhose. Wir kommen alle noch in den Flieger. Keine Sorge, die werden nicht ohne uns starten.“

„Ich meinte ja nur ...“

„Ja, ja, ja“, machte Oliver und öffnete und schloss seine Hand, die nun aussah wie ein Schnabel. Mit einem netten Lächeln zog er die Augenbrauen hoch, um zu der Rothaarigen zu schauen, die derweil ihren Trolley genommen hatte und dabei war, sich in die Schlange einzureihen, die sich langsam, aber sicher zu bilden begann.

Hinter ihrem ins Gesicht fallenden Haar schenkte sie ihm ein Lächeln, das Tom den Kopf schütteln ließ.

Wie machte das Oliver immer wieder?

Klar, er sah gut aus, wusste zu reden und sich zu präsentieren.

Aber was er sagte, so, wie er sich gab, musste es doch jedem auffallen, dass er es nur auf das Eine anlegte.

Dass er ausschließlich daran interessiert war, mit der – und das musste Tom neidlos anerkennen – wirklich hübsch anzusehenden jungen Frau ins Bett zu gehen.

„Ihr seid so dumm, alle, wie ihr da seid“, lachte Katrin und stellte sich neben Tom und Louisa. „Aber genau deswegen habe ich euch so lieb. Der Urlaub war nur geil!“

„Das will ich meinen.“ Louisa lächelte.

„Er wird noch geiler, wenn wir erst einmal in der Luft sind“, wisperte Oliver Tom ins Ohr und winkte dabei der Rothaarigen zu, deren auffallend helle Beine in scharfem Kontrast zu ihrer knapp unter den Pobacken endenden, schwarzen kurzen Hose standen. Dazu trug sie geschnürte Sandalen, deren lederne Bänder die schlanken Waden hinauf führten und sie noch mehr betonten.

„Idiot!“

„Genießer“, verbesserte Oliver. „Ich nasche nur von den köstlichsten Köstlichkeiten, die der liebe Gott auf der Erden Tafel serviert.“

„Die Schlange, Leute“, ermahnte Conny düster.

„Ist gleich auch noch da.“ Olli verdrehte die Augen und klopfte Tom auf die Schulter. „Und was wird jetzt aus uns, Leute?“

„Wir fliegen nach Hause!“

„Alter! Das ist alles?“

„Das meine ich auch“, stimmte Katrin Olli zu. „Das war megageil hier. Mehr als ein Urlaub darf es nicht sein.“

Louisa schmunzelte, und Tom war sich sicher zu verstehen, was sie damit sagen wollte.

Er fühlte genauso.

Oder besser gesagt: Er wusste, was sie meinte.

Dieser Urlaub war mehr, sehr viel mehr als einfach zehn Tage, in denen man sich vergnügte, etwas trank und tanzte, sich das warme Wasser des Mittelmeers um die Füße spülen ließ und darüber nachdachte, wie schrecklich der Abi-Stress doch gewesen war.

Das hier war der Beginn von etwas Neuem gewesen.

Für Louisa und für ihn.

Da waren die lauwarmen Abende auf dem Balkon, wo man sich nur ansah und sich am liebsten selbst gekniffen hätte, um sich zu vergewissern, dass man nicht träumte. Dass man mit der Frau zusammen war, die einen mehr als alles andere auf der Welt faszinierte. Mit der man redete, lachte und bei der

man schließlich merkte, dass sie sich auch für einen interessierte.

Dieser Urlaub war mehr gewesen als nur Urlaub.

Sehr viel mehr!

Er war wegweisend für ihn.

Olli, der den Aufenthalt auf Mallorca sicherlich anders einschätzen würde als Tom, rief: „Die Insel hat mich nicht zum letzten Mal gesehen!“

„Ich bete jetzt schon für die arme Frauenwelt“, gackerte Katrin, und Tom verstand, warum.

Nicht nur, dass Olli die Rothaarige weiterhin mit seinen lüsternen Blicken angaffte, er hatte den Daumen und kleinen Finger abgespreizt und die Hand ans Ohr gehalten.

Das Verwirrendste: Die Rothaarige nickte. Sie lächelte ihn an, formte mit den Lippen ein: „Gebe ich dir später“ und wandte sich dann wieder ihrer Freundin zu.

Unfassbar!

„Traditionen entstehen aus dem Gefühl von schönen Erinnerungen“, kommentierte Conny, der sich samt seiner abgewetzten Sporttasche an den dicht beieinander stehenden Freunden vorbeigeschoben hatte, um sich in die Schlange einzureihen. „Man will diese Eindrücke konservieren.“

„Tradition!“ Katrin klatschte in die Hände und war dabei so ungeschickt, dass sie sich die Sonnenbrille von der Nase stubste. „Das ist es.“

„Was?“

„Das hier“, sie wedelte mit den Händen und versuchte, ihre verrutsche Brille wieder zurecht zu rücken, „alles.“

„Mallorca, oder was?“

„Ja!“

„Ich bin dabei“, sagte Olli. „Wann treffen wir uns wieder hier? Nächstes Jahr?“

„Ihr meint doch nicht …“, setzte Tom an, ohne es aussprechen zu können.

Katrin fiel ihm ins Wort und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Olli: „Ich auch. Sofort. Vielleicht nicht nächstes Jahr, weil ich da ja noch in Berlin bin und bestimmt kaum Geld habe. Aber vielleicht in zwei oder drei Jahren. Leute, das müssen wir schaffen!“

„Die Idee finde ich gut.“ Louisa nickte und drückte Toms Hand. „Es war so schön hier.“

„Ja, ja, ich wäre auch dabei. – Hey, es geht los!“ Conny war der Erste, der in der Reihe verschwunden war. Einem Schatten gleich, die Erinnerung streifend, so, als wisse man, dass da mal jemand gewesen war, ohne seiner innerlich habhaft zu werden.

Conny ist wie der Hunger, dachte Tom deprimiert, während er es genoss, dass Louisas Daumen über seinen Handrücken streichelte. Man bemerkt ihn, um ihn dann zu vergessen, weil man gerade gegessen hat und satt ist.

„Leute, das machen wir. Gebt mir euer Wort.“

„Hier hast du es“, gab Olli ihr einen Kuss auf die Wange. „Und jetzt muss ich mich verabschieden. Da will jemand von mir die Langeweile vertrieben bekommen, weil die Abfertigung so lange dauert!“

„Und ihr?“

„Ich bin dabei“, sagte Louisa. „Und du?“

„Klar!“

„Geilo.“ Katrin klopfte Tom auf die Schulter, nahm ihren Rucksack und griff nach dem Schminkkoffer, den sie unbedingt als Handgepäck aufgeben musste, aus Furcht, jemand könnte ihn ihr entwenden: Ein klobiges, metallisch schimmerndes Ding, das schon so abgegriffen war, dass man meinen konnte, es würde jeden Augenblick auseinanderbrechen. Katrin aber bestand darauf, dass der Schminkkoffer bei ihr blieb. Weil es der Koffer war, wie Louisa erklärt hatte, aus dem sie das erste Mal auf der Lohbrügger Bürgerbühne geschminkt worden war. Dort hatte sie die Liebe des Publikums gespürt, das nur darauf wartete, ihr Applaus zu spenden.

Tom hatte bei dieser Geschichte nur die Augenbrauen hochgezogen und Louisa einen vielsagenden Blick zugeworfen, der mehr ausdrückte, als er es jemals mit Worten hätte sagen können.

„So ist sie nun mal“, hatte Louisa ihre beste Freundin verteidigt und war dann mit Tom zum Pool gegangen, um dort mit ihm zu schwimmen, mit ihm zu kuscheln und sich das erste Mal, ehrlich und echt, zu küssen.

Nicht so ein flüchtiger Schmatz, wie sie anfangs für ihn übrig gehabt hatte, wenn sie sich zum Frühstück oder sich am Morgen zufällig auf dem Flur trafen. Nein, sie hatte ihm einen Kuss gegeben, der von solcher Zärtlichkeit gewesen war …

Zum Glück war er im kalten Wasser des Pools geschwommen. Die Hitze, die durch seinen Körper strömte, sich in seinen Lenden fokussierte und ihn glauben ließ, jeden Augenblick explodieren zu müssen, war das Schönste und gleichzeitig das Erschreckendste gewesen, woran er sich erinnern konnte. So herrlich und entsetzlich, dass ihm selbst jetzt noch, gut vier Tage später, ein wohliger Schauer durch den Körper rieselte.

Es war herrlich zu wissen, dass Louisa ihn so begeistern und erregen konnte. Dass sie es mit einem einfachen Kuss schaffte, ihn glauben zu lassen, innerlich in Flammen zu stehen, und er sich nach nichts anderem sehnte als nach der Wärme, die sie aussandte.

Erschreckend deshalb, weil er begriff, wie leicht sie ihn um den Finger wickeln konnte. Wie schnell und mühelos es ihr gelang, seinen Verstand auszuschalten und ihn tun zu lassen, was immer sie wollte.

Unten am Pool, wo sie ihn küsste und sie ihre nassen Brüste, die nur bedeckt waren von einem Hauch Stoff, der mehr nachzeichnete als verbarg, gegen seinen nackten Oberkörper presste, war er wie ferngelenkt gewesen. Von ihrer Nähe überrascht, von ihrer Zärtlichkeit begeistert, von seinem Dahinschmelzen verwirrt.

So wie jetzt auch noch.

Sie streichelte seine Hand, fragte ihn etwas, und er stimmte zu, ohne darüber nachzudenken.

So in Gedanken versunken schaute Tom der sich in die Schlange einreihenden und in dem dichten Gedränge verschwindenden Katrin hinterher. Selbst jetzt noch, da der Urlaub vorüber war, übte sie einen nachhaltigen Eindruck auf ihn aus. Nicht so, wie eine Frau Eindruck auf einen Mann machte. Sondern wegen ihrer Begeisterungsfähigkeit.

Ganz gleich, ob es sich dabei um die Tropfsteinhöhlen gehandelt hatte, den Aufbruch zu einer der zahlreichen ordinären Partys oder zu den Bootstouren, die einmal um Mallorca herumführten und ihnen die schönen Buchten, weißen Sandstrände und entlegenen Plätze zeigten.

Sie war von einer Energie beseelt, die Tom beneidenswert fand und die er während des Abiturs nie an ihr bemerkt hatte.

Seine Sicht der Dinge hatte sich verändert.

Und jetzt, da seine Freunde dabei waren, sich einchecken zu lassen und dann nach und nach im Inneren des Flugzeugs verschwanden, war es ihm, als konnte er all ihre Träume deutlich vor sich erkennen.

Träume und Hoffnungen, die sie mit nach Hamburg nahmen.

Hin in eine neue Welt …

… die sich nur für sie zu öffnen begann.

Urlaubsküsse - Liebesroman

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