Читать книгу Urlaubsküsse - Liebesroman - Thomas Tippner - Страница 7

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2017:

Die Lobby eines Hotels war wie eine Traumfabrik.

Hier trafen sich fröhliche, ausgelassene Menschen, die Pläne schmiedeten, die sich berieten und sich ausmalten, wie es sein würde, wenn sie nach Palma fuhren, durch die großen Rundbögen der La Seu gingen und sich wie erschlagen vorkommen würden, wenn sie die ehrwürdigen, hoch aufragenden Mauern des alten Bischofssitzes sahen. Oder wenn sie darüber fachsimpelten, ob sie es schaffen würden, den Puig Major de Son Torrella zu besteigen, der in fast 1500 Meter Höhe aufragte. Eingebettet von dem Serra de Tramuntana und einer atemberaubenden schönen Landschaft, an der er sich die letzten Male immer gar nicht hatte sattsehen können.

Wir uns nicht sattsehen konnten, dachte er mit einem bitteren Beigeschmack und versuchte den in seiner Brust aufsteigenden Seufzer nicht zu laut über seine Lippen kommen zu lassen.

Es genügte, wie er fand, dass er die letzten drei Nächte schon nicht gut eingeschlafen war, weil ihm seine düsteren Gedanken nicht in Ruhe ließen und er deshalb aussah wie eine Leiche auf zwei Beinen. Dann sollte seine Trübsinnigkeit ihm wenigstens nicht den Anblick der Hotellobby zerstören.

Nicht so, wie sie alles und jeden bisher niedergerungen und erdrückt hatte, was er imstande war, zu fühlen und zu lieben.

Er wusste ja selbst, es war albern, wenn er der Vergangenheit nachtrauerte. Immerhin war er ein Teil davon. Die Erinnerung, wie glücklich er einst gewesen war, als sie das erste Mal hierher gekommen waren, war Grund genug, sich zu freuen und sich auf die Schulter zu klopfen.

Er hatte es damals geschafft - oder etwa nicht?

Louisa hatte sich in ihn verliebt, er hatte sein Abitur bestanden und eine glorreiche, goldene und verheißungsvoll klingende Zukunft hatte sich vor ihm ausgebreitet.

Er hatte alles in der Hand gehabt.

Glück. Zuversicht …

… und was am Wichtigsten war: Die Liebe.

Seine Zukunft war wie ein glühendes Stück Eisen gewesen, das er nur schmieden musste. Zwei, drei wuchtige Hammerschläge mit seinen Zukunftsplänen, und alles wäre genauso geschehen, wie er es sich vorgestellt hatte.

Und jetzt?

Was war aus ihm geworden?

Ein trübsinniger, leise in sich hineinhorchender Mann, der sich selbst an den Kleinigkeiten seiner einstigen Begeisterungsfähigkeit nicht mehr erfreuen konnte.

Ihm kamen merkwürdige, abgeklärte Gedanken, die ihn glauben ließen, dass die letzten achtzehn Jahre, die seit ihrem ersten Besuch auf Mallorca vergangen waren, überhaupt nichts Positives hervorgebracht hatten.

Er musste nur an Conny denken ...

Was aus ihm geworden war, das war einfach unbeschreiblich.

Oder Oliver …

Aus ihm war …

… ein Mensch geworden.

Ein ängstlicher Mensch, wie Tom feststellte, während er daran dachte, wie sein bester Freund am Smartphone gesessen hatte und vor Schreck ganz blass geworden war, als er die Nachricht las, die er bekommen hatte.

Dazu Katrin.

Sie war noch immer – so voller Energie. Wenn auch ein wenig gedämpfter und zurückhaltender als früher, aber dennoch so voller Tatendrang und Fröhlichkeit, dass Tom sich immer wieder gern mit ihr unterhielt und sich in ihrer Nähe wohlzufühlen begann.

Nicht so wohl wie bei Louisa, aber doch wohl genug, dass ich nicht mehr genervt von ihr bin, wenn sie mir erzählt, mit wem sie gedreht hat oder in was für einer Audioproduktion sie gerade zu hören ist. Sie hat in den letzten Jahren eine interessante Wendung gemacht und sich doch ihre Ausstrahlung erhalten.

Sie ist …

… echter!, dachte er. Authentischer.

Dabei merkte er, dass er den Teil mit Louisa absichtlich schnell übersprungen hatte, um die Erinnerung an die damalige Zeit zuzulassen, aber nicht zu nah an sich herankommen zu lassen. Andernfalls hätte es weh getan.

Am liebsten hätte er sich dafür geohrfeigt, dass er versuchte, den Zauber einer Lobby verlöschen zu lassen.

Das durfte er nicht.

Er musste die Begeisterung wieder in sich aufnehmen. Musste sie fühlen und spüren. Durfte sie nie aus der Hand geben.

Wo wäre er denn hingekommen, wenn er nicht nervös von einem Bein aufs andere getreten wäre, hin zur Tür geschaut hätte, die in den Innenbereich des Hotels führte, und sich nicht mit der trockenen Zunge über die noch spröderen Lippen geleckt hätte, um sich vorzustellen, wie Louisa in ihrem hautengen T-Shirt, den Hotpants und den Flipflops aussehen würde.

Wie er es genoss, wenn die mallorquinische Sonne auf ihr helles Haar fiel und es umspielte, es wie einen Sternenschauer aussehen ließ, wie eine verspielte Perle, die nur für ihn geschaffen worden waren.

Seine Louisa …

Er würde sie niemals hergeben wollen.

Niemals!

Wieder seufzte er, als er an die letzten acht Monate dachte, die ihn ordentlich gezeichnet hatten. Erst heute Morgen, als er noch im Badezimmer seiner kleinen Wohnung gestanden und in den Spiegel geschaut hatte, um sich zu rasieren, war er insgeheim erschrocken gewesen, wie beschissen er aussah.

Seine Wangen, seit mehr als vier Jahren immer von einem Dreitagebart bedeckt, hatten eingefallen und hohl gewirkt. Seine ansonsten dunklen, vor Begeisterung und Freude leuchtenden Augen hatten einen dumpfen, matten Schimmer gehabt, den er erst im Flugzeug als Traurigkeit definiert hatte.

Seine Lippen waren so schmal geworden, dass man meinen konnte, sie seien gar nicht mehr da.

Es war eine beschissene Zeit gewesen.

Die jetzt nur besser werden kann, redete er sich ein und versuchte an dem positiven Gedanken festzuhalten, den Louisa immer versucht hatte, in ihm zu pflanzen. Ein Gedanke, der ihm damals, als sie anfing darüber zu sprechen, so albern und abgedroschen vorgekommen war.

Der ihn hinter vorgehaltener Hand abfällig anzulächeln schien, um nicht sagen zu müssen: Nur weil man positiv über etwas spricht, wird es nicht gleich gut.

Doch, wird es, sagten Louisas Blicke dann immer und ließen Tom meinen, sie konnte direkt in seinen Kopf schauen.

Das kann sie, da bin ich mir sicher. Hundertprozentig. Ach Quatsch, tausendprozentig!

Er musste wieder lächeln, während er eine Jugendgruppe entdeckte, die gerade angekommen war und mit lautem Hallo in die Lobby gestürmt kam. Sie plapperten und redeten unentwegt miteinander. Da waren die Mädels, die versuchten, so lässig und cool zu sein, wie sie es in Wirklichkeit gar nicht waren. Die sich nur keine Blöße geben wollten vor den Jungs, die durch ihre Lautstärke ebenso ihre Unsicherheit zu verbergen suchten wie die Mädchen, die sie bei sich hatten.

Die Gruppe da, die so ausgeflippt und cool zu wirken versuchte, erinnerte ihn irgendwie an sie selbst. Damals.

All ihre Pläne hatten sie noch gar nicht richtig begriffen, geschweige denn sortiert. Nichts anderes zählte für sie, als mit den besten Kumpels am Strand abzuhängen und hinaus aufs Meer zu schauen, in der Hoffnung, da eine Antwort auf die in einem schlummernden Fragen zu finden.

„Ich schau doch nicht nach Fragen, Alter, ich will Weiber sehen“, hätte Olli ihm sicherlich zur Antwort gegeben.

Tom begriff, in was er hier zu rutschen drohte.

Pessimismus.

Alter, du bist nicht Conny. Du warst immer derjenige, der in allem etwas Gutes gesehen hat.

Der durch Louisa alles Gute gesehen hat, verbesserte er sich und musterte das leicht abseits stehende, braungelockte Mädchen, das in seinem Jeansrock und dem smaragdgrünen AC/DC-Top so verletzlich aussah. So, als wisse sie nicht, ob sie sich in der Gruppe aus Freunden wohlfühlen sollte oder nicht. - Nur um dann seinen gesponnenen Gedanken wieder aufzunehmen, weil er genau das unterstrich, was er eben bei dem Mädchen zu sehen geglaubt hatte.

Du hast nie so genau gewusst, wohin du dich wenden sollst. Hast in den Tag hineingeschrieben und gemeint, dass du den nächsten Beststeller zu Papier bringen würdest. Alter, weißt du noch, als du am "Schwertschwinger" geschrieben hast? Als du dir eingebildet hast, die Fantasy komplett auf den Kopf zu stellen, weil du einen Antihelden kreiert hattest? Und weißt du noch, wie enttäuscht du damals warst, als kein Verlag die Geschichte ins Programm aufnehmen wollte?

Du warst am Boden zerstört. Fix und fertig.

Weil du dir keine Gedanken gemacht hast.

In den Tag hinein hast du gelebt.

In den Augenblick investiert …

… und warst doch in allem so unsicher, dass du am liebsten Hals über Kopf aufgebrochen wärst, um dich auf eine einsame Insel zu verpissen. Weil du dachtest, wenn dich keiner hört und sieht, würdest du keine Probleme und keine Aufgaben zu bewältigen haben.

Louisa aber hatte ihn stark gemacht.

Sie war immer an seiner Seite gewesen.

Selbst in den Momenten, wo er sich sicher war, dass er mit seinen Ideen und Kreativität niemals auch nur einen müden Cent verdienen würde.

Tom seufzte wieder und ermahnte sich, das sein zu lassen.

Nicht nur das Seufzen, sondern auch die trüben Gedanken, die er sich machte, wenn er zu dem braungelockten Mädchen da schaute. Die mit ihrem schüchternen Lächeln etwas Niedliches an sich hatte – besonders deshalb, weil sie beim leichten Öffnen des Mundes eine Zahnspange präsentierte, die so herrlich silbern glänzte.

Fast so silbern wie Katrins oller Schminkkoffer, er schmunzelte und wurde wieder vom Zauber der Lobby ergriffen. Nicht so intensiv, nicht so stürmisch wie sonst, aber doch so, wie er es mochte.

Da waren wieder die Gedanken an Mallorca, die Plätze, die er sehen und genießen wollte. Die engen Gassen von Cala Millor, die so geradlinig und sauber gebaut worden waren, dass man von keiner gewachsenen Stadt mehr sprechen konnte. Eher von einer geplanten. Denn so, wie alle Wege hinunter zur Promenade führten, hatten die Gründungsväter die kleine Stadt in der Bucht von Son Servera gewiss nicht angelegt. Ebenso gerade wie die Straßen Cala Millors, so geradlinig, hatte er gemeint, würde auch seine Zukunft sein.

Jetzt aber, da seine Blicke über die gebohnerten, im Licht des vergehenden Tages schimmernden Fliesen schweiften, begriff er, dass das Leben niemals so sein würde, wie man es plante oder gern gehabt hätte. Es gab immer Unwegsamkeiten, immer die eine oder andere Hürde zu nehmen.

Der Zauber einer Hotellobby, dachte er wieder und schaute weg von der Gruppe junger Leute und hin zu dem Eingang zum Speisesaal. Es ist wie immer.

Der Duft des frisch zubereiteten Essens war ebenso präsent wie die Gedanken und Gefühle, die in einem hochschwappten, wenn man hier stand und dem Hupen der Autos lauschte, die einige Meter entfernt über die Straße bretterten; oder dem Murmeln und Flüstern der anderen Menschen, die hier warteten.

Er war im Urlaub …

… endlich.

Er war auf Mallorca.

… und alles war anders.

„Ah, da seid ihr ja“, sagte er, als er die Vierergruppe auf sich zukommen sah, die Hand zum Gruß erhoben. Ihm war bei diesem Anblick, als werde ihm mit einem scharf geschliffenen Messer mitten in den Bauch gestochen …

*

2000:

Vier Jahre hatten sie gebraucht, um zurück nach Mallorca zu kommen.

Vier Jahre, die einiges verändert und noch mehr vertieft hatten, wie Tom fand. Jetzt, da er am Flughafen von Palma de Mallorca stand und ihm der warme, angenehme weiche Wind den salzigen Geruch vom Meer in die Nase trieb, war es ihm, als wären sie niemals weg gewesen. Als würden sie noch immer darauf anstoßen, ihr Abitur bestanden zu haben.

Alles fühlte sich so vertraut an.

So unfassbar lebendig und echt, dass er kurz die Augen schließen musste, um sich darüber im Klaren zu werden, dass sie wieder hier waren. Dass Louisa und er gerade eben noch nebeneinander im Flugzeug gesessen hatten und sich kichernd fragten: „Sagen wir es ihnen heute oder im Laufe des Urlaubs?“

Tom war dafür gewesen, es sofort und gleich zu tun – wie immer, wenn es darum ging, eine Neuigkeit hinauszuposaunen. So wie damals, als er in Hamburg gelandet war, seine Eltern auf ihn warteten und er ihnen mit erstickter Stimme gleich sagen musste: „Ich habe eine Freundin!“

Louisa, völlig überrascht von seiner plötzlichen Spontanität, bekam nur ein „Äh“ heraus, als Toms Vater seinem Sohn auf die Schulter klopfte und sagte: „Hab ich dir doch gesagt, mein Freund. Wir haben den gleichen Geschmack!“

„Das tut mir so schrecklich leid“, hatte Toms Mutter zu Louisa gesagt und ihr einen mitleidigen Blick zugeworfen, den sie ihr heute noch, vier Jahre später, zuwarf, wenn Vater und Sohn meinten, lustig zu sein. „Aber die beiden sind leider nun mal so.“

„Werde ich mich daran gewöhnen müssen.“

„Wirst du!“

Damit hatten Toms Mutter und Louisa eine seltsame Art von Einigung erzielt, die er nicht immer durchschaute. Es war, als seien die beiden plötzlich beste Freundinnen, die sich von nichts und niemandem zu einem Risiko überreden ließen. Er brauchte nur an das zurückliegende Weihnachtsfest denken, als er mit seinem Bruder scherzte, wer von beiden als Erster mit einem Hai ins Wasser steigen würde.

Erst kürzlich hatte er gelesen, dass es gerade in war, in einen Gitterkäfig zu klettern und sich dann, mit Taucherausrüstung versehen, ins Meer hinabsenken zu lassen, um einen Hai aus nächster Nähe zu betrachten.

Wagemutige, wie Tom sie nannte, Verrückte, wie Louisa sie zu bezeichnen pflegte, hatten sich dabei filmen und fotografieren lassen, wie sie ihre Hand aus den Gitterstäben herausstreckten und mit den Fingerspitzen über die raue, körnig wirkende Haut des Raubfischs strichen.

Und in genau dem Moment, als Tom rief: „Das werde wohl ich sein. Ich bin immer der Erste von uns dreien!“, hatte er bemerkt, wie seine Mutter und Louisa einen vielsagenden Blick miteinander wechselten.

Einen Blick, der eine stumme Übereinkunft traf, die sein Schicksal maßgeblich beeinflussen würde.

Zunächst war er der Ansicht, dass sie sich über ihn lustig machten. Dass sie beide ihn nicht für ganz voll nahmen … was sie gern taten, wenn sie zusammen auf dem Sofa saßen, einen Sekt tranken und sich darüber freuten, was für waghalsige Pläne er ersann. Oft genug drehten sich seine Überlegungen um die Veröffentlichung seines Debütromans.

Dann aber, als er sich hinterfragte, begriff er, dass sie beiden sich alles andere als lustig darüber machten, was er sagte oder tat. Er musste sich eingestehen, dass sie beiden längst beschlossen hatten, was er tun und was er nicht tun würde.

„Das wollen wir doch einmal sehen, du Maulheld“, hatte sein Bruder Björn gemeint.

Eigentlich hatte Tom voller Inbrunst sagen wollen: „Das beweise ich dir schon!“ Doch mehr als ein: „Du wirst es schon sehen“, kam nicht zustande.

Dazu aber hatte er sich nicht mehr durchringen können, als er Louisa da am Tisch sitzen sah, den Blick einer Beamtin in spe auf ihn gerichtet, das verspielte Lächeln im Mundwinkel, das ihm zeigte, wie sehr sie ihn liebte und wie sehr sie ihm alles gönnte.

Solange es ihn nicht in Lebensgefahr brachte.

Die erneute, weiche Bö vom Meer ließ seine Gedanken abbrechen und eben zu jener Frau schauen, die es jetzt noch, nach vier Jahren, im Handumdrehen schaffte, ihn zu erobern. Die von ihrem Zauber nichts verloren hatte und ihn immer wieder davon überzeugte, was für ein Glückspilz er doch war.

Abgesehen von ihren Haaren.

So sehr er seine Louisa auch liebte, so sehr er sie auch vergötterte - was ihre Friseurin dabei gedacht hatte, ihr die Haare so zu schneiden, blieb ihm ein Rätsel.

Und eine Mahnung.

Nicht, weil er sich davor wappnen wollte, ebenfalls so auszusehen, wenn er zu dem Salon ging, zu dem Louisa gegangen war, sondern weil er sich immer auf die Zunge beißen musste, wenn Louisa ihn fragte, ob alles okay war.

Ja, war es.

Bis auf ihre Haare.

Tom, der in den letzten vier Jahren unendlich viel gelernt hatte und genau wusste, wie eine Polizistentochter tickte, hielt es für ratsamer, sich mit seiner Freundin über Dinge zu unterhalten, die ihnen beiden Spaß machten.

Nicht, dass es hieß, Louisa würde keine Kritik vertragen.

Aber eine ihrer nicht von der Hand zu weisenden Charaktereigenschaften bestand darin, erst einmal zu poltern, bevor man sich konstruktiv und selbstkritisch mit einem Thema beschäftigte.

Bei ihr stand immer, wirklich immer, als erstes die Emotion im Vordergrund.

Tom hingegen war der Typ, der sich immer dachte: Wenn ich ein Problem habe, dann muss ich es lösen. Egal, wie. Und am besten so, dass es einem hinterher keine Bauchschmerzen mehr bereitete.

Das Problem daran war nur, dass Louisa diesen sachlichen Gedanken nicht nachvollziehen konnte oder - wie Tom eher vermutete - nicht nachvollziehen wollte.

Denn ihrer Meinung nach war ein Problem dafür da, um so gelöst zu werden, dass die Gefühle am Ende stimmten. Nicht das Ergebnis.

Eine verzwickte Sicht der Dinge, wie Tom erst letztens hatte feststellen müssen, als sie beide von ihren Eltern zu ihrer gemeinsamen Wohnung gefahren waren.

Er hatte gewagt, zu bemerken: „Bei deinen Eltern warst du aber wieder mutig. Hast unsere Diskussion schön mit ihnen geteilt.“

„Was soll das denn heißen?“, hatte sie gefragt, während ihr Wagen langsam auf die gerade auf Rot geschaltete Ampel zurollte.

„So, wie ich es sage.“

„Bin ich also eine schlechte Freundin, weil ich meine Mutter um Rat frage, wie man miteinander umzugehen hat?“

„Deine Frage war so gestellt, dass ich als Blödmann dastehe und du als arme Maus, die auf jeden Fall Schutz benötigt, um von ihrem bösen, bösen Freund nicht unterdrückt zu werden!“

Louisas Lippen waren ganz schmal geworden. Ihre Augen waren zu engen Schlitzen geformt, und ihre Hände hatten sich so fest um das Lenkrad des alten, klapprigen Civics geklammert, dass Tom meinte, ihre Finger würden gleich knirschen und zerbrechen.

„Ich habe nur das gesagt, was mich bewegt.“

„Du hast es so gesagt, dass ich wie ein Diktator erscheine.“

„Was du schon wieder tust“, hatte sie geschnaubt.

„Ich mag es einfach nicht, wenn du dir Hilfe bei deinen Eltern suchst, wenn du ein Problem mit MIR hast!“

Die Diskussion war noch weiter gegangen, hatte bis zur gemeinsamen Haustür gereicht und war erst dann zum Erliegen gekommen, als Tom Louisa darum bat, jetzt nicht zu weinen.

In dem Moment, da er gesehen hatte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, hatte er prompt ein schlechtes Gewissen bekommen. Gefolgt vom Gefühl der Selbstzweifel, das ihn befiel, weil er doch genau wusste, wie sensibel Louisa war, sobald es um ihre Eltern ging. Wie sehr sie an ihnen hing und es kaum ertragen konnte, von ihnen getrennt zu sein – obwohl sie sich immer darüber beschwerte, wie engmaschig ihr Vater sie kontrollierte und Besuche bei ihm einforderte.

Eine merkwürdige, eine seltsame Situation, in der sie gefangen waren und die sie erst geklärt bekommen hatten, indem sie eine Nacht darüber schliefen und am nächsten Morgen während des Frühstücks noch einmal darüber redeten.

Es war nicht exakt das gesagt worden, was Tom hören wollte, aber er hatte das Gefühl, dass er Louisa von ihrer emotionalen Welle hatte herunterholen können. Dass er ihr deutlich machte, weshalb er es nicht mochte, dass Louisa versuchte, sich Rückendeckung bei ihrer Mutter zu holen, um ihre Interessen durchzusetzen.

Dazu kam, dass Tom die zurückliegenden vier Jahre mit Louisa ausgesprochen genossen hatte.

Dass er sich gar nicht mehr vorstellen konnte, mit einer anderen Frau zusammen zu sein als mit ihr.

Dass er nur Augen für sie hatte.

Natürlich, sie war währenddessen etwas bedachter geworden, besonders seit sie das Praktikum im Kommissariat in Hamburg gemacht hatte und schonungslos vor Augen geführt bekam, wie niederträchtig und berechnend Menschen mitunter doch waren.

Was wiederum zu einer noch innigeren Beziehung der beiden geführt hatte.

Er musste nur an die letzte Nacht denken, als sie sich schon kurz vor 20 Uhr ins Bett gekuschelt hatten, da sie um drei Uhr früh aufstehen mussten. Laut der Unterlagen hatten sie sich um 4:30 Uhr am Flughafen einzufinden wegen des Check-Ins. Da war es ihm bewusst geworden, wie vertraut sie miteinander umgingen. Wie engumschlungen sie dalagen, als er ihre Nähe spürte und sie leise sagen hörte: „Ich liebe dich über alles.“

„Ich dich auch.“

„Niemals will ich, dass dir etwas passiert!“

Verwundert hatte er, schon im Einschlafen begriffen, den Kopf zu ihr gedreht und sie fragend angeschaut.

Bereits als sie heimgekommen war, war ihm aufgefallen, dass etwas sie beschäftigte. Dass etwas in ihr gärte, das sie mit Sorge erfüllte.

Auf seine Nachfrage, was denn sei, hatte sie ihm nur ein zerstreutes Lächeln geschenkt, das sie immer dann aufsetzte, wenn sie über etwas ernsthaft nachdachte. „Alles gut.“

Aber dann der Satz: „Niemals will ich, dass dir was passiert.“

Tom hatte es als seine Pflicht betrachtet, zu hinterfragen, was ihr auf der Seele lag. Und gleichzeitig wusste er, dass er nicht allzu sehr bohren durfte, wenn Louisa über etwas nicht sprechen wollte.

Da kam ganz glasklar der Dickschädel durch, den sie von ihrem engstirnigen und oft übellaunigen Vater geerbt hatte.

All das war wie weggeblasen, als sie in den Flieger stiegen und die Stewardessen sie darum baten, sich anzuschnallen und darauf zu achten, die Musik aus ihrem MP3-Player nicht zu laut zu stellen, weil sie sonst ihre Mitflieger störten.

Und eben da, als sie im Flugzeug saßen und sich dafür entschieden, noch ein wenig mit ihren wirklich aufregenden Neuigkeiten zu warten, war ihm bewusst geworden, was sie gemeint hatte.

„Du hast wieder zu schwarz gesehen.“ Er musste einfach nach ihrer Hand greifen, sie drücken und nachschieben: „Mir wird nie etwas passieren, ganz bestimmt nicht.“ Um dann zu lachen. „Es sei denn, du tust es mir an.“

„Menschen sind merkwürdig“, war ihre Antwort auf sein Versprechen gewesen. „Ich verstehe sie einfach nicht.“

Und damit hatte es sich.

Damit war alles gesagt.

Louisa hatte während ihres praktischen Einsatzes im Kommissariat in die Abgründe der menschlichen Seele schauen müssen und hatte die Sorge, ihnen könnte eine kaltherzige, boshafte Bestie begegnen, abends im Bett zum Ausdruck gebracht.

Keine ellenlangen Diskussionen.

Keine kitschig klingenden Versprechungen.

Keine hoffnungsschwangeren Dialoge über Sinn und Unsinn der Menschen.

Einfach nur sie.

So, wie sie waren.

Das liebte Tom so an seiner Louisa und war ihr unendlich dankbar dafür, dass sie es nun schon ganze vier Jahre mit ihm aushielt und keinerlei Anzeichen dafür zeigte, die Beziehung in irgendeiner Weise in Frage zu stellen.

Wir sind wieder hier, dachte er bei sich und nahm Louisa in den Arm, die ihre beiden Koffer hinter sich herzog.

„Nur einmal merken, wie es sich anfühlt!“

Der Sommer in Hamburg war, gelinde gesagt, nass gewesen. So viel Regen und Gewitter hatte er in seinem ganzen Leben nicht ertragen müssen. Immer wieder waren große Wolkenmassen über den Atlantik nach Deutschland getragen worden und hatten den bisherigen Sommer im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser fallen lassen.

Die wenigen Tage, die sie nach Studium und getaner Arbeit am Oortkaten-See verbracht hatten, waren an einer Hand abzuzählen.

Nichts war mehr mit den lauschigen Abenden im Sonnenlicht gewesen. Eher hatten sie ihre Wolldecken aus dem Bettkasten gekramt, um nicht frieren zu müssen, während sie auf Kabel-1 voller Neugier „Fackeln im Sturm“ mit Patrick Swayze gucken wollten.

Was daher kam, dass Tom sich daran erinnert hatte, wie er die Serie damals mit seinem Bruder zusammen geguckt hatte. Er, weil Geschichte und Konflikte ihn schon immer interessiert hatten, und Björn, weil er die Darstellerin von Ashley so mochte.

Jetzt, so viele Jahre später, hatte er nach einer Spätschicht im Supermarkt gelangweilt durchs Fernsehprogramm gezappt und war an dem alten Streifen hängengeblieben. Dazu war Louisa erst abends aus der Uni nach Hause gekommen und hatte ihn kritisch gefragt, was für einen Unsinn er da denn schauen würde.

„Unsinn? Das ist Kult!“

Und so lächerlich sie das alles anfangs auch gefunden hatte, sie musste später eingestehen, dass ihr die Filmreihe ausgesprochen gut gefiel. Dass sie wissen wollte, wie es den Maines in South Carolina erging und was die Hazards oben in Pennsylvania erlebten. Dass sie nicht genug davon bekam, was für Intrigen gesponnen, was für Probleme gelöst und welche Freundschaften erneuert oder vertieft wurden.

Alles im allem hatte es einen angenehmen, wenn auch niedrigen, schauspielerischen Nennwert. Dafür umso größeren Unterhaltungswert.

Als er vom Fußballtraining nach Hause kam, hatte sie schon auf der Couch gesessen, eine geöffnete Tüte Chips vor sich, die gefüllten Cola-Gläser auf dem Tisch, erwartungsvoll zu ihm geschaut und gefragt: „Willst du dich nicht setzten? Der Film geht gleich los.“

„Was gibt es denn?“

„Fackeln im Sturm“, hatte sie erklärt. „Das ist Kult. Das darfst du nicht verpassen!“

Das war das einzig Gute an diesen bisherigen Sommer gewesen.

Und natürlich Mallorca!

Das war das Beste an allem.

Besonders, weil Louisa und Tom wegen der Studiererei, der gerade zu Ende gegangenen Lehre und dem nun beginnenden Nebenjob ihre besten Freunde seit fast vier Monaten nicht mehr gesehen hatten.

Katrin noch länger.

Was genau sie gerade tat, wusste Tom nicht einmal.

Auf StudiVZ hatte sie nur den einen oder anderen Kommentar gepostet und auf Nachfragen gar nicht mehr reagiert.

Außerdem, und das war das Allerwichtigste, konnten sie endlich wieder ihre Seele baumeln lassen. Wieder unbeschwert und gelöst sein. Da gab es jetzt keine Prüfungen, keine Praktika, keine Furcht vor dem nächsten, markerschütternden Fall, der die Seele mit Angst erfüllte und die Träume in der Nacht zum Vibrieren brachte.

„Das ist unser Bus, da“, sagte Tom.

Er hatte die Hand ausgestreckt und zeigte zu jenem orangefarbenen verrotteten Bus, der sie hinauf nach Cala Millor bringen sollte.

Schließlich, als sie im Bus saßen, im hintersten Bereich, Louisa ihren Kopf an seine Schulter legte, sich mit der Hand über den Bauch strich und die Augen geschlossen hielt, weil sie plötzlich unendlich müde geworden war, meinte Tom, niemals glücklicher gewesen zu sein.

Nicht nur, dass die Sonne schien, dass der Bus sich ruckelnd und knatternd in Bewegung setzte, es war auch der innere Moment der Zufriedenheit, den er spürte. Er war plötzlich wieder achtzehn … Ein Abiturient. Von der Welt erwartet …

… Er war frei.

*

„Alter, du wirst immer fetter“, war Ollis Begrüßung, als sich Tom und Louisa gerade an der Rezeption registrieren ließen. „Und du immer langweiliger. Was hast du mit deinen Haaren gemacht?“

„Du bist und bleibst ein Arsch“, kommentierte Louisa. Sie sah nicht einmal auf, während sie sich mit ihrer geschwungenen, sauberen Handschrift auf dem Formular verewigte. „Ich weiß gar nicht, wieso ich mich auf dich gefreut habe.“

„Weil du weißt, was dich in unvergesslichen zwölf Tagen mit mir erwartet.“

Tom musste lachen.

„Schön, dich zu sehen“, sagte er, breitete die Arme aus und drückte seinen besten Kumpel an sich.

„Wenn du nicht zu breit um die Hüften wärst, würde ich dir das Gleiche sagen!“

„Was hast du denn mit meiner Figur? Ich habe nicht ein Kilo zugenommen.“

„Komisch. Sieht aber so aus. Ein Sixpack ist das nicht.“

„Das hatte ich nie.“

„Stimmt“, machte Olli. „Das war ja mein Ressort!“

Tom grinste weiter, während er an Olli vorbei zu der verlegenen jungen Frau schaute, deren Minirock viel zu viel Bein freigab. Das üppig ausgeschnittene De¬kolle¬té präsentierte zwei prachtvolle Brüste. Man wusste gar nicht, wohin man als Erstes schauen sollte.

Sie stand da, die Knie aneinander gelegt, den linken Fuß auf die Zehenspitzen gestellt und in den Händen eine kleine rosa Tasche, auf der sie eine Melodie zu spielen schien. Sie lächelte unsicher, als sie merkte, dass Tom sie ansah. Ihr zartes: „Hi“ war so leise, dass man es nur erahnen, nicht hören konnte.

„Hi“, sagte auch Tom.

„Oh ja, habe ich ja fast vergessen zu erwähnen. Ich habe mir eine Begleitung für den Urlaub mitgebracht.“

Eine Nutte?, wollte Tom ihn spontan fragen – ohne es zu tun.

Als ihm die Frage auf der Zunge lag, fielen seine Blicke auf ihr zart geschnittenes, jugendliches Gesicht. Es hatte eine unbeschreibliche, eine ihn tief berührende Verletzlichkeit an sich, sodass er wusste, seine Vermutung, es hier mit einem leichten Mädchen zu tun zu haben, war völlig falsch.

So billig sie auch gekleidet war, so albern sie ihre Locken auch hochgesteckt hatte, sie besaß eine weiche, eine sie umschließende Aura von Unschuld, dass Tom sich ernsthaft zu fragen begann, was solch eine Frau von einem Kerl wie Olli wollte.

Jeder, der auch nur für einen Augenblick mit Olli in Kontakt war – und dabei alle Latten am Zaun hatte –, durchschaute ihn schneller, als man durch ein Fenster gucken konnte.

Olli wollte Spaß.

Keine Verpflichtungen.

Dem simplen, hemmungslosen Lauf der Natur folgen, der darin bestand, eine Frau kennenzulernen, ihr Honig ums Maul zu schmieren und sie dann genüsslich und mit voller Inbrunst in derselben Nacht noch ins Bett zu bekommen.

„Das ist Denise“, stellte er sie lapidar vor. „Nettes Mädchen.“

„Schön, dich kennenzulernen“, sagte Tom und streckte ihr die Hand entgegen.

„Freut mich auch“, erwiderte sie.

„Das ist Tom“, sagte Olli und musterte die noch immer an der Rezeption stehende, ihm den Rücken zuwendende Louisa. „Erfolgloser Schriftsteller.“

„Hey“, protestierte Tom.

„Oh, hab ich schon zu viel verraten?“

„Ich bin nicht erfolglos.“

„Ach, ist dein Roman jetzt doch verlegt worden?“, wollte Olli wissen und ließ seine Blicke ungeniert über Louisas sich weich unter dem Stoff ihrer kurzen Hose abzeichnenden Hintern wandern.

„Ich arbeite daran!“

„Wie schon seit Jahren“ Olli winkte ab und berührte damit einen wunden Punkt bei Tom, sodass der ihm am liebsten in die Fresse geschlagen hätte.

So schwer es Tom auch fiel, in all der Wut und dem Schmerz, den er gerade empfand, hatte sich etwas eingeschlichen, dem er gern ausgewichen wäre. Etwas, das er, wenn er ehrlich war, im ganzen Urlaub gar nicht angeschnitten hätte.

Was ging es die anderen an, wie es sich mit ihm und seiner Schreiberei entwickelte?

Dass er nur deshalb einen ungeliebten Nebenjob machte, weil er nicht wollte, dass Louisa die karge Unterstützung ihrer Eltern allein für Miete, Haushalt und Lebensmittel ausgab?

Gar nichts.

Das hatte die anderen nicht zu interessieren.

„Das wird schon“, verteidigte er sich schwach und schloss die Augen, als er Louisa aus dem Hintergrund sagen hörte: „Man muss an die Menschen glauben, die man liebt, Olli. Schwer für dich nachzuvollziehen, weil du nur dich selbst liebst. Tom würde es gut tun, wenn du nur einmal positiv über ihn reden würdest.“

Das war der nächste Schlag in die Magengrube.

So sehr er es auch immer genoss, dass Louisa ihm beistand, egal, was kam und egal, was kommen würde. In solchen Momenten, da er seine Schlachten allein zu schlagen versuchte, wollte er nicht, dass seine Freundin Partei für ihn ergriff. Er wollte nicht, dass sie sich vor anderen aufbaute – meist vor ihrem Vater –, um allen zu erklären, wie sehr sie an Tom glaubte und sich sicher war, dass das nächste Buch, das er in Angriff nahm, endlich einen Verlag oder wenigstens eine Agentur fand und veröffentlicht wurde.

„Was redest du da?“, lachte Olli. „Ich glaube an alles, was Tom macht. Zum Beispiel auch daran, dass er mehr isst, als ihm gut tut!“

Olli stupste Tom mit dem Zeigefinger in den Bauch und zwinkerte ihm zu.

Toms Gesicht blieb regungslos wie eine Maske.

„Ich werde bald veröffentlichen“, sagte er.

„Ich weiß.“ Olli lachte mit einem Tonfall, den Tom nicht fassen konnte.

Einerseits glaubte er, dass er unendlich viel Hohn und Spott darin hörte, andererseits war darin auch etwas verborgen, das er nicht gleich fassen konnte. Eine fremder, ein für Olli untypischer Unterton, der etwas Bekräftigendes, etwas Bejahendes an sich hatte, das Tom verwirrt blinzeln ließ.

„Ich möchte mal Sängerin werden“, meldete sich Denise zu Wort.

Noch immer auf dem linken Bein stehend, das rechte angezogen, die Handtasche nun verkrampft zwischen den Fingern.

Tom musterte sie von Neuem und konnte den Gedanken nicht unterdrücken, der ihm wie ein Blitz ins Hirn schoss: Das kann ich mir denken, Mäuschen. So richtig schön viel Kohle mit deiner Stimme und deinem Aussehen verdienen, wie? Das würden wir alle gern.

Jeder von uns.

Aber nicht jedem wird diese Möglichkeit gegeben. Es gibt unzählig viele Hürden zu überspringen, bevor man überhaupt auch nur eine Sekunde in die Nähe seines Traumes kommt.

Man muss …

Er brach seine fieser werdenden Gedanken erschrocken ab.

So etwas hatte er vorher niemals gedacht.

Nicht einem Menschen in seiner näheren Umgebung missgönnte er auch nur einen Augenblick seine Träume.

Himmel!

Wenn Denise Sängerin werden wollte, dann sollte sie alle Hebel in Bewegung setzten, um diesem Traum hinterher zu jagen und ihn irgendwie versuchen, in die Tat umzusetzen.

„Katrin kommt nachher“, sagte er heiser und viel zu schnell, viel zu hastig, aus Angst, jemand könnte seine Gedanken erraten. „Die hat gerade ihr Schauspielexamen abgelegt. Vielleicht kann die dir Tipps geben, wie man mit seiner Stimme arbeitet und wie man sich auf der Bühne präsentiert!“

„So, und jetzt erzähl mal, warum du so eine langweilige Frisur hast, Louisa, das ist ja kaum zu ertragen“, überging Oliver Toms Angebot, lehnte sich lässig gegen die Rezeption und lächelte Louisa breit und frech an.

„Ich würde sie an deiner Stelle nicht provozieren“, ermahnte Tom, der sah, wie Denise ihm antworten wollte. „Das ist nicht gesund.“

„Macht sie jetzt Karate, oder was?“

„Du bezahlst meinen Urlaub, wenn du mich belästigst!“, erinnerte Louisa, die sich nun aufrichtete.

„Nur sexuell.“

„Die Vertragsdetails sind gerade erweitert worden.“

„Aber das da …“ Olli zeigte mit einer gequälten Miene auf Louisas Haare. „Das muss besprochen werden!“

„Das ist modern!“

„Ich bin modern. Denise ist mo … heiß. Richtig heiß! Selbst Tom ist moderner als das da.“ Olli ignorierte die mahnenden Blicke seines besten Freunds.

„Noch ein Wort, und du bezahlst alles!“

„Warum denn schwarze Haare? Louisa … Du warst blond tausendmal attraktiver … Tausendmal …“

*

Katrin fühlte sich geschmeichelt – und sonderbar verlegen.

Dass sie, seit sie die Schauspielschule abgeschlossen hatte und jetzt in der einen oder anderen kleinen, wirklich kleinen, Fernsehproduktion für die Dritten Programme mitgewirkt hatte, die Aufmerksamkeit auf sich zog, war ihr bewusst gewesen. Sogar erwünscht. Doch jetzt, da Denise ihr seit zwei Tagen nicht mehr von der Seite wich und sie unentwegt mit Fragen löcherte, auf die Katrin ebenfalls noch keine Antwort gefunden hatte, war es ihr unangenehm.

Vielleicht, weil ich noch nicht das erreicht habe, was ich erreichen wollte, gestand sie sich ein, während sie über den kleinen Handwerkermarkt schlenderten, gleich gegenüber dem großen Yachthafen, direkt am Fuße der Kathedrale von Palma.

Die Sonne, hoch und heiß am Himmel, hatte alle aus der Gruppe dazu gezwungen, sich luftig leicht anzuziehen. Selbst Conny, der sonst immer dazu neigte, selbst bei höchsten Temperaturen in einer langweiligen Jeans, einem ausgeblichen T-Shirt und geschlossenen Schuhen aufzutauchen, hatte sich für eine kurze Hose und hässlich braune Sandalen entschieden.

„Und wie kommst du mit den Blicken zurecht?“, wollte Denise soeben wissen, während Katrin sich die ins Silber der Ringe eingearbeiteten Gravuren ansah. „Ich meine, hey, die gucken dich an und erwarten was von dir.“

„Das ist der Job“, antwortete sie lapidar, nahm den Ring in die Hand und schaute an Denise vorbei zu der sonderbar stillen Louisa.

Erst hatte Katrin gemeint, Louisa sei noch immer auf Oliver sauer. Selbst beim gemeinsamen Abendessen, als sie endlich allesamt am Hotel angekommen waren, hatte Oliver es nicht lassen können, über die hässliche schwarze Bobfrisur zu reden. Katrin war derselben Ansicht wie er. Aber sie dachte es sich nur.

Als sie sich beide eben einen vielsagenden, innigen Blick zuwarfen, wusste Katrin, dass es gerade um alles ging, nur nicht um Louisas Haare. Ihr lag etwas auf dem Herzen, und bisher hatten die beiden Freundinnen keine Möglichkeit gefunden, darüber zu sprechen.

Dafür redete Denise.

Pausenlos.

Zu jeder Tag- und Nachtzeit.

„Aber das muss man doch lernen“, sagte sie jetzt wieder. „Das Lampenfieber unter Kontrolle bekommen und so ...“

„Es gibt da gewisse Tricks …“

„Sich das Publikum nackt vorstellen? Davon habe ich gehört …“

Katrin seufzte. „Das würde einen eher zum Lachen bringen!“

„Ach so …, weil die Leute so hässliche Leberflecken und so haben? Ich verstehe.“

„Weil die Vorstellung allein schon lustig ist, dass alle Besucher des Stücks nackt sind, während ich angezogen auf der Bühne stehe“, beendete sie ihren Satz und wünschte sich nichts sehnlicher als etwas Ruhe.

Sie wollte von keinen Fragen mehr gelöchert werden.

Wollte sich keine Antworten aus den Fingern saugen, die ein Mensch wie Denise verstand, was es bedeutete, auf den Bretter, die die Welt bedeuten, zu stehen und Figuren zum Leben zu erwecken, die die Zuschauer sonst niemals im Leben zu Gesicht bekam.

Sie war Katrina Scholz.

Eine talentierte – wenn auch noch unentdeckte - Schauspielerin, die mit Auszeichnung abgeschlossen hatte. Die während ihres Studiums bei mehreren erstklassigen Synchronstudios vorgesprochen hatte, und jedes Mal war ihr dabei versichert worden, dass man sie auf jeden Fall in die Sprecherkartei aufnehmen würde. Dazu kamen die vielen erfolgversprechenden Castings für diverse Filmprojekte und Serienkonzepte.

Da konnte sie, wenn sie sich hier auf Mallorca von dem harten Stress, dem sie tagtäglich ausgesetzt war, zu erholen versuchte, wirklich keine nervende Denise gebrauchen, die ihr den letzten Nerv zu rauben drohte.

Deshalb seufzte sie, als sie vernahm, wie Denise Luft holte. „Darf ich mir den Ring hier noch kurz anschauen, bevor du weitersprichst?“

„Klar“, nickte Denise eifrig und zog sich mit dem Finger über die Lippen, als würde sie einen Reißverschluss zuziehen. „Kein Wort mehr.“

„Danke.“

„Gerne. Halte ja immer das, was ich verspreche.“

„Das kann ich bestätigen“, grinste Oliver zweideutig und stupste Katrin an. „Wenn du verstehst, was ich meine.“

„Ich klatsche nicht mit dir ab. Ganz bestimmt nicht.“

„Aber …“

„Nein. Das war anzüglich und abwertend.“

Damit ließ sie den Ring ins Futteral zurückgleiten und nahm sich vor, ihn sich ein andermal zu kaufen. Jetzt galt es, ihrer besten Freundin zur Seite zu stehen und sie zu fragen, was ihr denn über die Leber gelaufen war.

Louisa aber ließ sich nicht in ein Gespräch verwickeln. Sie winkte nur ab, als Katrin zu ihr kam und fragte:

„Alles gut, Süße?“

„Ging mir nie besser!“

„Wirklich?“

„Würde ich das denn sonst sagen?“, fragte Louisa dagegen und ließ dadurch bei Katrin eine steile Falte auf der Stirn entstehen.

Sie kannte Louisa zu gut, um ganz genau zu wissen, dass mit ihrer Freundin gerade überhaupt nichts stimmte. Dass da etwas in ihrem hübschen Köpfchen vor sich hin brodelte und versuchte, hinter die Lösung eines schwerwiegenden Problems zu kommen.

„Du sagst oft mehr, wenn du nichts sagst.“

Louisa lächelte nur. „Tom hat was gefunden, das ihm gefällt!“

Damit war die Unterhaltung für Louisa beendet und Katrin stand da, als habe man ihr mit der Schaufel eine direkt gegen die Stirn gegeben. Zu ihrer eigenen Überraschung musste sie die sanfte, aber dennoch bestimmte Abfuhr Louisas erst einmal verdauen.

Natürlich, beide kannten sich seit der Grundschule. Der eine konnte den anderen wie ein Buch lesen. Zurückweisungen waren bei ihnen bisher kein Thema gewesen.

Beide wussten aber auch, wenn die Zeit gekommen war, das alles klärende und bereinigende Gespräch würde wie das Amen in der Kirche stattfinden.

Jetzt aber, da sie seit gut drei Monaten aus der Schauspielschule heraus war und sie sich manchmal fragte, wie es denn jetzt weiter gehen sollte, war ihr, als würde Louisas Abfuhr sie in Flammen setzen.

Nicht so, wie sie für ihre Rollen oder die jungen, attraktiven Schauspielkollegen in Flammen stand, sondern eher, als würde man in einer Lohe aus Feuer stehen und aufs Qualvollste verbrannt werden.

Sie wollte Louisa gerade nach, sie bei der Hand nehmen und ihr entschlossen, wie es nun einmal Katrins Art war, sagen: „Hey, sag jetzt, was los ist. Du weißt genau, dass ich das nicht abkann, wenn es dir nicht gut geht“, als Conny neben ihr auftauchte. In der Hand zwei frisch gepresste Orangensäfte, den einen für sich, den anderen hielt er ihr entgegen.

„Für dich.“

„Ich hab keinen Durst.“

„Hattest du in der Disco auch nicht, und da wolltest du einen Sex on the Beach.“

„Das ist wirklich lieb von dir, aber …“

„Trink …“, sagte Conny bestimmt. „Jetzt!“

Erschrocken nahm sie das ihr gereichte Glas und hauchte ein: „Danke.“

Conny hingegen sagte nur: „Interessant“ und drehte sich von ihr weg.

Er war schon merkwürdig …

Das machte Katrin Angst.

Angst deshalb, weil sie schon die ganze Zeit über im Hotel das merkwürdige Gefühl hatte, von Conny beobachtet zu werden. So, als würde er, vor ihren Blicken verborgen, hinter einer Hecke stehen und jeden ihrer Schritte ganz genau verfolgen.

Gestern Mittag hatte er sie schon dazu aufgefordert, mit ihm schwimmen zu gehen, obwohl sie es gar nicht wollte. Doch als er sagte: „Ich will jetzt, dass du mit mir schwimmen gehst“, hatte sie getan, was er von ihr verlangte.

Ins kalte Wasser war sie gesprungen.

Obwohl sie nichts mehr als das hasste.

Und kalte Wasserspritzer auf der Haut!, ergänzte sie. Mann, die hasse ich wie die Pest!

Allein der Gedanke daran, knietief im Wasser zu stehen, und ein Verrückter, wie zum Beispiel Oliver einer war, würde einfach an ihr vorbei laufen und sie von oben bis unten nass spritzen, ließ sie einen eisigen Schauer auf dem Rücken spüren.

Sie hatte Conny nur verwirrt angeschaut und sich über sich selbst gewundert, dass sie die drei Bahnen mit ihm geschwommen war, die er einforderte.

Conny macht mir irgendwie Angst, bestätigte sie sich, während sie Louisa nachsah, die zu Tom gegangen war, liebevoll dessen Hand ergriff und ihr Kinn auf seine Schulter legte.

Conny macht dir keine Angst, meldete sich eine andere, tief in ihr verborgene Stimme. Jene Stimme, die immer verdächtig unangenehm nach derjenigen ihrer auf Erfolg getrimmten Tante klang.

Etwas herrisch, etwas besserwisserisch, immer darauf bedacht, keine Schwäche zu zeigen.

… du hast Angst vor dir selbst.

Vor mir?

Oh ja. Vor dir, Mädchen. Weil du gerade nicht weißt, wer du bist und wohin es gehen soll. Weil du dir Dinge befehlen lässt, die du gar nicht machen willst.

Angst …

… weil nichts mehr planbar ist.

*

Die Radtour hinauf nach Arta war anstrengender gewesen, als Louisa es sich eingestehen wollte. Besonders deshalb, weil sie nach der Hälfte der Strecke auf der asphaltierten und von der Sonne aufgeheizten Straße das Gefühl hatte, bei lebendigem Leib gebacken zu werden. Sie hatte die felsige, karg erscheinende Landschaft der Massís d’Artà immer sehr gemocht. Besonders die Olivenplantagen, von hüfthohen Mauern umgeben, hatten ihre Aufmerksamkeit immer komplett auf sich gezogen. Darüber hinaus die nur wenige Meter aufragenden Felsmassive, die von grünen, ausfächernden Zwergpalmen bewachsen waren. Dazu die in der Ferne sich abzeichnenden, typischen mallorquinischen Häuser und kleinen Höfe. Da waren die nur mit Kies bedeckten Auffahrten zu den ebenfalls karg gehaltenen Grundstücken, die ockerfarbenen Fassaden der Häuser und die kunstvoll und mit Liebe hergerichteten Zäune.

Doch gerade jetzt, als Tom ihr davonradelte, von der Hitze kaum beeindruckt, meinte sie, dass sie einen Fehler begangen hatte, als sie sich hatte überreden lassen, mit dem Fahrrad ins Landesinnere aufzubrechen.

„Arta haben wir noch nicht gesehen“, hatte Tom heute Morgen beim Frühstück festgestellt und sie groß aus seinen dunklen, wunderschönen Augen angesehen, dass es ihr ein angenehmes, ein verliebtes Kribbeln in den Bauch jagte und sie manchmal verwirrte.

Verwirrte, weil sie sich einfach nicht erklären konnte, dass sie einen Menschen so sehr lieben konnte.

Er war einfach alles für sie.

Und so hatte sie, ungeachtet ihres inneren Unbehagens, ihm ein Lächeln geschenkt und gesagt: „Gern.“

„Wisst ihr, warum ihr Arta noch nie gesehen habt?“, wollte Oliver wissen, als er sich zu ihnen an den Tisch setzte, seinen Teller mit Ei, Speck und roten Bohnen befüllt. „Weil es da langweilig ist!“

„Ist es nicht“, hatte Tom seine Entscheidung verteidigt. „Das ist eine Sehenswürdigkeit. Damit bildet man sich.“

„Du solltest lieber auf deinem Konto etwas Vermögen bilden“, war Ollis lachende Antwort gewesen.

Eine Antwort, die Louisa in Rage gebracht hatte. Deshalb zischte sie: „Keine Sorge, Tom wird Erfolg haben.“

„Hat er“, lachte Oliver nur, so wie immer, wenn er merkte, dass er mal wieder übers Ziel hinausgeschossen war. Die letzten beiden Tage hatte er unablässig darüber gelästert, wie weit Tom seinem Traum, von der Schreiberei einmal leben zu können, noch entfernt war.

Sie aber, in ihrer schon fast vergötternden Liebe zu Tom, war sich sicher, dass er es eines Tages schaffen würde.

Dass er ein Buch schrieb, das einem Verleger gefallen und ihn überzeugen würde. Das ein großer Erfolg wurde.

Irgendwann …

Auch jetzt, da Tom zu merken schien, dass Louisa hinter ihn zurückfiel und sein Fahrrad zum Stehen brachte, begriff sie, dass sie Tom niemals verlassen würde. Dass sie alles mit ihm durchstehen würde. Alles. Ganz gleich, was. Auch dann, wenn er kein Erfolg als Schriftsteller haben würde.

Sie würde ihm den Rücken freihalten, egal, was es sie selbst kostete.

Egal, was ihr Vater dazu sagen würde, und das meinte sie ehrlich, weil sie es sich so fest vorgenommen hatte.

Der hatte sie drei Tage, bevor sie aufgebrochen waren, während der Arbeit angerufen. Ein zunächst unvermittelter, sich nur nach ihrem Wohlbefinden erkundigender Anruf, wie es schien. Nur: Ihr Vater meldete sich niemals nur so, weil er hören wollte, wie es seiner studierenden Tochter ging.

Er hatte immer einen Hintergedanken.

Ganz der Polizist, der eine Frage nicht aus dem Bauch heraus stellt. Sondern, weil er damit etwas bezweckt.

„Alles gut bei dir?“, hatte er sie gefragt.

„Klar. Wieso fragst du?“

Eine kurze Pause. Er konnte mit der schroff klingenden Gegenfrage seiner Tochter nichts anfangen. Bisher waren ihre Telefonate immer gleich verlaufen. Er rief an, fragte, wie es ihr ging, wartete die Antwort ab und fiel dann mit der Tür in Haus.

An diesen Nachmittag aber, Louisa hatte gerade allein im Büro gesessen und eine Fallanalyse geschrieben, war ihr danach, sich zu behaupten. Ihre bisherige Furcht, ihrem Vater nicht mehr zu gefallen, hatte ihr Handeln beeinflusst.

Bis zu dem Moment, als sie sich mit Tom gestritten hatte.

Natürlich hatte sie sich angegriffen und in die Ecke gedrängt gefühlt. War der festen Meinung gewesen, dass Tom ihr das enge Verhältnis zu ihren Eltern vorwarf, weil seines zu seinem Vater gerade ordentlich angespannt war.

Dann aber, als sie abends im Bett gelegen hatten, jeder auf die Seite gedreht, Rücken an Rücken, hatte er etwas zu ihr gesagt, das bis heute in ihr nachhallte.

„Ich möchte mir dir zusammen sein. Nicht mit deinen Eltern!“

Es war wie eine Ohrfeige gewesen.

Nicht eine von der Sorte, die einen erniedrigte, sondern die, die einen beruhigte, nachdem man einen hysterischen Anfall gehabt hatte.

Konsterniert über diese beiden einfachen Sätze hatte sie nur ein heiseres: „Okay“ herausbekommen.

Das konnte sie nicht.

Dafür war sie nicht der Typ.

Sie musste entweder auf einer Welle ihrer Emotion daher geritten kommen oder sich zurückziehen und ihre Gedanken um das Thema kreisen lassen.

Wieder und wieder.

Noch einmal und noch einmal.

Bis sie zu einer Lösung gekommen war.

Und eben weil sie damals am Frühstückstisch miteinander gesprochen hatten, sich einig wurden, wie sie ihr gemeinsames Leben ab sofort planen sollten, musste sie ihrem Vater mit neuem Selbstvertrauen entgegentreten.

„Ich wollte nur hören, ob alles okay ist bei dir“, setzte dieser, weiterhin merkwürdig leise, erneut an. Schließlich räusperte er sich etwas verlegen.

„Ist es.“

„Mit Tom auch? Also … es läuft zwischen euch?“

„Ja, tut es.“

Sie hatte da an ihrem abgewetzten Schreibtisch gesessen, einen viel zu alten, brummenden Computer rechts neben sich stehen gehabt und ein wissendes Lächeln auf den Lippen getragen.

Ein Lächeln, wie es nur eine Tochter tragen konnte, wenn ihr Vater sich bei ihr meldete und wissen wollte, wie es um die Beziehung zu dem nicht gerade heißgeliebten Schwiegersohn in spe bestellt war.

„Das ist schön.“

„Wolltest du etwas anderes hören?“, fragte sie bissig.

Schweigen.

Sie konnte sich plastisch vorstellen, wie ihr Vater da an seinem Schreibtisch hockte, den Telefonhörer in der Hand, die Vorderzähne in die Unterlippe gepresst, die Stirn in Falten gelegt und in tiefen Gedanken versunken. Ja, wenn sie sich Mühe gab, konnte sie sich sogar vorstellen, worüber er gerade nachdachte und ob es klug von ihm war, seine Gefühle zur Schau zu stellen.

Christoffersons neigten nicht dazu, mit ihren Empfindungen hinter den Berg zu halten.

Sie sagten, was sie dachten.

Meistens.

Oder besser gesagt: Ihr Vater sagte, was er dachte. Wenn er nicht in der Nähe war, konnten Louisa und ihre Mutter hingegen ausgesprochen frei und ungezwungen miteinander reden.

„Ich wollte nur hören, ob alles gut zwischen euch ist.“

„Ist es.“.

„Finanziell auch alles im Lot?“

„Ja.“

„Ich habe was anderes gehört.“

Und da war er wieder, der ekelhafte Polizist, der seine Fragen nicht aus Interesse am Empfinden seiner Mitmenschen stellte. Der Ermittler. Die Spürnase. Das Genie.

„Ich studiere noch, und Tom hat nur einen Halbtagsjob. Natürlich ist es manchmal etwas eng.“

„Aber in den Urlaub könnt ihr fliegen.“

„Wir werden sparsam sein.“

„Das meinte ich nicht“, sagte er. „Ich …“

„Wir haben uns bei euch kein Geld geliehen. Und was wir und Oma gemacht haben, geht dich nichts an. Gar nichts!“

„Schatz“, versuchte Christofferson zu schlichten, als er merkte, wie Louisa ungehalten wurde. „Darum geht es mir doch gar nicht. Ich will doch nur, dass du keine Not leidest.“

„Tue ich nicht.“

„Du musstest dir Geld leihen!“

Verdammt, Oma!, dachte sie sich, als sie ihren Vater das sagen hörte. Warum musstest du dich auch verplappern?

„Wir geben ihr das Geld zurück.“

„Soll das denn ab sofort so weitergehen? Dass ihr euch Geld leihen müsst, damit ihr eure Miete bezahlen könnt? Louisa …“

Sie hatte ihren Vater nicht aussprechen lassen. Sie war ihm ins Wort gefallen: „Tom hat den Job zwei Wochen später anfangen können als geplant. Deshalb hat er auch nur ein halbes Gehalt bekommen. Und deswegen mussten wir uns was bei Oma leihen.“

„Wann arbeitet Tom endlich richtig?“, wollte ihr Vater wissen. „Dieses, dieses …“

„Schreiben“, half sie ihm auf die Sprünge.

„ … Geschichten tippen“, fand er eine abwertende Formulierung, die ihm besser gefiel, „bringt nichts ein. Es heißt nicht umsonst, dass Kreativität eine brotlose Kunst ist. Louisa, ich will wissen, ob du das so weiterführen willst oder …“

„Ja, will ich!“ Sie nickte, diesmal so nachdrücklich, dass es ihr im Genick weh tat.

„Überleg es dir noch einmal. Ganz genau. Ich meine …“

„Schönen Tag dir noch, Papa. Wir hören uns!“

Damit hatte sie die Verbindung unterbrochen und aufgelegt.

Was für eine Befreiung!

Was für eine Enge!

Sie hatte sich wie ein Tier gefühlt, das sich gerade aus einem geschlossenen Käfig befreit hatte und nun eine blinde Flucht antrat. Weg aus den Fängen der Häscher, hinein in das ungestüme, ihr unbekannte, wilde Leben, der nahenden Freiheit entgegen.

Nachdem sie zwei Minuten wie erstarrt auf ihrem Platz gesessen hatte, ernsthaft mit dem Gedanken kämpfend, wieder zum Hörer zu greifen und ihren Vater zurückzurufen. Um sich bei ihm zu entschuldigen, dass sie einfach aufgelegt hatte. Dafür, dass sie ihn nicht hatte aussprechen lassen und dass so etwas niemals wieder vorkommen würde. Schließlich war sie eine artige Tochter, die ihrem Papa gefallen wollte.

Dann aber wurde ihr bewusst, was für einen Schwachsinn sie da dachte. Die Flucht aus ihrem Käfig war ihr danach umso befreiender vorgekommen.

Jetzt, da Tom ihr zurief: „Alles gut, mein Schatz?“, spürte sie, wie gut es gewesen war, die Konfrontation mit ihrem Vater zu suchen.

Was fiel ihm überhaupt ein, so über Tom zu reden?

Ihr zu raten, dass sie sich trennen sollte?

War ihrem Vater denn gar nicht bewusst, was sie hier hatte?

Hallo?

Sie war wieder auf Mallorca. Wieder dort, wo alles mit Tom begonnen hatte. Und sie war dabei, mit ihm nach Arta zu fahren, um die Transfiguració del Senyor zu besuchen und anschließend hinunter zu gehen in die Fußgängerpassage, um dort eine der besten Pizzen zu essen, die es auf Mallorca gab.

Und, ja …

… sie würden ihr kümmerlich erspartes Geld für überflüssig teures Essen ausgeben.

Nur um zu merken, dass sie lebten!

Louisa seufzte bei dem Gedanken und merkte erst, als Tom sie am Arm berührte, dass sie nicht mehr allein war.

„Alles gut bei dir?“, wollte er wissen.

„Ja.“

„Wirklich?“

„Genau so, wie es sein soll.“ Sie lächelte.

Die Hitze war vergessen.

Die Anstrengungen ebenfalls.

Alles fiel von ihr ab, als sie ihm einen Kuss gab und dabei merkte, wie sich in ihrem Unterleib alles zusammenzog. Ein angenehmes, ein erregendes Kribbeln schoss ihr zwischen die Beine, wie auch hinauf zu ihren Brüsten, wo sie merkte, dass sich ihre Nippel von einer angenehmen Spannung ergriffen wurden.

Ich liebe dich, Tom Hansen, dachte sie. Ich liebe dich über alles, und das für ewig.

*

Olivers Entgegnung: „Blablabla“ auf Connys: „Politisch ist Mallorca in 53 Gemeinden unterteilt“, hatte bei der kleinen Gruppe, die sich in der Bucht von Cala Gat niedergelassen hatte, zu allgemeinem Gelächter geführt.

Als Oliver dann auch noch hinterherschob: „Laangweilig!“, war der Ofen für Conny endgültig aus gewesen.

Conny, der schon die ganze Zeit, seit sie auf Mallorca waren, ausgesprochen schlechte Laune gehabt hatte, hatte nur gemeint: „Leck mich doch am Arsch“ und war dann einige Meter entfernt in den Sand gesunken, um missmutig auf das blau vor ihm liegende Meer zu starren.

Nicht, dass Oliver auch nur für eine Sekunde unter schlechtem Gewissen litt, weil er ihm in die Parade gefahren war. Aber seinen einstigen Mannschaftskollegen da so sitzen zu sehen, tat ihm dann doch leid.

Weil er ein Gipskopf ist, dachte Olli und konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum Conny so geworden war, wie er sich nun gab.

Da saß dieser Schrank von einem Mann mit seinem ungepflegten, zotteligen Bart und den langweiligsten aller kurzen Hosen, missmutig am Strand und begriff einfach nicht, dass er selbst schuld daran war, dass er auf den Arm genommen wurde.

Wer wollte sich im Urlaub schon über bescheuerte Gemeinden auf Mallorca unterhalten?

Wen interessierte das denn?

Wieso sollte er sich für das blöde Leuchtturm-Museum Far de Capdepera interessieren? Oder dafür, dass kleine Stichstraßen zu noch kleineren Buchten führten, als es diese hier schon war?

Verflucht noch mal, er war hier auf der Insel, um Spaß zu haben.

Allein der Gedanke daran, dass Denise jetzt gerade nicht von ihm eingecremt, massiert oder sexuell beglückt wurde, schien ihm einer Sünde gleich. Er musste sie nur ansehen, wie sie da mit ihren langen Beinen auf dem Handtuch saß, den perfekten, durchtrainierten Körper im hauchzarten, rosa Bikini, um Verlust in sich zu spüren.

Verlust, weil er sie nicht berührte.

Nein …

… er musste zu seinem lethargischen Kumpel schauen, der wieder einmal nicht allein in die Gänge kam, um sein Leben in den Griff zu bekommen.

„Alter“, rief Oliver deshalb, von einem schlechten Gewissen begleitet, „hab dich doch nicht so!“

Conny zeigte ihm den Mittelfinger.

„Dann halt nicht.“ Olli winkte ab.

„Du hast auch immer eine große Schnauze“, lachte Katrin, die eben noch einem sich sonnenden Mann, gut dreißig Meter von ihnen entfernt, zugewunken hatte. Ein Kerl, wie Olli feststellte, mit dem Katrin vorgestern schon auf der Promenade geredet hatte, als sie nach einer Bar gesucht hatten, in der sie den Abend beginnen konnten, um dann weiter zu einem der zahlreichen Clubs zu ziehen und dort ihr Wiedersehen zu feiern.

Was nicht so recht geklappt hatte.

Natürlich, sie hatten getrunken, gelacht und waren auf die Tanzfläche gegangen.

Aber das Flair …

Das Flair, wie Oliver es gern gehabt hätte, war nicht eingetreten.

Woran hatte es gelegen?

Er hatte da zwei Theorien, wusste allerdings noch nicht, für welche davon er sich entscheiden sollte.

Schließlich waren beide richtungsweisend und sagten etwas, das ihn auf jeden Fall etwas kosten konnte.

Die erste Theorie lautete, dass seine Freunde einfach langweilig geworden waren. Dass ihr Pflichtbewusstsein in Sachen Studium, neuer Job oder bevorstehende Auftritte viel zu viel Platz eingenommen hatte. Allein die Tatsache, dass Louisa und Tom noch immer zusammen waren, ließ dabei tief blicken.

Die beiden hatten zwar auch getrunken – oder besser gesagt: es war Tom gewesen, der zwei Bier zu sich nahm –, waren aber nicht ernsthaft daran interessiert gewesen, sich auf der Tanzfläche zu verausgaben.

Und Conny war Conny.

Schwamm drüber!

Langweiler hoch drei.

Nur an Katrin hatte Oliver dem Abend seine helle Freude gehabt. Sie hatte sich gehen lassen, so wie immer, wenn sie sich gelöst und locker fühlte – und ihr Portemonnaie es zuließ.

Die werden langweilig, hatte er gedacht, nachdem Denise und er miteinander geschlafen hatten und sie sich im Badezimmer gerade frisch machte. Für die zählt nichts anderes, als sich einzumummeln und darauf zu hoffen, dass ihr Leben ihnen noch etwas Aufregendes bietet.

Himmel!

Das ist doch verrückt.

Nur wenn man sich den Spaß selbst ins Boot holt, kann man damit feiern.

Dieser Gedanke wiederum führte ihn zur zweiten Theorie, die ihm etwas weniger Bauschmerzen bereitete, weil er sie rasch zu den Akten legen konnte, wenn er wollte.

Denise.

Natürlich war sie eine bildhübsche, bezaubernd gut aussehende Frau. Jemand, der im Bett Dinge mit sich machen ließ, an die er kaum zu denken wagte.

Aber, und das war der wichtigste Punkt der Theorie, er konnte ihretwegen keine anderen Mädels kennenlernen.

Dachte er nur an seinen ersten Urlaub hier zurück, dann wurde ihm ganz schwindelig.

Die Mädels waren ihm im wahrsten Sinne des Wortes scharenweise in die Arme gelaufen. Er hatte so viel gebumst wie noch nie zuvor.

Selbst auf dem Heimflug …

Da hatte er die hübsche Rothaarige, dessen Namen ihm leider entfallen war, auf der Flugzeugtoilette beglückt.

Irre.

Geil.

Irre geil!

Denise war das Problem, da war er sich sicher. Sie blockierte sein inneres Ich.

Er hatte nicht so viel Spaß wie sonst.

Er war einfach nicht für eine Beziehung gemacht!

Und jetzt?

Jetzt saß er in einer öden, sich wie ein Halbmond krümmenden Bucht fest und musste sich Vorträge von Conny anhören.

Das war anstrengend!

Und nur, weil er das ausgesprochen hatte, war er der Idiot?

Unzufrieden darüber warf er Katrin einen missmutigen Blick zu. Sie winkte dem Mann auf seinem grünen Handtuch abermals zu.

„Wer ist das?“, wollte er wissen, während Denise ihn fragte, ob er ihr vielleicht die Schultern einreiben könne.

„Patrick.“ Katrin lächelte.

„Aha.“

„Er ist nett.“

„Er hat es dir noch nicht besorgt, also war er auch nicht nett“, brummte Oliver und wartete auf das empörte „Hey!“ oder „Idiot!“

Nichts von beidem schenkte Katrin ihm.

Sie lächelte nur vielsagend und fügte hinzu: „Er ist in der Audiobranche tätig. Gründet gerade sein eigenes Hörspiellabel.“

„Bibi Blocksberg-Mist, oder was?“

„Was er genau produzieren will, hat er noch nicht gesagt, aber er meint, dass es mal was anderes ist als Die Drei Fragezeichen, Fünf Freunde oder Benjamin Blümchen.“

„Wie interessant.“ Seine Stimme troff vor Ironie.

„Eine Chance“, lachte Katrin und rief, während sie wieder winkte: „Huhu!“

Endlich - endlich! - schien Patrick begriffen zu haben, dass sie mit ihm bekannt war. Er hob den Kopf, kniff die Augen zusammen, schüttelte sich kurz und rief ihr schließlich zu: „Hi! Was für ein Zufall, dass wir uns hier treffen!“

„Manchmal höre ich zu, wenn mir einer was erzählt“, sagte Katrin, und Oliver ging ein Licht auf, während er Denises weiche Haut mit weißer, öliger Sonnenmilch eincremte und den weichen Fliederbeerduft ihrer Haare einatmete.

„Hast du dir gemerkt, dass ich heute hierher kommen will, oder wie?“

Katrin zog die Augenbrauen in die Höhe.

„Feine Sache!“

Und damit bin ich mit Conny und Denise allein, dachte er missmutig, als er sah, wie Katrin sich von ihrem Platz erhob und auf Patrick zuging, ihn unbeholfen in den Arm nahm und sich zu ihm setzte.

„Was machen wir jetzt?“, wollte Denise wissen. Sie kicherte, als Oliver ihr die Brust einzureiben versuchte.

„Können ja ins Wasser gehen.“

„Hab mich doch gerade erst eingecremt.“

„Dann creme ich dich danach wieder ein. Noch zärtlicher …“ Er zwinkerte ihr zu.

„Verlockend“, kicherte Denise.

„Ich finde, ich sollte dich noch ganz woanders hin locken.“

„Oh … Wohin denn?“

„Zeig ich dir“, meinte er und griff nach ihrer Hand. Nur um sie, als er Denise hochgezogen hatte, gleich wieder loszulassen.

Nicht, dass die drei Mädels, die da gerade kichernd den Strand betraten, auch nur ansatzweise an Denise heranreichten...

Schon die Tatsache, dass sie da waren, allein, unbekümmert und ungezwungen, ließ ihn einen eisig kalten Stich mitten im Herz spüren, der einen Gedanken freisetzte, der ihn innerlich schreien ließ:

Sie sehen, dass du hier mit Denise bist. Sie sehen, dass du nicht solo bist. Sie sehen, dass du nicht für sie da bist.

Sie sehen …

Sie sehen …!

Sie sehen dich nicht!

Ein schrecklicher, ein ihn insgeheim verfluchender Gedanke, der ihn ernsthaft dazu bewegen wollte, Denise von sich wegzuschubsen, um sich in Pose zu schmeißen, sein charmantes, sein gewinnendes Lächeln aufzusetzen, die rechte Augenbraue hochzuziehen und zu sagen: „Hallo, ihr drei. Lust auf eine Runde Beachvolleyball mit mir?“

Denise aber ließ sich nicht von ihm abschütteln.

Sie mochte ihn, das merkte er.

So sehr sogar, dass sie gestern Abend, nachdem sie zweimal kurz nacheinander miteinander geschlafen hatten, zu ihm gesagt hatte: „Ich bin richtig glücklich mit dir. So richtig. Schöner kann es gar nicht sein!“

Ihn schüttelte es nur bei dem Gedanken, mit ihr zusammen sein zu müssen.

Also für immer.

Nicht nur für jetzt.

Jetzt war es gut.

Wenn auch gerade hinderlich, da er die drei Mädchen, die noch ganz blass durch den verregneten Sommer in Deutschland waren, beglücken wollte.

„Geht ihr nur ins Wasser“, brummte Conny. „Ich warte hier auf Tom und Louisa. Müssen ja gleich wieder da sein. Ich mach‘ das ja gern. Dafür bin ich da!“

Oliver ignorierte das aufgesetzte, düstere Gerede Connys und ließ sich endgültig von Denise ins Meer ziehen. Er vergaß die drei jungen Mädchen fast wieder, die ihre Handtücher dicht neben ihren Plätzen ausbreiteten, sich entkleideten und ebenfalls ins Wasser liefen …

… ohne Notiz von dem mit Denise tobenden Oliver zu nehmen!

Und das, obwohl er sich doch so viel Mühe gab …

*

So sauer Conny auch war, so merkwürdig fand er es doch, dass Louisa und Tom sich noch immer nicht gemeldet hatten. Der Tag, den sie zusammen in der Bucht bei Cala Ratjada verbracht hatten, neigte sich nun allmählich dem Ende zu. Katrin hatte ihre mehrstündige, aufgesetzte Unterhaltung mit Patrick mit den Worten beendet: „Ich schicke dir meine Probeaufnahmen und Audiomitschnitte. Freue mich, von dir zu hören.“

„Das wirst du. Auf jeden Fall.“

Oliver hingegen hatte gerade wieder damit begonnen, Denise ungeniert die Brüste einzureiben, während die sich wiederum gackernd dagegen zur Wehr setzte. Wobei … wehren war da zu viel gesagt. Sie zog zwar die Hände hoch, um ihre wirklich üppigen und unter dem rosa Bikiniteilchen angedeuteten Brüste zu verbergen, tat eigentlich aber das genaue Gegenteil.

Sie genoss die Aufmerksamkeit von Oliver.

Sie lechzte regelrecht danach.

Genau das konnte Conny nicht verstehen.

Hatte sie denn nicht bemerkt, wie Oliver sich benahm?

Dass er sie, obwohl sie eine wirklich attraktive Frau war, nur benutzte, um weitere, interessante Begegnungen zu generieren?

Da waren nicht nur die drei jungen, blassen Mädchen aus dem Stuttgarter Raum gewesen, sondern auch das sich streitende Pärchen; der Kerl hatte gegen Olivers Charme und Ausstrahlung keine Chance gehabt.

Obwohl Oliver sich nicht wirklich einmischte, sondern nur den einen oder anderen lobenden Kommentar in Richtung der jungen Frau schickte, merkte man sofort, wie sehr sie diese Worte mochte und genoss.

Es passierte immer wieder aufs Neue. Die schwarzhaarige, kleingewachsene und doch elegante, schlanke junge Frau kam auf Oliver zu, während ihr Freund wutentbrannt davongestampft war und Denise gerade etwas an der kleinen, am Anfang des Strandes aufgebauten Bar holte.

„Bin im Club Simo“, sagte sie und hatte Oliver eine Zimmernummer auf ein Taschentuch geschrieben. „Vielleicht hast du ja mal Lust, dich mit mir zu unterhalten. Kann ein offenes Ohr immer gut gebrauchen.“

„Und ich bin ein exzellenter Zuhörer“, stellte er fest.

„Hab ich mir gedacht!“

Von Connys beleidigt klingendem Seufzen begleitet, war die junge Frau dann den Strand herunter geschlendert. Ihren runden, apfelförmigen Po lasziv bewegend, während sich der Stoff ihres schwarzen Badeanzuges eng daran schmiegte.

So ungern Conny es zugab, die Frau hatte etwas von Pamela Anderson aus Baywatch.

Nicht, dass er die Serie gern guckte … oder absichtlich reinzappte, wenn sie lief...

Aber er musste sich eingestehen, dass er immer am Fernsehen hängen blieb, wenn die mitreißenden Töne der Anfangsmusik über den Bildschirm flatterten, er im Vorspann all die durchtrainierten, perfekt anzusehenden Körper sah und er sich vorzustellen begann, er wäre auch ein Rettungsschwimmer. Einer von ihnen.

Er wäre der charmante, attraktive und vor allem nicht auf den Mund gefallene Freund und Helfer, denen die Menschen am Strand vertrauten.

Allein der Gedanke, dass er mit Pamela Anderson zusammen dort auf und ab flanierte, ließ ihn ein angenehmes Kribbeln im Bauch verspüren. Das führte wiederum dazu, dass er gleich an die Zeitschriften seiner Schwester und die damit einhergehende Stimmung denken musste, die ihn jedes Mal packte, wenn er an seinen Fund dachte.

Dazu gesellte sich ein trotziger, manchmal schon ins Boshafte tendierender Gedanke, der ihn fragenließ: Warum darf Oliver all das erleben, was ich erleben will? Wieso hat er kein einziges Mal Pech mit dem, was er tut? Warum sitzt er nicht beleidigt am Strand, schaut den Menschen nach, die Spaß haben, und wünscht sich nur einmal, nur ein einziges, beschissenes Mal, dass er gern leicht und locker wie die anderen wäre. Nicht so gehemmt. Sich für jeden und alles schämend. Nur einmal die Unsicherheit spüren, die alle anderen fühlen, wenn sie mit ihm zusammen sind.

Nur einmal soll er auf die Fresse fallen.

Nur ein einziges Mal!

Ein Tritt in einen Seeigel …

… oder dass ihm der Fuß anknackst.

Irgendetwas, das ihn aus dem Licht der Aufmerksamkeit zieht und in den Schatten der Langeweile schleudert.

Connys Mund wurde ganz trocken bei dem Gedanken.

Er spürte, wie ihn die Sehnsucht heimsuchte, wie sie ihn zu verfolgen begann und unentwegt durch seinen Kopf kreiste. In zwei Lager gespalten, wobei die eine Seite ihm laut zujubelte und ihm zurief: „Weiter so! Weiter so! Weiter so!“, während die andere ihn entsetzt anstarrte und nicht glauben konnte, was er da gerade dachte.

„Es geht hier um einen deiner ältesten und besten Freunde“, redete er sich ins Gewissen.

Das stimmte. Conny wusste das.

Deshalb versuchte er, sich das nicht noch einmal zu wünschen. Oder jedenfalls nicht so, dass Oliver sich verletzte, sondern nur einen Dämpfer erhielt, beispielsweise, indem sich der Freund der Schwarzhaarigen vor ihm aufbaute und offen mit der Faust drohte.

Etwas in der Richtung.

Und ich könnte dann aufstehen, zu meinem Freund gehen und sagen: „Hey, Kumpel. Noch so ein Ding, und ich zeig dir, mit wem Oliver befreundet ist.“

Aber weder das eine noch das andere trat ein.

Conny blieb Conny.

Und mit ihm blieb die Sorge, weil Tom und Louisa nicht zurückkehrten. Sie hatten gesagt, dass sie nur kurz nach Arta wollten, um dort etwas die Gegend zu erforschen, etwas essen zu gehen und dann wieder zurück an den Strand zu kommen.

Louisa und Tom blieben verschwunden.

„Die sind sicher schon am Hotel“, winkte Katrin ab, nachdem sie ihr Micky Maus-Handtuch ausgeschüttelt hatte und Denise sie fragte, ob sie ihr beim Zusammenlegen der blauen Filzdecke helfen könnte. „Du weißt doch, wie die beiden sind.“

„Sie wären hergekommen, um uns zu sagen, wohin sie jetzt gehen.“

Katrin zuckte mit den Schultern. „Wir werden sehen.“

„Nein, du wirst mich zur Straße begleiten“, befahl Conny und merkte gleichzeitig, wie es ihm eng in der Hose wurde, als Katrin zusammenzuckte.

Das Spiel, das er begonnen hatte, mit ihr zu spielen, gefiel ihm immer besser.

Da war etwas, das er so bisher nicht gekannt hatte.

Eine ihm fremde, eine für ihn völlig neue Macht, die er bisher über niemanden sonst gehabt hatte.

Laut einem der Ratgeber, die er gelesen hatte, wie man offener und vor allem lockerer auf andere zuging, sollte er es mit ein wenig Dominanz versuchen. Nicht herrisch oder gar bevormundend, aber doch mit solch einer Prise Aufmüpfigkeit, dass sein Gegenüber genau wusste, was Conny von ihm wollte und erwartete.

Und von Katrin erwartete er einiges.

Sie war nicht Louisa, klar, aber sie hatte dennoch etwas Begehrenswertes und Anziehendes, dem er sich nicht entziehen wollte.

Außerdem schrie Katrin regelrecht danach, geführt und an die Hand genommen zu werden.

Er hatte das vor vier Jahren schon bemerkt.

Nur mit dem Unterschied, dass er damals der verletzte, der unsichere und der nach Führung schreiende Dummkopf gewesen war, der sich nicht behaupten konnte.

Das hatte sich geändert.

Gegenüber Katrin wenigstens.

Betrachtete er aus sicherer Distanz sein Verhalten innerhalb der Fußballmannschaft oder auf der Arbeit, so begriff er nur allzu schnell, dass er weiterhin die Rolle des zurückhaltenden, unlustigen und vor allem sich schnell mit neuen Situationen abfindenden Mitmenschen besetzte.

Er schaffte es nicht gut, sich sein eigenes Leben zurechtzulegen.

Bis jetzt.

Die angenehme Enge weitete sich noch zusätzlich aus, als Katrin fragte: „Wie redest du eigentlich mit mir?“

„So, wie ich es möchte. Komm. Wir fahren nur einmal die Straße rauf und runter, um zu sehen, ob sie noch unterwegs sind.“

„Denise?“

„Ja?“

„Magst du meine Sachen mit einpacken? Ich muss mit Conny los“, hörte er sie sagen und meinte, innerlich explodieren zu müssen.

Er hatte sie in der Hand.

Sie tat, was er von ihr verlangte.

Conny grinste breit, als er Katrins verstörte Miene erkannte, und er fühlte sie wie im Paradies, als er sie beim Arm nahm und mit sich Richtung Teerstraße zog, hin zum Parkplatz, wo der Mietwagen stand.

Sie wehrte sich gegen den Griff überhaupt nicht …

*

„Hier sind wir doch nicht richtig“, sagte Louisa, die ebenso wie Tom ihr Fahrrad inzwischen mehr trug, als es zu schieben. „Die Straße ist da hinten. Hier ist rein gar nichts. Nur diese blöde Felsenkante.“

„Hinter der Biegung da wird es weitergehen, da bin ich mir sicher“, sagte Tom.

„Das hast du eben auch schon gesagt.“

„Da war ich mir ja auch ebenso sicher.“ Er musste sich eingestehen, dass die wachsende Unsicherheit, die von ihm Besitz ergriff, langsam, aber sicher lauter in ihm wurde.

Besonders, weil die schroffen und kantigen Felsmassive immer unangenehmer wurden.

„Lass uns umkehren“, riet Louisa.

Tom schüttelte den Kopf.

„Hinter der Felsbiegung, ich bin mir sicher.“

Louisa seufzte. Nicht allzu laut, nicht sehr aufdringlich. Nicht so wie manchmal, um ihren Unmut kundzutun. Aber dennoch so gut vernehmlich, dass Tom genau wusste, was sie von seiner Entscheidung hielt.

„Wirklich“, beharrte er.

Alles andere machte ja auch keinen Sinn.

Schließlich war er es gewesen, der vorgeschlagen hatte, sie sollten von der gut befestigten Straße abbiegen und die kleinen Nebenstraßen und Wege abklappern, um zum Meer zu gelangen, damit sie noch die eine oder andere gemeinsame romantische Stunde verbringen konnten, bevor sie sich wieder mit ihren Freunden trafen.

„Das hier ist doch alles nicht richtig“, meinte Louisa erneut, nachdem sie über mehrere scharfkantige, mit borstigem Gras bewachsene Felsklippen geklettert waren. Die Fahrräder waren an den Felsenstücken hängen geblieben. Tom hatte Louisas Rad nur mit einem heftigen Ruck befreien können. Dabei war mit einem singenden Geräusch eine der Speichen gerissen.

Das Knirschen des Pedallagers bei seinem Fahrrad klang ihm ebenso in den Ohren wie das unangenehme Knacken des Rahmens, als er es über eine Anhöhe wuchtete.

„Wir schultern die Räder jetzt“, entschied er. „Nicht, dass noch mehr kaputt geht.“

„Hier geht es nicht weiter“, meinte sie hingegen. „Tom, lass uns umdrehen.“

„Der Torre de Cap de Pera ist nicht mehr weit“, versteifte er sich weiter auf seine einmal getroffene Entscheidung.

Er wollte den alten Wachturm selbst einmal sehen. Nur einmal davor stehen, den Ausblick genießen und hinauf auf das offene Meer schauen, das jetzt im Sonnenlicht blau funkelte und schimmerte.

„Den erreichen wir so nicht. Niemals.“

„Ich habe mir das auf der Karte ganz genau angeschaut“, sagte er und bemerkte selbst, wie gereizt er klang.

Es war wie immer, wenn etwas nicht so lief, wie er es sich vorstellte.

Erst beschlich ihn eine unbestimmte Furcht, die ihm in den Magen fuhr, schließlich verwandelte sie sich, aus reiner Hilflosigkeit, in Zorn.

Tom war sicher alles andere als ein boshafter Mensch. Aber er neigte dazu, wütend zu werden, wenn etwas nicht so klappte, wie er es sich vorstellte.

Gab ihm dann noch jemand Widerworte, so musste er ganz tief in sich graben, um noch einen Flecken Besonnenheit zu finden, der ihn daran hinderte, loszubrüllen und zu schimpfen.

Hinzu kam, dass er sich extra auf einer Karte angesehen hatte, wie sie zu fahren hatten. Sie waren der M4050 gefolgt, waren einen Schlenker gefahren, der Richtung Küste führte,und sollten so hinauf kommen zu dem alten Wachturm, der einst dazu gedient haben sollte, mögliche Piratenangriffeabzuwehren.

Nun aber saßen sie hier an den Klippen fest.

„Lass uns eine Pause machen“, bat Louisa, der die vom Himmel stechende Sonne deutlich zusetzte. Sie hatte die Hand gegen die Stirn gelegt, um ihre Augen vor dem grellen Licht zu beschatten.

Ihren hübschen Mund, den er so unendlich gern küsste, hatte sie in Anspannung verzogen. Ihre ansonsten so ausgeglichenen, zart geschnittenen Züge waren eingefallen, und in den Mundwinkeln saß ein nicht zu übersehender Schimmer von Erschöpfung.

„Ist gut“, sagte er.

Beide setzten sich, fanden Platz auf der Kante eines aus der Erde ragenden Felsens und mussten nach wenigen Sekunden lachend zugeben, dass sie sich den beschissensten Platz ausgesucht hatten, den man nur finden konnte, um sich etwas Ruhe zu gönnen.

„Guck dir mal deine Füße an“, kicherte Louisa und lehnte ihren Kopf an Toms Schulter.

„Die tun auch höllisch weh“, gestand er, ohne sich zu trauen, die zerschrammte und zerkratzte Haut zu betrachten.

„Du bist ja auch so gut wie barfuß.“

„Es ist Sommer!“

Louisa lachte.

Das war seine Standardantwort auf ihre Einwände, wenn es, wie fast immer, zur Sommerzeit in Deutschland regnete und Tom dennoch in kurzer Hose, T-Shirt und vor allem ohne Schuhe lief.

„Du bist ein Spinner!“

Er musste nun ebenfalls lachen. Der eben in ihm aufkeimende Zorn, die Angst davor, sie beide in eine unübersichtliche Situation geführt zu haben, verflog allmählich. Er legte seinen Arm um Louisas Schultern, drückte sie fest an sich und fragte nach gut zehn Minuten Pause: „Wollen wir weiter?“

„Du willst den Wachturm ja sehen.“

„Ja, das will ich.“

„Dann zur nächsten Biegung. Da muss es ja einen Weg geben, der hinauf führt.“

„Ganz bestimmt“, sagte Tom.

„Obwohl …“ Louisa begann ihn wieder zu necken.

„Ja, da gibt es eine Straße. Ganz gewiss. Spanier planen halt anders ihre Wege als wir engstirnigen Deutschen …“

*

„Es gab keine Straße“, sagte Louisa, als sie zusammen Richtung Hotel schlurften; erschöpft und müde, abgekämpft und am Ende ihrer Kräfte. Dazu schaute sie in die besorgten Gesichter von Denise, Katrin und Conny.

Oliver war genervt.

Ausnahmsweise nicht, weil er die Geschichte langweilig fand, sondern weil er so viel Dummheit nicht verstand.

Das vermutete Tom zumindest.

Er musste nur an die gemeinsamen Teamsitzungen denken, wenn ihr Trainer die Fehler im Spiel ansprach. Da hatte Oliver immer genauso geschaut. Weil er wusste, was die anderen gleich zu hören bekamen.

Und ebenso, wie er dort alles voraussagen konnte, so war es auch hier.

Ihm wäre das natürlich nicht passiert.

Er fand seinen Weg.

Immer.

Wie genau, das wusste Tom nicht. Denn bei Olli hatte man das Gefühl, als würde er nichts planen, nicht eine Sekunde vorausdenken, geschweige denn, sich über irgendwelche Konsequenzen im Klaren zu sein.

So aber täuschte man sich in ihm.

Olli war ein Frauen- und Maulheld. Aber bisher hatte er es von ihnen allen am Weitesten im Job gebracht. Was er genau studiert hatte und wie er dazu kam, in einer Bank zu sitzen und über Risikoinvestitionen zu entscheiden, wusste Tom ebenfalls nicht. Das waren böhmische Dörfer für ihn.

Was er jedoch wusste, war, dass Oliver ein glasklares Bild von dem hatte, was er einmal erreichen und werden wollte.

Und dazu gehörte es nicht, sich auf Mallorca zu verlaufen und stundenlang durch die Klippenlandschaft zu klettern.

„Nein, die gab es nicht“, gestand Tom, den sein Sonnenbrand auf Beinen, Armen und Gesicht langsam, aber sicher zu quälen begann.

„Alter“, sagte Oliver. „Wie war das möglich?“

Tom zuckte mit den Schultern. Sein Hals war trocken, und für einen Schluck kaltes Wasser hätte er ohne groß nachzudenken jemanden verprügelt.

Die Sonne, die so erbarmungslos auf sie niedergebrannt hatte, war dabei, im Westen langsam, wie es schien, im Meer zu versinken. Ihr weicher, das Wasser bedeckende Schein, sprang über die einzelnen, nun von einem stärker werdenden Wind angetriebenen Wellen zu hüpfen.

Die auf dem Wasser dümpelnden Schiffe wirkten wie unendlich weit entfernt. Von einem Maler nur deshalb verewigt, um die Weiten des Meeres darzustellen.

„Frag mich nicht.“

„Doch, das tue ich aber.“

„Ihr solltet euch ganz schnell eincremen“, riet Katrin. „Das wird ein übler Sonnenbrand.“

Den Schrecken, als ihr bewusst geworden war, dass sich Louisa und Tom nicht auf der Straße befanden, sah man ihr an. Die Haare waren ihr ganz wirr ins Gesicht gefallen, und um ihre Nase gab es einen blassen Teint, der sich nur allmählich zu verflüchtigen begann.

„Ich sag nur: Toni …“, lachte Louisa.

„Toni?“, wollte Denise wissen.

„Toni“, bestätigte Louisa. „Einfach nur Toni …“

*

Hinter der nächsten Klippe war die nächste gekommen, und dahinter noch eine. Die alte Wehrmauer, die so nahe ausgesehen hatte, war in unendliche Ferne gerückt. Was wiederum dazu führte, dass Louisa ihre gute Laune zu verlieren drohte. Nicht, dass es um Toms Stimmung besser gestanden hatte. Aber in dem Moment, als er Louisa sagen hörte: „Wir kommen heute gar nicht mehr nach Hause“, hatte ihn so etwas wie Ehrgeiz gepackt.

Eine kurze Woge des Trotzes, die ihn den Kopf schütteln ließ, während er das Fahrrad noch immer auf den Schultern trug. „Doch. Wenn wir gleich oben sind.“

„Oben?“

„Wir klettern nicht mehr um die Klippen herum. Wir gehen jetzt nach oben und versuchen so über den Grat zu wandern, bis wir einen Weg oder eine Straße finden, die uns wieder ins Tal bringt.“

„Das ist viel zu …“

Tom, der Menschen ansonsten immer ausreden ließ, unterbrach Louisa jetzt mit einem: „Wir gehen nach oben. Basta!“

Louisa nickte nur.

So erschöpft sie war, so müde und durstig, so verbrannt von der Sonne, gab es kaum noch einen Funken Widerstand in ihr.

Tom, der sich dafür die Schuld gab, hievte sein Fahrrad in die Höhe und ließ es dann auf einem steilen Überhang liegen. Er drehte sich zu Louisa, um sie aufzufordern: „Gib mir dein Fahrrad.“

„Hier.“

Er wuchtete auch ihr Rad nach oben, schloss die Augen und kletterte die scharfkantige Felsenklippe hinauf und merkte dabei, dass er sich weitere Haut an Oberschenkel und Schienbein aufschürfte. Er unterdrückte den Fluch, der ihm aus der Kehle dringen wollte und reichte Louisa die Hand.

„Ich ziehe dich hoch.“

Wie ein nasser, schwerer Sack in seiner Hand ließ sie sich in seine Arme fallen und schien nicht mehr dazu in der Lage, auch nur einen Funken Kraft zu mobilisieren, der sie weiter hinauf brachte.

„Es ist nicht mehr weit“, zischte er ihr zu und bekam Panik, dass sie aus seinen schweißnassen Händen rutschen konnte. Sie nickte, straffte sich und kletterte zu ihm auf den Vorsprung.

Schwer japste sie nach Luft, schloss die Augen und legte sich auf die Seite, als würde sie auf der Stelle einschlafen wollen.

Hatte Tom das Meer vorhin noch als weitläufig, schön und seine Träume dahintragend empfunden, so meinte er nun, die über dem Wasser schwebenden Möwen würden ihn auslachen. Dass die durch die Buchten fahrenden Schiffe ihre Hörner nur deshalb betätigten, um ihm ein ekelhaft höhnisches „Ha, ha!“, entgegen zu schicken.

Was ihn am meisten störte, das war das Meckern der über ihn in den Klippen herumspringenden Ziegen.

Nicht, weil es so unangenehm laut war, sondern weil es ihm zeigte, wie unbeholfen und ungeschickt Louisa und er gewesen waren. Wie dumm sie sich angestellt hatten, um immer weiter in die Klippen zu klettern, anstatt umzudrehen, zur Straße zurückzukehren und sich einen anderen Weg auszusuchen.

Aber nein …

Er hatte ja unbedingt darauf bestanden, weiterzugehen. Weiter und weiter, bis sie so tief an den Klippen hingen, dass ein Zurück sich ebensowenig lohnte wie ein bedingungsloses Weiter.

Sie saßen in der Zwickmühle.

Und sein Autorengehirn, das darauf gepolt worden war, aus jeder noch so geringen, sich bietenden Möglichkeit eine Geschichte zu machen, ließ ihn auch jetzt nicht im Stich.

Er konnte den Plot regelrecht vor sich sehen. Sie, die junge Frau, auf der Flucht vor dem gefährlichen Mörder, der sie bis hierher getrieben hatte und nun versuchte, ihr nachzuklettern, hinein in die scharfkantigen und feuchten Klippen, auf denen jeder Schritt der letzte sein konnte.

Urlaubsküsse - Liebesroman

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