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Über die Last der Geschichte
Die Vergabe der Fußball-Europameisterschaft 2012 hat erstmals seit den politischen Umwälzungen vor zwei Jahrzehnten Polen und die Ukraine in das Blickfeld einer breiten europäischen Öffentlichkeit gerückt. Für beide Länder ist sie nicht nur ein Großereignis, das der Wirtschaft, besonders dem Fremdenverkehr, Impulse geben soll, sondern sie hat auch enorme psychologische Bedeutung: Polen möchte sich als Land präsentieren, das einen gewaltigen Modernisierungssprung gemacht hat und somit zu den europäischen Nachbarn aufschließt. Für die Ukraine hat der Fußball sogar eine innenpolitische Dimension: Er ist die vielleicht wichtigste Klammer, die den katholisch geprägten Westen des Landes um die einstige Vielvölkerstadt Lemberg (polnisch: Lwów, ukrainisch: Lwiw), die vor dem Zweiten Weltkrieg zu Polen gehörte, und die russischsprachigen Gebiete im Osten sowie Süden der ehemaligen Sowjetrepublik zusammenhält.
Auch für die Deutschen hat diese Europameisterschaft ihre besonderen Seiten: Mehrere Nationalspieler wurden als Bürger der Volksrepublik Polen geboren. Sie stammen aus Oberschlesien, der Region, die im 20. Jahrhundert am heftigsten zwischen Deutschen und Polen umkämpft war. Die Fußballer der Industriemetropole Kattowitz, denen das erste Kapitel des vorliegenden Buches gewidmet ist, waren erst deutsche, dann polnische, dann erneut deutsche und schließlich wieder polnische Staatsbürger. Die jeweilige Obrigkeit unterdrückte die Angehörigen der anderen Seite. Dies ging von bürokratischen Schikanen über das Verbot der Sprache der anderen und die erzwungene Änderung von Vornamen bis zu der Ermordung von Angehörigen der polnischen Führungsschicht im Zweiten Weltkrieg und der anschließenden Vertreibung der Deutschen. Allerdings waren die Grenzen zwischen beiden Nationen keineswegs klar gezogen. Denn viele Einwohner Oberschlesiens waren zweisprachig, sie sahen sich beiden Seiten verbunden – und die besten Fußballer wurden auch von beiden Seiten für sich reklamiert.
Vier der elf Kapitel dieses Buches sind den Fußballern aus dem Kohlebecken am Oberlauf der Oder gewidmet, um sie streiten sich beide Seiten – bis heute. Dabei ist in der Bundesrepublik Schlesien mittlerweile ein Begriff, der in den aktuellen Diskursen keine Rolle mehr spielt, und die deutsche Seite tut sich ganz offensichtlich schwer damit. So lehnte vor einem Jahrzehnt der Berliner Senat den Antrag ab, dem damaligen „Hauptbahnhof“ seinen alten Namen „Schlesischer Bahnhof“ zurückzugeben. Man wolle die Polen nicht mit einem an deutschen Revisionismus erinnernden Namen brüskieren, hieß es, deshalb habe man sich für die neutrale Bezeichnung „Ostbahnhof“ entschieden. Wenig später ging in Berlin ein Brief der Bürgermeister von mehr als einem Dutzend polnischer Städte, die an der alten Bahnstrecke Berlin-Kattowitz liegen, ein. In diesem Brief plädierten all diese Bürgermeister für den Namen „Schlesischer Bahnhof“. Damit würde die historische Verbindung einer alten europäischen Kulturlandschaft zur deutschen Hauptstadt unterstrichen. Doch die von dem Brief völlig überraschten Senatsmitglieder wollten ihre Entscheidung nicht mehr revidieren. In Polen aber ist die Debatte über Schlesien (polnisch: lsk, ausgesprochen: Schlonsk) politische und auch kulturelle Gegenwart; seit einer Verwaltungsreform vor einem Jahrzehnt tragen gleich drei Woiwodschaften (Regierungsbezirke) den Begriff im offiziellen Namen.
Man könne die – ebenfalls katholischen und polnischsprachigen – Oberschlesier an ihrer Haltung zum Fußball von den Polen aus den anderen Regionen des Landes unterscheiden, heißt es: Wenn die Weißen Adler, wie die polnische Elf wegen des nationalen Wappentiers heißt, gegen ein Drittland spielen, so drücken Polen wie Oberschlesier ihnen gleichermaßen die Daumen. Spielen die Deutschen gegen ein Drittland, so hoffen die Polen auf eine deutsche Niederlage, die Oberschlesier aber auf einen Sieg. Und spielen beide gegeneinander, so zünden die Oberschlesier eine Kerze für die Muttergottes von Tschenstochau an, damit es unentschieden ausgehen möge.
Für Polen und für Deutschland – für diese Doppelidentität steht heute Lukas Podolski; er gibt somit einer ganzen Generation junger Polen, die in der Bundesrepublik leben, ein Beispiel. Es ist dies ein neues Phänomen in der bundesdeutschen Gesellschaft, denn bislang haben Einwanderer und Übersiedler aus Polen soziologischen Studien zufolge überwiegend versucht, wegen der in Deutschland immer noch sehr lebendigen Vorurteile ihr Herkunftsland möglichst wenig herauszustellen.
Der ebenfalls auf der Umschlagseite dieses Buches abgebildete Ernst Willimowski, der vor dem Krieg für Polen und im Krieg für die Deutschen auf Torejagd ging, hat sich dagegen nur überaus vorsichtig zu seiner Haltung zu beiden Nationen geäußert, denn beide nahmen sich damals gegenseitig vor allem als Erbfeinde wahr. Die Distanz und das gegenseitige Misstrauen zwischen dem im Ersten Weltkrieg geschlagenen Deutschen Reich und dem wiederentstandenen polnischen Staat ging während der Weimarer Republik so weit, dass es keine Fußballländerspiele gab. Angesichts der Schrecken des Zweiten Weltkrieges ist es ein Paradox in der Geschichte, dass sich erst nach 1933 beide Gesellschaften, zumindest die politischen Eliten, vorübergehend annäherten. Dies wirkte sich auch auf den Fußball aus: Es gab fünf Länderspiele, bei denen auch politische Prominenz auf der Tribüne saß, um die gute Nachbarschaft zu unterstreichen.
Im Falle Willimowskis, der zwischen beiden Nationen stand, ist nur eines sicher: Trotz des Hakenkreuzes auf dem Trikot versuchte er, Distanz zu den Nationalsozialisten zu halten – im Gegensatz etwa zu den Spitzenspielern des fälschlicherweise als „Polackenclubs“ bezeichneten FC Schalke 04, die sich gern für die Parteipropaganda einspannen ließen. Dass das Jahrhunderttalent Willimowski nahezu völlig in Vergessenheit geriet, ist zweifellos auch eine Folge der Verdrängung dieses düsteren Kapitels des deutschen Fußballs in der jungen Bundesrepublik.
Denn auch im Sport hat der Zweite Weltkrieg eine Schneise der Zerstörung hinterlassen. In drei Kapiteln wird in diesem Buch erstmals versucht, die unmittelbaren Auswirkungen des Krieges auf die Lebensläufe deutscher und polnischer Fußballer zu schildern. Polen war das einzige Land, in dem der organisierte Fußball verboten war. Die deutschen Besatzer fürchteten, dass Massenansammlungen zu patriotischen Manifestationen werden könnten. Die Polen spielten trotzdem und missachteten somit die Gefahr, bei Razzien der SS verhaftet und zur Zwangsarbeit oder in Konzentrationslager deportiert zu werden. Mehrere Dutzend Spieler der obersten Liga Polens wurden Opfer des NS-Terrors, darunter zehn Nationalspieler, die bei Massenexekutionen, in KZ oder Judenghettos zu Tode kamen.
Dass die deutsch-polnische Nachbarschaft auch im Fußball besonders schwierig und vielschichtig ist, belegt ein Blick auf die Torschützen der ersten WM-Tore auf beiden Seiten: Das erste deutsche WM-Tor schoss 1934 der polnischstämmige Düsseldorfer Stanislaus Kobierski, der im Krieg vorübergehend für einen Besatzerclub in Warschau spielte. Das erste polnische WM-Tor erzielte 1938 der Posener Friedrich Scherfke, ein Angehöriger der deutschen Minderheit, der später als Wehrmachtssoldat mehrere seiner polnischen Clubkameraden aus deutscher Gefangenschaft retten konnte. Während der Parteiherrschaft durfte die Geschichte Scherfkes nicht erzählt werden, denn ein „guter Deutscher“, der sich als Brückenbauer verstand, durfte nicht sein. Auch Willimowskis Leistungen für den polnischen Fußball waren tabu, er galt als Verräter, der die Seiten gewechselt hat. Doch haben seit der politischen Wende von 1989 polnische Sporthistoriker die Lebensläufe beider in objektiver Weise dargestellt.
In Polen halten Schul- und Fernsehprogramme sowie eine kaum überschaubare Menge von Büchern und Zeitungsartikeln die Erinnerung an das Heldentum und das Leid vergangener Zeiten lebendig. Deshalb werden von vielen Kommentatoren auch deutsch-polnische Fußballduelle in diese Reihe historischer Konfrontationen gestellt. Die Begegnungen beider Mannschaften bei der WM 2006 und EM 2008 wurden von der Warschauer Boulevardpresse zu Kämpfen um die Ehre der Nation hochgeschrieben. So haben folgerichtig polnische Karikaturisten auf das Bild des größten militärischen Sieges der Polen über Deutsche zurückgegriffen: die Schlacht von Tannenberg/Grunwald zwischen der polnischen Krone und dem Deutschen Orden im Jahr 1410, der der berühmteste polnische Maler, Jan Matejko, sein monumentalstes Gemälde gewidmet hat. Die Ordensritter als Feinde schildern auch die Nationaldichter Adam Mickiewicz und Henryk Sienkiewicz, ihre Werke gehören zur Schullektüre.
Es war ein durchaus selbstironisches Spiel mit Versatzstücken aus diesen polnischen Heldenlegenden, dass zwei Warschauer Blätter vor dem Spiel gegen die Deutschen bei der EM 2008 diese als Ordensritter darstellten, die auf den Knien um Gnade flehen oder denen sogar die Köpfe abgeschlagen wurden. Satire sollte eigentlich alles dürfen – aber in Deutschland lösten diese Fotomontagen einen Aufschrei der Empörung aus. Eine Gruppe von Hinterbänklern aus dem Bundestag forderte gar, gegen die Karikaturisten wegen Aufrufes zum Mord zu ermitteln. In Polen verstand man diese Aufregung nicht; man verwies darauf, dass vor deutsch-englischen Fußballduellen die Londoner Presse ja auch in ihren Karikaturen mit Panzern, Stukas und Wehrmachtshelmen arbeite und dies niemand in Deutschland ernst nehme.
Dass trotz aller Sonntagsreden von Politikern nach wie vor starke psychologische Spannungen zwischen Deutschen und Polen bestehen, bestätigte auch eine kleine Episode aus dem Dokumentarfilm „Ein Sommermärchen“ von Sönke Wortmann über die WM 2006. Bundestrainer Jürgen Klinsmann feuert unmittelbar vor dem zweiten Gruppenspiel seine Spieler mit dem Satz an: „Das Achtelfinale lassen wir uns nicht nehmen, von niemandem, schon gar nicht von Polen!“
Auch hat das „nationale Fußballtrauma“ der Polen unmittelbar mit den Deutschen zu tun: Weit verbreitet ist die Auffassung, die polnische Elf sei bei der WM 1974 in der „Wasserschlacht“ von Frankfurt von den Deutschen um den Sieg gebracht worden, der das Finale und damit möglicherweise den Gewinn des Titels bedeutet hätte. Für die Deutschen hatte diese Begegnung dagegen eine ganz andere Bedeutung: Polen war bis dahin ein Land im Grauschleier hinter dem Eisernen Vorhang, verbunden mit düsteren Kapiteln der jüngsten Vergangenheit. Nun aber begeisterten die frisch aufspielenden polnischen Kicker die deutschen Zuschauer, sie wurden zu exzellenten Botschaftern ihres Landes – und warben auf diese Weise für die Entspannungspolitik.
Dieses Buch soll durch die Schilderung weitgehend unbekannter Kapitel und Hintergründe dazu beitragen, Reaktionen und Emotionen auf beiden Seiten zu erklären. Es soll somit einen Beitrag zur deutschpolnischen Verständigung leisten.
Warschau, im April 2011