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KAPITEL 1

Das Skandalspiel von Kattowitz

Elfmeter. Es ist die 78. Minute des Ligaspiels zwischen dem 1. FC Kattowitz und Wisła Krakau am 25. September 1927, die Gastgeber liegen bereits 0:2 zurück. Es ist kein normales Ligaspiel, sondern eine Art Finale: Die Krakauer sind Tabellenführer der neugegründeten „Liga“, in der die vierzehn besten Mannschaften Polens die Landesmeisterschaft austragen. Die Kattowitzer liegen nur einen Punkt dahinter; nach einem Sieg würden sie auf den ersten Platz vorrücken.

Und es war eine hochpolitische Partie, denn der 1. FC Kattowitz war ein Club der deutschen Minderheit in Polen. Der „Przegld Sportowy“ (Sportrundschau) schrieb von einem „heiligen Krieg“ zwischen einem deutschen und einem polnischen, also „zwei sich gegenseitig als feindlich betrachtenden Clubs“.1

Henryk Reyman, der Spielführer der Krakauer und auch der polnischen Nationalmannschaft, nahm ein paar Schritte Anlauf und schob den Ball flach zum 3:0 ins Netz. Schwer war dies nicht. Denn zwischen den Pfosten des Kattowitzer Tors stand niemand. Geführt von Torwart Emil Görlitz hatten die oberschlesischen Spieler zuvor den Platz verlassen. Der Schiedsrichter Zygmunt Hanke hatte sich nämlich von der Nervosität der Spieler anstecken lassen und die Partie irrtümlicherweise in der 78. Minute abgepfiffen. Vorausgegangen waren heftige Proteste der Kattowitzer gegen die Entscheidung Hankes, den beim Stande von 0:2 in ihren Augen regulär erzielten Anschlusstreffer, ein Kopfballtor des Stürmers Ernst Joschke, nicht anzuerkennen. Dabei hatte sogar der Linienrichter bestätigt, dass Joschke keineswegs im Abseits gestanden hatte, wie Hanke behauptete.

Nach Darstellung der deutschsprachigen „Kattowitzer Zeitung“ sahen sich die Spieler des 1. FC schon zuvor wiederholt vom Schiedsrichter


Henryk Reyman von Wisła Krakau (links), Schiedsrichter Zygmunt Hanke und der Kattowitzer Torwart Emil Görlitz waren die Hauptfiguren im „heiligen Krieg“ von 1927. Die genauen Hintergründe sind bis heute ungeklärt.

eklatant benachteiligt.2 So habe Reyman den Kattowitzer Torjäger Josef Görlitz, den Bruder des Torwartes, durch einen Tritt in die Hüfte „unschädlich gemacht“, ohne dass dies vom Unparteiischen geahndet worden sei. Reyman foulte der Zeitung zufolge auch noch einen weiteren Spieler der Platzmannschaft so grob, dass der 1. FC zeitweise nur neun Spieler auf dem Platz hatte.

Nachdem Hanke das Spiel zu früh beendet hatte, verließen die meisten Kattowitzer empört den Platz, sie sahen sich endgültig um die Chance betrogen, das Spiel noch zu ihren Gunsten zu wenden. Als der Mann in Schwarz seinen Irrtum bemerkte, pfiff er das Spiel wieder an. Joschke teilte ihm mit, dass die meisten seiner Mannschaftskameraden bereits in der Umkleidekabine seien, und reichte ihm den Ball. Da Joschke aber den Ball im Strafraum aufgenommen hatte, pfiff Hanke Elfmeter. Daraufhin beschloss die Heimmannschaft, nicht wieder anzutreten.

Die Spieler von Wisła blieben bis zur 90. Minute auf dem Platz und kickten hin und her, bis der Schlusspfiff ertönte. Unter den Zuschauern brachen nun Tumulte aus. Insgesamt 15.000 waren in das Stadion des 1. FC gekommen, so viel wie nie zuvor bei einem Ligaspiel. Die polnische Staatsbahn hatte erstmals einen Sonderzug für die Fans aus dem 80 Kilometer östlich gelegenen Krakau eingesetzt. Die Kattowitzer ihrerseits wurden von Hunderten von Deutschen unterstützt, die eigens aus dem zum Deutschen Reich gehörenden Westteil des Kohlereviers angereist waren.


Der streitbare Emil Görlitz war der erste Angehörige der deutschen Minderheit bei den Weißen Adlern.

Eigentlich waren die in den preußischen Farben Schwarz-Weiß mit blauen Stutzen spielenden Platzherren die Favoriten gewesen. Sie hatten sich gründlich auf diese wichtige Partie vorbereitet, sie waren sogar nach Krakau gefahren und hatten Wisła bei einem Spiel beobachtet. Die Presse heizte vor dem Spiel die Stimmung an. So berichtete die „Kattowitzer Zeitung“, ein polnisches Blatt habe behauptet, die Deutschen würden Schlägertrupps hinter das Krakauer Tor schicken, um dem Torwart Angst zu machen.

Zwar hatten die Kattowitzer in der Vorrunde noch in Krakau 0:3 verloren, sich dann aber im Laufe der Saison immer mehr gesteigert und auch gegen Pogo Lemberg zweimal gewonnen, die Mannschaft aus dem damaligen Ostpolen, die bis dahin als nahezu unbezwingbar galt: Sie hatte in den letzten fünf Jahren ununterbrochen die polnische Fußballmeisterschaft gewonnen.

Für ein Jahr, in der Saison 1924/25, hatte bei Pogo der Kattowitzer Emil Görlitz im Tor gestanden, als erster Deutschstämmiger wurde er damals auch polnischer Nationalspieler. Doch seine Karriere bei den Weißen Adlern war beendet, als er sich vom italienischen Club Edera Triest anheuern ließ, der seine Spieler bezahlte. Er wurde somit zum ersten Profi in der Geschichte des polnischen Fußballs. Da er im Ausland spielte, durfte er nicht mehr für die Nationalmannschaft antreten. Allerdings wurde sein Italienausflug zum Misserfolg, nach einem Jahr kehrte er in seine Heimatstadt Kattowitz zurück.3

Schiedsrichter Hanke wurde nach dem Spiel von mit Karabinern bewaffneten Polizisten vor der wütenden Menge abgeschirmt, während die von Reyman geführten Krakauer schnell das Weite suchten. Der Elfmeter auf das leere Tor war Reymans 37. Treffer in den 22 Partien der Spielzeit, er war damit Torschützenkönig. Er war einer der bekanntesten Fußballer Polens, bei den Olympischen Spielen von Paris 1924 war er Mannschaftskapitän gewesen. Ersatztorwart der polnischen Olympiamannschaft war damals Emil Görlitz. Reyman war Berufsoffizier, doch gab ihm die Armee für das Training und die Spiele frei. Zweifellos war es ein persönlicher Triumph für ihn, gegen den 1. FC Kattowitz gewonnen zu haben. Denn dieser war ja der Club der Deutschen – und Reyman hatte Anfang der zwanziger Jahre bei den Schlesischen Aufständen auf der polnischen Seite gegen die Deutschen gekämpft.

Später schrieb Reyman zu dem Spiel: „Wisła sah sich in der Pflicht, die polnischen Farben zu verteidigen, um es nicht zu der beklagenswerten Situation kommen zu lassen, dass der polnische Meistertitel in fremde Hände geriet. (…) Ich war mir dessen bewusst, dass mir die besondere Aufgabe zufiel, meine Mannschaft in einen Kampf zu führen, aus dem wir in Ehren herauskommen mussten.“4 Nach seinen Worten war die Leistung des Schiedsrichters einwandfrei.

Es war also ein symbolischer Sieg, den die mitgereisten Krakauer Fans schon in der Kattowitzer Innenstadt feierten. Sie veranstalteten sehr zum Verdruss der Einheimischen einen Freudenumzug.5 Ein starkes Polizeiaufgebot sorgte indes dafür, dass es nicht zu Zusammenstößen kam.

Die Auseinandersetzungen um das Ligaspiel vom 25. September 1927 markierten einen vorläufigen Höhepunkt der Spannungen zwischen Polen und Deutschen in Kattowitz. Die oberschlesische Industriemetropole gehörte erst seit fünf Jahren zu Polen. Sie war dem Land gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit ihrer Bevölkerung, die beim Deutschen Reich bleiben wollte, angegliedert worden. Doch dieses hatte gerade erst den Weltkrieg verloren, die Sieger waren sich auf der Konferenz von Versailles 1919 einig, dass die Deutschen bei der Neuordnung Europas Gebiete an die Nachbarn abzutreten hätten. Im Osten war dies Polen. 1795 war das Land von der politischen Landkarte Europas verschwunden, die drei Nachbarn – Preußen, Österreich und Russland – hatten es untereinander aufgeteilt.

Unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges wurde am 11. November 1918 in Warschau die unabhängige Republik Polen ausgerufen. Die Frage aber war, welche Gebiete sie genau umfassen sollte. Es war weitgehend unstrittig, dass dazu die preußischen Gebiete mit polnischsprachiger Mehrheit gehören sollten. Die führende Schicht von Kattowitz beunruhigten die Nachrichten von der Wiederentstehung des polnischen Staates zunächst nicht. Bei der letzten Volkszählung vor dem Ersten Weltkrieg hatten knapp 51 Prozent der rund 50.000 Einwohner der Stadt Deutsch als Muttersprache angegeben.6 Die anderen waren überwiegend zweisprachig.

Der preußische Adler

Allerdings sprach ein Großteil neben Deutsch keineswegs Polnisch, sondern den regionalen oberschlesischen Dialekt, der von den deutschen Behörden damals „Wasserpolnisch“ und von den Linguisten heute „Schlonsakisch“ (nach dem polnischen „lzak“) genannt. Die Unterschiede zur Hochsprache sind beträchtlich, in Zentralpolen wird er nicht verstanden. Für die damaligen deutschen Behörden waren die Wasserpolnisch sprechenden Oberschlesier keineswegs Polen. Auch gehörte die Region ja seit dem 14. Jahrhundert zum Heiligen Römischen Reich.

Aus all diesen Gründen schenkte man in Kattowitz der Konferenz von Versailles, die auch über die Grenzen des wiederentstandenen Polens entscheiden sollte, wenig Beachtung. Die Kattowitzer Fußballer spielten weiter in der oberschlesischen Meisterschaft mit, der Sieger war für die Endrunde der deutschen Meisterschaft qualifiziert. Stärkster Verein war der FC Preußen 05, dessen Wappentier der schwarze preußische Adler war. Viermal war Preußen 05 in den Jahren vor dem Krieg oberschlesischer Meister geworden, also der stärkste von mehreren Hundert Clubs im Kohlebecken am Oberlauf der Oder, bei denen Anfang der zwanziger Jahre bereits 12.000 Aktive registriert waren.7


Der schwarze Adler des FC Preußen 05.

Doch dann berichtete die „Kattowitzer Zeitung“ in großer Aufmachung, dass in Versailles über den Anschluss von ganz Oberschlesien an Polen beraten werde. In nahezu allen großen Städten in Deutschland kam es daraufhin zu Massendemonstrationen, zu denen alle Parteien aufriefen, von den Monarchisten bis zu den Kommunisten, auch in Kattowitz. Angesichts dieser Protestwelle forderte die britische Regierung, die Bevölkerungsverhältnisse in Oberschlesien vor einer Entscheidung über die Grenzziehung genau zu analysieren.

Die Führung in Warschau beschloss daraufhin, die umstrittene Region in einem militärischen Handstreich unter ihre Kontrolle zu bringen, um aus einer Position der Stärke heraus verhandeln zu können. Sie rüstete einen Geheimbund auf, der sich „Polnische Militärorganisation“ (Polska Organizacja Wojskowa – POW) nannte. Im August 1919 besetzten Hunderte von einheimischen POW-Freischärlern mit weiß-roten Armbinden, unterstützt von Einheiten der polnischen Armee in Zivil, deutsche Regierungsgebäude und Verkehrsknotenpunkte in Oberschlesien.

Doch in dem Gebiet standen noch deutsche Truppen. Diese schlugen den Ersten Schlesischen Aufstand, wie die Erhebung später genannt wurde, innerhalb von zwei Tagen nieder. Es gab weit mehr als hundert Tote.

Angesichts dieser militärischen Auseinandersetzungen setzte die britische Regierung sich bei den Alliierten mit dem Plan durch, der Bevölkerung die Wahl zwischen Polen und Deutschland zu geben. Die Volksabstimmung sollte im Frühjahr 1921 unter alliierter Aufsicht stattfinden. Die Mehrheit der Kattowitzer hatte keine Zweifel, dass auch nach der Abstimmung ihre Stadt zum Deutschen Reich gehören würde. Der FC Preußen 05 setzte auf Expansion, ein neuer Sportplatz wurde angelegt, zum Eröffnungsspiel kam Tennis Borussia aus Berlin, damals eine der besten Mannschaften in der Reichshauptstadt.8

Doch kam die Region nicht zur Ruhe: Nachdem die Reichswehr im Frühsommer 1920 auf Weisung der Alliierten das Industriegebiet verlassen musste und ein Kontingent aus Briten, Franzosen und Italienern dort eingetroffen war, unternahm die POW im August 1920 einen erneuten Versuch, das Industriegebiet mit Waffengewalt unter ihre Kontrolle zu bringen. Zu den polnischen Kämpfern, die den Zweiten Schlesischen Aufstand unterstützten, gehörte Henryk Reyman, der schon seit seiner Gymnasialzeit bei Wisła Krakau spielte. Doch waren in die Region längst deutsche Freikorps eingesickert, sie nahmen den Kampf auf. Britische Truppen trennten schließlich die beiden Kriegsparteien.

Die Teilung Oberschlesiens

Die Frage, ob das Industriegebiet deutsch bleiben oder polnisch werden sollte, polarisierte die Bevölkerung, sie spaltete sogar Familien. In einem Klima der politischen Hetze und der Gewalt bis hin zu Vergewaltigungen und Morden auf beiden Seiten stimmten die Oberschlesier unter alliierter Aufsicht am 21. März 1921 ab: Knapp 60 Prozent entschieden sich für Deutschland, in Kattowitz sogar 85 Prozent.

Nun beschlossen die Siegermächte von Versailles die Teilung des Industriegebietes. Um eine günstige Ausgangsposition für Verhandlungen zu haben, riefen polnische Politiker zum Dritten Schlesischen Aufstand auf. Nach drei Wochen heftiger Kämpfe zwischen polnischen Verbänden und deutschen Freikorps kam es im Mai 1921 zu einer dreitägigen Entscheidungsschlacht am St. Annaberg rund 40 Kilometer nordwestlich des Industriegebietes. Sie endete mit einer polnischen Niederlage, wieder waren Hunderte von Toten zu beklagen.

An der politischen Entscheidung der Siegermächte änderten die Kämpfe allerdings nichts: Die Region wurde geteilt, der Ostteil, in dem sich rund zwei Drittel der Eisenhütten und Bergwerke befanden, fiel an Polen, darunter Kattowitz mit seiner großen deutschen Mehrheit. Am Juni 1922 zog unter weiß-roten Fahnen polnische Kavallerie in die Stadt ein. Der Völkerbund verpflichtete Warschau, ein Minderheitenstatut auszuarbeiten.

Der kurzzeitige Ministerpräsident Władysław Sikorski, der im Zweiten Weltkrieg die polnische Exilregierung in London führen sollte, forderte eine „Entdeutschung in kurzem und raschem Tempo“. Kattowitz wurde Sitz der neugegründeten Woiwodschaft (Regierungsbezirk) Schlesien. Bei den ersten Stadtratswahlen bekamen deutsche Gruppierungen allerdings die Mehrheit, daraufhin lösten die polnischen Behörden den Stadtrat auf. Sämtliche Großbetriebe im polnischen Teil Oberschlesiens, die ausnahmslos in deutscher Hand waren, wurden verstaatlicht, Tausende von Firmeninhabern und Immobilienbesitzern aufgrund des Grenzzonengesetzes, das sich gezielt gegen die Deutschen richtete, entschädigungslos enteignet. Das Abkommen über die Teilung Oberschlesiens sah einen Austausch der Bevölkerung vor: Deutsche, die im zu Polen gekommenen Teil beheimatet waren, sollten die Möglichkeit haben, ins Reich zu übersiedeln und umgekehrt. Fast die Hälfte der deutschen Kattowitzer wanderte daraufhin ab.

Zur Polonisierung der Stadt gehörte auch die Umbenennung deutscher Organisationen und Vereine. Doch der Vorstand des FC Preußen 05 wollte den deutschen Namen beibehalten und nicht nur das: Er beantragte beim DFB, weiterhin zu den Vorrundenspielen um die deutsche Meisterschaft zugelassen zu werden. Wenige Tage vor der Übernahme der Stadt durch die Polen war der Verein erneut oberschlesischer Meister geworden. 143 weitere Vereine wollten ebenfalls weiterhin dem DFB angehören und gründeten einen deutschen Fußballverband im polnischen Teil Oberschlesiens. Beim DFB aber wollte man keinen zwischenstaatlichen Konflikt provozieren, der Vorstoß wurde daher zurückgewiesen.

In den polnischen Zeitungen begann eine Kampagne gegen die deutschen Vereine, vor allem gegen den FC Preußen 05, der nach wie vor den feindlichen, nämlich den schwarzen, Adler im Wappen trug. Die Vereinsoberen machten nun einen Rückzieher. Sie verabschiedeten sich von dem umstrittenen Namen und auch dem Adler. Der Club hieß nun 1. FC. Zunächst wurde behauptet, die Abkürzung stehe für das englische „First Football Club“; doch bald gebrauchte man den deutschen Namen. Er spielte weiter in weißen Trikots und schwarzen Hosen, in den Farben Preußens. In den Augen der Polen standen diese Farben allerdings für die preußischen Behörden, die in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg die polnische Kultur unterdrückt hatten.

Die Grenze mitten durch das Industriegebiet trennte Familien und Freunde. Auf Druck des Völkerbundes einigten sich beide Seiten auf einen kleinen Grenzverkehr. Tausende von Oberschlesiern überschritten die Grenze, um Fußballspiele zu sehen, nämlich die Partien zwischen der Auswahl der polnischen Woiwodschaft Schlesien und dem Westteil des Bergbaureviers, der deutsch geblieben war. Die erste Partie fand am 7. Dezember 1924 im Stadion des 1. FC Kattowitz statt, von den polnischen Behörden argwöhnisch beobachtet.9

Zwar hatte sowohl die polnische als auch die deutsche Presse zuvor von einem Kampf der Nationen geschrieben, doch die Spieler gingen eher freundschaftlich miteinander um. In der polnischen Elf redeten einige Deutsch, in der deutschen war auch Polnisch zu hören, und wohl die meisten sprachen Schlonsakisch. Beide Mannschaften trugen den schlesischen Adler auf dem Trikot. Das Spiel endete mit einem brüderlichen 3:3, auf der polnischen Seite fielen zwei Eigentore, was zu Spekulationen Anlass gab. Anschließend nahmen die Spieler gemeinsam im Christlichen Gewerkschaftshaus das Abendessen ein. Auch auf der Tribüne herrschte eher eine Stimmung der allgemeinen Verbrüderung vor.

Die nächste Partie fand in Beuthen auf der deutschen Seite statt, die Gastgeber gewannen 3:1. Die in Kattowitz erscheinende Zeitung „Polska Zachodnia“ schrieb erbost, einige der Spieler der polnischen Mannschaft hätten sich kaum angestrengt: „In der Verteidigung versagte Pohl vom 1. FC Kattowitz, der nicht ganz nüchtern auf den Platz kam, und man hatte den Eindruck, er helfe den Deutschen.“10

Der verpasste Meistertitel

Es war keineswegs der einzige Artikel, der dem 1. FC unterstellte, nicht loyal zum polnischen Staat zu stehen. Auf die Spielstärke des Vereins wirkten sich die politischen Querelen allerdings nicht aus. Wie schon zu preußischen Zeiten vor dem Krieg wurde er wieder zum besten Club der Region, zumindest ihres zu Polen gekommenen östlichen Teils. Als der nationale Fußballverband PZPN (Polski Zwizek Piłki Nonej) 1926 die Gründung der „Liga“ mit den vierzehn stärksten Vereinen des Landes beschloss, waren die Kattowitzer dabei. Die erste Saison beendete der 1. FC nach dem abgebrochenen Skandalspiel gegen Wisła Krakau als polnischer Vizemeister.

Die „Kattowitzer Zeitung“ wusste zu berichten, dass die Krakauer nach dem Spiel den Schiedsrichter hochleben ließen. Der Sportkommentator schloss: „Es handelt sich um ein trauriges Kapitel im polnischen Fußballsport, das davon zeugt, dass der 1. F.C. für den Polnischen Meister nie in Frage kommt.“11 Den Berichten von Vertretern der deutschen Minderheit zufolge gab Schiedsrichter Hanke später in der Tat zu, aufgrund von politischem Druck die Kattowitzer benachteiligt zu haben.12

Für die Spieler des 1. FC und ihre Anhänger stand fest, dass vor allem der schlesische Woiwode (Regierungspräsident) Michał Grayski einen Sieg der Kattowitzer habe verhindern wollen. Grayski stammte aus der Krakauer Gegend, bei den Kämpfen gegen die Deutschen während der Schlesischen Aufstände hatte er eine wichtige Rolle gespielt. In Kattowitz besetzte er führende Posten in der Verwaltung mit alten Kameraden aus der POW,13 auch den Kattowitzer Fußballverband dominierten sie.14 Die Vorstellung, der polnische Meistertitel könne an einen deutschen Verein gehen, war für ihn und seine Unterstützer völlig inakzeptabel.

Die Balkenüberschrift der „Kattowitzer Zeitung“ über das Skandalspiel gab die Stimmung unter den Deutschen wieder: „Schiebung! Schiebung! Schiebung!“ Im Untertitel hieß es: „Das Spiel des 1. F.C. – Wisla, eine abgekartete Sache. – Schwaches Spiel der Krakauer. – Der Unparteiische Hanke fällt in der 2. Halbzeit um. – Die bestellte Siegeskapelle. – Ein Zuschauerrekord.“ 15

Die Zeitung empörte sich über polnische Pressestimmen zu dem Spiel: So habe „Polska Zachodnia“ behauptet, der Schiedsrichter habe „vor dem durch deutsche Agitation aufgepeitschten Publikum“ von zwei Kompanien Polizei in Sicherheit gebracht werden müssen. Die „Gazeta Robotnicza“ forderte sogar die Auflösung des 1. FC Kattowitz und schrieb von „Minderheitsbanden“.16

Ein Teil der polnischen Politiker und Kommentatoren forderte die anderen Vereine des Landes auf, den 1. FC Kattowitz zu boykottieren. Doch wurden diese Appelle nicht befolgt, die Kattowitzer spielten weiterhin in der Liga und erreichten 1928 den fünften Platz, nachdem sie zur Halbzeit noch Zweiter gewesen waren.


Die Schlagzeile der „Kattowitzer Zeitung“ zeugt von der Stimmung unter den Deutschen in Ostoberschlesien: Sie fühlten sich von den Polen betrogen.

Der PZPN sah sich nun veranlasst, ein Zeichen zu setzen: Er setzte für den 1. Juli 1928 erstmals ein Länderspiel in Kattowitz an, Gegner war Schweden. Mit Hilfe des Fußballs sollte noch einmal unterstrichen werden, dass Ostoberschlesien endgültig zu Polen gehört. Die Deutschen von Kattowitz sollten dies endlich akzeptieren.

Gleichzeitig machte der PZPN eine versöhnliche Geste gegenüber eben jenen Deutschen: Der Trainer berief zwei Spieler vom 1. FC erstmals in die Nationalmannschaft. Der 21-jährige Stürmer Karl Kossok, der wegen seiner Körpergröße der „schlesische Riese“ genannt wurde, sagte mit Freuden zu. Es wurde sein erstes von fünf Länderspielen, zwei Jahre später wurde er Torschützenkönig der Liga und polnischer Meister, allerdings mit Cracovia Krakau. Kossok erklärte, er habe den 1. FC verlassen, weil er in einem deutschen Klub in Polen „nichts werden kann“.17

Doch der Verteidiger Erich Heidenreich, der als einer der besten Abwehrspieler der Liga galt, schlug die Einladung zum Länderspiel gegen Schweden aus. Er schrieb in einem Brief an den PZPN, er fühle sich durchaus geehrt, doch sei er ein Deutscher; deshalb könne er nicht für die Weiß-Roten spielen. Im PZPN war man über dieses Schreiben verärgert.

In dem Länderspiel gegen die Schweden siegten die Polen 2:1 vor einer Rekordkulisse von rund 20.000 Zuschauern. Schiedsrichter war der spätere DFB-Präsident Peco Bauwens, der eigens aus Köln mit dem Zug in das rund 1.000 Kilometer entfernte Kattowitz gekommen war.

„Bekenntnis zum Deutschtum“

Dem Woiwoden Michał Grażyski aber blieb der Klub, der 1929 aus der Liga abstieg, ein Dorn im Auge. Er ließ die Behörden weiter Druck auf den 1. FC ausüben: Im Frühjahr 1930 verlängerte die Stadt nicht den Pachtvertrag für die Sportanlagen, der Verein verfügte nun über kein Trainingsgelände mehr.18 Trotz der Behinderungen durch die Behörden gelang es dem Vorstand des 1. FC Kattowitz nach zwei Jahren langwieriger Verhandlungen, einen neuen Vertrag für ein anderes Grundstück abzuschließen. Es wurde „Ehrensache“, wie es die „Kattowitzer Zeitung“ schrieb, dass sich die in der Stadt verbliebenen deutschen Geschäftsleute am Bau eines neuen Stadions finanziell beteiligten. Im August 1934 wurde es im Rahmen eines „Deutschen Turn- und Sportfestes“ eingeweiht.19 Zum Eröffnungsspiel reiste wieder Tennis Borussia aus Berlin an und gewann gegen die Gastgeber 5:1.

Die polnischen Behörden beobachteten diese Großveranstaltung, die nach den Worten der Veranstalter ein „Bekenntnis zum Deutschtum“ bedeutete, mit größtem Argwohn. Denn seit anderthalb Jahren regierten in Berlin die Nationalsozialisten, die stets die Zugehörigkeit Ostoberschlesiens zu Polen in Frage gestellt hatten. Und zahlreiche Vereine der Deutschen in Polen sicherten der Führung in Berlin ihre Loyalität zu und luden Vertreter des Reichs zu den großen Sportfesten ein.20

Doch dem 1. FC bescherte die neue „Kampfbahn“ wenig Glück. Im Jahr ihrer Eröffnung musste er sein größtes Talent, den 17-jährigen Mittelstürmer Ernst Willimowski, an den Ligaverein Ruch Wielkie Hajduki verkaufen. Zuvor hatte der Stürmer Ernst Joschke Kattowitz in Richtung Warschau verlassen, wo er einen Vertrag beim Armeeclub Legia unterzeichnete.

Der frühere Nationaltorwart Emil Görlitz war ebenfalls gegangen, er spielte bei Eintracht Altenburg in Thüringen, wo er sich dauerhaft niederließ. Auch sein jüngerer Bruder Josef, ein durchsetzungsstarker Stürmer, ging dem 1. FC verloren: Bei einem Punktspiel war er mit einem Gegner zusammengeprallt, dieser zog sich dabei einen Rippenbruch zu. Der Schiedsrichter erkannte auf Foul und stellte Görlitz vom Platz. Als dieser dagegen protestierte, kamen Polizisten, um ihn abzuführen. Daraufhin stürmten Anhänger des 1. FC das Spielfeld, es kam zu einer großen Schlägerei.21

In der Folge schloss der PZPN den Verein wegen „provozierender antipolnischer Haltung“ bis zum Saisonende vom Spielbetrieb aus.22 Josef Görlitz wurde lebenslang gesperrt. Die Vereinsoberen sahen die Entscheidungen des PZPN wiederum als gezielte Maßnahme gegen die deutsche Minderheit an.

Ebenfalls im Jahr 1934 schlossen Nazi-Deutschland und Polen überraschend einen Nichtangriffspakt und vereinbarten sogar einen Kulturaustausch.23 Doch trotz der Annäherung auf höchster politischer Ebene verschlechterte sich die Lage für die Minderheiten beiderseits der Grenze. Die Führer der polnischen Minderheit im Deutschen Reich waren zunehmend Schikanen ausgesetzt. Nicht anders verhielt


Der schussgewaltige Karol Kossok, der „schlesische Riese“, trainierte nach seiner aktiven Zeit Polonia Warschau, den stärksten Club der Hauptstadt.

es sich im polnischen Teil Oberschlesiens. Der Druck der polnischen Behörden war allerdings kontraproduktiv: Deutschnationale Gruppierungen in Kattowitz bekamen Zulauf, während die Deutsche Katholische Volkspartei, die für einen Ausgleich zwischen beiden Nationen eintrat, stark an Bedeutung verlor. Auch viele Fans des 1. FC Kattowitz verhehlten ihre Sympathie für die neuen Machthaber in Berlin nicht. Die „Kattowitzer Zeitung“, in der zunehmend NS-Parteigänger das Sagen hatten, provozierte die Polen durch zustimmende Kommentare zur deutschen Wiederbewaffnung und druckte beispielsweise Zeichnungen der neuen Wehrmachtsstandarten ab.24

Die polnischen Behörden reagierten mit weiterem Druck. So entließen die Stahlhütten und Bergwerke, die alle in staatlicher Hand waren, bei der Wirtschaftskrise Mitte der dreißiger Jahre an erster Stelle die deutschen Hüttenarbeiter und Bergleute. Bald betrug die Arbeitslosigkeit unter den deutschen Facharbeitern in Ostoberschlesien 60 Prozent. Deutsche wurden auch nicht mehr für die Betriebsratswahlen zugelassen. Außerdem bekamen die Schulbehörden die Anweisung, den Minderheitsschulen möglichst wenig Schüler zuzuteilen: 95 Prozent der Bewerber wurden von den polnischen Schulinspektoren abgelehnt. Schließlich kündigten die polnischen Krankenkassen die Verträge mit alteingesessenen deutschen Ärzten und Apothekern.

Gleichzeitig schürte die NS-Führung in Berlin noch die Spannungen. Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten appellierte an die Einwohner des zu Polen gehörenden Teils Oberschlesiens, die Zugehörigkeit zur „deutschen Volksgemeinschaft“ nicht zu vergessen, sie müssten die Ziele des Reiches unterstützen. Die außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches lebenden Angehörigen der deutschen Minderheiten hießen nun im amtlichen Sprachgebrauch Berlins „Volksdeutsche“.

Einzelne Sportführer in Oberschlesien nannten auf ihren Sitzungen den Anschluss ans Reich ihr Ziel, wie Informanten der polnischen Geheimpolizei vermerkten.25 Auch im Vorstand des 1. FC Kattowitz gaben nun NS-Sympathisanten den Ton an. Zu ihnen gehörte der Unternehmer Georg Joschke, er war verwandt mit dem Fußballspieler Ernst Joschke, einem der Akteure der Skandalpartie gegen Wisła Krakau.

Im Frühjahr 1939 spitzte sich die politische Lage zu: Hitler verlangte von Warschau ultimativ die Zustimmung zum Anschluss der Freien Stadt Danzig an das Deutsche Reich und die Beteiligung Polens an einem gegen die Sowjetunion gerichteten Bündnis. Die polnische Führung antwortete mit einer Teilmobilmachung, woraufhin Berlin den Nichtangriffspakt kündigte. Unmittelbar danach begannen die Behörden beider Länder, Angehörige der jeweiligen Minderheit abzuschieben; Tausende von Deutschen mussten das Industriegebiet um Kattowitz verlassen.

Verbot und Wiedergründung des Clubs

Der Woiwode Grayski ließ im Juni 1939 die „Kattowitzer Zeitung“ einstellen, die zunehmend Sympathie für das NS-Regime gezeigt hatte, und den 1. FC als „Hort deutscher nationalistischer Kräfte“ auflösen. Das Vereinsvermögen wurde eingezogen.

Georg Joschke, Vorstandsmitglied und Sponsor des 1. FC, versteckte sich im Sommer 1939. Polnische Historiker sind heute der Überzeugung, dass er an der Vorbereitung von Attentaten und Sabotageakten im polnischen Teil Oberschlesiens teilgenommen hatte. Deutsche Akten, die sich in der Kattowitzer Nebenstelle des Staatsarchivs befinden, belegen, dass Joschke nach dem Kriegsausbruch in Polen an Aktionen hinter den Linien beteiligt war.26

Am 1. September 1939 fielen die ersten deutschen Bomben auf Warschau, am 2. September räumten die polnischen Truppen kampflos Kattowitz und zogen sich nach Osten zurück. Der Woiwode Grayski flüchtete nach Warschau, wo er für wenige Tage das Amt des Propagandaministers bekleidete, bis die ganze Regierung sich nach Rumänien absetzte. In Kattowitz übernahmen Freiwillige aus dem Verband der Aufständischen und ältere Pfadfinder die Verteidigung der Stadt. Doch hatten sie der Wehrmacht mit ihren Panzerverbänden kaum etwas entgegenzusetzen, 750 von ihnen fanden den Tod.27 In den ersten Tagen nach dem Einmarsch der Wehrmacht verhaftete die SS zahlreiche polnische Intellektuelle. Ein Teil von ihnen wurde ohne jegliches Verfahren erschossen, die Mehrheit in Konzentrationslager geschickt.28

Nach dem Einmarsch der Deutschen wurde Georg Joschke Kreisleiter der NSDAP in Kattowitz. Zu seinen ersten Maßnahmen gehörte die Wiedergründung des 1. FC, dessen Vorstand er angehört hatte. Joschke wollte, dass der Club zur Nummer 1 der wieder an das Reich angeschlossenen Region werden und eine führende Rolle im deutschen Fußball spielen solle. Deshalb wurden einige der oberschlesischen Spitzenspieler dorthin befohlen. Allerdings gelang dieses Vorhaben nicht; die meisten von ihnen verließen Kattowitz bald, meist keineswegs freiwillig, denn sie wurden zur Wehrmacht eingezogen. 1945 erklärte die neue polnische Verwaltung den Club endgültig für aufgelöst.

62 Jahre später, 2007, wurde der Verein mit den traditionellen Farben Schwarz-Weiß neugegründet. Dahinter standen Aktivisten der Bewegung für die Autonomie Schlesiens, einer proeuropäischen Gruppierung, die eine enge Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschen propagiert, die gleichzeitig auch die düsteren Seiten der gemeinsamen Geschichte in der Region aufarbeiten möchte.

Schwarze Adler, weiße Adler

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