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Einleitung Ein deutscher Mythos

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Ich war ein Autoraser – und zwar mit Leidenschaft. Mein Wagen war ein BMW M3, weiß mit schwarzem Karbondach, Doppelauspuffsystem, 420 PS, 0 auf 100 km/h in 4,8 Sekunden, Höchstgeschwindigkeit 250 km/h, und da ging noch mehr. Ich liebte den Rausch der Geschwindigkeit, den Adrenalinkick beim Beschleunigen, das Gefühl von Macht und Dominanz. Selten fühlte ich mich so lebendig wie auf der Autobahn, mit durchgedrücktem Gaspedal, wenn der übrige Verkehr scheinbar zum Stehen kam, während ich an ihm vorbeidonnerte wie mit einem Kampfjet. Mit blinkender Lichthupe signalisierte ich schon aus der Ferne, dass ich der Schnellere, der Stärkere war. Ich fluchte über die untermotorisierten Schleicher, die Langsamfahrer, die mich zum Bremsen nötigten. Lässig bedankte ich mich per Handzeichen, wenn jemand freiwillig die linke Spur verließ.

Selten kam es vor, dass einer noch schneller war als ich. Einmal fuhr mir ein Sportwagen derart dicht auf, dass ich im Rückspiegel dem Fahrer unmittelbar ins Gesicht sehen konnte. Ich sah einen Mann um die 45, den Blick starr nach vorn gerichtet, verkniffenes Gesicht, leicht höhnisches Grinsen. Einen Augenblick lang dachte ich, er wolle mich einfach umbringen. Mit der Hand bedeutete ich ihm, er solle Abstand halten, doch er kam immer näher, bis ich irgendwann auswich. Als der andere an mir vorbeischoss, wurde mir plötzlich klar: Der Mann, den ich da im Rückspiegel gesehen hatte – das war ich selbst. Einer dieser Irren, fast immer Männer, die auf Deutschlands Straßen Angst und Schrecken verbreiten, weil sie es können – und weil sie es dürfen. In kaum einem Land gibt es mehr PS-starke Autos als in Deutschland, und in keinem anderen gibt es Autobahnen ohne durchgehendes Tempolimit.

Irgendwann gab ich mein Auto zurück, einen Dienstwagen übrigens, wenn auch nicht aus tieferer Einsicht, sondern weil ich es musste. Seither habe ich kein Auto mehr besessen, sondern fahre mit der Bahn; wenn ich einen Wagen brauche, dann miete ich ihn. Dieses Buch ist auch eine persönliche Auseinandersetzung mit meiner früheren Leidenschaft. Ich frage mich immer noch, was ich so toll daran fand, mit gemeingefährlichem Tempo über die Autobahn zu jagen. Und ich denke immer noch darüber nach, warum ich es so genoss, wenn jugendliche Autofans den Daumen hochreckten oder fragten, ob sie meinen Wagen anfassen dürften. An einer Tankstelle legte sich einer sogar vor mein Auto, um die Frontschürze zu fotografieren. Aus heutiger Sicht ist mir das peinlich, auch wenn ich die Anekdoten, mit selbstironischem Augenzwinkern, ganz gern erzähle. Es ist mir peinlich, aber es hilft mir auch zu verstehen, was das Autofahren für Menschen bedeuten kann, erst recht für die Deutschen.

Als gebürtiger Österreicher, der seit Jahren in Deutschland lebt, empfand ich die deutschen Autobahnen immer als ein Reich der Freiheit. Wenn ich wieder einmal in Österreich fahren musste, wo ein Tempolimit von 130 km/h gilt, fühlte ich mich eingeschränkt – und war heilfroh, wenn ich bei der Rückfahrt nach der Grenze sofort wieder aufs Gas steigen konnte. Als ich noch in Österreich lebte, reichte mir ein gebrauchter Japaner mit 90 PS. Meine damalige Freundin und ich nutzten den Wagen für Einkäufe und entspannte Wochenendfahrten. Mehr als 160 Sachen waren ohnehin nicht drin, da fing die Kiste schon zu wackeln an. An gewagte Überholmanöver war nicht zu denken; ich war schon froh, wenn ich auf der Landstraße schnell genug an einem Traktor vorbeikam. Es war wirklich kein gutes Auto. Wir fuhren den Wagen, solange es irgendwie ging. In Deutschland hätte ich mich für die Karre geschämt. Eine meiner ersten großen Anschaffungen nach dem Umzug nach Deutschland war ein BMW mit 286 PS. Ich kaufte den Wagen nicht, weil ich mehr Geld hatte, sondern weil ich ihn fahren wollte – und zwar richtig. Ich hatte Herzklopfen, als ich das erste Mal das Gaspedal durchdrückte. Und ich war berauscht, als der Tacho 240 zeigte – ja, es bereitete mir ein Glücksgefühl. Aber es ging mir nicht allein um den „Fahrspaß“, von dem die Automobilindustrie so gern redet. Beim Fahren hatte ich öfter das Gefühl, dass ich ein anderer war – und doch zugleich ich selbst. Heute sehe ich das als Hinweis auf ein philosophisches Problem, das mit dem Fahren zusammenhängt, und besonders, wie ich meine, mit dem deutschen Fahren – davon handelt dieses Buch.

Ich bin auch heute kein Autohasser, keiner von diesen Bekehrten, die alle anderen missionieren wollen, weil sie von ihrem Laster noch immer nicht loskommen. Und ich bin auch kein Ökofreak, obwohl es mehr als genug Gründe gäbe, den Verbrennungsmotor sofort zu verbieten. Ich habe überhaupt keine ausgeprägte moralische Haltung zum Automobil. Weder verachte ich die Leute dafür, dass sie Auto fahren, noch halte ich Radfahrer für bessere Menschen. Bei manchen frage ich mich allenfalls, wozu sie ein zweieinhalb Tonnen schweres SUV mit 500 PS brauchen, um damit ihre Kinder in die Schule zu kutschieren. Dieses Buch ist daher keine Polemik gegen das Auto, erst recht nicht gegen die Autofahrer. Es ist auch keine Abrechnung mit der Automobilindustrie. Weder liefert es neue Fakten zum Dieselskandal, noch Visionen für die Mobilität der Zukunft. Ich plädiere auch nicht dafür, das Autofahren sein zu lassen, obwohl ich die Deutsche Bahn, aller berechtigten Kritik zum Trotz, schätzen gelernt habe. Es geht mir um die Bedeutung des Autos für unser Leben, für unsere Identität. Das Auto hat, so glaube ich, in einem tiefen Sinne mit unserem deutschen Selbstverständnis zu tun. Die Deutschen haben das Auto erfunden, sie bauen immer noch die besten Autos – und sie fahren auch besonders gern. Kein Klischee über den angeblichen deutschen Nationalcharakter kommt ohne die Liebe der Deutschen zum Auto aus. Die deutschen Autofahrer, das sind nicht nur die Raser auf der Autobahn, sondern auch die Biedermänner, die sich einen Wunderbaum ins Fahrzeug hängen. Deutschland ist nicht nur das Land der Dichter und Denker. Es ist auch das Land der Lenker. Das deutsche Automobil – das sind wir selbst. Eben deshalb regt das Thema die Deutschen auf wie kaum ein anderes, den Fußball vielleicht ausgenommen. Wer das Auto angreift, der greift auch die Deutschen an.

Die deutsche Autodebatte hat nicht nur eine wirtschaftliche, politische und ökologische Dimension. Es geht auch um einen nationalen Mythos, eine nahezu totale Autokultur, die dieses Land bis in den letzten Winkel durchdringt. Es geht um die Art, wie wir das Auto sehen.

Es ist der Blick des Fahrers, seine Sicht der Welt. Ich nenne es die „Fahrerperspektive“. Der Blick des Autofahrers ist primär nach vorne auf die Straße gerichtet. Wer ein Fahrzeug lenkt, muss auf den Verkehr achten, auf Ampeln und Schilder, auf andere Autofahrer. Was immer ihm beim Fahren begegnet, das nimmt er als potenzielles Hindernis wahr. Da ist der Rechtsüberholer, der Radfahrer, der Fußgänger, das Schlagloch – alles eine mögliche Bedrohung, auf die er reagieren muss. Die Perspektive des Fahrers ist eine verengte Perspektive, sein Blick ein Tunnelblick, der aufs Fahren selbst fixiert ist, aufs möglichst zügige und unbehinderte Vorankommen.

Die Fahrerperspektive – das ist der Blick durch die Frontscheibe, die Perspektive des automobilen Subjekts. Das ist nicht nur der Blick des deutschen Autofahrers. Es ist auch die Sichtweise der Automobilindustrie. Das deutsche Auto ist „um den Fahrer herum“1 organisiert, wie der Autoexperte Ferdinand Dudenhoeffer sagt. Es geht um seinen „Fahrspaß“, seine Begeisterung, seine „Gänsehaut“. Wir leben in einer Welt, die auf die Fahrerperspektive zugeschnitten ist. Eben deshalb fällt es uns auch so schwer, uns vom Auto zu trennen. Die Fahrerperspektive, das ist nicht nur ein bestimmter Blick. Es ist eine Lebensform, eine bestimmte Art, die Dinge zu sehen und zu tun. Es ist nicht nur das Auto selbst, sondern die automobile Lebensform, die in Widersprüche geraten ist.

Einerseits wissen alle, dass es nicht weitergehen kann wie bisher. Es gibt einfach viel zu viele Autos. Mehr als jeder zweite Deutsche besitzt ein eigenes Fahrzeug; insgesamt sind es 43 Millionen in privaten Haushalten. Der Anteil des Autos am Verkehrsaufkommen liegt immer noch bei knapp 60 Prozent. Die Städte ersticken im Verkehr und in Abgasen, es gibt zu wenig Parkplätze, zu viel Lärm, zu viele Staus. Die andere Seite ist, dass es natürlich so weitergeht. Dass wir vom Auto ökonomisch, emotional und oft auch existenziell abhängig sind. Vor allem auf dem Land brauchen die Menschen ihr Auto, um zur Arbeit zu kommen. Viele können sich gar nicht vorstellen, ohne Auto zu sein. Abhängig sind wir auch von der Automobilindustrie, dem wichtigsten Industriezweig des Landes mit mehr als 800.000 Beschäftigten, der trotz Dieselkrise wirtschaftlich erfolgreicher ist denn je. Von einem Ende des Verbrennungsmotors, so meint eine Studie des Münchner „Instituts für Wirtschaftsforschung“, wären 600.000 Industriearbeitsplätze betroffen, das sind zehn Prozent der Industriebeschäftigung.2 Auch deshalb warnen manche vor einer autofeindlichen Stimmung im Land.

Die Widersprüche des Autolands Deutschland könnten neue politische und gesellschaftliche Konflikte entfachen. Wegen des Dieselskandals drohen in zahlreichen Städten Fahrverbote, vor allem die Berufspendler reagieren mit Wut. Widerstand gibt es auch gegen Forderungen nach Tempolimits und anderen Maßnahmen, um die Verkehrswende voranzutreiben. Manche fürchten eine deutsche „Gelbwesten“-Bewegung wie in Frankreich, wo Tausende gewaltsam gegen das politische Establishment protestierten, unter anderem wegen zu hoher Spritpreise. Der Spiegel schreibt gar von einem „Kulturkampf ums Auto“, der das Land weiter spalten könnte:

„Junge, umweltbewusste Städter, die wegen des Verkehrskollapses längst aufs Fahrrad umgestiegen sind, stehen gegen Millionen Pendler, Industriebeschäftigte und Kleinunternehmer, deren berufliche Existenz am Auto hängt. Die einen fürchten um den Ruf der Bundesrepublik als Klimavorreiter, die anderen um die Wettbewerbsfähigkeit von Daimler, BMW & Co.“3

Der Dieselskandal ist nur das Symptom eines tiefgreifenden Wandels, der die Autonation Deutschland im Innersten trifft. In der Autodebatte verdichtet sich heute, wie im Zylinder eines Verbrennungsmotors, ein Gemisch aus zentralen Fragen unserer Zeit – Globalisierung, Klimawandel, Digitalisierung. Es geht nicht nur um Abgaswerte, betrügerische Manipulationen und Kartellverdacht, sondern um die größte technologische Umwälzung seit der Erfindung des Automobils. Die Tage des Verbrennungsmotors sind womöglich gezählt, Elektroauto und autonomes Fahren könnten das Auto und die Mobilität überhaupt neu definieren.

Der Wandel trifft Deutschlands erfolgsgewohnte Autoindustrie mit voller Wucht. Jahrzehntelang hat man ausschließlich auf den Verbrennungsmotor gesetzt. Der kraftvolle und sparsame Dieselantrieb galt als fortschrittlich und klimaschonend, obwohl man schon lange hätte wissen können, dass die Technologie trotz hoher Investitionen keine Zukunft hat. Der Abgasskandal wiegt auch deshalb so schwer, weil der Diesel stets der ganze Stolz der deutschen Ingenieure war. Viel zu spät haben die deutschen Hersteller begonnen, auf alternative Antriebe umzusteigen, auf neue Formen einer digital vernetzten Mobilität. Das Dilemma der Autoindustrie ist, dass sie ein Geschäftsmodell aufgeben muss, mit dem sie bis heute gute Geschäfte macht.

Die Autofrage lässt sich aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Einfache Antworten gibt es nicht. In vielerlei Hinsicht ist Autofahren gegen jede Vernunft. Es wäre vielleicht besser, wenn alle darauf verzichten würden. Die Argumente dafür sind seit vielen Jahren bekannt. Es ist gegen jede Vernunft, dass Menschen derart viel Geld für Autos ausgeben, mit denen sie dann doch wieder stundenlang im Stau stehen oder verzweifelt nach einer Parklücke suchen. Es bräuchte nur Visionen, die richtigen Technologien und Infrastrukturen – und natürlich den politischen Willen zur radikalen Verkehrswende. Natürlich kann man die Menschen immer wieder dazu auffordern, das Autofahren bleiben zu lassen. Man kann darauf hoffen, dass das Auto die Jungen weiterhin so kalt lässt – wenigstens in den großen Städten –, wie Studien das nahelegen. Das kann und sollte man tun.

Zugleich aber muss man sehen, dass sich das „Virus Auto“, wie es der österreichische Verkehrsplaner Hermann Knoflacher4 einmal bezeichnete, immer weiter verbreitet. Die Jungen mögen weniger fahren als bisher, die Älteren und Alten tun es dafür umso mehr. Gottlieb Daimler war einst noch davon ausgegangen, dass „die weltweite Nachfrage nach Kraftfahrzeugen eine Million nicht überschreiten wird – allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren.“5 Heute sind es eine Milliarde weltweit, und auch in Deutschland ist die Zahl der zugelassenen Autos in den letzten Jahren immer noch weiter angestiegen, so wie übrigens auch die Umsätze der Automobilindustrie. Und was die Vernunft betrifft, muss man feststellen, dass die Autos der Deutschen immer dicker, größer und schwerer, also unvernünftiger werden. So hat sich der Anteil von SUVs, Geländewagen und Vans innerhalb des Fahrzeugbestandes in den letzten zehn Jahren von etwa 10 auf 20 Prozent verdoppelt, in den letzten 20 Jahren gar mehr als verzehnfacht.6

Paradox genug: Je mehr Gründe gegen ein eigenes Auto sprechen, desto größer der Wunsch bei den Deutschen, sich eines zuzulegen. Angesichts dieser Tatsache kann man sich ernüchtert fragen, ob der Kampf gegen das Auto, wenn man ihn denn führen will, nicht aussichtlos ist – oder aber zu schweren politischen und gesellschaftlichen Konflikten führt, die heute niemand riskieren will. Man kann also kapitulieren und einfach zur Kenntnis nehmen, dass das Autofahren für die Deutschen offenbar eine höchst emotionale, irrationale Angelegenheit ist, ähnlich wie der deutsche Fußball, dessen Popularität es vermutlich auch nichts anhaben könnte, wenn die halbe Nationalmannschaft des Steuerbetrugs überführt würde.

Man kann sich aber auch die Frage stellen, ob wir überhaupt den Kern des Problems verstanden haben, für das wir heute so verzweifelt eine Lösung suchen – eben die Fahrerperspektive, aus der wir das Auto betrachten. Dieses Buch ist ein Versuch, einen neuen Blick auf das Automobil zu gewinnen. Es ist weder ein technischer, noch ein wirtschaftlicher oder ökologischer Blick. Es ist ein Versuch, das deutsche Automobil philosophisch zu verstehen.

Stellen wir die Grundfrage: Was ist ein Auto überhaupt? Auf den ersten Blick scheint das sonnenklar zu sein. Ein „Auto“, das ist „ein von einem Motor angetriebenes Fahrzeug, das zur Beförderung von Personen oder Gütern dient“, so definiert es der Duden. Aber das sagt noch nicht viel darüber aus, was eigentlich passiert, wenn wir fahren. Wir steigen in ein Blechgehäuse, drehen einen Schlüssel um oder drücken einen Knopf, irgendetwas fängt zu brummen an, wir drücken ein Pedal – und das Ding setzt sich in Bewegung, wir fahren los. Aus technischer Sicht kann man den gleichen Vorgang ganz anders beschreiben. In einem Metallzylinder entzündet sich ein Gemisch aus Kraftstoff und Luft, durch die Expansion der Verbrennungsgase entsteht ein Druck, der einen Kolben in Bewegung setzt; die chemische Energie wird in Bewegungsenergie umgewandelt, die wiederum schließlich an die Antriebsachse weitergeleitet wird – die Räder setzen sich in Bewegung. Auto-Mobilität, das ist Selbstbewegung (griechisch: autos = selbst, lateinisch: mobilis = beweglich). Per Tritt aufs Gaspedal verwandelt sich der Wille des Fahrers in schiere Kraft, in Bewegung.

Als ich dieses Buch zu schreiben begann, fand ich es bemerkenswert, dass sich kaum ein deutscher Philosoph näher mit dem Automobil beschäftigt hat – dabei gibt es kaum einen Gegenstand, der die industrielle Moderne in vergleichbarer Weise symbolisiert. Dieses fast vollständige Desinteresse, etwa auch der Kulturkritiker der „Frankfurter Schule“, mag damit zusammenhängen, dass man das Auto immer nur als Fortbewegungsmittel gesehen hat, als Manifestation der instrumentellen Vernunft, eines Zweck-Mittel-Denkens, das unsere Freiheit und am Ende unser Menschsein unterminiert. Dabei hat man meiner Ansicht nach übersehen, dass sich gerade im Auto ein bestimmtes Ideal von Freiheit manifestiert – und dass eben darin der Kern des Problems liegen könnte, das wir mit dem deutschen Auto heute haben.

Meine These in diesem Buch ist so einfach wie radikal. Für die Deutschen ist das Auto nicht einfach nur ein Fortbewegungsmittel. Es ist der deutsche Traum von Freiheit, von Selbstbewegung, von einer Bewegung um ihrer selbst willen, die sich in der Freude am Fahren manifestiert. Die Krise des deutschen Autos ist, so glaube ich, die Krise dieser Selbstbewegung. Es ist die Krise des auto-mobilen Subjekts, jenes merkwürdigen Hybridwesens aus Mensch und Technik, das in Deutschland seine am höchsten entwickelte Gestalt angenommen hat. Es ist die Krise der deutschen Fahrerperspektive, einer deutschen Sicht auf die Welt. Nichts verdeutlicht diese Fahrerperspektive besser als die entfesselte Subjektivität des deutschen Autorasers. Der englische Fußballer Gary Lineker sagte einmal, Fußball sei das Spiel, bei dem 22 Männer 90 Minuten lang einem Ball hinterherjagen, und bei dem am Ende immer die Deutschen gewinnen. Das Autofahren ließe sich analog als jene Tätigkeit definieren, bei der Männer mit Bleifuß aufs Gaspedal steigen – und am Ende immer die Deutschen die Schnellsten sind.

Das Auto ist noch immer das Kultobjekt der Deutschen, ihr Fetisch, ihre Religion. Für keinen anderen Gegenstand geben wir derart viel Geld aus, keinem anderen schenken wir so viel Liebe und Aufmerksamkeit, kaum einen anderen beten wir derart an wie das Automobil. Gewiss gibt es Autonarren auch anderswo. Doch nirgends, nicht einmal in den USA, ist das Automobil derart verwoben mit der nationalen Identität. Das Auto steckt tief in unseren Köpfen, es prägt unser Leben. Es ist uns nur nicht immer bewusst.

Tagtäglich haben wir Autos vor der Nase. Ständig stehen wir im Stau. Und doch sehen wir gleichsam „das Auto“ nicht mehr – diesen seltsamen Gegenstand auf Rädern, für den wir derart viel Geld ausgeben, der unseren Alltag so stark bestimmt. Als Autofahrer sehen wir das Auto deshalb nicht mehr, weil wir selbst in unserer Fahrerperspektive gefangen sind, weil wir die Welt gleichsam durch die Frontscheibe betrachten – es ist so ähnlich wie wenn jemand die Brille vergisst, die auf seiner Nase sitzt. Wir sehen uns nicht selbst am Steuer sitzen, das heißt: Wir stecken gleichsam zu tief drin in der Autowelt.

Jeder Autofahrer weiß, dass man beim stundenlangen Fahren kaum etwas von der Außenwelt wahrnimmt. Wir nehmen nicht einmal das Autofahren selbst richtig wahr. Nach einer längeren Fahrt ist es oft fast unmöglich zu rekapitulieren, was man während der Fahrt gesehen hat, jedenfalls solange es keine unerwarteten Ereignisse gab. Man fährt einfach vor sich hin, man schaltet und lenkt und blinkt, man überholt und ordnet sich wieder ein, ohne darüber nachzudenken. Ähnlich gedankenlos wie das Fahren selbst ist auch unsere Haltung zum Automobil, das unseren Alltag, unsere Gesellschaft so sehr durchdringt, dass wir es gar nicht mehr bemerken.

Die deutsche Automobilität ist eine Gewohnheit, wir haben sie auto-matisiert, wie einen Schaltvorgang. Ein Deutschland ohne Auto ist möglich, wir können es denken. Aber wir können es uns nicht vorstellen, weil wir selbst hinterm Lenkrad sitzen. Um einen neuen Blick zu gewinnen, müssen wir eine andere Perspektive einnehmen. Wir müssen also raus aus dem Auto, um es gleichsam von außen zu betrachten.

Das Auto ist nicht einfach nur ein technisches Artefakt, das aus Fahrwerk und Karosserie besteht. Was es für uns ist, lässt sich nicht aus den technischen Daten ablesen. Das Auto hat eine bestimmte Bedeutung für die Deutschen, die es für Fahrer in anderen Ländern nicht hat, selbst wenn sie die gleichen deutschen Autos fahren.

Das deutsche Automobil ist ein Mythos – eine Geschichte, die sich die Deutschen immer wieder selbst erzählen. Es ist eine deutsche Geschichte, die davon handelt, woher wir kommen, wer und wie wir sind. Gern erzählen wir sie uns als eine heroische Geschichte, als eine Art motorisierte Heldenreise mit 500 PS unter der Haube, natürlich auf der deutschen Autobahn. Der deutsche Automobilmythos – das ist der Volkswagen Käfer, das ist deutscher Erfindergeist, das ist deutsche Tüchtigkeit, das ist „Made in Germany“, das sind das Wirtschaftswunder und der Exportweltmeister, das sind Motorsport-Legenden wie Walter Röhrl und Michael Schumacher, die viele Deutsche für die besten Autofahrer aller Zeiten halten, so sie es nicht selbst sind.

Der deutsche Automythos lebt aber nicht nur von seinem heroischen Narrativ. Er erzählt auch eine romantische Liebesgeschichte der Deutschen zu ihrem Kultobjekt. Während in Paris fast jedes Auto irgendwo verbeult oder zerkratzt ist, legen die Deutschen großen Wert darauf, Schäden umgehend zu reparieren – und sie am besten überhaupt zu vermeiden. Es ist nicht nur ein Klischee, dass die Deutschen besonders sorgsam mit ihren Autos umgehen. Es lässt sich anhand von Zahlen belegen: Laut Umfragen sagen 69 Prozent der Deutschen, und sogar 74 Prozent der Frauen, dass sie ihr Auto tatsächlich lieben. 35 Prozent fahren mehr als viermal im Jahr in die Waschanlage, noch immer 23 Prozent waschen ihr Auto selbst. Bezeichnend ist vielleicht auch, dass 62 Prozent der Deutschen nur ungern jemand anderen mit dem eigenen Auto fahren lassen.7

Ein Mythos sei eine „Botschaft“, eine „Weise des Bedeutens“8, schrieb der französische Philosoph und Semiologe Roland Barthes. Auf den Wahrheitsgehalt allein kommt es dabei nicht an. Ein Mythos wird nicht um seiner selbst willen erzählt. Es geht vielmehr darum, welche Bedeutung er für uns hat, welche Rolle er für uns spielt – für unser Denken und unsere Gefühle, für unser Verständnis dessen, wer wir sind. Der deutsche Automobil-Mythos hat eine identitätsstiftende Funktion. Er ist die deutsche Erfolgsgeschichte, die wir uns seit Jahrzehnten unablässig erzählen – die Geschichte von deutscher Qualität, von Fleiß und Tüchtigkeit, vom Wiederaufstieg der Deutschen nach dem Krieg. Kein anderes Produkt hat so sehr dazu beigetragen, das Image der Deutschen zu verbessern. Auf den Straßen der Welt rollen heute keine deutschen Panzer, sondern deutsche Autos. Der deutsche Automythos, das ist das heroische Narrativ vom Deutschen, der es dank überlegener Technik geschafft hat, auf friedlichem Wege wieder an Größe zu gewinnen. Zum deutschen Automythos gehört es, die dunklen Seiten dieser Geschichte auszublenden, vor allem die Rolle der Nazis als Wegbereiter des Nachkriegsbooms. Der deutsche Automythos, der uns so viel bedeutet, hat auch eine verklärende Funktion. Er beruht selbst schon auf der Fahrerperspektive, auf einer Art von Tunnelblick. Wenn wir das deutsche Automobil verstehen wollen, dann müssen wir diesen Mythos entzaubern, die deutsche „Erfolgsgeschichte“ mit neuen Augen sehen.

Der deutsche Automythos beginnt bei der Technik, beim deutschen Ingenieur, der bis heute den Wiederaufstieg des Landes, ja die nationale Identität symbolisiert. Es war immer die deutsche Technik, die der Autoindustrie den Vorsprung verschaffte, wodurch sie den Weltmarkt erobern konnte. Zu Deutschland gehören nicht nur die Klänge einer Bach-Kantate oder Beethoven-Symphonie, meint der britische Kunsthistoriker Neil Mac-Gregor, sondern auch das „Schlagen auf Metall, das Brummen und Surren, die Musik von Maschinenbau und Präzisionstechnik“; einer dieser metallischen „Klänge Deutschlands“, das ist für MacGregor der verlässliche Motor des VW-Käfers.9 Bis heute wird das deutsche Auto gekauft, weil es für technische Perfektion steht, für unschlagbare Qualität. Man muss kein Autofreak sein, um seine schiere Perfektion zu bewundern. Wer nur ein wenig Sinn für Technik hat, der kann selbst in einem simplen Auspuffkrümmer, und erst recht in einem V8-Motorblock, eine Höchstleistung der Ingenieurskunst sehen. Doch die Technik ist nicht einfach neutral. Sie spiegelt auch die Werte der jeweiligen Kultur; in ihr steckt etwas von der Geschichte des Landes, aus dem sie kommt.

Die Geschichte des deutschen Automobils lässt sich auf zwei Arten betrachten. Nach der einen Lesart ist es die Erfolgsgeschichte brillanter Ingenieure, eine Geschichte von deutschem Qualitätsehrgeiz und Willen zur Perfektion, nach der anderen eine Geschichte von realitätsfremden Tüftlern ohne Sinn fürs Geschäft, von opportunistischen Konstrukteuren, die sich einem Unrechtsregime anbiederten, um ihre technischen Visionen zu realisieren – eine Geschichte von Versäumnissen und verpassten Chancen. Beide Geschichten sind wahr, und vielleicht ist das „Deutsche“ am deutschen Hang zum Automobil, dass man beide Lesarten braucht, um ihn zu verstehen.

Land der Lenker

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