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Nichts legitimiert, dass der Staat zu terroristischen Mitteln greift
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Raul Zelik (geb. 1968) lebt nach mehreren Lateinamerika-Aufenthalten seit 1989 als Autor von Romanen, Essays und Reportagen in Berlin. Als Politologe erfüllte er Lehraufträge zur politischen Entwicklung in Bolivien und Venezuela an der FU Berlin und als Gastprofessor an der Nationaluniversität Bogotá in Kolumbien. Zelik verfasste eine Reihe von Beiträgen zur politischen Theorie. Im Baskenland und in Lateinamerika liegen seine publizistischen Arbeitsschwerpunkte. Das Venezuela-Tagebuch »Made in Venezuela« (2004) und der Roman »Berliner Verhältnisse« (2005) sind seine bisher größten Erfolge. Sein Roman »Der bewaffnete Freund« spielt vor dem Hintergrund des baskischen Konflikts auf der Iberischen Halbinsel.
Ein Gespräch über den baskischen Konflikt, politische Gewalt, die Linkspartei in Deutschland und die Entwicklung der Demokratie in Venezuela.
In Ihrem neuen Roman Der bewaffnete Freund ist eine Figur abwesend und zugleich immer präsent: der baskische Autor Joseba Sarrionandia. Was fasziniert Sie an diesem Mann?
Sarrionandia ist ein Schriftsteller, der als Person eine große Ausstrahlung besitzt. Er hatte immer den Drang, politischer Aktivist zu sein. Vor 27 Jahren ist er als ETA-Mitglied ins Gefängnis gekommen, dann geflohen und war eine ganze Weile verschollen. Heute ist er sicher kein aktives Mitglied mehr, er hat sich aber auch nie distanziert, seine politische Haltung nicht aufgegeben. Mit all den Kosten, die das für ihn bedeutet: Er kann deshalb bis heute nicht zurückkehren. Auf der anderen Seite wollte er auch als Aktivist immer schreiben. Das ist eine doppelte Sehnsucht. Petra Elser und ich haben seinen in diesen Tagen im Verlag Blumenbar erscheinenden Roman Der gefrorene Mann übersetzt und dabei gemerkt, auf welch unprätentiöse Weise der Autor ganze Assoziationsuniversen eröffnet. Mich begeistert darüber hinaus, wie er das Baskische als Literatursprache in den sechziger und siebziger Jahren praktisch miterfunden hat. Das literarische Experiment ging einher mit dem politischen. Im Baskenland ist er so etwas wie eine Legende. Er hat als nicht mal Zwanzigjähriger und ETA-Mitglied eine wichtige Literaturzeitung mitbegründet, aus der viele große zeitgenössische Autoren baskischer Sprache hervorgegangen sind.
Was interessiert Sie am baskischen Konflikt?
Man kann im Baskenland sehen, wie in Europa Ausnahmezustände etabliert sind. Man spricht dort davon, dass in den dreißig Jahren seit dem Beginn der Demokratisierung etwa 7000 Menschen gefoltert worden sind. Bei drei Millionen Einwohnern ist das eine wahnsinnig hohe Zahl. Das kann in Europa passieren, ohne dass darüber gesprochen wird. Es darf regelrecht nicht darüber gesprochen werden. Es gibt zwar keine offizielle Zensur, dafür aber andere Ausschlussverfahren. Wenn man versucht, auf diese Dinge hinzuweisen, fällt man aus dem medialen Mainstream raus und hat Veröffentlichungsschwierigkeiten. Diese »Unsagbarkeit« ist auch der Grund, warum das Baskenland im Roman nicht ein einziges Mal beim Namen genannt wird.
Wo nehmen Sie die erschreckenden Zahlen her?
Die Zahlen stammen von Menschenrechtsorganisationen wie der »Torturaren Aurkako Taldea«, der Anti-Folter-Gruppe, aus dem Baskenland. Man kann schon davon ausgehen, dass das realistische Zahlen sind. Auch aus meinem Freundeskreis ist eine ganze Reihe von Leuten gefoltert worden. Die spanischen Kontaktsperregesetze sehen vor, dass man fünf Tage kommunikationslos ist. In dieser Zeit können verschiedene Arten von Misshandlungen systematisch vorgenommen werden.
Sie sagen, dass stabile Staatlichkeit nicht selten selbst der Grund dafür ist, dass Gewalt freigegeben wird. Können Sie das erläutern?
Man kann in den letzten Jahren eine Wiederkehr von Carl Schmitts Thesen zum Ausnahmezustand beobachten. Der autoritäre Staatstheoretiker und NS-Kronjurist gehörte in der BRD zu den wenigen Akademikern, die nach 1945 Lehrverbot hatten. Schmitt behauptete – im Übrigen ähnlich wie Walter Benjamin –, dass staatliche Souveränität, Machtausübung und Rechtsordnung eng mit der Figur des Ausnahmezustands verknüpft sind. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat diese Debatte vor einigen Jahren wieder aufgegriffen und untersucht, wie die »Enthegung der Staatsgewalt«, also der Ausnahmezustand, vor allem nach dem 11. September 2001 zum Paradigma des modernen Regierens wurde. Wenn bei uns die Ermittlungsbehörden immer stärker autonom entscheiden können, wenn der Innenminister einfach so fordern kann, dass die Todesstrafe bei Terrorverdacht und dann noch von Ermittlungsbehörden angewandt werden darf, dann verweist das schon auf eine extreme »Enthegung von Gewalt«. Das Baskenland hat so etwas in den letzten dreißig Jahren schon erlebt.
Erschreckend ist, dass es dort gekoppelt war an den Demokratisierungsprozess, der Spanien in die Europäische Union führte. Es ist permanent und straflos gefoltert worden, und es wurden sogar Todesschwadronen aufgebaut wie in Lateinamerika – unter der Führung der sozialistischen Regierung Felipe González. Offensichtlich mit Wissen und Zustimmung der obersten Staatsorgane legten Terrorkommandos in den 1980er Jahren in Frankreich Bomben und brachten ziemlich wahllos Leute um. Das verweist darauf: Es gibt eine staatliche Seite des Terrorismus. Dadurch werden die ETA-Anschläge nicht besser. Ich finde, an Autobomben gibt es nichts zu verteidigen; selbst wenn nachvollziehbare Gründe vorgebracht werden, um diese Gewalt zu legitimieren. Aber andersherum gilt auch: Nichts legitimiert, dass der Staat zu terroristischen Mitteln greift.
Sie sagen, die Ablehnung von Gewalt ist nicht das Gleiche wie die Befürwortung eines Gewaltmonopols. Wie meinen Sie das?
Walter Benjamins »Kritik der Gewalt« definiert Recht als erfolgreich etablierte, in letzter Instanz aber willkürliche Gewalt. Dem staatlichen Gewaltmonopol muss daher mit großer Skepsis begegnet werden. Es gibt ja viele Leute, die das staatliche Gewaltmonopol für eine zivilisatorische Errungenschaft halten. Ich finde, das ist in dieser Schlichtheit eine falsche These. Damit will ich nicht sagen, dass ein Zustand anstrebenswert wäre, in dem sich diverse Gewalten selber regulieren. Man kennt ja solche Situationen in Slums, zum Beispiel in Lateinamerika. Da gibt es verschiedene bewaffnete Gruppen. Wer sich durchsetzt, hat dann vorübergehend, für ein paar Wochen, ein paar Monate, so etwas wie ein begrenztes Gewaltmonopol.
Das ist natürlich kein erstrebenswerter Zustand. Aber andererseits gibt es genug Hinweise, dass das auch für das staatliche Gewaltmonopol selbst gilt. In lateinamerikanischen Ländern, wo autoritäre Regierungen in den letzten dreißig Jahren versucht haben, sich durchzusetzen – egal ob das nun erfolgreich war oder nicht –, hat das auch zu brutaler, widerlicher Gewalt geführt. Und zum Teil ist diese Gewalt für die Menschen noch unerträglicher als die Herrschaft von Drogen-Gangs. Ich finde, man müsste eine andere Sache diskutieren. Man müsste fragen, wie Gewalt insgesamt gehegt werden kann. Das ist für die Linke eine wichtige Frage, denn es geht ja letztlich darum, wie Gewaltverhältnisse verschwinden. Das ist eines unserer wesentlichen Anliegen. Deswegen ist die Hegung der Gewalt das Ziel. Da gibt es unterschiedliche Dinge, die diskutiert werden müssten. Die Stärkung des Gewaltmonopols ist in der Regel nicht das adäquate Mittel dazu. Heute gibt es ja sogar wieder Leute, die sich von der Befriedungskraft imperialer Gewalt viel versprechen. In Deutschland steht der Politikwissenschaftler Herfried Münkler dafür. Münkler ist insofern eine bemerkenswerte Figur im deutschen Wissenschaftsbetrieb, als er immer noch von vielen Leuten Mitte-Links verortet wird. Dabei ist er jemand, der sich dafür ausspricht, dass Deutschland neoimperiale Politik macht, und sich dazu bekennt, weil jemand ja Ordnungspolitik machen muss. Münkler steht für eine anbiedernde akademische Haltung, die hofft, durch ihre Einflüsterungen bei den Mächtigen Einfluss zu erlangen. Es geht darum, globale Verteilungsordnungen und Machtordnungen zu begründen, die einen großen Teil der Menschheit von der Mitgestaltung, von der Mitbestimmung über die Ressourcen fernhält. Münkler versucht das in seinem Buch Imperien ausführlich damit zu kaschieren, dass er sagt: »Na ja, in den Imperien hat ja auch die Peripherie profitiert. Das Imperium hat versucht, die Peripherie mit hereinzuholen.« Im Grunde macht Münkler so etwas Ähnliches wie Samuel Huntington, nur unbedeutender: Er dient sich den Eliten als Theoretiker der Herrschaft an.
Der bürgerliche Staat birgt eine extreme Form organisierter Gewalt. Was bedeutet das für eine linke, eine emanzipatorische Politik, die sich für die Abschaffung von Herrschaft einsetzt, wenn sie im Rahmen von Staatlichkeit agiert?
Das ist eine große, strategische Frage. Ich würde, wenn es um die Frage der Gewalt geht, zunächst sagen, dass es gut ist, sich nicht auf ein Terrain zu begeben, eine Auseinandersetzung zu suchen, in der der Widerspruch so stark eskaliert. Die Linke hat historisch ja sehr stark in den Kategorien des Gegensatzes und des Widerspruchs, der Zuspitzung der Widersprüche gedacht. Wenn man sich die Geschichte der siebziger Jahre in Westeuropa anschaut, glaube ich, dass sich das zumindest teilweise als Irrtum herausgestellt hat. In Italien etwa gab es eine massenhafte Desertion von Menschen aus Ordnungen heraus, auch eine breit verankerte Massenmilitanz, die sich zum Beispiel in fröhlichen Plünderungen ausdrückte, wie man sie bei Dario Fo nachlesen kann.
Die Militarisierung des Konflikts u. a. durch die Roten Brigaden hat dazu geführt, dass es für die staatliche Macht sehr einfach war, ihre Ordnung wieder zu etablieren. So hat der Krisenstab in Italien sogar versucht, diese dichotomische Zuspitzung zu fördern. Ihnen war es viel angenehmer, einen klaren Gegner wie die Roten Brigaden zu haben, als die diffuse Desertionsbewegung, wie sie Ende der siebziger Jahre für Italien kennzeichnend war. Wenn die Staatsmacht so geschickt darin ist, Gewaltverhältnisse auszubauen, ist es nicht klug, sich auf so ein Feld zu begeben. Mal abgesehen von den furchtbaren menschlichen Kosten, die das ja auch immer nach sich zieht. Die andere Sache, die ich vertreten würde, ist: Ich würde mich nicht so sehr auf die Frage einlassen, ob man sich innerhalb der Staatlichkeit oder gegen sie bewegt. Die Linke sitzt einerseits oft dem Irrtum auf, der Staat sei neutral, man könne ihn einfach reformieren. Sie verkennt dann, dass Staatlichkeit die Institutionalisierung von Herrschaftsverhältnissen ist. Andererseits ist es natürlich auch falsch zu glauben, man würde permanent gegen den Staat stehen. Man kann den Staat durchaus als ein Terrain sehen, auf dem man sich auseinandersetzt. Ich meine damit gar nicht so sehr Politik, sondern Mikroebenen: Wenn man in einer emanzipatorischen Weise städtische Sozialarbeit macht, die ja Teil von Staatlichkeit ist, kann das Gesellschaft verändern. Man steht also nicht konsequent außerhalb. Der Staat ist ein facettenreiches und widersprüchliches Feld, auf dem man sich illusionslos bewegen muss. Er integriert eine Fülle von Meinungen und Optionen. Zum Beispiel bildet sich Widerstand gegen autoritäre Bewegungen im Staat oft auch im Staatsapparat selbst heraus. Um so etwas zu begreifen, braucht es eine komplexe Staatstheorie.
Wie schätzen Sie die Rolle der Partei Die Linke im Hinblick auf emanzipatorische Veränderungsprozesse ein?
Ich bin einerseits skeptisch wegen der Zusammensetzung der Partei aus sozialdemokratischen Gewerkschaftseliten und einer staatssozialistischen DDR-Linken. Das sind aus meiner Perspektive nicht unbedingt Träger eines antiautoritären Emanzipationsprozesses. Auf der anderen Seite aber muss man sehen: Wenn Dinge zusammenkommen, sind Umformierungen möglich. Was neu entsteht, kann mehr sein als die Summe der beiden Teile. Ich finde einige Sachen, die in letzter Zeit vertreten worden sind, auch durchaus positiv. Zum Beispiel haben Oskar Lafontaine und Katja Kipping in der Diskussion um die Gewalt während der Proteste gegen den G8-Gipfel in Rostock einen klaren Kopf bewahrt und nicht eingestimmt in den Chor, der meinte, sich distanzieren zu müssen. Sie haben gesagt, wir wollen nicht nur über ein abgebranntes Auto reden, sondern darüber, welche Gewalt von den Leuten hinter dem Zaun ausgeht. Das haben selbst viele Leute der Interventionistischen Linken nicht so deutlich gesagt. Positiv finde ich zudem, dass die Linkspartei heute die Gewerkschaften unter Druck setzt, sich aus ihrer Umklammerung durch die Sozialdemokratie zu lösen. Solange man nicht glaubt, dass es sich um Träger eines anderen Politikmodells handelt, kann man sicherlich mit einigen Leuten in dieser Partei sehr sinnvoll zusammenarbeiten. Einige Leute machen sehr gute Arbeit. Um einen Bereich zu nennen, in dem ich mich auskenne: Wenn heute im Rahmen der Lateinamerika-Arbeit versucht wird, die Kolumbien-Initiativen zusammenzubringen, wird auch die außerparlamentarische Politik gestärkt.
Sie beschäftigen sich intensiv mit Venezuela. Welche Rolle spielt dort der Staat im Hinblick auf die Entwicklung einer partizipativen Demokratie?
Die Veränderungen waren nicht erst das Ergebnis der Regierungsübernahme durch Hugo Chávez. Bereits in den 1970er Jahren bildeten sich Stadtteilprojekte und vielfältige Netzwerke, die allerdings nicht sehr groß waren. Alternative Medien und Piratensender haben aber sehr interessante Impulse in die venezolanische Gesellschaft gesendet. Polizei, Militär und aufständische Plünderer, die sich noch 1989 bei den Unruhen als Feinde gegenüberstanden, bildeten dann in den neunziger Jahren wichtige Allianzen, die Chávez erst hervorgebracht haben. In diesem Prozess sind die Grenzen zwischen radikal und reformistisch weitgehend verwischt. Christlich inspirierte Leute, genossenschaftlich orientierte Leute mit sozialliberalem Hintergrund entwickelten zum Teil sehr radikale Ideen. Andererseits verteidigten klassische Marxisten plötzlich eine ziemlich zweifelhafte Wohlfahrtspolitik.
Autoren wie Gilles Deleuze oder Michel Foucault haben Begriffe entwickelt, mit denen sich solche Phänomene vielleicht als facettenreiche Prozesse der Verkettung begreifen lassen, die reich sind an unerwarteten Überschlägen und Querverbindungen. Viele Nachbarschaftsprojekte, die wir als anarchisch beschreiben würden, sind daraus entstanden, dass aus dem Maoismus oder Guevarismus hervorgegangene Kader ihre Organisation verließen oder ihre Gruppen sich aufgelöst hatten und sie ihre politische Arbeit in Nachbarschaftsprojekten fortsetzten. Wie sie das erklären, ist oft unglaublich dogmatisch, ihre Praxis aber überhaupt nicht.
Die Regierung Chávez hat diese Öffnung des politischen Raumes zwischen 1999 bis 2001 unterstützt, indem sie die bis dahin vorherrschende staatliche Repression beendete. Als sie 2002/2003 von der Massenmobilisierung durch die Aktiven in den Basisnetzwerken mehrfach vor dem Kollaps, das heißt: den Umsturzversuchen durch die Opposition, gerettet wurde, begann sie Reformprogramme, um die Basisorganisationen zu stärken und neue zu schaffen. Die Gesundheitskampagne funktionierte zum Beispiel anfangs nicht über staatliche Behörden, sondern über selbstorganisierte Gesundheitskomitees in den Nachbarschaften. Das hat die Partizipation der Bevölkerung gestärkt. Heute wird dieser Impuls von der paternalistischen Politik des Staates teilweise aber wieder unterbrochen. Wichtige Aktivisten der Basisbewegungen arbeiten heute in den Behörden, ihre ehemaligen Basisorganisationen sind schon dadurch geschwächt. Der Staat bindet die sozialen Bewegungen an sich und verhindert damit unabhängige Entwicklungen.
Sie haben mit einer Reihe von Regierungsmitgliedern gesprochen, die jetzt nicht mehr im Amt sind. Was haben Sie von denen erfahren?
Leute wie der 2005 entlassene Wohnungsbauminister Julio Montes oder die 2003 entlassenen Planungsminister Felipe Pérez und Roland Denis haben mit Modellen der Ko-Regierung experimentiert. Sie haben versucht, Stadtteilbauprojekte gemeinsam mit Barrio-Bewohnern zu organisieren. Bei öffentlichen Baumaßnahmen ist die soziale Kontrolle der einzige wirksame Schutz gegen Korruption. Vor diesem Hintergrund hatte zum Beispiel Montes die Großprojekte zunächst einmal gestoppt. Das ist von Chávez öffentlich kritisiert worden, weil anstatt von, ich nenne jetzt mal eine Hausnummer, statt der 180 000 für das Jahr geplanten Wohneinheiten nur 25 000 gebaut wurden. Das quantitative Wachstum wurde in alter staatssozialistischer Manier höher bewertet als das qualitative Wachstum. Das war nicht so erfreulich. Andererseits habe ich aber von fast allen Regierungsmitgliedern, die ich interviewt habe, zum Beispiel Exvizepräsident José Vicente Rangel, eigentlich ein ganz gutes Bild. Auch von Chávez. Er versucht in seiner Fernsehsendung, kritisches linkes Denken von Leuten wie Antonio Gramsci oder Paulo Freire breiter bekannt zu machen. Das Problem liegt nicht so sehr bei den Personen. Ich glaube, dass das eine zentrale Lehre des Realsozialismus ist. Es geht nicht darum, ob einzelne Leute gut oder schlecht sind, sondern um strukturelle Beziehungen.
Die Diskussion in den bürgerlichen Medien, dass Venezuela keine Demokratie sei, weil der private Fernsehsender RCTV die Lizenz nicht mehr bekommen hat, ist natürlich eine Farce. Es gäbe ja nichts Demokratisierenderes, als wenn ein Nachbarschaftsfernsehen eine private Lizenz übernimmt. Bedenklich sind die Bestrebungen, die Gesellschaft in jeder Hinsicht führen zu wollen. Im Gewerkschaftsdachverband UNT wird zum Beispiel gerade versucht, jene Strömungen auf Linie zu bringen, die die UNT als autonome Klassengewerkschaft betrachten. Ich finde das verheerend. Auch unter einer linken Regierung müssen Interessen von Unterdrückten autonom durch Kämpfe durchgesetzt werden, denn auch die sozialen Konfliktlinien zwischen den Klassen sind ja nach wie vor vorhanden.
Bücher von Raul Zelik
Die Vermessung der Utopie. Über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft. Gesprächsbuch, 2009 (gemeinsam mit Elmar Altvater) Der bewaffnete Freund. Roman, 2007
Berliner Verhältnisse. Roman, 2005
made in venezuela. notizen über die »bolivarianische revolution«. Reportage, 2004 (mit Sabine Bitter und Helmut Weber)
bastard. die geschichte der journalistin lee. Roman, 2004 grenzgängerbeatz. Erzählungen, 2001
la Negra. Roman, 2000
Kolumbien. Große Geschäfte und staatlicher Terror. Sachbuch, 1999 (mit Dario Azzelini)
Friss und stirb trotzdem. Roman, 1997