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Christmas Brawl Thomas Willimas

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Mein erstes richtiges Weihnachten und meine erste große Liebe erlebte ich im Alter von sechzehn Jahren. Wie jeden Tag vor Heiligabend war mein Vater als Erstes auf den Beinen und weckte uns alle mit lauter Musik. Allerdings durften meine ältere Schwester, meine Mutter und ich erst gemeinsam die Treppe ins Erdgeschoss hinuntergehen, wenn wir alle im Bad gewesen waren. Normalerweise ließ mir der Geruch von gebratenem Speck, den es nur an diesem einen besonderen Tag im Jahr gab, das Wasser im Munde zusammenlaufen, doch dieses Mal bekam ich dabei Magenkrämpfe. Dennoch tat ich so, als wäre alles normal. Nacheinander gingen wir ins Badezimmer. Bis ich an der Reihe war, las ich Comichefte in meinem Zimmer – in der Hoff-nung, mich etwas von dem ablenken zu können, was uns allen bevorstand.

Schließlich ging meine Mutter zu Happy Xmas (War is over) von John Lennon vor uns die Trep-pe hinunter, wo mein Vater bereits mit einem breiten Lächeln im Gesicht wartete. Hinter Mom folgte meine Schwester, den Blick wie immer auf ihr Smartphone gerichtet, und dann kam ich. Der Tag vor Weihnachten war der einzige Tag im Jahr, an dem wir meinen Vater glücklich sahen. Sonst schimpfte er über die Arbeit in der Fabrik, die Nachbarn, seine Kollegen, das Wetter und über alles, was ihm gerade so in den Sinn kam. Doch an diesem einen besonderen Tag war er wie ausgewechselt. Meiner Mutter gab er einen Kuss auf die Wange, meine Schwester umarmte er, während sie immer noch das Handydisplay in ihrer Hand anstarrte, und normalerweise streichelte er mir durch das Haar, wenn ich die letzte Stufe hinter mir gelassen hatte. Aber diesmal wartete er, bis Mama und Monika in der Küche verschwanden und sagte dann:

»Sohn, heute wird endlich ein Mann aus dir. So lange habe ich auf diesen Moment gewartet, ihn mir vorgestellt und immer gewusst, dass kein Tagtraum dieses Gefühl ersetzen kann, das ich gerade spüre. Wir haben dich darauf vorbereitet und gesehen, welche Erfolge du erzielt hast. Ich kann gar nicht sagen, wie stolz ich auf dich bin.«

Er wischte sich eine Träne aus dem Gesicht, bevor er mit einem weitaus schärferen Ton fortfuhr:

»Und Zeit habe ich dafür auch keine. Hättet ihr euch im Bad nicht beeilen können? In zwei Stunden fängt der Christmas Brawl an, verdammte Scheiße! Hat Monika wieder so lange gebraucht, um sich zu schminken? Mit all dem Makeup sieht sie aus wie eine Hure. Findest du nicht auch? Manchmal frage ich mich, ob sie nicht im Krankenhaus vertauscht worden ist. Deine Mutter ist eine Heilige und von mir hat sie das auch nicht, sich anzuziehen, als würde sie jedem für umsonst den Schwanz lutschen. Hat sie dir angeboten, dir einen zu blasen? Ich schwör dir, wenn ich euch in euren Kinderzimmern dabei erwische, wie ihr …«

»Schatz, kommt ihr?«, fragte meine Mutter von der Küchentür aus. Sofort legte sich ein Lächeln auf das Gesicht meines Vaters und er antwortete:

»Natürlich, Liebling. Ich wollte unserem Sohn nur gerade erzählen, wie stolz er uns heute machen wird.«

Und Mama hatte plötzlich auch Tränen in den Augen.

»Dein erstes Christmas Brawl. Du hast keine Ahnung, was das deinem Vater bedeutet.«

Jetzt fuhr Papa mir doch noch mit der Hand durchs Haar.

»Heute wird er ein Mann. Also iss dich noch mal richtig satt! Du wirst Energie brauchen. Außerdem möchte ich, dass du das Tischgebet sprichst.«

Solch ein Gebet gab es auch nur an diesem einen Tag. Aber wir dankten niemandem für das Essen und das Dach über unseren Köpfen, sondern wir baten darum, den bevorstehenden Christmas Brawl zu überleben und heil zu unseren Liebsten zurückzukehren.

Als wir beim Einkaufszentrum ankamen, befanden sich schon fast alle Einwohner der Stadt im Vorhof. Noch waren die Tore geschlossen, wegen der verspiegelten Fenster konnten wir nicht hineinsehen, aber dank der vielen Geschichten meines Vaters wusste ich, wie es da drinnen aussah. Und wie es gleich zugehen würde, wenn das Tor aufschwang. Bei der Vorstellung an das bevorstehende Ereignis zog sich mir wieder der Magen zusammen. Am liebsten wäre ich zu Hause geblieben, aber mein Vater hätte mich sogar zum Brawl mitgenommen, wenn ich im Sterben gelegen hätte. Und außerdem brauchte ich ein Geschenk für Claudia. Ein Mädchen aus meiner Schule, das ich seit über zehn Jahren kannte, aber nie etwas für sie empfunden hatte. Bis vor ein paar Monaten. Inzwischen waren wir ein Paar, und ich wollte ihr etwas zu Weihnachten schenken, das ich nur im Einkaufszentrum bekam.

Dort gab es alles, was die Bewohner der Stadt für Weihnachten brauchten. Und es öffnete nur an dem Tag vor Weihnachten. Alle anderen Tage blieb es geschlossen und die Menschen in unserer Stadt mussten sich mit den üblichen Lebensmittelläden begnügen. Noch nie hatte jemand Lastwagen beim Einkaufszentrum ankommen oder davonfahren sehen. Und niemand wusste, wer die Angestellten in den Geschäften waren. In unserem kleinen Ort kannte jeder jeden, aber die Verkäufer im Einkaufszentrum waren vollkommen Fremde.

In der wartenden Menge stehend, ging meine Mutter vor mir in die Hocke, um noch einmal meine Schutzkleidung zu kontrollieren. Ich trug Knie- und Ellenbogenschützer, einen Helm und eine schusssichere Weste, obwohl Pistolen und andere Waffen beim Brawl verboten waren. Aber es gab eben immer jemanden, der die paar wenigen Regeln brach. Ich war vermutlich der Einzige mit solchen Vorkehrungen und wurde von dem einen oder anderen belächelt, weil sie mir ansahen, dass es mein erster Brawl war.

Als mich jemand im Vorbeigehen als »Jungfrau« bezeichnete, schlug mein Vater ihn sofort zu Boden und riss meine Mutter von mir weg.

»Hör auf, ihn zu bemuttern! Das ist jetzt vorbei. Er ist ein Kerl. Ein Mann. Wenn er da rauskommt, wird Blut an seinen Händen kleben und dann kannst du dich auch nicht vor ihn knien und ihm die Nase putzen. Sei froh, dass ich diesen blödsinnigen Helm und so dulde.«

Mama sah aus, als wollte sie protestieren, aber dann nickte sie nur und sagte:

»Du hast ja recht.«

Ich sah die Angst in ihren Augen und warf Monika einen prüfenden Blick zu. Aber die schaute nur auf ihr Handy und nuschelte:

»Ich treffe Sabrina und Jaqueline im Café.«

»Ich treffe Sabrina und Jaqueline im Café«, äffte mein Vater sie nach, »scheiße, wen interessiert das denn? Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder, der wenigstens da reingeht, um ein Geschenk für seine Freundin zu besorgen und nicht, um einen Kakao oder so zu trinken. Das ist der Christmas Brawl und kein Kaffeekränzchen. Wehe, du kommst ohne ein blaues Auge nach Hause!«

»Mann, krieg dich ein! Wir gehen danach Geschenke besorgen«, maulte meine Schwester. Etwas, was ich mich nie getraut hätte, aber sie brauchte sich keine Sorgen zu machen, dass unser Vater sie schlug. Er hatte kein Problem damit, jemanden zu Brei zu prügeln, wenn er nur schief angesehen wurde. Aber er schlug niemals eine Frau. Und er brachte mir bei, es ebenfalls nicht zu tun.

Bevor er meiner Schwester einen Vortrag über Respekt halten konnte, entdeckte er seine Jungs, wie er sie nannte. Es handelte sich um Männer aus der Fabrik, Saufkumpanen oder Leute, mit denen er sich beim Brawl angefreundet hatte.

»Hey, ihr Ficker! Ich dachte schon, ihr zieht den Schwanz ein«, rief er und drängelte sich zu der Gruppe durch, die ihn grölend in Empfang nahm. Sie alle trugen trotz der Kälte keine Oberteile, dafür aber rote Zipfelmützen, Quarzhandschuhe und schweres Schuhwerk. Die Narben an ihren Körpern waren so etwas wie Trophäen, Andenken an die vergangenen Weihnachten.

Als mein Vater auf mich zeigte, wurde mir endgültig schlecht.

»Das ist mein Sohn und er erlebt heute seinen ersten Brawl. Ich bin gerade so stolz, Jungs. Wünscht ihm Glück!«

Die Männer nickten mir anerkennend zu, hoben den Daumen und klopften meinem Vater auf die Schulter.

»Hast einen ordentlichen Kerl aus ihm gemacht«, brummte einer von ihnen.

»Wenn er nach dir kommt, stell ich mich ihm besser nicht in den Weg. Und das, obwohl er zwei Köpfe kleiner ist als ich«, kommentierte ein anderer.

Lachend gab mein Vater dem Mann einen freundschaftlichen Schlag gegen die Brust.

»Klar kommt er nach mir, du Wichser. Und er reißt dir mit den Zähnen die Kehle raus, wenn du nicht aufpasst. So wie ich damals mit dem Kerl, der mir bei meinem zweiten Brawl die Nudelmaschine vor der Nase wegschnappen wollte. Das war ein Geschenk für meine Mutter, verfickt und zugenäht!«

Bevor er noch mehr erzählen konnte, hörten wir eine weibliche Stimme. Über den Innenhof verteilt standen hohe Masten mit Lautsprechern, aus denen wir willkommen geheißen wurden.

»Heute ist es wieder so weit, es ist Christmas Brawl!«

Mein Vater und seine Jungs jubelten, gaben sich High Fives, verstummten aber erst wieder, als ich schon einen Teil der Ansage überhört hatte.

»… immer alles, was das Herz begehrt. Keine Wünsche bleiben offen. Wer schon mal hier war, kennt die Regeln, hört aber bitte dennoch aufmerksam zu. Wer zum ersten Mal dabei ist, spitzt jetzt gefälligst die Ohren. Es gibt keine Verwarnungen. Ein Verstoß gegen die Regeln wird sofort bestraft.«

Was jetzt kam, konnte ich praktisch mitsprechen, so oft hatte mein Vater mir davon erzählt.

»Die erste Regel des Brawls lautet, dass keine Waffen mitzubringen sind. Jedoch darf alles, was Sie während des Brawls finden, als solche verwendet werden. Die zweite Regel des Brawls lautet, dass Sie alles tun werden, um Ihre Liebsten glücklich zu machen. Wie Sie wissen, finden Sie bei uns alles, was Sie dafür brauchen. Ganz egal, was es ist. Und Sie finden es nur hier. Also tun Sie, was nötig ist!«

Es folgte eine kurze Pause, wie um die Worte wirken zu lassen. Dann kam die letzte und für meinen Vater wichtigste Regel:

»Haben Sie viel Spaß bei Ihrem Einkaufserlebnis!«

Die Menge begann, unruhig zu werden. Jeder wusste, was gleich kam. Wenn die Tore sich öffneten, würden wir nach vorn stürmen – komme was wolle. Bereits dabei wurden Menschen zu Boden gerissen und totgetrampelt. Ich wollte weder sterben noch Claudia oder meinen Vater enttäuschen. Der warf mir einen Blick zu, zwinkerte mit einem Auge, um mir Mut zu machen. Ich war nahe dran, mich zu übergeben.

Wie in Zeitlupe schwang das Tor auf und wir konnten das kunterbunte Innenleben des von außen verspiegeltem Einkaufszentrum sehen.

Mariah Careys All I want for Christmas is you erklang und wurde immer lauter. Dennoch konnte ich die Schreie aus den ersten Reihen hören. Der Brawl begann.

Wir wurden weitergeschoben, gegen andere Körper gequetscht und regelrecht von der voranstürmenden Menschenmasse mitgerissen. Ich musste aufpassen, nicht hinzufallen, denn das wäre mein Ende gewesen. Meine Familie hatte ich schon nach ein paar Sekunden aus den Augen verloren, ich glaubte, meine Mutter nach mir rufen zu hören, aber wegen des anschwellenden Lärms konnte ich mir da nicht sicher sein. Etwa in der Mitte des Hofs sah ich die ersten Leichen unter meinen Füßen. Frauen und Männer, die mich aus blutbeschmierten Gesichtern anstarrten und denen keiner mehr helfen konnte. Jemand packte mein Bein, dass ich fast gestürzt wäre. Wahrscheinlich bat mich die Person, ihr zu helfen, ich konnte nichts sehen, wurde weiter nach vorn gedrückt und der Griff löste sich.

Die Stimme von Mariah Carey war inzwischen schrecklich laut. Jemand schlug mir ins Gesicht, dann wurde ich kräftig zur Seite gestoßen und auch dort wieder geschlagen. Nichts, worauf mich mein Dad und seine Jungs vorbereitet hätten. Also schlug ich blind zurück, und obwohl nicht klar war, ob ich den Richtigen erwischte, verschaffte mir der Schmerzensschrei eine gewisse Befriedigung.

Wir übertraten die Schwelle des Einkaufzentrums. Hier verteilte sich die Menge aus Männern, Frauen und Jugendlichen. Erst mit sechzehn durfte man am Brawl teilnehmen und ich wusste, dass ein paar meiner Freunde heute hier sein würden. Genauso wie die Möglichkeit, dass ich sie vielleicht nie wiedersehen würde.

»Steh da nicht so rum, Junge. Leg los!«, hörte ich plötzlich eine vertraute Stimme neben mir sagen und blieb in einem roten Viereck stehen. Eine Safe-Zone, in der nicht gekämpft werden durfte. Zum Glück, denn sonst hätte mir mein Vater eine gescheuert, dass ich es noch an Weihnachten in vier Jahren gespürt hätte. Er trat auf mich zu und knurrte:

»Lass mich vor meinen Jungs nicht blöd dastehen, ja? Hol dir diese Halskette!«

Er wusste, was ich Claudia schenken wollte. Schließlich war es seine Idee gewesen.

»Ich … ich überlege nur, wo der Schmuckladen ist«, log ich.

»Der ist jedes Mal woanders. Alles wechselt jährlich seinen Platz. Das habe ich dir schon tausend Mal gesagt. Jetzt such ihn oder ich werde dir zu Hause so den Arsch versohlen, dass du …«

Er hasste es, wenn ich ihn nicht ausreden ließ, aber ich stürzte mich wieder in die Menge. Sofort versuchte eine Frau, mich zu Boden zu werfen. Warum auch immer, denn ich war ihr nicht mal im Weg gewesen, aber von meinem Vater wusste ich, dass nicht nur Männer Gefallen am Brawl hatten. Diese Frau trug einen beigen Anorak und hatte gepflegtes Haar, sie sah eigentlich nett aus, aber dann packte sie mich mit einem schrillen Kreischen an der Jacke und hätte mit ihrer Aktion fast Erfolg gehabt, wenn ihr meine Mutter nicht plötzlich den Ellenbogen ins Gesicht gerammt hätte. Mom kam wie aus dem Nichts, schlug der Frau die Handkante gegen den Kehlkopf, als die Fremde noch ihre blutende Nase hielt, und verschwand mit ihr im Getümmel. Ich hatte keine Zeit, mir Sorgen um sie zu machen, denn irgendwie wusste ich, dass mein Vater mich trotz all dem Chaos im Auge behielt.

In einem der Geschäfte zerbrach Glas, woanders schrie jemand gellend auf und dann stürzte ein Mann aus dem oberen Stockwerk ins Untergeschoss.

»Er hat eine Axt! Eine Axt!«, rief wer. Ich drängelte mich weiter, schlug und trat zu, schubste Menschen beiseite und gab mir redlich Mühe, diesen Irrsinn zu ignorieren.

Da war ein Buchladen, in dem ein Mann eine Frau würgte und mit ihr auf einen Tisch mit dem neusten Werk von Dan Brown fiel. Während die Frau um ihr Leben kämpfte, rissen andere Menschen heruntergefallene Bücher an sich, um damit zur Kasse zu rennen. Aus reiner Neugier zog es mich in den Laden. Die Kunden an den Kassen standen auf roten, etwa fünf Meter langen Flächen, dort durften sie nicht angegriffen werden. Die Kassierer bedienten sie in aller Seelenruhe und mit einem freundlichen Lächeln. Wer es nicht auf die Fläche schaffte, musste befürchten, angegriffen zu werden, weil er oder sie vielleicht das letzte Exemplar eines Harry-Potter-Buches hatte.

Ich lief weiter. Auf der anderen Seite der Ladenstraße lagen bereits zwei tote Männer vor einem Sockengeschäft. Dort drinnen war die Hölle los, denn die Safe-Zone vor der Kasse reichte nur für zwei Leute und die etwa vierzig anderen prügelten aufeinander ein, weil es Farben und Größen nur in begrenzter Stückzahl gab.

Dank der vielen Bekleidungsgeschäfte verteilte sich das Chaos etwas. Ich hielt weiterhin nach dem Schmuckladen Ausschau und versuchte, möglichst unauffällig zu bleiben, während andere ganz offen die Konfrontation suchten. Wie mein Vater und dessen Freunde pickten diverse Gruppen ihre Opfer aus der Menge, um sie gemeinsam fertigzumachen. Vor diesen musste man sich besonders in Acht nehmen, denn sie würden erst kurz vor Ladenschluss nach Geschenken suchen und nur das mitnehmen, was sie noch kriegen konnten. Weihnachten selbst hatte keine Bedeutung für sie, ihre Liebsten glücklich zu machen, interessierte sie nicht. Diese Leute kamen nur zum Brawl, um andere zu verletzen oder Schlimmeres.

Eine Gruppe Frauen trat auf einen am Boden liegenden Mann ein, während vier weitere ihre Sneakers gegen High Heels tauschten, um dann mit diesen auf dem Gesicht des armen Kerls herumtrampelten. Ich wartete nicht, bis er aufhörte, sich zu bewegen, sondern lief geduckt weiter.

Es konnte gut sein, dass der Schmuckladen schon hinter mir lag. Vielleicht war er auch irgendwo über oder unter mir. Es gab keine Hinweistafeln und so musste ich mich allein zurechtfinden.

Doch weil in fast jedem Geschäft nur Kleidung verkauft wurde, überlegte ich, Claudia etwas zum Anziehen zu schenken. Wenn da nicht mein Vater gewesen wäre, hätte ich es wohl getan. Aber ich konnte ihn nicht enttäuschen, das würde er mir ewig vorhalten, schließlich war die Halskette seine Idee gewesen.

So zog ich weiter, umging miteinander kämpfende Menschen und musste nur selten austeilen oder einstecken. Es gab einen kleinen Laden für Küchenutensilien, durch dessen Schaufenster ich meinen Vater sehen konnte, wie er mit einem Toaster auf den Schädel eines Fremden einschlug. Seine Freunde standen im Halbkreis drum herum und feuerten ihn an. Bevor mich jemand von ihnen sehen konnte, ging ich zum nächsten Geschäft und fand Regale mit Schuhkartons. Bei vielen war der Inhalt auf dem Boden verteilt und Menschen kämpften in den umherliegenden Schuhpaaren auf Leben und Tod miteinander.

»Suchst du was Bestimmtes?«, fragte plötzlich jemand und mir lief es kalt den Rücken herunter, denn auch darauf hatte mein Vater mich vorbereitet. Eine Gruppe Mädchen, etwas älter als ich, trat auf mich zu. Sie hatten bunt gefärbte Haare, Piercings und trugen dreckige Klamotten. Eine von ihnen drehte gerade die Lautstärke an ihrer Boombox lauter, eine Heavy-Metal-Version von Santa Claus is coming to Town wummerte durch den Gang. Ich dachte an die Worte meines Vaters: »Wenn dir jemand seine Hilfe anbietet, dann lauf! Das sind Aasgeier, die haben dich als ihr persönliches Opfer auserwählt. Sie werden dich jagen und töten aber nicht schnell, sondern langsam. Einer meiner Kollegen ist ihnen vor ein paar Jahren zum Opfer gefallen. Sie haben ihn wie ein Schwein über einem Feuer gebraten.«

Ein Mädchen mit grünem Irokesenschnitt trat auf mich zu. Von dem Ring in ihrem linken Nasenflügel führten mehrere dünne Ketten zu ihrem Ohr.

»Suchst du etwas Bestimmtes? Wir können dich beraten. Sag uns einfach, was du brauchst«, bot sie an, was laut meinem Vater die typische Masche war. Freundlichkeit vermitteln und das Opfer darauf reinfallen lassen. Sie wollten, dass man sich bei ihnen sicher fühlte und sie einen zum passenden Geschenk führten.

»Erinnerst du dich an Misses Carlson von gegenüber?«, hörte ich meinen Vater fragen, als die Mädchen bereits einen Halbkreis um mich gebildet hatten. »Sie ist nicht umgezogen, wie wir es dir gesagt haben, aber du warst damals noch zu jung für die Wahrheit. Die Aasgeier haben sie gepackt. Einer von ihnen hat aus ihrer Haut einen Mantel gemacht und ihn seiner Freundin geschenkt. Verstehst du jetzt, was das für Menschen sind? Meine Jungs und ich gehen zum Brawl, um mal etwas Dampf abzulassen. Die Aasgeier hingegen wollen töten.«

Mir fiel auf, dass sich trotz des herrschenden Chaos plötzlich alle anderen von uns fernhielten, als wüsste jeder, mit welcher Gruppe ich es zu tun hatte.

»Sag uns einfach, was du brauchst«, säuselte jetzt ein Mädchen mit knallroten Haaren und kam näher, »wir haben bestimmt etwas, das dir gefällt.«

Zwischen ihr und einem anderen Mädchen sah ich eine Lücke. Zwar bemerkte sie es, aber ich war schneller. Mit großen Schritten huschte ich an ihnen vorbei und hörte eine rufen:

»Fasst ihn!«

Panisch stürmte ich den Gang entlang, überlegte, auf einer der Rolltreppen nach oben zu rennen, aber die waren vollkommen überfüllt. Und selbst dort versuchten die Menschen, sich gegenseitig umzubringen, während sie rauf- oder runtergefahren wurden. Ich erinnerte mich an die Safe-Zonen, konnte aber keine entdecken, also musste ich weiterlaufen.

Niemand hielt mich auf, als hätten alle Angst, den Aasgeiern die Beute zu klauen und ihnen dann selber zum Opfer fallen zu können. Ich übersprang eine am Boden liegende Frau und flüchtete in ein Geschäft, um mich dort zu verstecken. Die Safe-Zonen vor den Kassen wären von zu kurzer Dauer gewesen und waren ohnehin überfüllt. Es handelte sich um einen Laden für Elektrogeräte. Ich rannte an Fernsehern, Kühlschränken und Computern vorbei, als ein Mann mir aufgeregt zwei Filme hinhielt.

»Schnell, Junge, ich hab es eilig. Welcher davon ist der Spiderman mit Tom Holland?«

Anstatt zu antworten, hielt ich nach meinen Verfolgerinnen Ausschau und sah zwei von ihnen im Eingang stehen. Ihre Blicke waren auf mich gerichtet, was bedeutete, dass die anderen auf dem Weg zu mir waren und diese zwei den einzigen Fluchtweg versperrten.

»Hey, ich hab dir eine Frage gestellt«, drängte der Mann und packte mich am Arm.

Bevor ich begriff, fielen drei Mädchen über ihn her.

»Der gehört uns!«, schrie eine von ihnen, während sie gemeinsam mit Klappmessern auf ihn einstachen.

Ich wollte die Chance nutzen und loslaufen, als sich das Licht rot färbte und alle Menschen wie versteinert stehen blieben. Niemand kämpfte mehr oder suchte nach einem Geschenk. Musik lief nur noch außerhalb des Geschäfts, wo auch der Betrieb ganz normal weiterlief.

Dann sah ich Bewegungen zwischen den Regalen. Aber es handelte sich nicht um Kunden. Vier Angestellte in weißen Hemden und blauen Westen, wie sie in jedem Geschäft anzutreffen waren, kamen lächelnd, lautlos und sehr eilig in unsere Richtung.

»Weg hier!«, zischte eines der Mädchen und rannte Richtung Ausgang. Die anderen beiden folgten ihr, genauso wie die Verkäufer. Das Licht wechselte wieder von Rot zu Weiß. Wie vorher lief Musik und die Menschen machten weiter, als wäre nichts gewesen.

Erst dann wurde mir bewusst, dass die Mädchen gegen eine der Regeln verstoßen und Waffen mitgebracht hatten. Erleichtert über ihr Verschwinden wollte ich mich schon zum Ausgang begeben und meine Suche nach dem Schmuckladen fortsetzen, als mein Vater und seine Freunde am Schaufenster vorbeimarschierten. Sie schrien irgendetwas, das ich nicht verstand, schubsten jeden, der ihnen in die Quere kam zu Boden und blieben schließlich genau vor dem Eingang stehen.

»Hey, muss wer von euch hier rein?«, fragte einer von ihnen.

»Sehe ich aus, als müsste ich kacken? Das hier ist doch nichts weiter als ein Scheißhaus«, antwortete mein Vater, woraufhin alle lachten. Dann aber fügte er hinzu, »na ja, ich muss meinem Sohn noch irgendein Videospiel kaufen, aber das kann ich später machen. Wenn dann nur noch so eine Schweinehirtensimulation übrig ist, kriegt er eben die.«

Wieder lachten die Männer. Dann zeigte ein besonders fettleibiger von ihnen irgendwohin und rief:

»Hey, das ist doch Kaiser aus Abteilung C. Den Ficker packen wir uns.«

»Los, Bro, du zuerst!«, feuerte mein Vater ihn an und klopfte ihm auf die Schulter. Der dicke Mann marschierte voran und alle anderen folgten ihm.

Endlich wagte ich mich nach draußen. Von den Aasgeiern fehlte jede Spur, aber dennoch wollte ich vorsichtig bleiben. Weiter in dieselbe Richtung wie vorher laufend, hoffte ich, den Schmuckladen endlich zu finden. Am besten, bevor es dort nichts mehr zu kaufen gab. Mein Vater hatte mir nicht empfohlen, eine Halskette zu kaufen, weil es Claudia sehr freuen würde, sondern weil solche Geschenke am begehrtesten waren und ich somit in die Höhle der Löwen musste.

»Wenn du das geschafft hast, schaffst du jeden Christmas Brawl«, hatte er gesagt, seinen Arm etwas zu fest um meinen Hals gelegt, mir die Luftröhre zugedrückt und hinzugefügt: »Wenn du ohne Halskette vom Brawl nach Hause kommst, kannst du dich auf was gefasst machen.«

Ich hatte also keine andere Wahl, als den Schmuckladen zu finden. Doch allmählich wurde die Zeit knapp, denn der Brawl lief schon zwei Stunden und auch, wenn das Einkaufszentrum noch bis in den Abend geöffnet hatte, würden irgendwann die besten Geschenke fort sein.

Unterwegs sah ich meinen Erdkundelehrer eine alte Frau mit einem Kabel erdrosseln und entschloss mich dazu, in seinem Unterricht künftig besser aufzupassen.

In einer Safe-Zone knieten ein Mann und eine Frau eng umschlungen und weinten bitterlich. Dabei schrie die Frau immer wieder:

»Ich habe dir gesagt, es ist zu früh für ihn, zum Brawl zu gehen! Ich habe es dir gesagt!«

Niemand kümmerte sich um sie. Ich auch nicht, denn ich entdeckte die Treppen, die überraschenderweise nahezu leer waren. Mit jedem Schritt zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte ich hinauf und wäre dabei fast in einen Mann mit mehreren Einkaufstaschen hineingelaufen. Es überraschte mich, dass er so viel bei sich trug, aber von meinem Vater wusste ich, dass einige Aasgeier auch einfach wahllos Menschen mit Tüten und Taschen töteten, um ihre Einkäufe zu klauen. Sie hofften, später darin etwas zu finden, das sie verschenken konnten.

Der Mann warf mir einen beunruhigend langen Blick zu, aber da ich nichts bei mir trug, war ich uninteressant und er ging weiter. Ich entschloss mich, in die andere Richtung zu gehen. Und die war genau richtig, denn etwa hundert Meter weiter erspähte ich glücklich den Schmuckladen. Ich erkannte ihn an der geschwungenen Leuchtschrift über dem Eingang und der Menschentraube davor, die aus aufeinander einprügelnden Kunden bestand. Und während sie sich gegenseitig die Köpfe einschlugen, standen drinnen mehrere Verkäufer, die freundlich lächelten und vollkommen ruhig blieben. Wie Maschinen, die nur dazu da waren, um zu funktionieren. Keiner würde sie anrühren oder attackieren, das war eine weitere Regel, die nicht gebrochen werden durfte.

Während ich den Kämpfenden zusah, schwand meine Zuversicht, an eine Halskette zu gelangen. Es waren einfach zu viele Menschen. Vielleicht würde es mir gelingen, einen oder zwei von ihnen auszuschalten, aber nur, wenn sie bereits geschwächt waren. Ich war genauso hager wie mein Vater, aber im Gegensatz zu mir konnte der einiges einstecken. Ja, es schien ihm sogar zu gefallen, ein paar Treffer abzubekommen. Ich hingegen versuchte, Schmerzen stets aus dem Weg zu gehen.

Als sich mehrere Personen aus dem Laden nach draußen kämpften und von anderen verfolgt davonrannten, überlegte ich, ihnen ebenfalls nachzulaufen. Einer erschöpften Person eine Halskette abzunehmen, würde viel leichter sein, als eine im Geschäft zu kaufen. Aber kaum, dass ich den Gedanken beendet hatte, legte jemand eine blutbeschmierte Hand auf meine Schulter. Auch ohne hinzusehen, wusste ich, wer es war.

»Das ist sie, mein Junge! Heute ist deine Reifeprüfung, aber ich will dich nicht wie Dustin Hoffman schreiend gegen das Schaufenster hämmern sehen. Du gehst da rein, holst deiner Kleinen eine anständige Kette und kommst nicht ohne raus. Danach rennst du nach Hause. Scheiß auf Geschenke für mich oder deine Mutter. Und besonders für deine Schwester. Hast du gesehen, was sie in der Fressmeile macht? Mit dem Kellner flirten. Die kriegt nachher was von mir zu hören. Aber jetzt geht es um dich.«

Gern hätte ich meinem Vater gesagt, dass Monika noch nie mit irgendwem geflirtet hatte, denn dafür hätte sie ihren Blick vom Handy nehmen müssen. Aber da bauten sich seine Freunde um uns herum auf.

»Schnapp sie dir, Tiger!«, sagte mein Vater und gab mir einen sanften Stoß. Wäre ich nicht sofort weitergegangen, hätte er mir wahrscheinlich in den Hintern getreten oder mich angebrüllt. Dennoch schienen meine Beine mit jedem Schritt schwerer zu werden. Ich stellte mir Claudia vor und wie sie sich freute, wenn sie die Kette sah. Die erhoffte Motivation blieb jedoch aus.

Etwa zehn Schritte von der Rauferei entfernt, testete ich noch einmal, ob meine Knie- und Ellenbogenschützer fest genug saßen. Dann zog ich den Gurt meines Helms enger. Eigentlich nur, um Zeit zu schinden. Und dann brachte ich die letzten paar Schritte hinter mich und bahnte mir einen Weg an den sich prügelnden Menschen vorbei, wurde aber beiseitegestoßen, bekam einen Schlag ins Gesicht und taumelte.

Warmes Blut floss aus meiner Nase über meine Lippen und am liebsten wäre ich davongerannt, aber das ging jetzt nicht. Mein Vater und seine Freunde behielten mich im Auge. Also versuchte ich es noch einmal, schlug mehrmals hintereinander auf einen Mann ein, der etwas kleiner als ich war, erkannte den Vater meines Freundes Olaf, der uns beim Rauchen erwischt und an meine Eltern verpetzt hatte. Dann schlug ich noch ein paarmal mehr zu, stieß ihn zur Seite und schob die nächste Person tiefer ins Gedrängel. Sofort stürzten sich mehrere Anwesende auf ihn und bemerkten gar nicht, wie ich mich an ihnen vorbeidrängelte. Weiter Richtung Ladentür. Ich wurde hin und her gestoßen, gab aber nicht auf. Mich an mehreren Männern und Frauen vorbeischiebend, kam ich der Tür immer näher. Drinnen zeigten die Kunden schreiend auf die ausliegenden Artikel, brüllten die stets lächelnden Verkäufer an oder rauften sich verzweifelt die Haare. Mehrere Personen lagen am Boden, wurden aber nicht beachtet.

Als ich erneut von jemandem gestoßen wurde, glaubte ich schon an einen Angriff, aber hinter mir waren nur zwei miteinander ringende Männer umgefallen. Der eine drückte den anderen nach unten und schlug mit solcher Wucht auf ihn ein, dass Blut spritzte. Ich kümmerte mich nicht weiter darum, gelangte in den Laden und war überrascht, dass ich nicht sofort attackiert wurde. Aber scheinbar waren die Menschen zu beschäftigt, um auf mich zu achten.

Erst als ich auf die wenigen verbliebenen Halsketten in einer Glastheke zuging, bemerkte mich jemand. Ein großer Kerl in schwarzer Lederjacke versperrte mir sofort den Weg und maulte:

»Denk nicht mal dran, Freundchen! Ich brauche eine für …«

Ohne Vorwarnung schlug ich ihm in die Weichteile und ließ ihn zurück, während er heulend in die Knie ging. Einen anderen Mann riss ich vom Tresen weg, verpasste ihm eine Gerade, dann einen Schlag in den Magen und kassierte selber einige Treffer, bevor ich mir aus einer neben mir stehenden Einkaufstasche einen Werkzeugkasten schnappte und ihn dem Kerl gegen den Kiefer schmetterte. Blut und Zähne spritzten aus seinem Mund.

Den Koffer achtlos fallen lassend, wandte ich mich der Verkäuferin zu, die mich ansah, als würde sie all das Chaos gar nicht bemerken.

»Wie kann ich dir helfen, junger Mann? Suchst du etwas für deine Freundin?«, fragte sie.

Ihr Lächeln wirkte ansteckend. Ich erwiderte es, fühlte mich plötzlich sicherer und erwiderte:

»Ja, ich …«

Jemand stülpte mir von hinten eine Plastiktüte über den Kopf und zog sie fest, dass sich die Folie über mein Gesicht legte. Mit jedem Atemzug saugte ich es an und konnte keine Luft holen. Weil jemand meine Arme festhielt, blieb mir nichts übrig, als um mich zu treten. Dabei wurde ich zu Boden gerissen. Während die Luft knapp wurde und meine Brust zu schmerzen begann, dachte ich an meinen Vater und wie enttäuscht er sein würde. Bei meiner Beerdigung hatte er neben meinem Sarg bestimmt nicht mehr Worte für mich übrig als: »Er war eben ein Loser.« Und dann würde er Monika anmaulen, nicht mit den Gästen zu flirten, während sie in der ersten Reihe auf ihr Handy glotzte.

Die Schreie und Kampfgeräusche drangen nur noch durch ein immer lauter werdendes Rauschen zu mir durch. Ich sah weiße Punkte vor meinen Augen zerplatzen und mein Herz schlug so heftig, als wollte es mir aus der Brust springen. Ich würde wegen einer albernen Halskette sterben. Für ein Mädchen, von dem ich nicht mal sicher war, ob ich es liebte. Alle meine Freunde hatten schon Freundinnen gehabt. In unserem Alter waren Beziehungen aber meist nur von kurzer Dauer. Warum für so jemanden sein Leben riskieren?

Plötzlich riss jemand an der Tüte und somit auch an meinem Kopf. Zuerst glaubte ich, es würde sich um meinen Gegner handeln, aber dann verschwand das Plastik und jemand brüllte:

»Das ist meine! Wie soll ich denn mein Zeug nach Hause tragen, wenn du mir die Tüte klaust?«

Nach Luft schnappend sah ich, wer versucht hatte, mich zu ersticken.

Das Mädchen mit den Nasenringen und Ketten sowie eines mit pinken Haaren. Der Mann, der die Tüte an sich gerissen hatte, wollte der Pinkhaarigen eine verpassen, als sie ihm mehrmals hintereinander ihr Klappmesser in den Bauch rammte. Noch ehe er zu Boden ging, wandte sie sich mir zu. Geschwächt, wie ich war, würde ich keine Chance gegen sie haben. Entgegen ihren Vorsätzen wollte sie es schnell machen, stieß mit der blutigen Klinge nach mir und hätte mich ins linke Auge getroffen, wäre da nicht die Verkäuferin gewesen, die hinter dem Tresen hervorgetreten war und den Arm des Mädchens packte.

Wieder änderte das Licht schlagartig seine Farbe und alles kam zum Stillstand.

Die einzige Person, die sich noch bewegte, war das pinkhaarige Mädchen, als es verzweifelt versuchte, sich loszureißen. Ich hörte etwas trocken knacken, bevor sie mit einem spitzen Schrei das Messer fallen ließ.

»Das – ist – ein Regelverstoß«, sagte die Verkäuferin laut. Ihr Lächeln glich jetzt einem Zähnefletschen, ihr Gebiss erinnerte an das eines Raubtiers. »Regelverstöße werden sofort bestraft«, fuhr sie fort.

Um ihre Schmerzen nicht zu vergrößern, hielt das Mädchen zwar still, schrie aber immer noch wie am Spieß. Erst recht, als sich die anderen Angestellten um sie herum aufbauten und den Umstehenden die Sicht auf das nahmen, was als Nächstes geschah. Die Schreie wurden schriller und von reißenden Geräuschen unterlegt, bevor sie abrupt verstummten. Blut klatschte auf die Schuhe der Verkäufer, die sich daran nicht weiter störten. Als sie sich schließlich umdrehten, hielt jeder von ihnen einen Arm, ein Bein oder den Kopf des Mädchens in den Händen.

In aller Seelenruhe kehrten sie auf ihren Platz zurück, verstauten die abgerissenen Körperteile hinter dem Tresen, wo die Kundschaft sie nicht mehr sehen konnte, und warteten genau vier Sekunden. Dann wurde das Licht wieder weiß, die Musik kehrte zurück und die Verkäuferin von gerade eben sah mich an.

»Entschuldige, wir sind unterbrochen worden. Du hattest Interesse an einer Halskette, glaube ich«, sagte sie, während um uns herum Stille herrschte.

Mein Hals schmerzte so sehr, dass ich kaum einen Ton herausbekam, aber dennoch sagte ich mit heiserer Stimme:

»Ja, sie soll für meine Freundin sein.«

»Das ist aber schön«, erwiderte die Frau lächelnd.

Irgendwo hinter mir schrie jemand und sofort gingen die unterbrochenen Kämpfe weiter. Damit es schnell ging, zeigte ich auf die erstbeste Halskette und rief:

»Die nehme ich.«

»Soll ich sie als Geschenk einpacken?«

Weil das zu lange dauern würde, antwortete ich:

»Auf gar keinen Fall!«

»Gut, dann sind das bitte einhundert Euro und neunundneunzig Cent.«

Ich legte das Geld auf den Tresen und verzichtete auf das Wechselgeld, um mit der Halskette unter meiner Jacke aus dem Geschäft zu fliehen. Natürlich versuchte man, mich daran zu hindern. Hände griffen nach mir, zerrten an meiner Kleidung und an meinem Helm, den ich löste, um mich aus einem der Griffe befreien zu können. Kaum war die Kette sicher in einer Innentasche meiner Jacke verstaut, schlug und trat ich um mich. Vielleicht war es das Wissen, diesen Wahnsinn hinter mir lassen zu können, aber ich kämpfte plötzlich noch verbissener, bekam zwar auch wieder einiges ab, doch genau wie mein Vater schien ich gut was einstecken zu können. Der Schmerz trieb mich dazu, selber noch fester zuzuschlagen. Und es gefiel mir, zu sehen, wie mein Kontrahent zu entkommen versuchte. Es stachelte mich regelrecht an, ihm nachzulaufen, obwohl ich hätte nach Hause gehen können. Aber dieser Typ sollte noch ein paar von mir verpasst bekommen. Ich jagte ihn den Gang entlang, verfolgte ihn in eines der umliegenden Geschäfte, wo er offensichtlich nach einem Versteck oder einer Safe-Zone Ausschau hielt. Aber dann war ich schon auf ihm drauf, klammerte mich an ihm fest und biss in sein Ohr. Schreiend drehte er sich im Kreis und wollte mich abwerfen, da riss ich ihm ein Stück von seinem Ohr ab und spuckte es angewidert aus.

Als er brüllend vor Schmerz nach der Wunde tastete, stach ich ihm meine Daumen in die Augen und trieb sie mit aller Kraft tiefer in die Höhlen, aber da erwischte mich seine Faust auf dem Mund. Meine Lippen platzten auf. Blut und Speichel spuckend, stolperte ich in einen Kleiderständer. Zwei Frauen mussten glauben, dass ich ihnen etwas wegkaufen wollte und begannen, nun auf mich einzuprügeln. Ganz wie mein Vater entschloss ich mich, ihnen nicht wehzutun und ertrug die Prügel. Sie war ohnehin nur von kurzer Dauer, da die Frauen sich wieder den Artikeln zuwandten.

Ich blieb noch einen Moment liegen, schnappte nach Luft und lachte schließlich. All das wegen einer beschissenen Halskette? Aber es hatte tatsächlich Spaß gemacht. Ich glaubte, meinen Vater zu verstehen, freute mich darauf, ihm von dem Kerl zu erzählen, der wegen mir jetzt bei jedem Blick in den Spiegel und auf seine Ohren an mich denken würde.

»Chriftmaf Prawl ift fuper!«, sagte ich zu mir selber und lachte über meine komische Aussprache.

Unter Schmerzen aber äußerst zufrieden stand ich auf, sah mich nach links und rechts um, wo das Chaos tobte. Blutend und erschöpft standen Menschen in Warteschlangen vor den Kassen, ruhten sich aus, bevor sie weitermachen mussten. Nur, damit ihre Liebsten am nächsten Tag etwas Schönes auspacken konnten. Man sollte meinen, dass es an Weihnachten Wichtigeres gab als das. Irgendwann musste es mal eine Bedeutung für dieses Fest gegeben haben, aber die hatten wir wohl vergessen. Fürs Erste war es mir auch egal. Ich hatte bekommen, was ich wollte, und würde meinen Vater stolz machen, wenn er nach Hause kam.

Also machte ich mich auf den Heimweg. Da mir offenbar niemand ansah, was sich Wertvolles unter meiner Kleidung befand, ließ man mich in Ruhe. Lediglich zwei gleichaltrige Jungs aus der Nebenklasse musste ich verprügeln, und das auch nur, weil ich sie nicht mochte.

Mein erstes richtiges Weihnachten war ein voller Erfolg.

ßXV

Zwanzig Jahre später:

»Und hier hat einer versucht, mich mit einem Kleiderhaken aufzuschlitzen«, sagte ich stolz und zeigte auf die zehn Zentimeter lange Narbe an meinem Bauch. Meine Freunde und Kollegen nickten anerkennend. Olaf wollte gerade etwas zu einer Brandnarbe in seinem Gesicht sagen, als die jährliche Ansage vorm Christmas Brawl aus den Lautsprechern begann.

Andächtig hörten wir zu. Mein Vater wäre stolz auf mich gewesen, hätte er all die Narben an meinem Körper und den Stumpf gesehen, der einmal mein rechter Daumen gewesen war. Links war ich fast blind und taub, aber das störte mich kaum. Es war ein wundervolles Andenken an den Christmas Brawl vor elf Jahren. Mein Vater war während des Brawls vor sechs Jahren gestorben, aber ich hatte nie um ihn getrauert, denn das hätte er nicht gewollt. Er war bei seiner Lieblingsbeschäftigung gestorben. Mit einer Grillgabel in der Luftröhre.

Während sich das Tor öffnete und die Menge ins Innere des Einkaufzentrums stürmte, blickte ich für eine Sekunde zum Himmel, klopfte mit dem Quarzhandschuh gegen meine nackte Brust und sagte:

»Dieser Brawl ist für dich, Papa. Wie auch alle anderen.«

Irgendwo in der Menschenmasse mussten Monika und meine Mutter sein. Vielleicht würde ich sie zwischendurch sehen. So kämen wir an Weihnachten mal wieder zusammen.

Eine schöne Tradition.

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Christmas Bloody Christmas 2

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