Читать книгу Christmas Bloody Christmas 2 - Thomas Williams - Страница 8
Oh du Fröhliche Caroline Simanek
ОглавлениеOh du fröhliche, o du selige …«, erklang es aus unseren Mündern, doch von den Anwesenden war niemand fröhlich. Auch aus mir drang emotionslos das Lied, welches so lange geübt worden war. Während des Singens streiften meine Augen durch das riesige Wohnzimmer. Der Raum strahlte so golden, wie er es nur an Weihnachten vermochte. Es war, als wären jene Kälte und Lieblosigkeit, die sonst das ganze Jahr über diesen Ort dominierten, vertrieben. Ein lieblicher Duft nach Lebkuchen und Punsch hing in der Luft. Auf dem klassisch mit Strohsternen und gold lackierten Äpfeln geschmückten Weihnachtsbaum, der bis zur hohen Zimmerdecke reichte, brannten echte Kerzen.
Die flackernden Flammen zogen mich in ihren Bann. Sie bewegten sich bedrohlich, als wollten ihre kleinen Zungen an den trockenen Zweigen lecken. Mich ergriff dabei lediglich ein Gefühl der Besorgnis, nicht einmal Angst. Sollte ich bei diesem Anblick nicht in Panik verfallen? Schließlich hatte ein Feuer mein Leben zerstört. Genau ein Jahr war es her, als meine ganze Familie bei einem Wohnungsbrand ums Leben kam. Auch Oma, die mich gerettet hatte. Sie starb bei dem Sturz aus dem dritten Stock. Ich hatte nur überlebt, weil ich auf sie gefallen war. Bis auf ein paar Prellungen und einer mächtigen Gehirnerschütterung, welche mir das Gedächtnis geraubt hatte, blieb ich unversehrt. Mein Leben, wie ich es jetzt kannte, begann für mich mit dem Aufenthalt in der Klinik. Da ich noch nicht volljährig war und es niemanden mehr gab, der mich aufnehmen konnte, wurde ich hier in diesem Mädchenheim untergebracht.
Schlechte Laune stieg in mir empor, als ich den scheinheiligen Haufen neben mir sah. Keines der Mädchen wollte hier sein, trotzdem taten sie so, als würden sie sich über dieses gezwungene Fest freuen. Aber ich wusste es besser: Sie hassten dieses Heim genauso wie ich. Abgesehen von der Gemeinsamkeit, dass wir alle die Nonnen, Erzieherinnen und sogar die Hausmeisterin verabscheuten, verachteten die Mädchen mich. Etwas an mir war anders. Lag es daran, dass ich kaum sprach? Oder weil ich, wie die Nonnen sagten, so eine düstere Aura ausstrahlte?
Punkt um, ich war einfach anders.
Für mich gab es nur ein Ziel, die Zeit hier abzusitzen.
Noch zwei Jahre, dann war ich achtzehn und durfte gehen.
Unser Gesang verstummte und eine der Erzieherinnen begann, eine moderne Weihnachtsgeschichte vorzulesen. Sie legte so viel Betonung in die Sätze und blickte dabei so bedächtig, dass mir übel wurde. Einigen Mädchen liefen scheinheiligerweise Tränen über die Wangen, weil sie ja so gerührt waren. Solche verlogenen Tussen! Ich wünschte mir, der Baum würde endlich brennen, damit der zähe Abend ein Ende hatte.
Nach der Geschichte stimmte die Nonne das Lied O Tannenbaum an.
Ohne Vorwarnung tat sich in meinem Bewusstsein eine Tür auf. Meine Erinnerung, die verborgen lag, brach heraus. Meine Gedanken beförderten mich nach Hause ins Esszimmer.
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Aus dem alten Plattenspieler, der nur noch an Weihnachten in Betrieb genommen wurde, erschallte das Lied: O Tannenbaum, o Tannenbaum. Ich sah mich am Tisch sitzen. Der Raum zeigte sich für unsere Verhältnisse gut aufgeräumt. Auf der gedeckten Tafel lag eine weiße Tischdecke, orientalisch anmutende Öllämpchen dienten als Kerzen. Die Großeltern und auch Onkel Eduard mit seiner Frau Rosemarie waren da. Vater, auf dessen Stirn sich bereits zwei vertikale Falten gebildet hatten, die er immer bekam, wenn er zornig wurde oder zu viel gebechert hatte, griff nach der Geflügelschere. Ungeschickt versuchte er, den Truthahn in gerechte Teile zu zerlegen.
»Sei nicht so knauserig mit dem Fleisch!«, stichelte Großvater, als er sich den Kartoffelbrei auf den Teller schaufelte. Ich wusste, dass Opa uns hasste. Er verachtete seine Tochter, weil sie einen arbeitslosen Versager geheiratet hatte, und auch mich, die unerwünschte Brut daraus. Trotzdem kam er einmal im Jahr an Weihnachten vorbei, um mit der Familie zu feiern. In seine Wohnung wollte er unsere Sippe nicht einladen, betonte er oft. Wer weiß, was wir alles mitgehen lassen würden.
Als Vater den Teller meines Onkels füllen wollte, zeigte Eduard auf mich.
»Gib zuerst ihr. Die Kleine kann noch etwas auf die Rippen gebrauchen, damit ihr ein paar ordentliche Titten wachsen.«
Feuer schoss mir ins Gesicht. Mein Magen verwandelte sich zu Blei. Nicht nur wegen des schamlosen Scherzes, zeitgleich fühlte ich auch, wie sein Fuß an meinem Bein entlangstreifte und sich unter mein Kleid drängte. Erschrocken zog ich meinen Stuhl zurück. Sein warnender Blick jedoch zwang mich dazu, so zu tun, als hätte ich mich verschluckt.
Vater und Mutter bemerkten mal wieder nichts. Sie erörterten stattdessen die Konsistenz der Dosenerbsen. Doch sie wussten Bescheid. Letztes Jahr hatte sich Eduard betrunken in mein Zimmer geschlichen und mich gewaltsam entjungfert. Zuerst waren meine Eltern aufgebracht gewesen, aber nur einen Tag später meinten sie zu mir, ich hätte es selbst provoziert. Ich glaubte es ihnen sogar und schämte mich. Meine Mutter nannte mich eine kleine Hure und Vater drohte damals, mich ins Heim zu stecken, wenn ich es jemandem erzählen würde. Sie hatten es geschafft, mich emotional so einzuschüchtern, dass ich wirklich die Schuld an mir selber fand. Dass Onkel Eduard dann öfter zu Besuch kam, wenn die Eltern Geld brauchten und er sich in der Nacht in mein Zimmer verirrte, blieb ein unausgesprochenes Geheimnis.
Nur einmal war mir etwas darüber herausgerutscht. Wir hatten gefeiert und auch ich hatte schon einige Biere intus, als ich es meinen Eltern vorwarf. Vater hatte mir daraufhin die Nase gebrochen und Mutter hatte geweint und gemeint, ich würde nur lügen, um sie zu verletzen.
Während Vater herzlos ein Stück Fleisch auf meinen Teller klatschte, knurrte er mich an:
»Hock nicht bloß blöd rum, hol Bier aus dem Keller!«
Ich fuhr hoch. Wenn mein Vater so launisch war, würde ihn auch das Haus voller Gäste nicht abschrecken, mir eine Backpfeife zu geben. Nervös strich ich mein Kleid glatt. Ich war nicht gewohnt, Kleider zu tragen. Normal nahm ich mit Pulli und Jeans vorlieb, aber meine Mutter bestand wie jedes Jahr darauf, dass ich mich an Weihnachten wie ein Mädchen anzog. So lief ich in den Flur und machte mich auf den Weg zum Keller. Ich war noch nicht mal auf der Treppe, als ich Schritte hinter mir hörte. Es war Eduard.
»Ich helfe dir, dann geht es schneller. Das Essen soll ja nicht kalt werden.«
Mein Magen zog sich zusammen. Obwohl das Licht nur diffus leuchtete, konnte ich seine Augen glänzen sehen. Dennoch hoffte ich, dass er, solange die Großeltern da waren, die Finger von mir lassen würde. Ich beeilte mich, die Stufen hinunterzukommen, bückte mich nach dem Bierkasten und ... Schon war Eduard hinter mir. Grob umklammerte er mich.
»Mmh!«, grunzte er, während seine Finger über meine Brüste glitten und er seine Hüfte eng an meine presste, »wie wäre es, wenn wir die Nachspeise einfach vor dem Essen genießen?«
Mir war, als wollte sich mein Magen umdrehen.
»Lass mich los!«, wimmerte ich ängstlich.
»Ich denke schon den ganzen Tag an dich. Los, machen wir einen Quickie! Ich bin schon ganz scharf und die da oben bekommen es doch nicht mit«, brummte er. Seine Hand wanderte an meinem Schenkel entlang und suchte sich seinen Weg in den Slip.
»Nein, bitte nicht!«, jammerte ich. Zu sehr hatte ich gehofft, er wäre nachher zu betrunken und würde im Wohnzimmer bei der Feier einschlafen. Diesmal wollte ich in der Nacht heimlich weglaufen. Gierig umspielten seine Finger meine Klitoris. Ich fühlte eine Beule in seiner Hose, die mir an den Hintern drückte. Er keuchte:
»Los, bück dich tiefer!«
Ich zerrte seine widerlichen Klauen von mir und wollte mich an ihm vorbeizwängen.
»Lass das!«
»Hey, du Schlampe!«, keuchte er wütend, während sich seine Finger wie ein Schraubstock um meinen Arm schlossen, »wenn du nicht willst, veröffentliche ich im Netz alle geilen Bilder, die ich von dir habe. Zeitgleich verbreite ich, dass du eine Hure bist. Was denkst du, wer das Bier und das Weihnachtsessen bezahlt hat? Das war ich, du kleines Flittchen. Und jetzt komm her!« Grob drückte er mich über den Bierkasten, dass ich mich abstützen musste, um nicht darauf zu fallen. Um Hilfe rufen würde mir nichts nützen. Im Erdgeschoss wohnte der Hausmeister. Ein unsympathischer Kerl, der mich jedes Mal so gierig anglotzte, wenn ich im Treppenhaus war. Sicher würde er lieber meinem Onkel helfen, mich aus den Klamotten zu bekommen, als mir. Die Wohnung darüber stand leer. Und meine Eltern? Die konnte ich vergessen. Eduard schob mein Kleid hoch und zerrte an meinem Höschen. Es brannte auf der Haut, wo mir der Baumwollstoff ins Fleisch schnitt.
Vielleicht war es der Wunsch, lieber tot zu sein, als erneut diesen Widerling in mir zu spüren. Möglicherweise auch die Vernunft, die mir klarmachte, dass ich mich nicht mehr erpressen lassen wollte.
»Wer das bezahlt hat? Das war ich, du krankes Schwein!«, schrie ich, zog eine volle Flasche aus dem Kasten und knallte sie meinem Onkel auf den Kopf.
Als ob ein Dämon von mir Besitz ergriffen hatte, donnerte ich ihm erneut die Flasche auf den Schädel. Beim ersten Angriff hatte ich ihn nur grob gestreift. Schließlich hatte ich mich erst aus der gebückten Haltung drehen müssen. Aber jetzt stand ich vor ihm. Schlug zu und das Glas zerbarst über seinem kargen Haupt. Bier schäumte und lief ihm über das Gesicht. Ich schlug erneut mit dem Stumpen der Flasche zu. Das Brennen der Schnitte in meiner Handfläche nahm ich kaum wahr. Mein Onkel taumelte zurück, stolperte über seine Hose, die ihm bereits bis zu den Knien herabgerutscht war, und fiel auf seinen Hintern. Ohne Einfluss auf mein Tun zu haben, griff ich eine zweite Flasche und schlug sie ihm ins Gesicht. Sie zerbarst mit dem Klang seines brechenden Nasenbeins. Mit dem zerborstenen Flaschenhals in der Hand verharrte ich vor seinen entsetzten Augen.
»Mach den Mund auf und lutsch, als sei es ein Lolli!« Was auch immer gerade von mir Besitz ergriffen hatte, wählte genau die Worte, die mein Onkel vor einigen Nächten benutzt hatte, als er mich zwang, ihm einen zu blasen.
Wimmernd hob Eduard die Hände. Als er seinen Mund öffnete, um etwas zu sagen, rammte ich ihm die zerbrochene Flasche ins Gesicht. Seine Zähne waren im Weg, es war einiges an Kraft nötig, um ihm den Rest des scharfkantigen Glases in die Kehle zu rammen. Mit gurgelnden Lauten blubberte Blut aus seinem Mund und zeichnete ein bizarres Gemälde auf den Kellerboden.
Ich hielt den Atem an, um zu lauschen. Hatte jemand von den anderen etwas mitbekommen? Großvater nörgelte gerade:
»Warum dauert das so lange? Ich glaube, deine verblödete Göre hat das Bier fallen lassen!«
Die Emotionslosigkeit, die mich in Besitz genommen hatte, wich einem anderen Gefühl: Wut. Sie brodelte in meinem Bauch, Hitze stieg in mir auf und verteilte sich wie heißes Wasser durch meine Venen. Zielstrebig griff ich zwei Bierflaschen und stapfte hinauf in unsere Wohnung. Als ich in das Esszimmer trat, blickten Tante Rosemarie und Mutter schuldbewusst auf ihre Teller. Sie wussten ganz genau, warum der schmierige Onkel mir helfen wollte. Aber sie taten mal wieder nichts dagegen. Jedem hier schien es mehr oder weniger egal zu sein. Großvater blickte nicht einmal zu mir, als er meinte:
»Geht das auch ein bisschen schneller?«
Ich fühlte, wie sich meine Hände um die Flaschenhälse verkrampften. Das kochende Wasser in meinen Venen explodierte, zumindest in emotionaler Sicht. Nacheinander warf ich Opa die Flaschen mit voller Wucht entgegen.
»Hier, wenn du etwas saufen willst, hol dir deinen Scheiß doch selbst!«
Ich hatte in meiner Wut so weit ausgeholt, dass die Flaschen wie Geschosse in seinem Gesicht landeten. Sein Stuhl kippte nach hinten, er schlug mit dem Kopf gegen die Wand und rutschte langsam zu Boden.
Oma an seiner Seite verschluckte sich an den Erbsen und griff erschrocken an den Hals. Vater blickte mich wütend an, als ob er noch immer nicht begriffen hatte, was geschah. Langsam weiteten sich seine Augen und er erhob sich. Jetzt schien er das Blut auf meinem Kleid zu sehen. Stammte es aus den Schnittwunden meiner Hand oder aus Onkel Eduards Halsschlagader? Ich wusste es nicht zu sagen und es war mir in diesem Moment auch egal, da ich keine Schmerzen fühlte. Wortlos trat ich zu dem Mann, der mich und meinen Körper verkauft hatte. Zeitgleich griff ich nach der Geflügelschere. Sie fühlte sich fettig an. Meine Augen fixierten meinen Vater, dem jegliches Blut aus dem Gesicht gewichen war.
»Weißt du, wie es ist, wenn jemand in dich eindringt, obwohl du es nicht willst?!«
Schon rammte ich ihm die Geflügelschere in den Bauch. Ich zog sie heraus und stach erneut zu. Wieder und wieder, bis Mutter plötzlich neben mir stand.
»Kind!«, stammelte sie. Als ich mich zu ihr drehte, sackte Vater wie ein nasser Sack zusammen. Ich blickte jene Frau an, die mein Leid kannte. Wie oft hatte ich versucht, es ihr zu erzählen. Aber sie tat immer so, als verstünde sie nicht, was ich meinte. Abermals ergriff mich das Gefühl der Hilflosigkeit. Meine Augen brannten. Normalerweise war das der Moment, an dem ich einfach schnell das Thema wechselte oder in mein Zimmer lief. Aber diesmal nicht. Meine Venen pulsierten vor glühender Wut. Mit einer ungeahnten Kraft, die ich aus dieser Verzweiflung erntete, zog ich mein Bein an und trat ihr so heftig gegen den Bauch, dass sie zurücktaumelte und gegen die Vitrine am anderen Ende des Raumes stieß. Ihr Hinterkopf durchschlug das Glas. Sie blickte mit ungläubigen Augen auf die Reste der Scheibe, die über ihrem Hals hing. Das, was dann geschah, nahm ich wie in Zeitlupe wahr und konnte mir das Lachen kaum verkneifen. Ruckartig und präzise wie das Messer einer Guillotine durchtrennte die herabfallende Scheibe ihren Hals. Blut spritzte wie ein Fächer aus ihrer Kehle und sprudelte kraftvoll bis zu Decke. Ein schrilles Kreischen erreichte mein Ohr. Tante Rosemarie saß auf ihrem Stuhl und klang wie eine Sirene. Ihre dicken Arme wackelten wie zwei wulstige Würmer in der Luft. Sie verstummte nicht, als ich langsam auf sie zutrat.
»Du wusstest, was er tat! Aber anstatt mir zu helfen, hast du mich dafür verurteilt, dass er mich anziehender fand als dich!« Meine Stimme klang mir selbst fremd, als wäre sie tiefer und ruhiger als je zuvor.
Noch immer kreischte Rosemarie, nur eine Oktave höher als vorher. Ich packte ihren Kopf und schlug ihn auf die Tischplatte. Das wiederholte ich, bis das Kreischen durch ein matschiges Floppen abgelöst wurde. So unerwartet wie ein Geist stand Oma plötzlich neben mir und ich zuckte regelrecht zusammen. In ihrer Hand hielt sie die Suppenkelle, holte aus und schlug mir damit ins Gesicht.
Wie oft war ihr in der Vergangenheit die Hand ausgerutscht. Immer wieder hatte sie gekeift, ich brauchte eben mal eine ordentliche Tracht Prügel, um etwas zu kapieren. Aber mit einer Suppenkelle?
Verdutzt fühlte ich die Kälte und die Wucht auf meiner Schläfe, die von diesem Angriff ausging. Als Oma realisierte, dass sie mich damit nicht aufhalten konnte, holte sie erneut aus. Diesmal war ich jedoch vorbereitet und riss ihr die Kelle aus der Hand. Gerade als ich sie ihr im Gegenzug über den Schädel ziehen wollte, war Opa wieder da. Sein Kopf hing eigenartig abgewinkelt zur Seite gewandt, Blut rann aus Nase und Mund. Er sah aus wie ein Zombie. Seine Faust landete in meinem Gesicht. Sterne blitzten aus einem roten Nebel, der sich vor meinen Augen auftat. Jemand hatte etwas nach mir geworfen, mich aber nicht getroffen.
Plötzlich bemerkte ich die Hitze hinter mir. Die Vorhänge hatten Feuer gefangen. Flammenzungen fraßen sich gierig hinauf und verteilten sich über die anderen Gardinen. Oma hatte tatsächlich die Öllampe als Wurfgeschoss gewählt. Wollte sie mich damit lebendig verbrennen?
Mit torkelnden Schritten kam Großvater auf mich zu und drängte mich immer weiter zur Feuersbrunst, die hinter mir tobte. Vor sich hielt er einen Stuhl, als wollte er einen tollwütigen Hund von einem Angriff abhalten. Er kam immer näher und drängte mich zurück, bis ich gegen die Fensterbank stieß.
Die Feuerzungen leckten bereits an der Zimmerdecke und schwefeliger Geruch machte sich breit. Wieder flog etwas knapp an mir vorbei. Oma hatte die zweite Öllampe nach mir geworfen. Sie erwischte die Vorhänge auf der anderen Seite des Zimmers. So blieb mir kein Platz mehr, dem Feuer auszuweichen. Großvater stieß mit den Stuhlbeinen zu.
Mir blieb kein anderer Ausweg, als mich auf die Fensterbank zu retten. Ein Sturz aus dem dritten Stock wäre mein Todesurteil, doch das störte meinen Großvater nicht. Er holte mit dem Stuhl erneut aus und wollte mich damit angreifen. Geistesgegenwärtig trat ich ihm ins Gesicht. Sein schiefer Kopf knackte nach hinten wie der Verschluss einer Bügelflasche. Er taumelte, ließ den Stuhl fallen und fiel zuckend zu Boden. Die Verkleidung der Zimmerdecke brannte lichterloh und tropfte zäh wie Honig herab. In den wenigen Sekunden hatte sich das Esszimmer in einen Glutofen verwandelt. Erschrocken blickte ich hinter mir aus dem Fenster. Ich musste fliehen. Unter mir befand sich ein Radweg. Ich würde geradewegs auf Asphalt krachen.
Wie eine Schlange hatte Oma meine Ablenkung genutzt und den Stuhl aufgestellt, um ebenfalls auf die Fensterbank zu klettern. Plötzlich stand sie neben mir mit einem Messer in der Hand. In letzter Sekunde konnte ich es ihr aus der Hand schlagen. Aber sie versetzte mir einen Stoß, dass ich nach hinten stolperte und gegen die Fensterscheibe krachte. Panisch hielt ich mich an ihr fest. Vielleicht lag es an der Hitze oder der Wucht, etwas ließ das Glas bersten und wir stürzten hinaus. Es gelang mir, mich im Flug zu drehen und auf ihr zu landen. Ihr Schädel knallte auf den Asphalt und glich einer heruntergefallenen Pampelmuse.
Ich hingegen hatte lediglich eine Gehirnerschütterung und litt an einer Amnesie.
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Ich konnte nur wenige Begebenheiten meiner Kindheit ins Gedächtnis rufen, jetzt jedoch traf mich die komplette Erinnerung mit einem Schlag. Als man mich fand, eng umschlungen mit meiner Großmutter, dachte jeder, es wäre ein verzweifelter Sprung gewesen, um dem Feuer zu entkommen. Niemand hatte geahnt, was vorgefallen war. Laut Pressebericht war das Haus niedergebrannt und mit ihm sämtliche Bewohner – bis auf mich und Oma, aber die war jetzt ebenfalls tot.
Trotz der Tatsache, dass alle in meiner Familie Monster waren, erfüllte mich die Erkenntnis mit Trauer. Unablässig rannen mir Tränen aus den Augen.
Unbemerkt war Schwester Bettina, die Nonne, die mich am meisten hasste, zu mir getreten.
»Hör auf zu heulen! Brauchst dich nicht wichtigmachen!«
Was sagte sie da? Als Leiterin der Gruppe kannte sie unsere Geschichten. Sollte sie nicht wissen, dass ich an Weihnachten meine Familie verloren hatte? Auch wenn sie den Tod verdient hatten und ich daran nicht ganz unschuldig gewesen war, stimmte mich Weihnachten traurig. Kein Wunder, oder?
Die bronzefarbene Nonne indischen Ursprungs hatte trotz der Feierlichkeit schlechte Laune. Schon den ganzen Tag hatte sie uns putzen lassen und mit Spitzfindigkeiten drangsaliert. Anschließend mussten wir zur Kirche und jetzt zog sich das Brimborium auch noch unnötig in die Länge. Glaubte sie wirklich, dass sich irgendwer von uns auf die Geschenke freuen würde? Es waren in buntes Papier verpackte Zuteilungen vom Jugendamt – meist bestehend aus Kleidern, Taschen und Gegenständen, die eigentlich jeder normale Mensch besaß.
Das fiese Lächeln von Sabine, ihrem Lieblingszögling und Tochter aus gutem Hause, streifte mich. Ich hasste dieses Mädchen. Wie oft verpetzte sie eine von uns und stellte selbst jede Menge Dummheiten an. Aber sie hatte ja alle Rechte.
»Scheißkuh!«, fauchte ich ihr entgegen.
Jetzt nahm das Drama seinen Lauf.
»Wie kann man so undankbar an Heiligabend sein?«, schluchzte Sabine theatralisch und hielt sich die Hand an den Mund. Theresa, eine der beiden Erzieherinnen, hantierte erfolglos am Plattenspieler. Ja, ein antiquiertes Gerät. Angeblich war kein Geld da für etwas Neues, aber das hielt ich für eine Lüge.
Somit gab es hier weder Internet noch Mobiltelefon, außer natürlich für die Mitarbeiter.
Die Nonne, die einen halben Kopf kleiner war als ich, baute sich vor mir auf.
»Du gehst jetzt in dein Zimmer. Bete und überdenke dein Verhalten! Wir lassen uns von dir das Fest der Liebe nicht zerstören.« Grob packte sie mich am Arm. Die Klosterfrau war es gewohnt, dass die Mädchen auf sie hörten. Niemand widersetzte sich. Und wenn doch jemand nur einen Hauch Ungehorsam zeigte, wurde er hart bestraft. Nicht nur der Frevler, sondern auch jeder, der sich mit ihm abgab. Die Angst war groß vor dieser Frau. Aber nicht mit mir!
»Du weißt, wer du bist. Du weißt, was du getan hast. Lass dir das nicht gefallen!«, hörte ich eine Stimme in meinem Kopf. Jetzt war mir alles klar. Seit einem Jahr wurde ich von ihr schikaniert. In ihren Augen war jedes junge Mädchen eine Nutte, das sich nicht für das Kloster entschied.
Natürlich hatte ich öfter einen Schwanz in mir gehabt als sie. Und ich wusste auch, wie es war, jemandem einen zu blasen. Aber deswegen war ich noch längst keine Hure.
Ohne dass ich es beabsichtigt hatte, landete meine Faust in ihrem Gesicht. Schwester Bettina hielt sich die Nase und schwankte zurück. Blut quoll durch ihre Finger und tropfte auf das helle Ordensgewand.
Schweigen dominierte für eine Sekunde den Raum. Nur das Knistern der Schallplatte war zu vernehmen.
Schwester Bettina blickte mich entsetzt an. Erneut schlug ich sie. Diesmal in ihren rundlichen Bauch. Mein Hieb setzte ihr so zu, dass sich die Nonne krümmte und würgte.
Die Mädchen schrien.
Die Erzieherinnen blickten verdutzt in die Runde. Sie hatten sich auf einen ruhigen Abend eingestellt. Schon vor dem Mittagessen hatten sie vom Weihnachtspunsch genascht, den nur die ›Erwachsenen‹ trinken durften, also ausschließlich das Personal. Beschwipst und überfordert von der neuen Lage, hielten sie sich verwirrt zurück. Einigen Mädchen dagegen waren unvorbereitete Wutausbrüche nicht fremd. Schnell fanden sie zu sich. Darunter auch Mira, eine dunkelhäutige Schönheit, die aufgrund ihres Äußeren von einigen Mädchen wie auch den Erzieherinnen gehänselt wurde. Sie holte aus und ließ Sabine, Bettinas Lieblingstochter, die panisch zu kreischen angefangen hatte, mit einem Fausthieb auf die Kehle verstummen. Aus heiterem Himmel fand auch die Nadel auf dem Plattenspieler ihren Kurs und Weihnachtslied für Weihnachtslied schallte durch den Raum.
Das war der Auftakt.
Die unterdrückten Gefühle meiner Kumpaninnen brachen hervor und aus dem Fest der Liebe wurde ein handfestes Gerangel. Plötzlich schlug jeder jeden. Teenager in festlicher Bekleidung zogen sich gegenseitig an den Haaren oder prügelten wie Raufbolde aufeinander ein. Die indische Nonne rief etwas, aber niemand schien sie zu hören. Fräulein Ursula ergriff nun die Initiative. Ich hasste dieses fettleibige Weib für mein Leben und sie mich ebenso. Warum sich eine Frau, die über dreißig Jahre alt war, noch Fräulein nennen ließ, war ein weiteres Charakteristikum für den veralteten Zeitgeist dieser Einrichtung.
»Jetzt beruhigen wir uns alle mal!« Ergeben hielt sie die Hände in die Luft und schritt an den kämpfenden Mädchen vorbei, die von ihr kaum Notiz nahmen. Theresa, die andere Erzieherin, die noch immer nicht verstand, was geschah, bekam von irgendwem eine Tasse über den Kopf gezogen. Sie fiel bewusstlos zu Boden. Niemand kümmerte sich darum. Theresa tat immer, was Bettina ihr auftrug und gab der Klosterfrau in jedem Fall recht. Die Schützlinge interessierten sie nicht im Geringsten.
Schwester Bettina kauerte noch immer am Boden und blickte mich wütend an. Die perfekte Höhe, ihr mein Knie in die Visage zu befördern. Ich umklammerte mit beiden Händen ihren Hinterkopf und rammte ihr das Knie so oft in die Fresse, bis ich etwas Scharfes fühlte, das durch die Wollstrumpfhose drang. Als ich auf mein Knie blickte, war der Stoff rot gefärbt. Die Nonne, die unter ihrem Schleier nur noch einen matschigen Brei als Gesicht trug, klappte zusammen. Fräulein Ursula hatte es nicht gesehen. Sie schaute zu den anderen Mädchen, rief deren Namen und drohte damit, ihnen die morgige Heimreise zu verbieten.
Meine Augen fingen sich in denen von Mira. Uns betraf es nicht, denn wir beide waren dazu verdammt, die Weihnachtsferien hier im Heim zu verbringen. Als ob uns derselbe Gedanke getroffen hätte, nahmen wir uns an den Händen. Unsere Arme wie ein Tau gespannt, rannten wir auf die fette Erzieherin zu. Der Aufprall riss uns auseinander. Stechende Schmerzen fraßen sich durch die Finger meiner linken Hand, als seien sie gebrochen. Aber schon tröstete mich der Anblick, als ich sah, wie Ursula stolperte und in die Weihnachtstanne fiel. Der Baum krachte gegen die Wand und knickte in der Mitte zusammen. Schon griffen die kleinen Flämmchen um sich. Die trockenen Zweige jauchzten und ein heller Lichtschein umhüllte die Erzieherin.
Die anderen Mädchen waren noch immer in ihrem Kampfrausch gefangen und schlugen kreischend aufeinander ein. Blut spritzte. Knochen barsten.
Sabine hatte einer der Neuen ein Buch so lange ins Gesicht geschlagen, bis dieser ein Augapfel herausgeplatzt war und über das Parkett rollte. Jetzt rannte Bettinas Liebling an mir vorbei, um zu fliehen. Das sah ihr ähnlich. Anstatt die Heilige zu sein, die sie gern vorgab, wollte sie sich verdrücken. Ich stellte ihr ein Bein und sie fiel der Länge nach hin. Warum floh sie? War sie nicht diejenige, die uns sonst auch immer schlug und dann alles abstritt, weil die Nonnen ihr jedes Wort glaubten? Wütend darüber trat ich ihr ins Kreuz. Es knackte und ich trat erneut zu.
Auch Susanne, die Petze vom Dienst, wollte sich vorzeitig von der Party entfernen. Mira hielt sie auf. Mit rotem Schleifenband, das sie von den bereits in Flammen stehenden Geschenken gerettet hatte, würgte sie Susanne, bis ihr die Augen aus den Höhlen quollen.
Zu spät sah ich Monika, die auf Mia zurannte. In ihrer Hand lag eine große Schere. Sie musste diese irgendwie aus dem Handarbeitskoffer der Nonne geholt haben. Der stand natürlich im Wohnzimmer, denn Handarbeit war die Tugenden der Frauen, so lehrte man es uns ständig.
Monika stach mit der Schere auf Mira ein. Panisch ließ ich von Sabine ab und wollte meiner neu gewonnenen Freundin helfen, aber es war schon zu spät. Monika hatte ihr das Ding in die Kehle gerammt und Mira ging röchelnd in die Knie, fiel auf die bewusstlose Susanne und zuckte. Ihre Augen blickten mich stumm an und schienen zu rufen: »Flieh!«
Vielleicht war es besser so. Da die Hitze im Raum unerträglich wurde und das Feuer sich bereits über die Möbel ausgebreitet hatte, konnte ich nicht mehr bleiben. Es gab kaum noch die Möglichkeit zu atmen. Mit letzter Kraft krallte sich Miras Hand um Monikas Fußknöchel und hielt ihre Mörderin gefangen. Traurig und vor Wut schäumend, packte ich Monika an den Haaren und zog sie zur Tür hinaus. Ich warf diese hinter mir zu und schlug vor Jähzorn tobend den Schädel der Tusse so lange gegen das Türblatt, bis sich die Blasen, die sich durch die Hitze des Feuers auf dem furnierten Holz gebildet hatten, in ihre Haut fraßen.
Als sie sich nicht mehr regte, blockierte ich mit ihrem Körper die Tür. Denn dem Kreischen nach zu urteilen, welches nun aus dem lodernden Wohnzimmer kam, waren auch die anderen Mädchen aus dem Rausch erwacht und wollten nun dem Inferno entkommen.
Ich hastete zur Ausgangstür, die immer verschlossen war. Mit einem massiven Stuhl, den ich im Flur fand, schlug ich die Glasfront ein. Scherben regneten wie Diamanten auf mich herab. Das Feuer hatte sich bereits durch die Wohnzimmertür gefressen und breitete sich hinter mir aus. Vor mir sah ich blaue Lichter mit den Schneeflocken um die Wette tanzen. Unser Fest war nicht unbemerkt geblieben, jemand hatte die Feuerwehr gerufen. Ich nutzte das Chaos, um zu fliehen. Es würde noch eine Zeit dauern, bis sie die verkohlten Körper analysiert hatten und erkannten, dass meiner fehlte.
Niemand würde mir die Schuld dafür geben. Denn schließlich, so würde ich sagen, hatte das Feuer mich so schockiert, dass ich panisch aus dem Haus stürzte und keine Ahnung hätte, was passiert war. Meine Vergangenheit würde diese Lüge bestätigen.
Mal sehen, wo ich mein nächstes Weihnachtsfest verbringen werde.