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Buch: Sam Collister
Оглавление(22.04.1967-12.09.1989)
Part 1
Noch nie hatte mich ein Mensch so angesehen. Es gab noch so vieles, was ich ihr gerne sagen wollte, doch es fehlte die Zeit. Auf meinen Lippen spürte ich noch immer ihren Kuss.
Mein erster Kuss.
Mein letzter Kuss.
Durch die Tränen in meinen Augen konnte ich sie nur noch verschwommen wahrnehmen. Das verzerrte Bild eines Menschen, der von anderen mit „Monster“ betitelt wurde. Für mich war sie das großartigste Wesen, das ich je kennengelernt habe.
Noch immer spürte ich ihre Wärme.
Noch immer roch ich ihren vollkommenen und gar einzigartigen Duft. Endlich hatte sie mich mehrmals bei meinem wahren Namen genannt. Doch nun wurde sie gewaltsam von mir gerissen und zurück blieb ein kleiner, weinender, einsamer Junge. Ich wünschte, ich hätte noch mehr Zeit gehabt. Doch sie lief gerade ab. Vielleicht ist es auch ein Gesetz der Natur, dass man für jeden Tag im Himmel auch einen in der Hölle bekommt.
Bitte nennt mich nicht „Monster“.
Vorwort
Ich bin mir nicht sicher, was mich das Leben lehren soll. Soll ich weiterhin tagein, tagaus mit mir Selbstgespräche führen? Eingeschlossen in meinen vier Wänden? Abgeschnitten von der Außenwelt. Diese Welt, die mir nichts gebracht hat, außer Schmerz und Leid. Es gibt sicher Menschen, denen es schlimmer ergeht, aber was mich betrifft: Ich bin einfach eine Klasse für sich. Niemand könnte je meine Angewohnheiten oder Gedanken verstehen. Also würde ich auch immer mit meinen Gedanken alleine bleiben. Oft fragte ich mich, was genau mit mir nicht stimmte. Warum ich so anders war. Oder wieso jede Sekunde, in der ich auf dieser Erde wanderte, eine Hölle war, die nur darauf wartete, dass ich mir endlich selbst das Leben nehme. Sollte mein Leben wirklich so enden? Mit Selbstmord?
Schon öfter habe ich mir darüber den Kopf zerbrochen. Es gibt so viele Gründe, die dafür sprechen würden, mein Leben zu beenden, und eigentlich gibt es immer nur einen Grund, es nicht zu tun: Ich habe zu viel Angst vor dem Tod.
Ich weiß nicht einmal, warum ich meine Geschichte aufschreiben möchte. Kein Mensch würde diese für wahr halten. Du wirst denken: „Oh, da hat wohl jemand im Schmerze seiner Pubertät eine erschreckende Geschichte gesponnen, um irgendwie seinen Frust zu verarbeiten. Ja, mehr ist es nicht.“
Glaub, was du willst. Mir ist egal, ob du dir Gedanken machst oder dieses Buch schnaubend zurück wirfst, wo auch immer du es gerade gefunden hast. Unsere Meinungen haben noch nie eine Rolle gespielt. Wir reden uns nur ein, dass sie wichtig seien, weil dies uns so beigebracht wurde, oder nicht? Doch unsere Meinung stirbt mit uns, und zurück bleibt nur der Eindruck, den die Welt von uns hatte. Wenn du jetzt glaubst, dass es dann wenigstens wichtig sei, dass dieser positiv ist, dann sag mir: Über wen wird öfter geredet? Gandhi oder Hitler?
Vielleicht fange ich einfach mal von vorne an.
Alles begann am 08.09.1975. Davor war ich ein ganz gewöhnlicher achtjähriger Junge, der sich auf dem Weg nach Hause befand. Meine Eltern und ich hatten einen Ausflug gemacht, wobei ich mich nicht genau daran erinnern konnte, was genau wir unternommen hatten. Waren wir essen gewesen? Oder … waren wir am See gewesen? Ich weiß noch, dass wir oft umhergewandert sind, wobei ich mich schon nach den ersten hundert Metern lautstark beschwert hatte, dass meine Füße schmerzten und ob man mich nicht tragen könnte. Mein Vater sah mich dann immer mit einem verschmitzten Lächeln an und sagte mir: „Ein Indianer spürt keinen Schmerz.“
Keine Ahnung, was ich mit dieser Information anfangen sollte.
Ich weiß nur, dass es irgendwo in Wisconsin gewesen sein musste, da ich dort den größten Teil meines kurzen Lebens verbracht hatte. Doch genau, weil ich von meiner Kindheit nur noch sehr wenig wusste, ist es verrückt, wie genau und detailliert ich dafür diesen Moment in meinem Kopf behielt, als wäre es eine Videoaufzeichnung gewesen, die ich mir immer wieder ansehen sollte, um niemals zu vergessen, was geschehen war. Ich zählte die Punkte auf dem Rücksitz und summte eine willkürliche Melodie vor mich hin. Wenn ich mich recht entsinne, zog meine Mutter, Mia Collister, meinen Gurt noch einmal fester, während sie aus dem Augenwinkel das Unwetter beobachtete. Etwas lag an diesem Tag in der Luft, wie eine bedrohliche, dunkle Wolke. Als Kind wusste man zwar nicht so viel wie die Erwachsenen, aber dafür hatte man einen klaren Blick auf die Welt um einen. Mit beiden Händen umklammerte mein Vater wütend das Steuer und sagte Dinge zu meiner Mutter, die für meine noch kindlichen Ohren nicht bestimmt waren. Er musste etwas Verletzendes gesagt haben, sodass sich meine Mutter auf ähnliche Weise verteidigte. Wenn ich nur wüsste, über was sie gestritten hatten. Was meinen Vater Michael dazu brachte, so schnell zu fahren. Die Schatten finsterer Bäume strichen über das Auto und durch das Fenster über mein Gesicht. Die Spannung in diesem Gefährt reizte mich und am liebsten hätte ich einfach nur geweint. Nun brachen die letzten Sekunden an, in denen ich eine intakte Familie haben würde. Mia warf einen vorletzten Blick zu mir. Es war ein Blick, den ich bis heute nicht einordnen konnte. Als hätte sie vielleicht gewusst, dass dies unser letzter Moment sein würde, schickte sie mir eine letzte Botschaft für die Zukunft. Ihre dunkelbraunen Augen waren so tief und eindringlich, dass ich selbst als Achtjähriger stutzig wurde.
„Was ist los, Mama?“, brachte ich hervor und fing an, mit meinen Schuhen den Sitz vor mir zu beschmutzen. Es passte mir gar nicht, dass ich so festgeschnallt sein musste. Auf meine Frage folgte keine Antwort, stattdessen wandte sie sich meinem Vater zu. Leider konnte ich vorerst ihr Gesicht nicht mehr sehen, da ihre nussbraunen Haare es verbargen.
„Michael, versprich mir jetzt, dass du keine halben Sachen mehr machst“, sagte sie zu ihm, mit einem bitteren Unterton.
Immer wieder fragte ich mich, warum sie das gesagt hatte. Geht das überhaupt? Nie halbe Sachen zu machen, sondern immer aufs Ganze zu gehen? Vor allem, ist das überhaupt sinnvoll? Und warum ist mir gerade dieser Satz nie wieder aus dem Sinn gegangen?
Nun machte mein Vater einen fatalen Fehler. Gleich als meine Mutter verstummte, sah er sie an. Er sah sie eindringlich an und vergaß die Außenwelt. Doch die Außenwelt war sehr gefährlich bei diesem Unwetter. Ich nehme es ihm nicht einmal übel oder behaupte, er sei ein schlechter Autofahrer gewesen. In den nächsten zweihundert Metern würde keine Kurve kommen. Doch an dieser Stelle der Straße sackte sie ein wenig ab und dort sammelte sich ein kleiner Wassersee. Ich schätze, du hast schon geahnt, dass so etwas passieren würde. Es passiert ständig, nur denken wir lieber nicht daran, wenn wir uns in ein Auto setzen, weil wir sonst wahnsinnig vor Angst werden würden. Es kam also, wie es kommen musste.
Wie ein Luftkissen wurde das Auto minimal angehoben und drehte sich ein wenig nach rechts. Da sich das Auto schon in der Beschleunigung befand, rutschte es seitlich nach wie vor in dieselbe Richtung, in die wir gerade eben noch gefahren waren. Instinktiv versuchte mein Vater, das Auto wieder gerade zu lenken, doch die Räder schwammen weiterhin auf dem Wasser. Ab da wurde es erst richtig prekär. Die schief stehenden Räder bekamen wieder Grip und nun wurde der Wagen ruckartig nach links gezogen. In meinen Erinnerungen spüre ich die Fliehkräfte noch heute auf meinem Körper. Jeder, der schon einmal einen Unfall hatte, weiß, wovon ich spreche. Wie einem der Gurt in die Kehle drückt und man darauf wartet, dass alles wieder in Ordnung wird.
Man denkt: „Gleich bekomme ich alles wieder unter Kontrolle. Ja, ich gleiche das wieder aus und schon fahren wir wieder ganz normal weiter als wäre nichts gewesen. Es war knapp, aber das war es auch schon. Unfälle passieren zwar, aber mir nicht. So etwas gibt es nicht in meinem Leben. Genauso wenig wie es Krebs in mir gibt, oder dass meine Frau eine Affäre hat. Nein, sowas hört man nur von anderen. Es wird wieder in Ordnung sein. Es muss wieder in Ordnung werden. Meine eigene Weltordnung hängt davon ab!“
In den schlechten Fällen wird aber nicht mehr alles … „in Ordnung“. Noch ein letztes Mal wandte sich meine Mutter mir zu oder … vielleicht wurde sie auch nur in meine Richtung gedrückt. Ihre Augen waren mit dem Wissen gefüllt, dass es nun gleich sehr wehtun würde. Die Angst vor dem kommenden Schmerz. Immer noch herumwirbelnd näherte sich der Wagen einem Baum und schließlich schlug er frontal gegen ihn.
Wieder ein Zufall. Er hätte auch seitlich einschlagen können, dann hätte ich es nicht überlebt. Doch ich sollte leben. Meine Geschichte war an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Das Auto umschlang den Baum, als wären sie gute Freunde. Metall wurde verdammt biegsam bei diesen Geschwindigkeiten. Es dehnte sich auseinander und weitete den Abstand zwischen meinen Eltern. Gleichzeitig verengte sich der Fußraum und zerquetschte ihnen die Beine. Ich selber wurde wie sie in den Gurt gedrückt, sodass all die Luft aus meinen Lungen heraus gepresst wurde. Selbst die Airbags konnten nur milde etwas nachhelfen, da die komplette vordere Hälfte des Autos sich um den Baum schlang und meine Eltern an ihm zerschellten. Ihnen wurden mit Sicherheit alle Knochen gebrochen oder vielleicht ist der bessere Ausdruck sogar „zerdrückt“.
Dank meiner verschwommenen Sinne bekam ich das nicht richtig mit. Dafür ging es einfach zu schnell. Die Sicht wurde mir zum Glück dann auch abgeschnitten, als sich das Dach herunter bog und auf meine Oberschenkel drückte. Um ein Haar hätte es sie gebrochen und mit ein bisschen mehr Wucht sogar abgetrennt. Dann würde ich heute im Rollstuhl umherfahren. Doch ich hatte Glück im Unglück. Mir brachen lediglich zwei Rippen, die schließlich später wieder heilen konnten. Ansonsten hatte ich noch einige Verstauchungen, Prellungen und etliche Schürfwunden davongetragen. Rückblickend wäre ich vielleicht auch gestorben, wenn meine Mutter den Gurt vorher nicht festgezogen hätte. So war er sofort auf Spannung. Der Lärm verstummte, bis nur noch der plätschernde Regen zu hören war.
In den ersten Minuten konnte ich gar nicht begreifen, was geschehen war. Stumm hockte ich verrenkt und eingeklemmt in den Trümmerresten und wollte nur, dass der Schmerz endlich nachließ. Das Unwetter peitschte um mich herum und kühlte meinen blutigen Körper ab, bis er taub wurde.
Nach einer Zeit hielten die ersten Autos am Seitenstreifen an und neugierige Menschen kamen auf mich zu und fragten mich, ob es mir gut ginge. Was für eine blöde Frage. Einer von ihnen beschloss, zur nächsten Notrufstation zu fahren, um Hilfe zu rufen. Eine ältere Dame legte mir eine Wolldecke über die Schultern und versicherte mir, dass alles gut werden würde. Mir ist klar dass sie mir nur helfen wollte, aber in diesem Moment machte sie es nur noch schlimmer.
„Sehen Sie denn nicht das Blut meiner Eltern?“, dachte ich tief in mir drin, „Helfen Sie ihnen doch!“
Nun folgten die längsten und traurigsten Minuten meines bisherigen Lebens. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rief ich nach meinen Eltern: „Mama! Papa!“
Doch sie antworteten nicht.
Ich versuchte es immer wieder und selbst die Männer und Frauen, die sich um mich versammelt hatten und sich immer wieder erkundigten, ob ich schlimme Schmerzen hatte und ob sie irgendwas tun könnten, fingen an zu weinen.
„Papa … Mama?“
Jedes Wort kam nur mit Mühe aus meinen schmerzenden Lungen. Obwohl der Regen sehr laut war, wie er auf die metallenen Überreste einprasselte, war die Stille in dieser Luft kaum erträglich.
Warum hilft ihnen denn keiner?
Es war eine traurige Nacht des Leidens. Mein Leben wurde, wie das Auto, zerquetscht und zurück blieb ein kleines, von innen zerstörtes Kind. Ich fühlte mich so leblos.
Jedes Mal, wenn ich nach meinen Eltern rief und sie meine Rufe nicht erhörten, starb ein kleiner Teil von mir. Mein Verstummen setze erst dann ein, als alles in mir mit Nichts gefüllt war.
Die Feuerwehr schnitt mich dann aus dem Fahrzeug und der Notarzt brachte mich so schnell wie nur möglich in die nächste Intensivstation.
Wieder erinnere ich mich so präzise, wie leer ich mich gefühlt hatte, als ich erkannt hatte, dass auch sie die blutigen Körper meiner Eltern ignorierten. Für sie gab es keine Hoffnung mehr …
Bevor die Türen des Krankenwagens geschlossen wurden, erkannte ich, dass eine Hand aus dem, was mal unser Auto war, ragte. Ich glaube, es war die meiner Mutter. Als würde sie mir zum Abschied winken …
Meine Eltern sind in dieser Nacht gestorben.
Als ich im Krankenwagen an mir herab blickte, erkannte ich, dass, obwohl mein Zustand nicht sehr kritisch war, kaum eine Stelle an mir nicht blutig war. Doch es tat gar nicht weh. Vermutlich hatten sie mir ein starkes Schmerzmittel gegeben. Ich wurde schrecklich müde und die Welt um mich herum verschwamm, als hätte man sie in ein großes Becken voll mit Wasser geworfen. Zuletzt hörte ich nur noch das Heulen der Sirene, bis auch diese immer leiser wurde und somit auch mein letzter Sinn verschwand.
Die darauf folgenden Tage sollte ich als Geist verbringen. Ich wollte nichts mehr sagen, nichts mehr essen und vor allem nichts mehr denken. Ich wollte nicht mehr leben. Es gab keine Seele mehr. Keinen Geist, der meinen Charakter zeigte. Die Antworten von mir kamen plump und ohne Ton. Wenn ich in mich gehe, würde ich sagen, ich war tot, oder zumindest wünschte ich mir das. Irgendwie wünsche ich mir das bis heute noch.
Ich musste mit vielen Männern reden. Sie sagten mir, dass sie mir helfen und dafür sorgen werden, dass es mir besser geht. Es interessierte niemanden, dass ich keine Hilfe wollte. Was ich wollte, war Ruhe und Zeit für mich. Ich wollte alleine sein, doch war es nie. Selbst in der Nacht schlief ich, angestöpselt an einem wie ein Mobilée über mir baumelnden Tropf, zusammen mit drei anderen Patienten in meinem Zimmer. Gelöchert von den vielen Fragen erstickte ich fast in meiner eigenen Depression. Nur mit Mühe gelang es mir, eine Unterhaltung zu führen. Diese Männer waren der Meinung, sie könnten mein Leiden mit Pillen wegfüttern, doch diese verschlimmerten zunächst sogar noch alles. Eines Nachts, als ich von einem Schmerzensschrei meines Zimmergenossen aus dem Schlaf gerissen wurde und eine weitere Depressionsattacke mich wie ein böser Dämon überfiel, hatte ich beschlossen, nun endlich all dem ein Ende zu bereiten. Auch einem Achtjährigen ist klar, dass man sterben konnte, wenn einem nur lange genug die Luft wegbliebe, doch dass man dieses nicht durch bloßes Luftanhalten erzwingen konnte. Ich hatte aber mal einen Westernstreifen gesehen, da wurden zwei Männer getötet, indem man sie erhängte. Der Tod dauerte so grausam lange, dass ich davon wochenlang Albträume bekommen hatte, doch nun war jede Angst verschwunden. Ruhig und gelassen drehte ich mir aus meiner Bettdecke einen Strick und legte diesen dann lautlos über meinen Kopf. Das andere Ende knotete ich mehrmals um den Bettpfosten und so ließ ich mich dann einfach aus dem Bett gleiten. Mein Körpergewicht wurde von meiner Kehle getragen und eigentlich musste ich nur aufstehen, um wieder Luft holen zu können, doch das würde ich um nichts in der Welt tun. So hockte ich mit dem Hintern knapp über dem Boden schwebend, wie auf einem unsichtbaren Stuhl. Der Druck in meinen Augen wurde so groß, dass ich dachte, sie würden jeden Moment zerplatzen. Dann fingen meine Ohren an, zu sausen und auch meine Fähigkeit, zu sehen wurde beeinträchtigt. Es sah aus, als würden kleine Sterne vor mir tanzen, aber nicht, wie in einem Cartoon, sondern wie Sterne am Nachthimmel aussehen. Es wurde also zunächst nicht alles immer dunkler, wie man es sich vielleicht vorstellen mochte, sondern es wurde immer heller und heller. Mit dem tanzenden Licht schwand langsam jeder klare Gedanke. Einem ist gar nicht richtig bewusst, ab wann man wirklich weggetreten ist.
Ich kam erst wieder zu mir, als jemand stark an meinen Schultern rüttelte. Der Strick war schon von meinem Hals entfernt und ich hockte nicht mehr in der Luft, sondern lag wieder auf meinem Bett, als wäre das Ganze nur ein Traum gewesen. Eine Krankenschwester blickte mich mit einem besorgten, käseweißen Gesicht an und hinter ihr sah ich die drei Patienten, die nun um mich herum standen. Ich vermute, dass einer von ihnen nach Hilfe gerufen hatte. Von da an wurde noch viel mehr auf mich aufgepasst. Ich wurde nie aus den Augen gelassen, selbst beim Pinkeln stand jemand neben mir, wobei dieser wenigstens so höflich war, kurz wegzusehen. Mein Leben, wenn man das überhaupt noch Leben nennen konnte, kam mir so träge und unbeschreiblich schwer vor, dass ich vermutete, mein Kopf würde sich bald von alleine abschalten, weil dieser einfach nichts mehr ertragen konnte. Bitte lasst mich doch einfach sterben! Warum zwingt ihr mich zu leben? Wer gibt euch dieses Recht?
Doch dann, in einer der gefühlt tausenden Sitzungen, die ich hatte, wurde mir ein Glas mit Wasser bereitgestellt, falls ich Durst bekommen sollte. Zuerst ignorierte ich es, doch dann trafen Sonnenstrahlen in einem steilen Winkel auf dieses Glas und warfen somit verschiedene regenbogenartige Muster auf den Tisch. Diese bunten Linien waren so wunderschön, dass sie ein unbeschreiblich wohliges und sicheres Gefühl in mir auslösten. Sie waren auf ihre Weise tröstend.
Endlich schwieg der Mann, der mir sonst immer diese vielen Fragen stellte, und beobachtete mich in Ruhe, wie ich das Glas drehte und dabei lächelte. Ein Tanz aus Sonnenlinien. Es waren plötzlich Farben da, die eigentlich gar nicht dort sein durften. Woher kamen sie?
„Fühlst du dich besser als sonst?“
Zum ersten Mal konnte ich ihm ohne Zwang antworten: „Ja.“
Rückblickend bin ich mir nicht sicher, warum dieser Tanz aus Sonnenlinien für mich so tröstend war. Ich selbst erkläre mir diese sonderbare Heilung damit, dass mein Gehirn in eine Art „Not-Modus“ umgeschaltet war. Menschen, die über einen langen Zeitraum depressiv sind, neigen dazu, krank zu werden und in den schlimmsten Fällen sogar daran zu sterben. Vielleicht wollte mein junger Körper einfach nur leben und hatte somit der Depression von selbst ein Ende gesetzt.
Vielleicht hatten sie aber auch nur endlich die richtigen Medikamente für mich gefunden.
Ein Jahr später wurde ohne mich beschlossen, dass der Bruder meines Vaters mich großziehen sollte, da er der einzige Verwandte war, der in Wisconsin lebte. Die Familienangehörigen mütterlicherseits wohnten alle in Kalifornien, was so ziemlich am anderen Ende der USA liegt.
Die Eltern väterlicherseits wohnten in Europa. Niederlande, soweit ich weiß. Also kamen die auch nicht in Frage. Der Bruder meines Vaters hieß Daniel Collister. Er war ein Säufer und spielsüchtig obendrein. Er war anders als mein Vater. Während das Aussehen meines Vaters liebevoll wirkte, hatte Daniel die Statur eines Kriegers. Breite Schultern, muskulöser Nacken, Brust, Rücken und Bauch.Starke Gesichtszüge und ein brauner Schnauzer, in den sich immer ein paar Krümelchen verirrten. Seinen Kopf hatte er kahl rasiert und seine riesigen Hände waren Werkzeuge des Schmerzes.
Anfangs kamen wir ganz gut miteinander aus, doch nach den ersten Monaten merkte ich, wie sehr er mich hasste. Vielleicht hasste er sich aber auch nur selbst und ließ das an mir aus. Zumindest vermutete ich dies die meiste Zeit. Es brauchte lange, bis ich verstand, woher der Hass wirklich kam.
Eine der schlimmsten Erinnerungen an ihn ist ein Tag, an dem ich zu spät zur Schule gekommen wäre und er mich deshalb fahren wollte. Der Unfall meiner Eltern war erst knapp über ein Jahr her und ich wollte bis dahin in kein Auto steigen. Nein, ich konnte nicht in ein Auto steigen. Die Angst davor war so groß, dass ich bei dem Gedanken ganz blass wurde und die Übelkeit mich übermannte. Es war wie ein Peitschenschlag. Lieber würde ich mich mit Honig eingeschmiert in einen Ameisenhaufen setzen.
„Nun steig schon ein!“, brüllte Daniel mich an.
„Ich kann nicht.“
Mit Tränen in den Augen stand ich vor der offenen Autotür im Vorgarten.
„Sam, ich zähle bis drei!“
Er hockte bereits am Steuer und war bereit, den Schlüssel herumzudrehen. Sein finsterer Blick durchbohrte mich.
„Ich kann es einfach nicht!“, winselte ich verzweifelt und krallte mich an meinen Haaren fest.
„Eins!“
Die Zahl drückte mich zu Boden und ließ all meine Gedanken umherschwirren.
„Zwei!“
Jeder einzelne Muskel verkrampfte sich und meine Innereien schienen sich zu verschieben. Verzweifelt heulte ich Tränen.
„Drei! Jetzt wird mir das Ganze zu blöd!“
Tobend vor Wut schnallte er sich zügig ab und stapfte um das Auto herum. Jeder, der von seinen Eltern öfter geschlagen wurde, weiß, was ich damit meine, wenn ich sage: Das Schlimmste ist nicht, geschlagen zu werden. Das Schlimmste ist dieser Moment davor. Wenn die viel größere Kraft … diese blinde, tobende Wut auf einen zukommt. Man selbst weiß zwar, dass man irgendetwas falsch gemacht hat, aber … bitte lieber Gott … ich bin doch noch ein Kind. Egal, ob man seine Eltern liebte oder nicht, wenn dieser um viele Köpfe höher ragender Mensch auf einen zukam, kroch die Panik in einem hoch, als würde man dem Teufel persönlich begegnen. Völlig egal, wie fest man dann geschlagen wird, dieses Prozedere schädigt einen über die Jahre psychisch, und selbst Jahre später, wenn man schon erwachsen und stark geworden ist, schreckt man nachts schweißgebadet auf, weil man genau von diesem Gefühl geträumt hat.
„Ich lass mich doch nicht verarschen, du kleiner Scheißer!“, schimpfte er wütend und packte mich bei den Schultern. Verzweifelt begann ich zu, strampeln und mich in seinem Griff zu winden, doch seine Kraft war viel zu überwältigend.
„Nein“, flehte ich, „Nein, bitte nicht!“
Mit einem Ruck beförderte er mich auf den Beifahrersitz und knallte die Türe zu. Verzweifelt versuchte ich, wieder auszusteigen, doch ich begriff nicht, wie ich diese Türe wieder öffnen konnte. Es gab keinen Griff an der Tür, den ich ziehen konnte und in meiner Panik hatte ich nicht die Geduld, nach der Lösung zu suchen. Wie von Sinnen schlug ich gegen die Fensterscheibe und kreischte vor mich hin.
Daniel hatte sich nun in das Auto gesetzt und schloss auch seine Türe. Nun war ich in diesem Auto gefangen. Mein Kopf schaltete in den Panikmodus, in dem ich verzweifelt um Hilfe schrie. Mit einem festen kurzen Rückhandschlag auf die Backe stellte er mich für eine kurze Zeit ruhig. Verwundert hielt ich mir die brennende Backe. Damals war es die erste Ohrfeige, die ich von ihm bekam. Der Motor heulte auf und zügig fuhr er die Hauptstraße von Jackson, der kleinen Stadt, in der wir lebten, entlang. Panisch bemerkte ich, dass Daniel mich nicht angeschnallt hatte. Völlig schutzlos wurde ich dieser unbändigen Gefahr ausgesetzt. Verzweifelt riss ich an dem Gurt, doch er ließ sich nur kurze Stücke auf mich zu bewegen, bis er stoppte.
„Du stellst dich an, als wärst du das erste Mal in einem Auto“, bemerkte Daniel schadenfroh, aber dennoch auch irgendwie genervt. Mit einer Hand auf meinem Brustkorb drückte er mich auf den Sitz und ließ dann mit der anderen Hand das Steuer los, um mich anzuschnallen. Für ein paar Sekunden war das Auto führerlos und mehr als eine Tonne Metall raste von allein über den Teer, an geschlossenen Supermärkten und anderen kleinen Läden vorbei. Für mich war ein Auto kein Untersatz, mit dem man von A nach B kommt. Für mich war das eine Höllenmaschine. Eine Waffe, mit der man leicht viele Menschen töten könnte, ohne sie dabei berühren zu müssen. Mein Herz schien stehen zu bleiben und es gelang mir kein Atemzug mehr, bis er wieder beide Hände ans Lenkrad gesetzt hatte.
Daniel war schon immer so kaltherzig gewesen. Es mangelte ihm einfach an Feinfühligkeit und Sensibilität.
Einmal hatte ich mich an den Tisch gesetzt und ihm erzählt, dass ich nun einen Freund namens Henry habe und er zu meiner Rechten sitzt. Daniel aß gerade einen Apfel und schälte mit einem Messer Schicht für Schicht herunter. Wie immer tat er so, als würde er mich gar nicht hören.
„Ich hab ihn in der Schule kennengelernt. Er mag Fernsehen, Eishockey und Kartoffelchips. Und wie er Kartoffelchips mag, er isst eigentlich nie etwas anderes. Zuhause hat er einen ganzen Schrank voll damit.“
Nun sah mich Daniel an. Mit einem breiten Lächeln fragte er mich: „Er sitzt genau da?“
Dabei wies er mit seinem Messer auf den leeren Stuhl neben mir.
„Ja, er ist vor langer Zeit weggelaufen und nun wohnt er unter der Brücke im Park. Dort ist sein Geheimversteck. Es ist riesengroß, wie die Höhle von Batman und Robin.“
Immer noch breit lächelnd legte er den angeschnittenen Apfel beiseite und fing an, in die Luft zu fassen.
„Dann packe ich deinen Fledermaus-Freund …“, das letzte Wort sprach er in einem ganz komischen Ton. Offenbar fand er es albern, dass ich mir einen imaginären Freund ausgedacht hatte: „… und steck ihm mein Messer in die Kehle.“
In meiner kindlichen Fantasie konnte ich es fast sehen, wie es wirklich geschah. Henrys Augen starrten geradeaus. Blut quoll aus seinem Mund und aus seinem Nacken, da dort das Messer wieder herausragte. Er zitterte zuerst nur, doch dann sah er mich an und lächelte. Ich denke, er wollte sich nochmal verabschieden, bevor er für mich für immer verschwinden würde.
Vielleicht reagierte ich über oder dramatisierte dann, aber ich weinte um meinen toten Freund. Ich tat dies immer wieder einmal, wenn ich mich alleine fühlte und jedes Mal musste ich dann auch an die Hand meiner Mutter denken, wie sie mir durch den Regen zuwinkte, bevor die Türen vor mir geschlossen wurden. Hatte sich ihre Hand vielleicht wirklich bewegt?
Nie wieder hatte ich es gewagt, mir einen neuen Freund auszudenken. Also blieb ich allein.
In meinem ganzen Leben war ich allein. Es gab nur selten Momente, in denen ich mich mit Daniel verbunden gefühlt habe.
Einer dieser seltenen Momente war kurz vor meinem zwölften Geburtstag. Diesen Tag musste ich alleine Zuhause verbringen und daher schaute ich pausenlos in den Fernseher. Er konnte mich in eine andere Welt entführen und mit ihm fühlte ich mich seltener allein. Es war sogar mehr. Der Fernseher nahm mich aus dieser Welt heraus und gab mir ein neues Leben, sei es nur für ein paar Stunden. Kurz vor ein Uhr in der Früh kam dann Daniel nach Hause. Mit hochrotem Kopf schwankte er auf mich zu und fragte mich: „Du bist noch auf?“
Ich nahm an, es sei eine rhetorische Frage, und antwortete deswegen nicht. Wie viel Bier hatte er dieses Mal wohl vernichtet? Sein Alkoholgenuss ekelte mich an. Schweigend setzte er sich an den Küchentisch und beobachtete mich ausgiebig aus der Ferne. Nach kurzer Zeit ließ ich meinen Blick von ihm ab, um weiter fernzusehen und erst als er eine weitere Frage an mich stellte, sah ich ihn wieder an. „Stellst du dir nicht manchmal die Frage, warum du überhaupt weiterleben solltest?“
Zuerst verärgerte mich diese Frage, doch dann flaute die Wut ab. Es ging nicht darum, was er fragte, sondern eher, wie er diese Frage stellte. Als würde er die Frage auf sich selbst beziehen und das machte mich stutzig. In meinen Augen war Daniel eigentlich immer ein sehr selbstbewusster und selbstsicherer Mensch gewesen. Nie konnte ihn etwas aus der Fassung bringen und stets war er der Meinung, Recht zu haben. Er war richtig, weil er die Welt wie ein offenes Buch vor sich sah und alle anderen Menschen konnten das nicht.
Für eine Weile überlegte ich, was ich ihm nun sagen sollte, doch schließlich entschied ich mich dazu, auch darauf nichts zu antworten. Wenn ich riskiert hätte, dass er sich nur für einen Moment schwach gefühlt hatte, dann würde er es mir am nächsten Tag zurückzahlen, indem er seine Stärke bewies. Das lief meistens so ab, dass er mich wegen jeder Kleinigkeit verprügelte. Etwas Trauriges musste in ihm schlummern, doch was es war, fand ich erst ein paar Jahre später heraus.
In der Schule nahm das Desaster „Mein Leben“ weiter seinen Lauf. Ich lernte ziemlich schnell zwei Gestalten kennen, die in meiner Klasse waren. Der erste war Jacob Coleman. Die Colemans waren eine sehr gepflegte Familie, doch leider schienen sie bei der Erziehung von Jacob irgendwie versagt zu haben. Während seine Eltern erfolgreich in der Berufswelt standen und seine Schwester später noch auf der Universität studierte, interessierte es Jacob nicht einmal, was für Zensuren er hatte. Er tat so, als würde ihm die Welt gehören. Sein von Sommersprossen übersätes Gesicht und sein Überbiss waren mir von Anfang an unsympathisch und dies schien er zu spüren. Zumindest entging er der Langeweile in der Schule, indem er mir das Leben zur Hölle machte. Dies tat er nie alleine, weil er vielleicht wusste, dass ich mich gegen ihn alleine wehren würde. Somit wären wir bei der zweiten Person, Ben Cunningham. Zusammen sahen beide aus wie Brüder. Cunningham war ein ziemlich großgewachsener Junge, der ständig Latzhosen trug. Er wohnte zusammen mit seinem Vater in einer kleinen Holzhütte am Ende unserer Kleinstadt. Anfangs schienen wir uns gut zu verstehen, als die ersten Schultage verstrichen. Wir beide hatten keine Mutter und mussten somit auf den weiblichen Part der Erziehung verzichten. Dazu kam noch, dass Daniel und sein Vater gute Freunde waren und sich am Wochenende immer zusammen mit Bier die Sinne betäuben. Doch irgendwann wendete sich das Blatt. Mal wieder wurde mir mein einziger Freund genommen. Ich bin mir nicht sicher, warum das so gekommen ist, aber nach unserem ersten halben Schuljahr verbrachte Ben nur noch Zeit mit Jacob und nach einem weiteren halben Jahr fingen sie an, mir die Hölle heiß zu machen. Vielleicht gab es auch keinen Grund, dass es so gekommen ist. Vielleicht suchen Mobber ihr Opfer nicht nach einem logischen Muster aus. Manchmal wird eine Person vielleicht erst mit dem Hänseln zum Außenseiter deklariert. Der Betroffene desozialisiert und der Teufelskreis ist geschlossen. Nach einer gewissen Zeit kann man aus diesem System nicht mehr ausbrechen, egal wie sehr man sich wehrt, da die Mehrheit bestimmt, was du bist und nicht du selbst. Zumindest ist das in jungen Jahren noch so. Somit war mein Leben wie zwei Folterkammern, zwischen denen ich immer wieder wechselte. In der Schule gab es Ben und Jacob und zu Hause Daniel.
„Sam, warte. Du weißt, du sollst nicht weglaufen, sonst machst du alles nur noch schlimmer“, rief Jacob hinter mir her und sofort blieb ich wie angewurzelt stehen. Allein ihr Kichern und die Ungewissheit, was nun passieren würde, brachte mein Herz heftig zum Schlagen.
„Na, Sam, wie ist es, der Arsch der ganzen Schule zu sein?“, fragte mich Ben rhetorisch und lachte laut auf. Nun waren sie bei mir. Ich hatte schon geglaubt, den Tag unbeschwert überstanden zu haben, da ich mich schon auf dem Heimweg befunden hatte. Immer wenn die Glocke ertönte, die unseren Unterricht beendete, tat ich so, als würde ich noch länger brauchen, meine Schulsachen einzupacken, damit meine Mitschüler in der Garderobe vor dem Klassenzimmer für ein wildes Getümmel sorgten. Während sie also alle damit beschäftigt waren, Jacken und Schuhe anzuziehen, sprang ich schnell in meine Schuhe mit Klettverschluss und stürmte durch die Menge. So ging ich Jacob und Ben aus dem Weg und es fiel ihnen einige Tage gar nicht auf, dass ich auf dem Weg nach Hause gar nicht mehr zu sehen war. Doch nun hatten sie wohl auch diese Taktik durchschaut …
Ben schlang einen Arm um mich und nahm mich in den Schwitzkasten: „Ich sagte: Wie ist es, der Arsch der Schule zu sein?“
In solchen Momenten fällt mir immer wieder der Spruch meiner Mutter Mia ein. Der letzte Satz den ich von ihr hören sollte, als würde er mein Leben leiten:
„Versprich mir jetzt, dass du keine halben Sachen mehr machst.“
Obwohl der Satz nicht einmal für mich bestimmt war, wusste ich, dass ich ihn auch befolgen musste.
„Einfach nur geil“, keuchte ich hervor und versuchte, mich aus seinem Griff zu lösen.
„Hey, der Kleine will sich wehren“, kicherte Jacob und klopfte seinem kräftigen Freund auf den Rücken. Mit einem Ruck riss mich Ben auf den schmutzigen Boden.
„Ich hoffe, du fühlst dich jetzt besser, Ben“, schimpfte ich und versuchte, mich wieder hochzudrücken, doch das enorme Körpergewicht von Ben erlaubte es mir nicht. Er wog mindestens fünfzehn Kilo mehr als ich.
„Los, wirf den Rucksack her!“, rief Jacob und wedelte mit den Armen.
Ehe ich mich‘s versah, wurde mir mein Rucksack gewaltsam entrissen und flog in hohem Bogen durch die Luft, als wäre er ein Spielball.
Nachdem Jacob ihn geschickt aufgefangen hatte, musterte er ihn, als würde er solch einen Rucksack zum ersten Mal sehen.
„Wollen doch mal sehen, was deine Mami zu essen eingepackt hat.“
Jacob konnte das mit meiner Mutter nicht wissen, doch Ben wusste darüber Bescheid. Selbst für seine Verhältnisse war es nun unangebracht zu lachen, also lächelte er nur, um nicht aus der Rolle zu fallen.
„Gib ihn wieder her, Jacob!“, flehte ich, obwohl ich eigentlich einen Befehl hatte aussprechen wollen.
Ohne auf meine Worte zu reagieren, wühlte er ein paar Schulhefte hervor. Kurzzeitig sah er sie an und ließ eines nach dem anderen fallen.
Mit aller Kraft versuchte ich, mich aufzurichten, doch Ben schlug mir ein paar Mal zwischen die Rippen, sodass ich keuchend wieder zu Boden sackte.
Nun beschleunigte Jacob sein Spiel, indem er meinen Rucksack kopfüber ausleerte, bis jedes einzelne Utensil den Boden fand.
„Ihr miesen Arschlöcher.“
Endlich gelang es mir, ein wenig bedrohlich zu klingen.
Nun erreichte auch der Rucksack den Boden und Jacob wandte sich von uns ab.
Mit dem Blick über die Schulter sagte er noch: „Das reicht. Lass den Schwächling laufen.“
Und mit einem letzten Tritt wurde ich in Ruhe gelassen.
So vergingen die Schuljahre und ich schaffte es nie, meine Peiniger loszuwerden. Wenn ich mich an die Lehrer wandte, hatte ich vielleicht ein oder zwei Wochen Ruhe, doch dann schien es so, als wollten sie ihre verlorene Zeit wieder nachholen.
Mit den Jahren schienen sie auch immer weniger Rücksicht zu nehmen und nur selten versuchte ich, mich ordentlich zu wehren.
In der siebten Klasse traf ich dann auf Grace Havering. Sie war erst vor kurzem in unsere Straße gezogen, als sie dann in meine Klasse kam. Es war für sie nicht leicht, die Neue zu sein und meine Klassenkameraden machten ihr diese Aufgabe noch schwerer. Sie drangsalierten sie, indem sie ihr immer wieder vorhielten, wie peinlich und hässlich sie sei. Vielleicht taten sie das aus Neid, denn ich fand nicht, dass sie hässlich war. Um ehrlich zu sein, fand ich sie wunderschön. Gut, die Wahl ihrer Kleider war schlicht, aber ich gab nicht sehr viel auf eine besondere Garderobe. Das Schönste an ihr waren die nussbraunen Haare und Augen. Manchmal, wenn sie in meiner Nähe war, sog ich ihren Geruch ein, und bekam ein ganz unruhiges Kribbeln in der Magengrube.
Es war verrückt: Im Grunde kannte ich sie doch gar nicht, woher kam dann dieses Interesse? Dieser Drang, mehr über diesen Menschen erfahren zu wollen. Etwas in mir sagte, dass dieser Mensch für mich bestimmt war. Anders als die anderen. Mehr wie ich.
Nachdem sie ein paar Monate in unserer Klasse war, kam sie auf mich zu und fragte nach meinem Namen und wie es mir geht. Es war ungewohnt, sich mit einem Mädchen zu unterhalten. Ich wusste nie wirklich, was ich sagen oder wie ich reagieren sollte. Nach einer Weile beschloss ich, einfach ich selbst zu sein. So funktionierte es am besten. Ihre Zuneigung war ein sehr neues und ungewohntes Gefühl, doch es kam mir bekannt vor, als hätte ich das ganze schon einmal vor langer Zeit erlebt. Ich genoss es sehr.
Zuerst redeten wir nur in der Pause und zwischen den Stunden. Ich erfuhr, dass sie nach Jackson gezogen war, weil ihre Mutter zum zweiten Mal geheiratet hat und ihr neuer Vater hier ein Haus besaß. Sie mochte die Farbe blau und hatte Angst vor Käfern, oder besser gesagt vor jedem Tier, das mehr oder weniger als vier Gliedmaßen besitzt. Sie trank gerne Kaffee, obwohl ihre Mutter das nicht duldete und ich fand, dies passte zu ihr, wegen ihrer braunen Haare und Augen. So nervös, ich am Anfang in ihrer Nähe auch war, nach einer Zeit gewöhnte ich mich an ihre Anwesenheit und wurde ruhiger.
Doch irgendetwas sagte mir, dass sie etwas verbarg. Ein Geheimnis. Nicht, dass sie mich anlog, aber sie zeigte mir nicht ihr wahres Ich, dessen war ich mir sicher. Vielleicht war sie einfach nur besonders schüchtern oder sie brauchte einfach noch ein wenig Zeit, um aus sich herauszukommen. Immerhin erzählte ich ihr auch nicht von meinem Aufenthalt in der Klinik, geschweige denn von meinem fehlgeschlagenen Selbstmordversuch. Ich denke, es gibt auch Geheimnisse, die man tatsächlich nie irgendjemandem erzählen kann. Geschichten, die man mit ins Grab nimmt.
Dennoch, mein Misstrauen vergrößerte sich, als ich die schadenfrohen Blicke meiner Klassenkameraden sah. Vielleicht fanden sie unsere Freundschaft lächerlich, obwohl es mit vierzehn Jahren nichts Ungewöhnliches sein sollte, eine Freundschaft mit einem Mädchen zu führen. Misstrauen oder nicht, wir verbrachten weiterhin Zeit miteinander.
Nach knapp drei Monaten fand ich es enttäuschend, dass zwischen uns immer noch eine kühle Distanz bestand. Hin und wieder fing sie sogar an, sich von mir zu distanzieren und plötzlich von einem Tag auf den anderen gab sie mir wieder mehr Interesse. Ich dachte viel darüber nach, warum sie das tat, aber letztendlich kam ich zu keinem Ergebnis. Irgendwann beschloss ich, alles auf eine Karte zu setzen.
„Keine halben Sachen“
Ich wollte sie fragen, ob sie meine Freundin werden will. Schließlich hatte sie sich dann zu entscheiden. Selbst wenn sie „nein“ wählen würde, dann hätte ich wenigstens Gewissheit.
Anfangs wollte ich es gleich vor der ersten Stunde versuchen, doch ich bekam einfach nicht den nötigen Mut zusammen. Wie genau sollte ich es sagen?
Willst du meine Freundin werden?
Willst du mit mir „gehen“?
Oder sollte ich ihr vielleicht vorher sagen, wie sehr ich sie mag? Erhöhe ich dadurch die Chancen, ein „Ja“ von ihr zu ergattern?
Kurzzeitig dachte ich schon, ich schaffe es gar nicht mehr, sie zu fragen, doch dann kam der Moment.
Es war in der zweiten Pause. Wir beide standen wie immer an unserem Baum im Pausenhof. Hier nahmen wir immer unsere Mahlzeiten ein und irgendwann sah ich sie an und mein Blick musste ihr schon verraten haben, was jetzt folgen würde. Ihr Gesicht wurde ausdruckslos.
„Grace, ich wollte dir etwas sagen.“
Mein Puls beschleunigte sich und jedes Anzeichen machte sich bemerkbar, von denen ich sonst immer nur in Büchern gelesen hatte. Feuchte Handflächen, trockener Mund und das hämmernde Herz in der Brust. Ich erinnere mich noch an das Leuchten in den Augen einer Klassenkameradin. Sie stand nur wenige Meter von uns entfernt und musste meinen Satz mitbekommen haben.
„Ich finde, wir kennen uns jetzt ganz gut …“, fuhr ich fort, „… und du bist mir sehr sympathisch, also dachte ich …“
Meine Stimme verstummte, als ich bemerkte, dass sich mehrere Schüler unserer Klasse sich in der Nähe von uns versammelten. Irgendetwas war da im Busch, dessen war ich mir sicher. Für einen Moment dachte ich sogar, dass Grace kaum merkbar den Kopf schüttelte. Kurzzeitig überlegte ich, ob ich doch kneifen sollte, doch dafür war es nun zu spät.
„Ich wollte dich fragen, ob du meine Freundin werden willst?“
Für einen Moment kehrte Stille ein und Grace fixierte einen Punkt auf dem Boden, um nicht in meine Augen sehen zu müssen. Zuerst dachte ich, sie tat dies aus Verlegenheit, doch dann ordnete ich ihren Blick unter „schuldbewusst“ ein.
Die Stille wurde durch lautes Gelächter unterbrochen. Rasch wurde ein Halbkreis aus unserer Klasse um uns gebildet. Dutzende Finger zeigten auf mich. Ich konnte nicht begreifen, was hier gerade passierte und Grace’ gequältes Gesicht verwirrte mich nur mehr.
Was war denn so lustig?
Ist es so lächerlich, dass ich eine Beziehung wollte? Es ärgerte mich, dass ich einen riesigen Kloß in meinem Hals bekam und mir schwindelig wurde.
Ich wollte meinen Mitschülern nicht die Genugtuung geben, eine verletzte Reaktion zu zeigen. Immerhin stand ich zu meinen Worten und vor allem zu meiner Frage. Das wiehernde Lachen um mich herum ebbte nicht ab und ich dachte schon, ewig so angewurzelt dastehen zu müssen.
Doch dann erlöste mich die Pausenklingel von meiner Blamage und selbst Grace versuchte, schnell zum Klassenzimmer zurückzueilen, um die Konfrontation mit mir zu vermeiden.
Im Unterricht versuchte ich ständig, zu begreifen, was da gerade vorgefallen war. Leider schien die Antwort zu fern zu sein, als könne man sie in 90 Minuten finden.
Später im Gang nahm ich Grace beiseite, um Klarheit zu schaffen. Was hier auch am Laufen war, es musste etwas Großes sein, denn ständig erntete ich schadenfrohe Blicke.
„Grace, was ist hier los?“
Wieder senkte sie ihren Blick: „Sie sagten, sie werden aufhören und mich in Ruhe lassen.“
In meinem Kopf drehte sich ein riesiges Zahlenschloss, das versuchte, alle Informationen wie ein Puzzle zusammenzusetzen.
„Was musst du tun, damit sie dich in Ruhe lassen?“
Meine Stimme hörte sich fremd an, als käme sie von irgendwo anders her. Noch nie hatte sie so frustriert geklungen. Die Situation ließ mich zerbrechen.
„Wenn ich so tu, als ob ich was von dir will. Wenn ich dir entlocke, dass du auf mich stehst.“
Nun gab langsam alles einen Sinn. Es war nicht echt, es war nur Show. Deswegen spürte ich diese Distanz zwischen uns.
„Soll das heißen, du magst mich gar nicht?“, fragte ich mit dem letzten Hauch meiner Stimme.
„Nein … Ich finde dich eigenartig.“
In diesem Moment starb ein Teil in mir. Alles um mich herum war wie weggeblasen, als würde ich alleine im Nichts stehen. Früher hatte ich mich immer unter meiner Decke versteckt, doch gleich als Grace sich von mir abwandte, blieb ich im Gang alleine und verlassen stehen … und weinte. Vor Frustration krallte ich mich in meine Haare und der Moment wurde wie in Stein gemeißelt festgehalten, als weiterhin schadenfrohe Blicke auf mich einschlugen …
Also fassen wir noch einmal zusammen.
Was sollte mich in den letzten neunzehn Jahren das Leben lehren?
Dass Gott ein kleines fieses Wesen ist, das sich am Anblick meiner Hilflosigkeit ergötzt. Ein kleines Kind mit einer Lupe und ich als Ameise.
Ich habe nicht das Gefühl, dass ich lebe, sondern dass ich mich nur von Tag zu Tag schleppe. Der Glaube, dass nach dem Tod meiner Eltern alles irgendwann besser werden würde, war langsam aber sicher zu Tode gesteinigt worden. Ich musste lernen, stark zu sein.
Vielleicht fühlen sich andere jetzt wenigstens besser, wenn sie sich mit mir vergleichen. Ich wünschte, jemand könnte mich aus diesem Leben herausreißen und in ein anderes stecken.