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Das Leben beginnt

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(22.04.1986)

„Sam, wach auf!“

Daniel brüllte von unten und riss mich damit gewaltsam aus dem Schlaf. Letzte Nacht konnte ich nicht besonders gut einschlafen, so wie an jedem Sonntag. Der Gedanke, wieder zur Schule zu gehen, brachte mich förmlich um den Verstand. Ein weiterer Grund, warum ich nicht schlafen konnte, war, dass ich einfach an den Samstagen immer zu lange aufblieb. Nachts hatte ich meine Ruhe und je mehr die Welt um mich herum schlief, desto mehr konnte ich für mich allein sein.

Mir war klar, warum Daniel so wütend war. Er hasste es, mich in die Schule zu prügeln zu müssen, aber war es nicht egal wenn ich zu spät kam? Wenn es nach mir ginge, würde ich nie wieder in die Schule gehen.

„Sam!“, brüllte er erneut.

Allein der Gedanke, beide Beine auf den Boden stellen zu müssen, bereitete mir Anstrengung. Mein ganzer Körper zuckte zusammen, als die Tür kraftvoll aufgetreten wurde und Daniel mit einem hochroten Kopf auf mich zustürmte. Zuerst versuchte ich, mich gegen seine großen Hände zu wehren, doch es war vergebens. Mit einem Ruck schleifte er mich aus dem Bett und schlug mir zweimal mit der flachen Hand ins Gesicht.

„Wenn ich sage ‚Steh auf’, dann hast du aufzustehen!“, brüllte er mich an und zog mich hoch auf die Beine.

Normalerweise schlug er mich nie so schnell wie heute, doch es war nicht das erste Mal. Wie hart es auch klingen mag, mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt. Es gab einfach keinen Grund für Selbstmitleid, da der Schmerz in fünf Minuten wieder vorüber gehen und nur ein leichtes Hitzegefühl auf meiner Wange zurückbleiben würde.

„War das mein Geburtstagsgeschenk?“, fragte ich ihn hasserfüllt und würdigte ihn keines Blickes.

Seine Stimme war nur noch ein Brummen: „Du denkst, ich hab ihn wieder einmal vergessen, nicht wahr? Dein Geschenk ist in der Küche.“

Heute schien einer der seltenen Tage zu sein, an dem mich Daniel positiv beeindruckte. Er hatte wirklich ein Geschenk für mich?

Als er mein Zimmer verließ, war sein Ton wieder drohend: „Und räum endlich diesen Schweinestall auf. In dem Dreck kann doch keiner leben.“

Es ist nicht so, dass ich ein unordentlicher Mensch war. Vor noch zwei Jahren hatte ich mein Zimmer stets sauber gehalten. Mittlerweile mochte ich einfach lieber das Chaos. Die absichtlich schief hängenden Poster von den Rolling Stones und den Beatles, Bruce Springsteen und Elvis Presley, die ich alle aus Zeitschriften heraus geklaut hatte, so wie das die meisten Jugendlichen mal machen. Notizen zu einem eigenen Song, alte Pizzaschachteln, zerdrückte Cola-Dosen lagen wirr verteilt im Raum. Selbst die herumliegenden Klamotten lagen schon so lange an ihren Plätzen, dass sie schon beinahe zur Einrichtung zählten. Alles in diesen vier Wänden, ja sogar die alte, kaputte Lavalampe gehörte einfach zu mir und somit in dieses Zimmer. Wenn das eigene Reich die Seele des Bewohners zeigt, dann war ich innerlich voller Chaos und versteckte das vor keinem.

Immer noch im Halbschlaf zog ich dasselbe Gewand an, wie am vorherigen Tag. Eine ausgewaschene Jeans, die ohne Gürtel nicht halten würde, und ein schlichtes, weißes T-Shirt. Auf dem Weg zum Bad hörte ich Daniels Jazz-Musik aus dem Wohnzimmer. Schon immer hatte er seinen Morgen damit begonnen, sich in seinen alten, hellbraunen Ledersessel zu setzen und sich bei Jazz-Musik sein erstes Glas Whiskey zu gönnen. Vermutlich schwelgte er in Erinnerungen, stellte fest, wie unbedeutend er doch war und schlabberte sich dann mit Alkohol das Leben schöner.

Während ich beim Zähneputzen in den Spiegel sah, stellte ich fest, dass mein Körper zum Glück die Pubertät gut überstanden hatte. Endlich waren all diese lästigen Pickel verschwunden und mein Körper hatte eine feste und männliche Statur angenommen. Doch vor allem hatten sich die vielen Liegestützen ausgezahlt. Seit zwei Jahren hatte ich mir angewöhnt vor dem Schlafengehen so viele Liegestütze wie möglich zu machen. Dadurch gewann mein Körper an Festigkeit. Allerdings halfen sie mir nichts gegen meine Peiniger in der Schule, da ich mich nie ernsthaft zur Wehr setzte. Selbst an die Lehrer brauchte ich mich nicht mehr zu wenden, da diese mich ironischerweise ebenfalls hassten.

Auf dem Weg in die Küche wartete bereits Daniel an der Türschwelle. Wir lebten in einem sehr kleinen Haus. Unsere Wände bestanden aus so dünnem Holz, dass man mühelos ein Loch durch sie hätte schlagen können. Auch wenn mein Zimmer vielleicht das unordentlichste war, viel sauberer waren die restlichen auch wieder nicht. Am schlimmsten jedoch war sowieso unser Vorgarten, der einer trockenen Steppe glich.

Als wollte uns unser Nachbar provozieren, konnte man auch ohne Zaun genau die Grundstücksgrenze erkennen, denn bei ihm spross das hellgrüne Gras exakt auf acht Zentimeter getrimmt aus dem Boden. Auf die neckische Frage, wie es bei uns in der Sahara laufen würde, hatte Daniel vor ein paar Jahren entgegnet: „Wenigstens sieht unser Garten nicht wie ein zu klein geratenes Fußballfeld aus. Los, werfen Sie einen weißen Filzstift rüber. Ich ziehe ihnen die Mittellinien und vielleicht male ich ihnen noch ein schönes Arschloch auf den Rasen. Na, wie wäre das?“

Ja, es gab Tage, da konnte man Daniel schrecklich sympathisch finden.

Nun ging er in die Küche und zeigte über seine Schulter auf den Küchentisch: „Alles Gute zum neunzehnten Geburtstag, du kleiner Scheißer.“

Mir war klar, warum er eine Beleidigung am Ende seines Satzes einbaute: Ohne sie würde er etwas Nettes zu mir sagen, und um ehrlich zu sein, selbst ich würde das eigenartig finden. Auf dem kleinen runden Tisch, der gerade noch so für zwei Personen ausgelegt war, lag eine kleine, goldene Taschenuhr. Sie war eine der älteren Modelle, die man noch auf- und zuklappen konnte. Wortlos nahm ich sie an mich und öffnete sie, um ihr Inneres zu erforschen. Auf der Innenseite war ein kleines Bild von einer bildhübschen Frau.

„Sie hat deinem Vater einmal gehört. Eigentlich wollte ich sie selber behalten, damit ich deine Mia nicht vergesse, aber …“

Er schwieg.

Meine Mutter. So hatte sie also ausgesehen. Nach ihrem Tod hatte ich beschlossen, nichts zu behalten, was mich an meine Eltern erinnern könnte, damit ich diesen grauenhaften Unfall vergesse. Es hatte nicht wirklich funktioniert. Ich wusste noch so ziemlich alles von dieser Nacht. Daniel hat Mia geliebt. Ursprünglich waren sie sogar viele Jahre ein Paar gewesen und hatten schon Pläne gemacht, zu heiraten. Doch dann kam mein Vater Michael ins Spiel. Nachdem er aus Europa zurückgekommen war, verliebte sich meine Mutter in ihn. Nie hatte Daniel dies seinem Bruder verziehen und vielleicht hasste er mich deswegen so sehr. Ich bin mir nicht mehr sicher, wie mein Vater ausgesehen hatte, aber ich glaube, ich sah ihm sehr ähnlich. Daniel gab seinem Bruder die Schuld, dass Mia nicht mehr am Leben war. Schließlich hatte er am Steuer gesessen. Immer wieder fragte ich mich, wie Daniel wohl vor dem Unfall gewesen war, obwohl ich mir diesen Mann nicht freundlich und gelassen vorstellen konnte. Selbst jetzt nicht, obwohl er mir gerade ein schönes Geschenk gemacht hatte.

„Danke. Ist sehr nett von dir“, bedankte ich mich gedämpft.

Eine Weile lang sagten wir beide nichts.

„Du kannst heute mein Auto haben, ich bleibe zuhause.“

Seine Stimme klang frustriert. Früher einmal hätte ich vielleicht nachgefragt, ob alles in Ordnung sei, doch mittlerweile wusste ich, dass ich dann keine vernünftige Antwort zu erwarten brauchte.

„In Ordnung“, gab ich ihm stattdessen zurück und strich an ihm vorbei. Im Hausgang kramte ich den Autoschlüssel aus der Schlüsselschale und öffnete die Haustüre. Bevor ich sie zuwarf, blickte ich noch einmal über die Schulter und sagte: „Wir sehen uns dann heute Abend.“

Wie sollte ich ahnen, dass ich stattdessen einen ganz anderen Weg einschlagen würde. Dies war der letzte Augenblick, an dem ich diesen traurigen und verlassenen Mann sah. Im Nachhinein finde ich es schade. Vielleicht hätte ich ihm noch etwas sagen sollen. Andererseits wüsste ich nicht, was passend gewesen wäre.

Was er wohl mittlerweile von mir halten mag.

Es folgten die schönsten fünfzehn Minuten eines jeden Tages wenn ich das Auto von Daniel bekam. Ich konnte für mich allein sein und dabei die Kraft des Gefährts genießen. Daniels Jeep war zwar nicht der neueste, aber schnurrte nach wie vor wie ein Kätzchen. Als wäre er der Sohn, den er niemals hatte, pflegte er den Truck fürsorglich. Die Radmuttern waren mit genau hundertvierzig Newtonmetern angezogen und jeden Monat wechselte er das Öl, obwohl es bei weitem noch nicht fällig war.

„Solltest du mir das Auto in einen Graben fahren, bekommst du die Schläge deines Lebens. Ich prügele so lange auf dich ein, bis die Bullen mich von dir wegzerren. Darauf hast du mein Wort, Sam“, versprach mir Daniel drohend, als er mir das erste Mal den Jeep lieh, damit ich ins Autokino fahren konnte. Ich fand, um „Die Fliege“ sehen zu dürfen, war es das Risiko wert.

Mit beiden Händen am Steuer konnte man sich seiner Kraft bewusst und eins mit der Straße werden. Ich hatte mittlerweile meine Angst, mit einem Auto zu fahren, gut überwunden. Jedoch war ich mir stets bewusst, dass sich diese Kraft auch gegen mich wenden konnte, sollte mir ein unglücklicher Fehler unterlaufen. Einen weiteren Unfall wollte ich in meinem Leben nicht haben. Mit leicht überhöhter Geschwindigkeit sauste ich die noch leeren Straßen von Jackson entlang. Vorbei am Hickory Lane Park, der außer zwei Fußballtoren, einem Klettergerüst und einer Bank nichts zu bieten hatte. So war unsere Kleinstadt nun mal. Einfach, bescheiden, aber auch friedlich. Stolz wehte die Nationalflagge durch den Ostwind angehaucht in so manchen Vorgärten, als könne man sogar hier den amerikanischen Traum finden, solange man über genügend Mumm verfügte. Nach und nach kamen die Bürger Jacksons aus ihren Häusern gekrochen, streichelten zum Abschied nochmal ihren Hund oder küssten ihre Frau und machten sich auf den Weg zur Arbeit. Dies wie ein stiller Beobachter aus dem Auto zu verfolgen, als würde man gar nicht leben, sondern nur einen Kurzfilm ansehen, gab mir immer das Gefühl, für immer glücklich zu sein, würde ich nur diesen Moment festhalten können. Leider holte mich die Realität spätestens, wenn ich auf dem Schulgelände einparkte, wieder ein.

Ich spürte die Blicke Vieler auf mir, als ich den Wagen absperrte und den Schlüssel in meine Hosentasche steckte. Es dauerte nicht sehr lange, da hatte ich die Verantwortlichen gefunden. Eine kleine Gruppe aus vier Leuten beobachtete mich ausgiebig aus der Ferne. Mir sagten diese Gesichter nicht sehr viel, außer, dass sie eine Klassenstufe unter mir waren. Wieso sahen sie mich so an? Gab es etwas Merkwürdiges an mir? Heimlich tauschten sie Worte untereinander aus, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen.

Auf dem Weg ins Klassenzimmer vermieste sich meine Laune noch mehr. Mit verschränkten Armen warteten Jacob und Ben schon auf mich. Ihr fieses Lächeln verriet mir, dass sie nicht nur „Guten Morgen“ sagen wollten.

„Na Sam, bereit für deine morgendliche Lektion?“, fragte mich Ben rhetorisch.

„Und was soll mich diese Lektion lehren?“, gab ich lässig zurück. Mittlerweile hatte ich festgestellt, dass es besser war, wenn ich mich abschirmte und es für selbstverständlich hinnahm. Allerdings gab ich nie klein bei. Immerhin hatte ich auch noch meinen Stolz und den Vorsatz von meiner Mutter, keine halben Sachen zu machen.

„Darauf musst du schon selber kommen“, kicherte Jacob und umkreiste mich zügig. Von beiden Seiten konnte ich mich nicht verteidigen.

„Also, du weißt wie es läuft“, sagte Ben, „Leg dich auf den Boden.“

Nie im Leben würde ich nur einen Befehl von ihnen annehmen. Heute war sogar einer der Tage, an denen ich mich stärker wehren wollte, auch wenn ich dann vermutlich mehr einstecken musste. Ich bin mir nicht sicher, warum ich das wollte, aber vielleicht lag es an der goldenen Taschenuhr von Daniel. Ich denke, ich wollte gar nicht für mich kämpfen, sondern meiner Mutter zuliebe. Kann man das verstehen?

Gleich, als ich erkannte, dass Ben mich anzugreifen versuchte, kam ich ihm zuvor und riss ihn zu Boden. Dabei schlug ich ihm mehrmals mit meiner Faust zwischen seine Rippen. Ben kniff seine Augen zu und stöhnte vor Schmerz auf. Anstatt sich zu wehren, hob er beide Hände schützend vor sein Gesicht. Jacob stand mit offenem Mund da und war viel zu perplex, um seinem Freund zu helfen.

Weitere Male Schlug ich zwischen Bens Rippen und brüllte ihn dabei an: „Du Wichser, du Schwanzlutscher, du hässlicher Hurensohn!“

Vor meinem inneren Auge flimmerte der Wunsch auf, ihm sein Gesicht einzuschlagen. Am liebsten so sehr, dass er für immer entstellt bleiben würde.

Ich wollte in sein Gesicht schlagen, weil er einmal Nacktschnecken in meine Schuhe gelegt hatte. Ich wollte in sein Gesicht schlagen, für jedes Mal, als sie meinen Schulranzen ausgeleert und danach in die Büsche geworfen hatten, sodass ich erst mal nach ihm suchen musste. Ich wollte ihm ins Gesicht schlagen, für jede Gemeinheit und für jede Körperverletzung. Selbst für die spöttischen Blicke und Bemerkungen. Das Gefühl, das sie mir gaben. Dass ich falsch, peinlich, dumm und schwach sei.

Am liebsten wünschte ich, er wäre tot und am liebsten würde ich das tun! Ich …

Etwas ließ mich augenblicklich zusammenzucken.

Jemand hatte meinen Namen laut und aggressiv gerufen.

„Was ist hier los?“, brüllte Mr. White den Schulflur entlang und bevor ich mich nur irgendwie verteidigen konnte, sprach mir Jacob dazwischen: „Sam ist total ausgeflippt. Er hat Ben aus dem nichts angegriffen!“

„Mr. White … ich … ich …“, stammelte ich los und wurde dann schließlich durch einen festen Griff an meinem Kragen zum Schweigen gebracht. Mr. White war unser Sportlehrer und hatte früher als Soldat im zweiten Weltkrieg gedient. Von allen Lehrern auf dieser Schule wollte ich gerade von ihm als letztes dabei erwischt werden, wie ich einen Mitschüler verprügelte. Immer noch fest in seinem Griff, zog er mich Richtung Lehrerzimmer und hinter mir konnte ich noch das Kichern der beiden vernehmen. Ich wusste, dass ich gar nicht zu versuchen brauchte, meine Lage zu erklären. Mr. White hatte schon immer etwas gegen mich gehabt und diese Ungerechtigkeit machte mich wahnsinnig. Jeder Muskel in mir verkrampfte sich vor Wut.

„Als ich in deinem Alter war, wäre ich von meinem Lehrer verprügelt worden. Leider sind diese Zeiten vorbei, also wirst du dir jetzt eine schöne Moralpredigt anhören müssen.“

Er schubste mich beinahe auf einen der freien Stühle und schloss danach die Türe des Lehrerzimmers.

„Sam. Du weißt, ich kenne Daniel persönlich, deswegen ist mir sehr wohl klar, dass er als Elternteil kaum Genüge tut. Deswegen mangelt es dir an Ehre, Stolz, Disziplin und vor allem mangelt es dir an Respekt …“

In solchen Momenten versuchte ich, einfach abzuschalten und die Zeit vergehen zu lassen.

Ich hasse alles und jeden auf dieser Erde.

„Du heißt Sam, richtig?“

Gerade war ich noch in meinen Gedanken versunken und kauerte an meinem üblichen Baum im Pausenhof, als sich eine fremde Gestalt vor mir aufgebaut hatte. Es war eine der vier Personen, die mich heute Morgen beobachtet hatten, als ich Daniels Jeep abgesperrt hatte. An seiner arroganten und selbstbewussten Art erkannte ich, dass er der Anführer der Gruppe sein musste.

Geduldig wartete er auf eine Antwort, doch nach einer Zeit begriff er, dass ich wohl nie antworten würde.

„Ich hab dich heute Morgen auf dem Parkplatz gesehen.“

Zugegebenermaßen wurde ich schon neugierig, was dieser Junge von mir wollte, doch instinktiv baute sich in mir eine Skepsis auf. Bisher hatte er mich immer ignoriert.

„Mir ist aufgefallen, dass ihr mich beobachtet habt“, gab ich ihm zurück und schaute dabei den Rest von seinem Clan an, der sich ein paar Meter von uns ruhig hielt, aber immer wieder vorsichtig zu uns rüber spähte.

„Ich bin Noah Johnson.“

Zu seiner Vorstellung bot er mir die Hand an, doch ohne sie zu erwidern fragte ich ihn: „Und was willst du von mir, Noah?“

Nun ging er vor mir in die Hocke, damit unsere Augen auf gleicher Höhe waren. Dadurch fiel es mir schwer, seinen Blicken noch auszuweichen.

„Du hasst doch dieses Dorf und diese Schule, oder Sam?“

Seine Augen funkelten mich an.

Gerade noch schaffte ich es, zu nicken, bevor er zügig weitersprach: „Wir, also Aidan, Sofie, Jayden und ich, wollen ein paar Wochen oder sogar länger durch das Land fahren. Uns die Staaten ansehen und jede Menge cooles Zeug erleben.“

Mein verächtliches Schnauben schien ihn zu stören, dabei musste er doch ahnen, wie unvernünftig sich solch ein Plan anhörte.

„Wieso solltet ihr mich denn bei so etwas dabei haben wollen? Und wie habt ihr euch das denn vorgestellt? Für so eine Aktion braucht man Geld.“

Nun fing er an zu lächeln: „Wir brauchen dich als Fahrer, Collister. Ich bin der Einzige, der einen Führerschein hat, und auf weiten Strecken fährt es sich zu zweit leichter. Das Geld treiben wir schon irgendwie auf. Aidans Vater ist ziemlich reich. Er wird uns das Benzin zahlen, aber nicht mehr. Jeder von uns kratzt also all sein Geld zusammen und falls wir keins mehr haben, werden wir halt ein bisschen arbeiten gehen müssen.“

Und ich dachte immer, dass ich verrückt wäre. Was sie da planten, war unvernünftig und gefährlich. Vermutlich würden sie irgendwo als halbverhungerte, obdachlose Landstreicher enden.

„Es tut mir leid, aber ich kann leider dein Angebot nicht annehmen. Ich würde auch die Erlaubnis nicht bekommen“, lehnte ich ab und erhob mich. Kein weiteres Wort wollte ich mir von diesem Verrückten noch anhören, doch leider wurde ich am Oberarm gepackt. Noah hatte sich ebenfalls aufgerichtet und zog mich dicht an sich heran.

Seine Stimme klang nun viel ernster und eindringlicher: „Du brauchst keine Erlaubnis. Wir sagen niemandem Bescheid. Heute in der Nacht werde ich vor deinem Haus halten und du hast bis dahin schon dein Zeug unauffällig gepackt. Am nächsten Morgen werden sie nur noch fünf leere Betten von uns finden.“

Ich versuchte, mich aus seinem Griff zu lösen, doch er zog mich schließlich noch näher zu sich heran. Plötzlich wirkte er gar nicht mehr wie ein naiver Achtzehnjähriger. Er meinte es todernst.

Ruhig flüsterte er weiter: „Auf dieser Schule gibt es viele, die einen Führerschein haben, aber es gibt einen Grund, warum dich gefragt habe, Sam. Du gehörst zu den Menschen, über die sich selbst der Herrgott lustig macht. Jeden Tag gehst du an Grace und ihrem neuen Freund vorbei. Sie scheißt dir sprichwörtlich Tag für Tag auf den Kopf. Bist du es nicht Leid, wie du behandelt wirst? Momentan ändert sich dein Leben ständig und zieht dich einfach mit. Dein Leben hat dich unter Kontrolle. Denkst du nicht, dass es endlich mal Zeit wird, dass DU deinem Leben zeigst, wer hier der Boss ist? Sei ein Mann und nimm dein Schicksal selber in die Hand. Das wird nicht nur ein Ausflug, sondern der Beginn einer neuen Ära für dich. Für uns Alle!“

Nun hatte er mich geködert. Seine Worte ergaben Sinn. Ohne groß darüber nachzudenken, gab ich auf seinen Vortrag murmelnd zurück: „Keine halben Sachen …“

„Keine halben Sachen“, bestätigte er.

Noch einmal dachte ich gründlich darüber nach. Dies war keine Entscheidung darüber, was man zu Abend isst. Ich würde mein Leben auf den Kopf stellen. Mein jetziges Leben würde nicht mehr existieren. Ich würde alles aufgeben, was ich hatte. Aber was genau würde ich verlieren? Einen unfähigen Erziehungsberechtigten? Verständnislose Lehrer? Zwei Feinde, die mich, seit ich zur Schule ging, drangsaliert hatten? Wieso sollte ich an meinem jetzigen Leben festhalten? Noah hatte recht: Ich werde tagtäglich angeschissen.

Aber dennoch hatte ich auch Angst. Es ist schließlich die natürliche Angewohnheit des Menschen, jede Veränderung zu fürchten. Das Unbekannte willkommen zu heißen, erfordert großen Mut und Entschlossenheit.

Ich drückte fest die goldene Uhr in meiner Hosentasche.

„Okay. Ich bin dabei.“

Noahs Augen leuchteten erneut auf, doch dieses Mal vor Freude: „Klasse! Also heute Nacht um ein Uhr in der Früh bin ich bei dir. Nicht früher und nicht später. Du stehst dann schon auf der Straße, damit du einfach schnell rein springen kannst. Den ersten Teil werde ich fahren und nach ein paar Stunden wechseln wir, also sei ausgeschlafen.“

In mir baute sich eine beunruhigende Vorfreude auf.

Nickend wollte ich von ihm ablassen, doch sofort festigte sich sein Griff wieder und zog mich erneut an sich heran: „Eins noch: Erzähle niemandem davon. Hast du verstanden?“

Wieder nickte ich kaum erkennbar und endlich gab er mich frei.

Der restliche Schultag ging an mir vorüber, als hätte es ihn nie geben. Meine Gedanken waren viel zu aufgewühlt, als dass ich mich auf den Unterricht hätte konzentrieren können. Warum sollte ich auch noch zuhören? Wenn wir viele Wochen unentschuldigt fehlten, würden sie uns von dieser Schule suspendieren.

Also wären wir fünf Menschen ohne Abschluss. Zukunftslose würden manche dazu sagen. Immer wieder überlegte ich, ob ich nach der Schule nach Noah suchen sollte, um ihm zu sagen, dass ich doch nicht mitkommen wollte. Die Konsequenzen würde ich dann schon ertragen. Er würde ein wenig zetern, dann versuchen mich noch einmal zu überreden und schließlich jemand anderen fragen.

Hatte ich die richtige Wahl getroffen? Würde mein Leben ab jetzt besser werden, oder versaute ich mir es nun komplett? Am Ende des Unterrichts kam ich zu dem Entschluss, dass ich mich immer noch umbringen konnte, wenn es ab heute noch schlimmer werden würde. Dieser Gedanke beruhigte mich ungemein.

Als ich die Schultüre öffnete und die ersten Sonnenstrahlen meine Haut berührten, fühlte ich mich plötzlich ganz anders. Als wäre ich gerade neu geboren worden. Durch mich strömte eine Energie, die mir sagen sollte, dass ab jetzt endlich alles anders werden würde. Ich wette, so fühlt es sich auch an, wenn man seinen Abschluss gemacht hat und ein letztes Mal den Schulweg nach Hause läuft. Das Gefühl, ein freier Mensch zu sein, begleitet von der Gewissheit, einen gewaltigen Sprung in Richtung Zukunft gemacht zu haben. Nun würde sich alles ändern und das war schön.

Selbst Jacob schien mich nicht aufhalten zu wollen. Er lehnte an einem der Geländer an unserer langen Schultreppe, die runter bis zur Hauptstraße führte. Neben ihm Ben, der sich immer noch seine rechte Rippenpartie festhielt. Ich hatte ihm wohl ganz schön zugesetzt und ich musste gestehen, das gefiel mir so sehr, dass mein Grinsen noch breiter wurde. Während Ben so tat, als habe er mich nicht gesehen, blickte Jacob mich ehrfürchtig an. Solch einen Ausdruck hätte ich nie geglaubt, von ihm jemals zu bekommen. Konnte er es fühlen? Fühlte er, dass wir uns zum letzten Mal sahen? Ab jetzt war ich mir sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Ich fühlte mich mächtig und unfassbar stark, als könne ich noch heute die ganze Welt aus den Angeln heben.

Auf dem Weg zum Auto sah ich noch einmal Noah. Er hockte zusammen mit einem unbekannten Mädchen auf einer Bank im Pausenhof, gerade mal einhundert Meter von mir. Er küsste sie heftig und sie schien verwundert.

Es war ein Abschiedskuss. Dessen war ich mir sicher. Noah gab viel mehr auf als ich. Was war sein Beweggrund? Wollte er einfach ein Abenteuer? Oder lief er vor irgendetwas davon? Ich weiß es bis heute nicht und mittlerweile ist es mir auch egal. Auf den Noah-Clan, zu dem ich nicht gehörte und der somit aus vier Leuten bestand, wartete ein grausames Schicksal, das in dieser Nacht seinen Lauf nehmen würde.

Die Aufregung brachte mich fast um. Mir war klar, dass ich nicht zuhause in meinem Zimmer hocken würde können, um Selbstgespräche zu führen und dabei Musik zu hören. Was ich nun brauchte, war Ablenkung, doch wie sollte ich diese finden? Viele Stunden fuhr ich mit dem Auto quer durch Jackson und sah mir die Landschaft an. In so vielen kleinen Orten steckte eine Erinnerung. Der Spielplatz, auf dem ich mal als kleines Kind verhauen wurde, der Supermarkt, an dem ich mit sechszehn Zigaretten klaute und mir dann „cool“ vorgekommen bin, als ich sie hustend geraucht hatte, und die kleine Kapelle, an der ich gebetet hatte, um mich bei meinen Eltern für mein Verhalten zu entschuldigen. Sie waren sicherlich nicht sehr stolz auf mich, wenn es so etwas wie ein Paradies überhaupt gab. Auf irgendeine Weise würde mir Jackson sicher fehlen, denn den Großteil meines Lebens hatte ich hier verbracht. Dieser Ort hatte mich lange unter Kontrolle gehabt und nun brach ich aus. Wie ein Adlerjunges, das aus dem Nest hüpft, um zu fliegen.

Hoffentlich kann ich auch fliegen.

Als ich nach Hause kam, klebte an der Haustüre ein Zettel:

Hey Sam,

bin was

trinken gegangen.

Räum die Bude auf,

sonst versohle ich dir deinen Arsch.

Manchmal stellte ich mir vor, dass Daniel einfach nur einen ganz speziellen Charme hatte und diese Nachrichten nicht böse, sondern humorvoll gemeint waren. Dass es nur leere Drohungen waren. Dass er zur Tür rein kam, sich gespielt umsah und mit einer übertrieben tiefen, ernsten Stimme sagte: „Na, wie sieht‘s denn hier aus? Da hat sich wohl jemand eine Lektion verdient und diese lautet: Kitzel-Attacke!“ Daraufhin würde er sich auf mich stürzen und miteinander raufen, ohne uns wirklich weh zu tun, so wie das Väter und Söhne nun mal machen. Zumindest kannte ich das so aus dem Fernsehen. Machen das Väter eigentlich wirklich? Vielleicht ein paar …

Na ja, das alles war leider nur ein Wunschgedanke. Jedes Wort, das da stand, war absolut ernst gemeint. Dieses Mal enttäuschte mich seine Nachricht jedoch nicht. Lächelnd stellte ich mir sein Gesicht vor, wie er feststellte, dass ich mich dieses Mal seinen Forderungen widersetzt hatte. Er würde wütend in mein Zimmer stapfen und ein verlassenes Bett vorfinden, sowie Noah es beschrieben hatte. Würde er mich vermissen, wenn ich nicht mehr bei ihm war? Würde er dann verstehen, was er all die Jahre lang falsch gemacht hatte? Schweigend strich ich durch die Räume und betrachtete meine vergangene Zeit. Warum hatte man mir dieses Leben gegeben? Alle Erinnerungen stauchten sich zu einem schwarzen Ball in mir zusammen. Es schien mich fast von innen aufzufressen.

„Je eher ich hier rauskomme, desto eher werde ich leben können“, dachte ich.

Unter „Gutes Leben haben“

versteht jeder Mensch etwas anderes.

Daher wird man dir verschiedene Ideen des Glücks aufzwingen.

Glücklich sein und ein „gutes Leben haben“ wirst du erst dann,

wenn du deine eigene Idee gefunden hast.

Einen Moment dachte ich schon, sie würden nicht auftauchen, doch dann bog ein kleiner, silberner Mercedes um die Ecke und nachdem zweimal schnell hintereinander die Lichthupe betätigt wurde, war ich mir sicher. Mit heruntergelassenem Fenster flüsterte Noah mir über die Straße zu: „Komm schnell. Leg deine Tasche in den Kofferraum.“

Zügig verstaute ich meine Tasche wie befohlen, wobei ich nur schwer Platz zwischen den anderen Gepäckstücken fand und setzte mich auf die Beifahrerseite.

„Darf ich vorstellen? Das ist Sam Collister. Sam, das sind Jayden und Sofie Summers und Aidan Doe.“

Nun hatten alle Gesichter des Noah-Clans einen Namen. Die drei Gestalten auf der Rückbank schienen kein großes Interesse an meiner Person zu haben. Sie wollten mich nicht mit dabei haben. Jayden und Sofie Summers sahen sich durch ihre Verwandtschaft sehr ähnlich und ich schätze, dass Sofie die Ältere von beiden war. Ihre Gesichter hatten beide weiche Gesichtszüge und selbst das Blond ihrer Haare war fast identisch. Auch ihre Augen, die weichen Wangenknochen und ihre allgemeine Körperhaltung sprachen für ihre Verwandtschaft. Jayden machte auf mich einen unreifen Eindruck. Nach meiner Meinung gehört er zu den Menschen, die unsere Welt verschwommen und mit einem hohen Kontrast betrachten. Irgendwann würde er vielleicht einmal aufwachen und erkennen, dass dieses Leben ernster ist, als man zuerst glaubt. Aidan war schwarzhäutig, groß und muskulös. Als wäre er der geborene Basketballspieler. Seinen Kopf hatte er, wie Daniel, kahl rasiert und sein ernster Blick ließ mich vermuten, dass sein Leben ihn schon öfter auf eine harte Probe gestellt hatte. Anders als Sofie und Jayden, war er hier in diesem Auto aus einem ähnlichen Grund wie ich selbst. Wir liefen davon, um alles auf eine Karte zu setzen. Bei den anderen zweien schien der Beweggrund eher aus jugendlichem Leichtsinn zu bestehen.

„Und das Abenteuer beginnt!“, rief Noah begeistert und brachte den Wagen zügig ins Rollen. Bei ihm war ich mir nach wie vor unsicher, warum er sich auf diese Reise machte. Wonach suchte er?

Die ersten Stunden unserer Fahrt vergingen. Wir fuhren durch leichten Nieselregen auf der Landstraße von Wisconsin Richtung Minneapolis. Von dort aus ging es weiter Richtung Süden, bis wir Faribault erreichten. Eine Kleinstadt mit ungefähr fünfzehntausend Einwohnern. Dort würden wir uns ein Motel zum Übernachten suchen. Irgendwie bereute ich es jetzt schon, mich auf diese Sache eingelassen zu haben. Der Clan machte es mir unmöglich, mich in ihre Gruppe zu integrieren. Sie redeten ausgiebig miteinander und meist sprachen sie über Themen, bei denen man Insider-Wissen brauchte. Jayden war sogar so dreist und sprach es einmal direkt an, dass er es besser finden würde, wenn sie nur zu viert verreisen würden. Noah setzte sich zwar kurzzeitig für mich ein und erklärte, dass meine Anwesenheit notwendig sei, aber letztendlich fühlte ich mich ausgeschlossen. Ich fragte mich, ob ich einfach Noah bitten sollte, mich aussteigen zu lassen, damit ich einfach wieder mit dem Bus nach Hause fahren konnte. Ungefähr um fünf Uhr in der Früh wäre ich wieder in Jackson gewesen, hätte meinen Anschiss von Daniel abgeholt und dann zwei Stunden geschlafen, bevor ich mich für die Schule hätte fertig machen müssen. Doch wahrscheinlich hätte mich Noah jetzt nicht mal gehen lassen. Er gehörte zu den Menschen, die, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatten, dies auch durchziehen wollten. Die meiste Zeit lehnte ich also meinen Kopf an das Fenster, beobachtete, wie die dürren Tannenbäume an mir vorbei zogen und lauschte der kleingeistigen Unterhaltung des Noah-Clans.

Na, das kann ja was werden …

Das Motel war das preisgünstigste, das wir auf die Schnelle finden konnten.

Ein grimmiger alter Mann drückte uns die Zimmerschlüssel in die Hand, nachdem wir uns mit falschen Namen eingeschrieben hatten. Um Geld zu sparen, bezahlte Noah für ein kleines Zimmer, das eigentlich nur für zwei Personen gedacht war.

„Dass ihr mir aber nichts kaputt macht oder sonstige Schweinereien“, brummte der alte Mann. Mit der geballter Faust vor dem Mund, fing er an wie wild zu husten.

„Natürlich nicht, Sir. Wir sind anständige Gäste und hinterlassen das Zimmer so, wie wir es vorgefunden haben“, sagte Noah höflich und steckte den Zimmerschlüssel in die Tasche.

„Mir ist scheißegal, was ihr in dem Zimmer macht, was kaputt geht, wird bezahlt!“

Er wollte sich schon von uns abwenden, als ihm plötzlich noch etwas einfiel: „Und wehe, ihr schlachtet ein lebendes Schwein.“

Die Drohung war nicht als Scherz gedacht.

Erst als er unsere geschockten Blicke wahrnahm ‒ die Summers bekamen ihre Münder nicht mehr zu ‒ ergänzte er: „Hier waren mal so scheiß Satanisten. Das Schwein war vermutlich eine Opfergabe oder so. Musste dann alles selber sauber machen und der Gestank ging wochenlang nicht mehr raus. Habt ihr schon mal an einem toten Schweinekadaver gerochen? Gott im Himmel, das ist wahrhaftig kein schöner Geruch.“

Es schien mir überflüssig zu erwähnen, dass ich nun begriffen hatte, warum die Zimmer hier so billig waren.

Unser Apartment war die letzte Türe und somit am weitesten von der Rezeption entfernt. In diesen vier Wänden sollte nun mein Schicksal eine völlige Wendung nehmen. Unser aller Schicksal, wenn man es genau betrachtet. Mit nassen Haaren standen wir eng nebeneinander gedrängt in unserem kleinen, neuen Reich.

„Okay, wir schlafen zusammen auf dem Bett und du, Sam, schläfst auf dem Sofa“, bestimmte Noah, ohne mich zu fragen, ob ich einverstanden war. Das Sofa war unglaublich klein und glich eher einem Sessel für zwei Personen. Eine Nacht darauf zu verbringen schien mir unmöglich, aber die anderen mussten sich zu viert ein Bett teilen, das eine Breite von eineinhalb Metern hatte. Also würde für uns alle die Nacht nicht angenehm werden. Dennoch fand ich es erneut enttäuschend, dass ich wieder einmal ausgeschlossen wurde. Vielleicht war ich auch nur durch die Müdigkeit empfindlich geworden.

Ohne einen Mucks von mir zu geben, beobachtete ich die Vier, wie sie zusammen funktionierten. Als hätten sie ihr ganzes Leben miteinander verbracht, waren sie zu einer Einheit zusammengeschmolzen. Es missfiel mir, dass Noah Sofie ungewöhnlich nah kam. Schließlich hatte ich ihn gestern noch mit einem anderen Mädchen gesehen. Sofie schien Noahs Aufmerksamkeit sehr zu genießen und ich fragte mich, ob sie über das andere Mädchen Bescheid wusste. Er packte sie an der Taille und zog sie fest an sich und sie reagierte darauf, indem sie kichernd die Arme um seinen Hals schlang.

„Hey Sam, du wurdest doch von Grace verarscht, oder?“, fragte mich Jayden mit einem schadenfrohen Lächeln. Mir war nicht klar, warum es ihm gefiel, alte Wunden aufzureißen.

„Ja“, gab ich plump zurück.

Nun kicherte Jayden, ähnlich wie seine Schwester und ließ sich neben Noah und Sofie aufs Bett nieder. Die beiden waren schon heftig mit Küssen beschäftigt und nutzten das ganze Bett für sich, um sich hingebungsvoll zu streicheln, wobei jede Bewegung mit einem knarzen der alten Bettfedern begleitet wurde.

Das Apartment wirkte sehr alt und hatte wirklich eine Renovierung nötig. Der dunkelgrüne Teppich war an vielen Stellen ausgefranst und schmutzig. Die orange Tapete an den Wänden gab einem zwar ein warmes und geborgenes Gefühl, aber auch die löste sich schon an so manchen Stellen ab.

Aidan hatte sich auf den Boden gesetzt und beobachtete mich schon eine Weile: „Wenn ich du wäre, hätte ich es der Schlampe heimgezahlt.“

Kurzzeitig überlegte ich, was ich darauf sagen sollte. Inwiefern hätte ich es ihr denn heimzahlen können? Hatte sie überhaupt eine Strafe verdient? Immerhin wurde sie von anderen Mitschülern manipuliert.

Ein Klopfen unterbrach meine Gedanken und selbst Noah richtete sich von Sofie auf.

„Hey, jemand zuhause?“, sang eine bezaubernde Stimme von draußen. Zuerst dachte ich, die Stimme hätte nur ich gehört, doch nun stand auch Aidan irritiert auf und starrte auf die Türe. Jayden wies mit einem Kopfnicken darauf hin, dass Noah an die Tür gehen sollte.

Lässig ging er seiner Aufgabe als Anführer nach und öffnete die Türe einen Spalt: „Kann ich dir helfen?“

Sein Ton verriet mir, dass ihm die Person dort draußen gefallen musste. Vielleicht gehörte Noah aber auch zu den Männern, denen allen Menschen imponieren, solange sie keine Y-Chromosomen besaßen.

„Oh durchaus, wir wollen ein bisschen Spaß haben. Ihr habt doch auch gerne Spaß, oder?“

Mir war nicht klar, was mich dazu brachte, aber mein ganzer Körper versetzte sich in Alarmbereitschaft. Noah öffnete die Tür ein wenig weiter und da das Bett genau gegenüber stand, konnten nun auch Jayden und Sofie einen Blick auf die neu erschienene Person gewinnen. Während Jayden plötzlich höchst erfreut wirkte, reagierte Sofie verärgert. Offenbar hatte sie sich erhofft, Noah für sich alleine zu haben. Nur ich und Aidan hatten noch keinen Blick von der Frau erhaschen können.

„Kommt darauf an, was du unter Spaß verstehst.“

Der arrogante Ton von Noah missfiel mir.

„Meiner Erfahrung nach wird es dir nicht so sehr gefallen wie mir, aber ich stelle dir mal mein Baby vor.“

Mit dieser Aussage versetzte sie scheinbar den Raum in völliges Verdutzen. Alle Augen starrten weiterhin auf Noah, als er käseweiß zurück stolperte und sich auf das Bett fallen ließ. Sein eigener Blick ließ dabei die Gestalt von außerhalb nicht aus den Augen. Was hatte er gesehen?

Nun sah ich sie zum ersten Mal. Die weibliche Gestalt betrat den Raum. Ihre linke Hand ruhte auf der Hüfte, während sie mit der anderen einen silbernen Revolver auf ihrer Schulter ablegte. Ihre Ausstrahlung war atemberaubend. In ihr schien eine unglaubliche Macht zu ruhen, mit der sie uns alle in Fetzen reißen hätte können. Niemand konnte den Blick von ihr abwenden und der ganze Raum füllte sich mit ihrer Aura. Sie hatte etwas Finsteres an sich. Niemand brauchte eine gute Menschenkenntnis, um zu erkennen, dass sie zu den unberechenbarsten Menschen zählte. Mit ihrer Waffe, dem Strohhut, der ein bisschen zu großen Bluse und den ausgewaschenen Jeansshorts wirkte sie wie ein Cowgirl.

Lässig richtete sie ihren Revolver auf Noah und lächelte nach wie vor freundlich, als wäre nichts Ungewöhnliches an dieser Situation. Eine weitere Person betrat den Raum. Während ich die Frau auf Anfang zwanzig geschätzt hätte, war diese Person doppelt so alt. Ein kleiner Mann mit Halbglatze und der gleichen finsteren Aura. Im Gegensatz zur Frau wirkte sein Gesicht eingefallen und hässlich. Seine übriggebliebenen Haare waren dünn wie Spinnweben. Sein Auftreten war nicht elegant, lässig und höflich wie bei der Frau, sondern ungehobelt und fast tollpatschig. Während er seine Latzhose zurechtzog, musterte er uns. Die ängstlichen Gesichter schienen ihm Freude zu bereiten.

„Na, Mason, die Kleine wäre doch was für dich?“, sagte die Frau mit einer festen und sicheren Stimme. Irgendetwas an ihrer Art war faszinierend.

„Oh ja. Genau meine Liga.“

Der Mann, der nun als Mason geoutet war, kratzte sich an seiner Knollnase und fuhr dann fort: „Hab schon ewig nichts mehr zum Ficken bekommen.“

Zwei Menschen wie Tag und Nacht. Bewunderung und Ekel. Grazie und Taktlosigkeit.

Voller Vorfreude klatschte Mason in die Hände und leckte sich mit der Zunge über die Lippen. Nur kurz warf er einen Blick auf Aidan und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder Sofie zu.

„Und schau, für Conner ist auch noch was da.“

Die Frau lächelte Aidan freundlich an, ohne dabei mit der Waffe von Noah abzulassen.

„Ja stimmt. William, schau mal, was hier für dich ist!“, rief sie über die Schulter.

„Ja, genau. Schwing deinen Arsch hier her. Heute ist wieder ein Glückstag!“

Begleitet von Masons krächzendem Lachen betrat ein weiterer Mann den Raum. Seine Statur war groß und schlank. Er machte zwar nicht den kräftigsten Eindruck, aber trotzdem war er sportlich und wirkte im Vergleich zu den anderen beiden am normalsten. Sein Blick fühlte sich mit Trauer und Wut, als er Aidan anblickte.

„Wahrhaftig ein Glückstag.“

Eine tiefe und männliche Stimme sprach diese Worte aus, wie ein Dichter es getan hätte. Es fiel mir schwer, mit den neuen Gegebenheiten umzugehen. Dieser Raum war einfach nicht für so viele Menschen geschaffen.

Mason trat zügig um das Bett und griff nach Sofies Handgelenk.

„Lass sie los!“, brüllte Noah, als wäre es ein innerer Reflex, der ihn dazu trieb und versuchte Masons Griff von ihr zu lösen, doch dieser lächelte nur und spuckte die nächsten Worte förmlich in sein Gesicht: „Sag gute Nacht, Arschloch.“

Ein lauter Knall ließ mich zusammenfahren. Für eine zehntel Sekunde konnte man erkennen, wer zu wem gehörte. Alle, die nicht einmal mit der Wimper gezuckt hatten, gehörten zu den Neuankömmlingen, und alle, die vor Schreck erstarrten, zum Noah-Clan. In dem Moment, als dieser Knall ertönte, wurde Noahs Kopf zur Seite gerissen und die Wand hinter ihm verfärbte sich explosionsartig zu grellem Rot. Das restliche Blut verteilte sich auf dem Bett und in den Gesichtern der Geschwister Summers. Noahs Haltung wurde schlaff, als würde seine Seele davon schweben und seinen leeren Körper als Hülle zurücklassen. Leblos klatschte er auf das Bett. Sofie kreischte zugleich heiser auf und versuchte, die kleinen Gehirnstückchen von ihrer Hose zu kratzen, während Jayden reglos vor sich hin starrte, als könne er nicht begreifen, was er da gerade gesehen hatte. Aidan machte Anstalten, sich aufzurichten, um vielleicht zu fliehen, doch der sportliche Mann an der Tür brachte ihn wieder dazu sich zu setzen, indem er ihm mit einem Doppelklingenmesser drohte, das er nach dem Schuss gezückt haben musste.

Mein Gefühl wollte mir sagen, dass Noahs Tod nicht echt sei.

Es zwang mich, an Filme, Bilder oder sonstige Momente, in denen ich einen Menschen sterben gesehen hatte, zu denken und damit einen Vergleich zu ziehen, um mich damit zu beruhigen: Das war nicht echt, das passierte hier nicht wirklich. Gleich würde ein Publikum hinter den dünnen Wänden des Motels applaudieren. Alle Darsteller samt mir würden sich verbeugen und auch Noah würde aufspringen und breit grinsend der tobenden Menge winken, immer noch mit dem blutigen Loch in seinem Kopf. Keine Sorge, das war alles nur Show. Alles gesichert, mit doppeltem Boden ausgestattet. Nichts von alledem war echt gewesen. Es ist alles in bester Ordnung …

Doch es war echt und das versuchte ich, in meinem Kopf klarzustellen: Was hier gerade passiert war, war echt. Noah Johnson hatte gerade einen Kopfschuss bekommen und somit sein Leben in diesem Motel gelassen. Ich war Zeuge eines Mordes geworden. Sofie wurde nicht der Moment gelassen, die Sache nur auf irgendeine Art und Weise zu verdauen. Mit aller Kraft packte Mason erneut ihr Handgelenk und zog sie mit allen Mitteln in das Badezimmer. Er musste sich nur noch gegen ein bedingtes Widersetzen behaupten, da Sofies Wille nun gebrochen war. Erneut musste William Conner Aidan mit seinem Messer drohen, als dieser kurzzeitig versuchte, Sofie zu helfen. So sehr mich Aidans Heldenmut erstaunte, so schockierend fand ich es, dass Jayden auf das Schreien seiner Schwester kaum reagierte. Seine volle Aufmerksamkeit galt dem rauchenden Revolver. Der Gesichtsausdruck der Frau hatte sich kaum verändert. Es war mehr als nur ein Pokerface. Tief in sich verspürte sie tatsächlich keine Veränderung. Wahrscheinlich war sie selbst kurz vor dem Abdrücken nicht einmal nervös gewesen.

In meinem Leben hatte ich Mädchen immer als kichernd, kreischend und schwatzend erlebt. Sie wirkten immer verspielt, verwirrt und unkontrolliert. Als kämpften sie jeden Tag mit sich selbst und ihren Gedanken. Bei dieser Frau war das anders. Sie hatte ein festes Auftreten und eine machtvolle Körpersprache. Es machte fast den Eindruck, man könnte sie gar nicht aus der Rolle bringen. An solch einer Willensstärke und so einem Selbstbewusstsein hatte ich schon immer gearbeitet. Also war sie an diesem Ziel, an das ich gelangen wollte.

„Wieso lächelst du denn?“, fragte sie mich und warf mich aus meinen Gedanken.

Hatte ich gerade gelächelt?

„Wie heißt du?“

Erneut beeindruckte mich diese feste Stimme, doch gleichzeitig wurde auch meine Angst größer.

„Sam“, brachte ich hervor und versuchte hilflos, ihrem Blick standzuhalten. Mein Herz hämmerte in meiner Brust. Wahrscheinlich würde sie mich bald auch töten.

Doch als ich meinen Namen ausgesprochen hatte, veränderte sich die Stimmung im Raum schlagartig. Niemand sagte mehr ein Wort und die einzigen Laute, die noch ertönten, waren die verzweifelten Schreie von Jaydens Schwester. Aus dem Kontext heraus schloss ich, dass sie gerade sexuell vergewaltigt wurde.

William lächelte die Frau schadenfroh an: „Der Kleine heißt genauso wie du.“

Ihr Name war also auch Sam. Ich entnahm ihrer Mimik, dass unser gemeinsamer Name ihr missfiel.

„Ich hab gefragt, warum du gelächelt hast“, wiederholte sie schroff und legte den Revolver auf ihrer Schulter ab.

Verzweifelt versuchte ich in meinem Kopf wahllose Wörter zu einem Satz zu formen, doch leider wusste ich selbst keine Antwort auf ihre Frage. In meinem Hals bildete sich ein Kloß, der immer größer zu werden schien.

„Gefällt es dir, wenn ich Menschen töte?“

Sie stellte diese Frage nicht rhetorisch, sie wollte wirklich wissen ob dem so war. Für meinen Kopf war das alles viel zu surreal, als könnte ich über so eine Frage nachdenken.

„Ich denke, der Kleine gehört zu den Jungs, die auf Frauen mit Waffen stehen“, sagte William und lachte spöttisch auf.

„Ist das so? Mach ich dich geil, wenn ich Menschen das Hirn rausblase?“

Nun war ihre Stimme rau und tief, als wolle sie mich verführen. Immernoch bekam ich kein Wort über meine Lippen und wieder wusste ich nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte.

„Willst du es mal versuchen? Es ist nicht so schwer, wie es aussieht“, bot mir Sam höflich an, als würde sie mir nur das Schnipsen beibringen wollen.

„Ich …“, brachte ich hervor und verfiel wieder in meine Versteinerung. Während mein Körper regungslos war, rasten die Gedanken in meinem Kopf umher. Nichts gelang mir mehr zu begreifen.

„Komm her. Es wird dir gefallen.“

Vorsichtig ging sie auf mich zu, als würde sie mich sonst wie ein Rehkitz verscheuchen und streckte mir die Hand entgegen. Als sie feststellte, dass ich mich immer noch nicht rührte, griff sie grob nach meinem Oberarm und zog mich auf die Beine. In wenigen Schritten stand ich mit wackeligen Beinen vor Jayden und starrte in seine ängstlichen Augen.

William Conner hatte sich neben Sam gesellt, ohne dabei Aidan aus den Augen zu verlieren und flüsterte ihr zu: „Sam, was hast du vor?“

Anstatt auf die Frage zu reagieren, drückte sie ihren Körper von hinten an mich heran, sodass ich ihre Brüste spüren konnte. Sie nahm meinen Arm wie ein Tennislehrer in die Hand.

„Ich werde dir zeigen, wie es geht.“

Ihre Stimme war so nah an meinem Ohr, dass ich eine Gänsehaut im Nacken bekam. Noch nie war ein Mädchen so dicht an mir gewesen. Behutsam legte sie ihren Revolver in meine Hand und richtete ihn auf Jayden.

Eine gewisse Anspannung baute sich in William auf. Es schien ihm nicht zu gefallen, dass Sam mir ihre Waffe gab. Seine Vorsicht war unbegründet. Nicht einmal im Traum würde ich daran denken, die Waffe gegen die beiden zu richten. Dafür war ich von ihnen viel zu sehr eingeschüchtert. Sam wusste das. Da war ich mir sicher.

„Fass am besten mit beiden Händen …“, riet sie mir und führte meine linke Hand zur Waffe: „… und halte sie gut fest. Der Rückschlag ist beim ersten Mal ein wenig erschreckend.“

„Sam, was zum Teufel machst du da?“, fragte William sie erneut flüsternd.

Aus dem Badezimmer ertönte ein lauterer Schrei von Sofie. Endlich schien Jayden sie wahrzunehmen. Verzweifelt fing er an zu weinen und senkte seinen Blick auf Noahs Leiche. Er konnte es nicht begreifen. Ich war mir sicher, in ihm tobten die Gedanken noch schlimmer als in mir. Vor ein paar Minuten war doch alles noch gut gewesen. Voller gespannter Erwartung hatte der Noah-Clan in die Zukunft geblickt, und was war jetzt?

„Du trägst Wut in dir, hab ich recht?“, fragte mich Sam. Ihr angenehm warmer Atem war so nah an mir.

Sie legte ihren Kopf auf meiner Schulter ab und aus meinem Augenwinkel sah ich ihren Blick.

„Ich möchte, dass du dich auf diese Wut konzentrierst. Die Wut wird dein Katalysator sein, um den nächsten Schritt zu verdauen.“

Was für eine Wut hatte ich? Wen sollte ich hassen? Sollte ich Gott hassen, weil er mir meine Eltern genommen hatte? Sollte ich meine Mitschüler hassen, weil sie mich nicht integrierten oder sogar drangsalierten? Warum sollte ich diese Wut an Jayden auslassen? Er konnte nichts dafür, dass Daniel ein schlechter Vater gewesen war.

„Dein Kopf sagt dir, dass du nicht töten darfst, aber das ist keine Entscheidung, die du selbst getroffen hast. Es wurde dir so beigebracht. Die Menschen brechen andauernd ihre eigenen Regeln. Schon in dem Moment, als du geboren wurdest, wurdest du von dem Virus namens Mensch infiziert. Dieser Virus macht dich arrogant. Wir halten uns für etwas Besseres. Für etwas Großartiges. Soll ich dir sagen, was wir sind?“

Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, wie Aidan den Kopf hob. Anscheinend wollte er die Antwort auch wissen.

„Wir sind Monster.“

Ihre Stimme wurde ganz tief: „Wir sind Abschaum. Die meisten Menschen wollen das nicht wahrhaben, doch ich akzeptiere meine Natur. Ich glaube, du gehörst zu den Menschen, die begreifen, dass man unsere Welt nicht mehr retten kann. Willst du wirklich weiter so vor dich hinleben, in der Hoffnung, du könntest irgendwann glücklich werden? Dein Leben lang hast du dich unterdrücken lassen. Eine Hand wäscht nicht die andere. In unserer Welt pinkeln wir uns gegenseitig ans Bein und wer am meisten pinkelt hat gewonnen.“

Nun konnte ich William Conners Blick auf mir spüren.

„Dein Leben lang wurdest du gefickt, doch jetzt kannst du endlich mal zurückficken“, stimmte er mit Sam ein. Ihre Worte brannten in meinem Herzen, als wäre mein ganzes Leben nur auf diesen Augenblick ausgelegt. Es gab nicht mehr viel zu denken. Letztendlich würde ich auf keinen grünen Zweig mehr kommen. Immerhin stand ich schon da, mit der Waffe in der Hand. Viel Zeit zum Nachdenken würde mir nicht mehr bleiben.

Vielleicht würde mein Leben sogar in den nächsten Minuten enden. Sie konnten mich nicht am Leben lassen. Ich kannte ihre Namen und wäre als Zeuge eine zu große Gefahr. Warum sollte ich nicht abdrücken? Warum sollte ich weiterhin ein guter Mensch sein? Es würde nur ein Zucken mit dem Finger sein und Jayden wäre von diesem Albtraum befreit. Wenn auch nicht durch meine Hand, Jaydens Schicksal war es, heute zu sterben.

Noch ein letztes Mal holte ich tief Luft und ging den Satz meiner Mutter im Kopf durch:

Keine halben Sachen …

Dann drückte ich ab.

Psychokillers

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