Читать книгу Subliminal - Thorsten Oliver Rehm - Страница 5

Оглавление

Vier Jahre zuvor

Ostsee

Geheimnisse. Dunkel sind sie, das liegt ihrem Wesen zugrunde. Manchen wohnt ein schwaches Licht inne, ein Funken Zweck, der die Mittel heiligen soll. Doch welcher Zweck hat dieses Recht – Mittel zu heiligen? Dem Zweck dienen… Er müsse es im Lichte des großen Ziels sehen, das sie verfolgten, und stets die großartige Aufgabe vor Augen haben, die ihre und auch seine Bestimmung sei; er müsse bereit sein, denn ein Neuanfang solchen Ausmaßes erfordere Opfer. Das hatten sie ihm gesagt. Und er hatte es ihnen geglaubt. Sich diesem Feldzug verschrieben, sich ihnen angeschlossen.

Verführung! Das alte Übel! Verführt hatten sie ihn, sonst nichts. Nein, was sie taten, war nicht rechtens, konnte es nicht sein. Ihr Geheimnis war nicht nur dunkel, es war schwarz. Schwarz! Da war kein Funken Licht! Es war eine Mission der Finsternis, und er einer ihrer schwarzen Ritter, ein unheilbringender Todesengel, das war er. Sie alle ritten ins Verderben. Und sie rissen so viele mit! Die Menschen, die nichts davon wussten, bestenfalls Veränderungen wahrnahmen, Veränderungen, die sie aber nicht greifen, nicht benennen, nicht zuordnen konnten.

Entschlossen drehte Leon Muth das Ventil der Tauchflasche auf und überprüfte den Flaschendruck. 200 bar. Die beiden zehn-Liter-Flaschen, zur Doppel-Flasche miteinander verbunden, waren mit je 2000 Liter Pressluft gefüllt. Die insgesamt 4000 Liter würden ihn lange genug versorgen, mindestens so lange, bis er die Sache heute Nacht zu Ende gebracht hatte. Als routinierter Taucher atmete er ruhig und somit verbrauchsarm; bei der moderaten Tiefe würde sein Atemgasvorrat also locker ausreichen. Möglich aber, dass sein Verbrauch heute höher lag, denn er fand einfach nicht zur nötigen inneren Ruhe und konnte sich auch nicht auf den bevorstehenden Tauchgang konzentrieren – seine Gedanken wirbelten doch immerzu wie in einem Strudel durch sein Hirn, um von dort aus dann durch die mit Adrenalin gefüllten Blutbahnen bis zum Herz vorzupreschen. Die Anspannung und sein Puls waren schlicht zu hoch.

Wieder und wieder fragte er sich, ob er allein es verhindern konnte? Er bezweifelte es. Aber er wollte es versuchen, musste es. Sie waren zu weit gegangen, alles war dabei, außer Kontrolle zu geraten; vielleicht war es jetzt schon nicht mehr aufzuhalten… Doch die Chance dazu bestand! Wenn nicht jetzt, dann vielleicht niemals mehr.

Seinen jetzigen Erkenntnissen zufolge würden sie es eines Tages bereuen. Dann aber würde sich keiner mehr für den Zweck interessieren, der am Anfang die Mittel hätte heiligen sollen; keiner würde ihnen verzeihen, nur weil sie einmal geglaubt hatten, Großes, Visionäres, Weltbewegendes zu vollbringen. Dann wäre es zu spät, viel zu spät, ja, aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie die Welt bewegen, allerdings aus ihren Angeln, sie würden die Welt völlig aus dem Gleichgewicht bringen! Aufgrund der neuesten Daten war er selbst zu dieser Schlussfolgerung gekommen, und daraufhin hatte er entschieden, fortan nicht mehr mitzumachen.

Er unterwarf seine Tauchausrüstung einem kritischen Check. Dann begann er, sich in seinen Trockentauchanzug zu zwängen – er war pechschwarz, wie ein Spiegelbild seines Gemütszustands und als wäre er, Leon Muth, Teil eines unterseeischen Todeskommandos, jemand, für den der Tod inzwischen zur Normalität geworden war. Doch er hatte Hoffnung, dass in ihm noch ein Funke war, ein Funke Licht, den er in der Mission, die er bisher pflichtbewusst erfüllt hatte, beim besten Willen nicht mehr entdecken konnte: ein Funke Licht, der ihren Methoden nicht innewohnte, der ihm nun aber die Kraft gab, statt Tod das Leben zu bringen. Wie hatte er mit seinem Wissenschaftler-Ethos nur derart brechen können? Warum nur hatte er das zugelassen? Warum!

Es war einfach nicht richtig, es war gefährlich. Vor allem aber hatten sie nicht das Recht dazu! Sie verhielten sich, als wären sie die Schöpfer dieser Welt, als hätten sie das Universum und alle Lebewesen erschaffen. Als stünde es ihnen zu, die Menschen und ihr Schicksal zu lenken. Größenwahnsinnig waren sie, sonst nichts – und gierig! Die Kontrolle wollten sie haben, tatsächlich aber geriet alles außer Kontrolle! Nein, sie hatten wahrlich nicht das Recht, selbst wenn sie die Mittel dazu hatten. Die Büchse der Pandora hatten sie geöffnet, ja, das hatten sie, die Frage war nun, ob es möglich war, sie wieder zu schließen, und wenn ja, wie.

Wütend spannte er die Flossenbänder um seine Fersen. Dann spuckte er wie bei einem Akt der Verachtung gegen sie alle und gegen sich selbst in die Tauchermaske und verrieb den Speichel. Das kleine Fläschchen mit dem Anti-Beschlag-Mittel war leer, doch die altbewährte Methode, in die Maske zu spucken, tat es auch. Sein Gesicht glühte. War es Aufregung? Wegen des Risikos, das er auf sich nahm? Oder war es vielmehr Erregung, ausgelöst durch seinen Tatendrang, dem ganzen Treiben Einhalt zu gebieten? Das Maskenglas würde sicher beschlagen, trotz des alten biologischen Hausmittels, der Temperaturunterschied zwischen Gesichtshaut und Wassertemperatur war einfach zu groß. Er würde besser zu Beginn des Tauchgangs etwas eisiges Ostseewasser in die Maske strömen lassen und den ganzen Tauchgang über darin belassen – das würde den Unterschied ausgleichen und das Beschlagen der Maske verringern.

Maske, ja, das traf es! Sie alle trugen Masken – Masken gänzlich anderer Art… Maskierte, die die Menschen täuschten. Verborgen operierten sie im Hintergrund, trieben unentdeckt ihr perverses Spiel…

Der Zweck heiligt die Mittel. Diese Lügner!

Geheim agieren, manipulieren, verführen – und dabei entzweien, was zusammengehört; Zwietracht säen, Chaos verursachen – und dabei Ordnung vortäuschen, während sie tatsächlich Gesetzlosigkeit verwirklichten, Gier und ein Streben nach Macht… Das alles traf auf sie und diese Sache zu, das alles waren sie und diese Sache! Es war weder der richtige Weg, noch waren es die richtigen Mittel.

Oder doch? Bekam er einfach nur kalte Füße und seine Emotionen nicht in den Griff? War er überhaupt noch er selbst? Oder hatten sie auch ihn bereits derart beeinflusst, dass er sich selbst nicht mehr trauen konnte? Wer wusste das schon… Die Möglichkeiten waren immens, wer wusste schon, wozu sie sie verwenden würden, ihnen war alles zuzutrauen. Sie hatten sich verrannt in ihrem Wahnsinn, das hatte er inzwischen erkannt.

Dachte er anfangs noch, sie würden Fortschritt bringen, eine bessere Zukunft und das Wohl der Menschheit, so war er sich inzwischen sicher, dass sie unzählige Menschen in den Abgrund rissen, in einen dunklen Abgrund, so dunkel wie das Loch, das sich vor ihm auftat, als in diesem Moment die Schleusentür des geheimen Unterwasser-Forschungslabors zur Seite glitt. Zischend und bedrohlich, als öffne sich ein Tor zur Unterwelt, in die er nun hinabtauchen musste, um das Geheimnis zu schützen, es zu verbergen…

Langsam glitt er hinaus in die nächtliche See.

Das eiskalte Meerwasser schmerzte ihn auf der Stirn, der ungeschützten Gesichtspartie und den Lippen. In wenigen Sekunden schon würde er das Stechen nicht mehr spüren und diese Körperstellen unempfindlich für die Kälte werden. Schwer umhüllte ihn das schwarze Wasser, das ihn empfing, er spürte das Gewicht, den Druck der Wassermassen auf sich lasten. Wahrscheinlich war es nur sein Gewissen, das auf ihm lastete. Doch heute Nacht – jetzt – würde er umkehren und den richtigen Weg einschlagen.

Ob er es wagen konnte, seine Taucherlampe einzuschalten, damit deren Lichtstrahl das schwarze Nichts durchschneiden und ihm den Weg weisen konnte? Nein, besser, er minimierte jetzt jedes zusätzliche Risiko, bemerkt zu werden. Bildete er es sich nur ein, oder zitterten seine Hände? War es die Kälte oder die Angst im Nacken? Mit seinen in unförmigen, kälteisolierenden Handschuhen steckenden Händen knickte er einen kleinen chemischen Leuchtstab in der Mitte ein. Sofort setzte die chemische Reaktion ein, wie ein Glühwürmchen, umgeben von schwarzer Nacht, begann das Stäbchen zu schimmern, verloren im unendlich erscheinenden Nichts. Mehr psychologische Stütze als wirklich den Weg erhellendes Leuchten. Die See war in dieser Nacht so dunkel wie das Geheimnis, das er verbergen wollte. In der Tiefe versenken würde er das Teil, es dem Vergessen anheimgeben, bis die Zeit reif und die Menschheit dafür bereit war; in der Tiefe der See versenken, die sich in solcher Schwärze offenbarte, wie das Geheimnis sich denjenigen offenbaren würde, die es eines Tages bergen würden. Noch hoffte er, dass seine heutige Aktion letztlich eine reine Vorsichtsmaßnahme war und er in wenigen Tagen die Chance bekam, die Dinge geradezurücken. Wenn er wieder auftauchte, würde er diesen Wahnsinn ans Tageslicht bringen, und wenn es das Letzte war, das er tat. Aber für alle Fälle musste er das Teil verbergen. Vorübergehend, es sollte nicht dauerhaft unauffindbar bleiben.

Jetzt ergriff er die Chance und hoffte, dass sein nächtlicher Tauchgang unbemerkt blieb oder zumindest keinen Verdacht weckte – immerhin tauchten sie oft nachts, des Experiments wegen. Im Dunkeln war die Aufmerksamkeit nunmehr geschärft, die Auswirkung der Signale intensiver.

Das Experiment! Die Veränderungen waren offensichtlich, nicht nur bei ihm selbst. Er konnte niemandem trauen. Den anderen Aquanauten im Unterwasser-Habitat schon gar nicht. Würde irgendetwas dazwischenkommen, man ihn durchschauen und aus dem Weg schaffen oder er plötzlich seine Meinung ändern – er wusste ja selbst nicht mehr, was er glauben sollte und was tun – dann wäre das Ding hier gut aufgehoben. So lange, bis er Klarheit darüber haben würde, welche Auswirkungen das Projekt hatte. Und Klarheit über sich, darüber, wofür er wirklich stand. Oder eben so lange, bis die Zeit reif war, um rückblickend zu verstehen. Dann, eines Tages, wenn die Dinge bereits ihren Lauf genommen hatten, schon eine lange Zeit, und wenn die Menschen Antworten suchen und sich Hilfe wünschen würden, dann würde dieses Teil so etwas wie ein Erbe sein, sein Erbe. Ein Vermächtnis, das er ihnen hinterlassen würde.

Um zu erkennen. Um zu verstehen.


Gegenwart

Mallorca

»Was ist nur los mit den Leuten!« Natascha zerrte an den Schultergurten und windete sich wütend aus ihrem Jacket. Energisch fixierte sie ihre Ausrüstung an der Reling und drehte das Flaschenventil zu.

»Beruhige dich!« Sanft legte Jennifer eine Hand auf ihren Oberarm.

»Ach, ist doch wahr!« Nataschas flammender Blick traf die drei Männer, die ihr vor ein paar Minuten den Abschlusstauchgang versaut hatten. Jennifers Gelassenheit machte Natascha nur noch wütender.

»Das ist es doch gar nicht wert. Jetzt komm runter, und nachher an der Basis reden wir mal mit denen. So geht’s nicht, und hier bei uns schon gar nicht, Stammgäste hin oder her… Keine Ahnung, was mit denen los war. So kenne ich die gar nicht, und die kommen schon seit Jahren zu uns.« Jennifer legte die Stirn in Falten.

»Hast ja recht. Aber alles war so perfekt! Und dann das…«

In einem Moment absoluter Entspannung hatte Natascha zehn Minuten zuvor das Sonnenlichtspektakel am Riff genossen. Es war atemberaubend. Wie in einer Lasershow brach das Licht durch türkisblaues Wasser, unzählige Strahlen tanzten dabei über das Riff und verloren sich weiter unten im Blau, als würden sie in einer anderen Welt verschwinden, nachdem sie die Szenerie in ein surreales Reich verzaubert hatten, das Natascha alles um sich herum vergessen ließ. Wie sie diese Momente liebte, wenn sie ganz im Hier und Jetzt eintauchte, eins mit sich, keine Gedanken an das, was gewesen war, keine Sorgen und Ängste um die Zukunft, die Alltagssorgen vergessen und die Probleme für eine kurze Zeit in der Tiefe der See versenkt. Unter Wasser schaltete Natascha ab. Völlig. Tauchen entspannte sie. Immer. Und in Augenblicken wie diesen war Natascha nicht einfach nur entspannt – sie war tiefenentspannt im doppelten Sinne des Wortes »Tiefe«.

Zum Ende des Tauchgangs schwebte Natascha etwa fünf Meter unter der Wasseroberfläche, um vor dem Auftauchen den Sicherheitsstopp zu absolvieren. Die für jene Stopps empfohlenen drei bis fünf Minuten waren längst abgelaufen, aber Jennifer drängte sie nicht, den Tauchgang zu beenden. Wie schön, wenn man den anderen so gut kannte und sich ohne Worte verstand wie sie und Jennifer seit nunmehr zwanzig Jahren. Immer kostete Natascha die letzten Minuten aus, so gut und so lang es eben ging, und die letzten Minuten jenes Tauchgangs, der gleichzeitig der letzte ihres Urlaubs war, erst recht. Wenn möglich, wollte sie als letzte der Gruppe auftauchen, zumal das Licht heute die faszinierende Stimmung hier unten, die Gelöstheit im puren Sein und die Farben von Flora und Fauna so perfekt unterstrich. Wie immer packte sie nochmals jede Emotion und Faszination der Zeit unter Wasser in diesen kurzen Moment, zog nochmals mit jedem Atemzug die Atmosphäre, die Schönheit und das Glück des Augenblickes in sich auf, um dann wie gewohnt, so hatte sie es zumindest vorgehabt, die letzten fünf Meter im Zeitlupentempo nach oben zu tauchen und dabei in die Tiefe zu blicken und sich vom Meer und seinen Bewohnern zu verabschieden. An der Oberfläche angelangt, wollte sie dann ohnehin nach unten schauen, um dieses Gefühl der Glückseligkeit beim Durchbrechen der Wasseroberfläche mit an die Luft zu bringen und es in den grauen Alltag mitzunehmen und zu Hause, so lange es eben ging, von diesen Momenten zu zehren.

Doch daraus war diesmal nichts geworden! Verdorben – nein, gestohlen hatte man ihr diesen Augenblick!

»Wegen dieser drei Ignoranten da drüben… echt ärgerlich!«

»Ich weiß.« Jennifers Stimme strahlte die gewohnte Ruhe aus.

Wo nahm ihre Freundin nur diese Gelassenheit her?! Nicht, dass Jennifer nie wütend war, aber sie hatte sich immer unter Kontrolle und rastete nie aus. Bewundernswert, aber manchmal auch beängstigend, und zwar immer dann, wenn Nataschas Temperament sich mal wieder zügellos den Weg bahnte und alles beherrschte – leider meist auch ihre Zunge. Wie schnell sie aus der Haut fahren konnte, in letzter Zeit jedenfalls… Natascha nahm dieses Aufbrausen überhaupt erst seit Kurzem bei sich wahr. War sie früher auch so schnell auf hundertachtzig gewesen? In letzter Zeit war sie das oft, privat und im Job. Sie hatte ja auch allen Grund dazu, und das schon eine ganze Weile. Nicht zuletzt wegen ihrer zunehmenden Unausgeglichenheit hatte sie sich auf diesen Urlaub so gefreut, darauf, vielleicht hier ihrer inneren Balance wieder ein kleines Stück näherzukommen. Umso ärgerlicher, dass ihr diese Chaoten den schönen Augenblick vorhin verbockt und ihr das ultimative Abschlusserlebnis ihres Urlaubs zunichtegemacht hatten! Eine knappe Woche auf Mallorca war offensichtlich zu wenig…

»Solche Deppen, echt! Was ist bloß in die gefahren! Das gibt’s doch nicht! Unfassbar!« Sie senkte die Stimme, hatte sie doch bereits die Aufmerksamkeit anderer Taucher an Bord auf sich gezogen. Aber ihre Wortwahl hatte sie nicht annähernd im Griff, wieder einmal. Pfeif drauf!

Wie drei Kampftaucher auf Kamikazemission waren die Kerle plötzlich auf sie und Jennifer zugeschwommen und hatten sie fast »über den Haufen getaucht«, mit einer Geschwindigkeit, als wären sie entweder hinter einem Feind her oder auf der Flucht vor ihm. So etwas hatte Natascha in hunderten von Tauchgängen nicht erlebt. Ohne Worte! Als wären sie und Jennifer Luft und gar nicht zu sehen gewesen. Die Situation hatte etwas völlig Unwirkliches und stand dazu noch im krassen Gegensatz zur friedlich-surrealen Stimmung, in der sich die Freundinnen kurz zuvor noch befunden hatten.

Wie im falschen Film. Würde sie diese Typen, deren komplett schwarze Neoprenanzüge das Bild des Kampftauchers unterstrichen, nicht hier und jetzt mit eigenen Augen sehen, wie sie sich friedlich, als wäre nichts gewesen, aus ihrer Ausrüstung pellten, sie würde glauben, sie hätte geträumt und sich die Sache unter Wasser nur eingebildet.

Sie spürte, wie ihre Wut verflog, vielmehr breitete sich plötzlich Erstaunen aus. Was sie nun irritierte, war die Tatsache, dass die drei Männer anscheinend keinen blassen Schimmer hatten, warum und über wen sie sich gerade so aufregte. Denn die drei schauten genauso verdutzt wie die anderen, deren Aufmerksamkeit sie mit ihrer Schimpfattacke auf sich gezogen hatte. Hätten die Kamikazetaucher hämisch gegrinst, sich über ihr übertriebenes Aufbrausen mokiert oder sich hinter Machogehabe versteckt, es hätte ins Bild gepasst. Aber so?

Die drei sahen eigentlich ganz sympathisch aus, als könnten sie keiner Fliege etwas zuleide tun, sie wirkten auf Natascha, als wären sie sich nicht der geringsten Schuld bewusst, ja, als wüssten sie gar nicht, was passiert war. Seltsam. Als wären Jennifer und sie unter Wasser tatsächlich unsichtbar gewesen und als hätten die drei wie Tornados durchs Wasser jagenden Typen sie tatsächlich nicht gesehen… Rücksichtslos bis zum geht nicht mehr, aber ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein? War das möglich?

Was unter Wasser geschehen war, war nicht nur ärgerlich, es war auch gefährlich. Was, wenn sie und Jennifer keine routinierten Taucher gewesen wären und sich durch die Situation plötzlich erschreckt und bedrängt gefühlt hätten? Was, wenn sie Anfänger wären, die in solch einem Moment die Ruhe und deswegen die Kontrolle verloren hätten? Was, wenn sie dann hastig und tief eingeatmet und dadurch unkontrolliert Auftrieb bekommen hätten und viel zu schnell nach oben geschossen wären? Und was, wenn dabei etwas passiert wäre? Unverantwortlich und egoistisch. Ich – Ich – Ich. Dreimal Ich! Überall war Platz, aber sie und Jennifer waren denen im Weg?

Doch Jennifer hatte recht. Sich darüber aufzuregen, lohnte nicht. Sie würde sich den Tag nicht dadurch vermiesen lassen. Mit einem mürrischen Kopfschütteln erklärte sie den Wutanfall für beendet.

Eine Stunde später saß Natascha am großen Tisch auf der Veranda der Tauchbasis. Alle anderen Taucher, die gerade noch dort gesessen hatten, waren zum Mittagessen aufgebrochen. Natascha wollte noch einen Moment die Ruhe genießen, den Vormittag in sich zurückgezogen ausklingen lassen. Sie war gerade dabei, die Daten des Tauchgangs in ihr Logbuch einzutragen, als Jennifer neben sie trat.

»Und? Was haben die Jungs zu ihrer Verteidigung vorgebracht?«, fragte Natascha. Da ist sie wieder, diese Wut! Was ist nur los mit mir?

Nur selten wurde Natascha zornig, und wenn, dann über genau diese Art von Verhalten und dann gleich richtig, sodass die Glut noch lange glomm und, sobald dicke Luft drankam, sofort neu entfachte. Sie musste unbedingt daran arbeiten. So konnte sie sich einen ganzen Tag kaputtmachen, und das passierte ihr in letzter Zeit ständig.

»Nichts. Sie wussten gar nicht, wovon ich spreche.« Jennifer nahm neben Natascha Platz. »Keine Ahnung, was in die gefahren ist. Seltsam, das Ganze. Aber ich habe ihnen deutlich gesagt, dass Frank und ich rücksichtsloses Verhalten unter unseren Gästen nicht dulden.«

Einmal mehr beneidete Natascha Jennifer um deren Ruhe und Ausgeglichenheit. Wo sie die hernahm, war ihr ein Rätsel, erst recht nach dem, was Jennifer und Frank vor fünf Jahren widerfahren war! Manche Menschen wären daran zerbrochen, andere würden nur noch Groll vor sich herschieben, aber Jennifer – sie steckte das alles weg. Ebenso Frank. Aber vielleicht sah es auch nur so aus. Wer wusste schon, wie es in den beiden tatsächlich aussah. Wer kannte sein Gegenüber wirklich? Dennoch wünschte sich Natascha, sie könnte mit der Enttäuschung, die sie erlebt hatte, nur halb so gut umgehen wie ihre treue Freundin mit den damaligen traumatischen Erlebnissen.

»Wir sehen uns heute Abend?« Jennifer wechselte das Thema. »Mike kommt übrigens auch.« Sie zwinkerte Natascha zu. »Natürlich auch der Rest unseres Teams.« Sie schmunzelte. »Passt doch prima, dass unser monatlicher Taucherabend mit deinem letzten Urlaubsabend zusammenfällt. Lass uns richtig Spaß haben! Komm, das tut dir gut. Es wird Zeit, dass du loslässt und so langsam wieder die heitere, starke und selbstbewusste Natascha wirst, die du eigentlich bist. Nicht warst, sondern bist! Vergiss den Kerl doch endlich und fang neu an! Nicht von Null auf Hundert, das verlangt doch keiner, und das solltest du auch nicht von dir verlangen. Aber setz dich in Bewegung und bieg zumindest wieder auf die Straße Richtung etwas Glück ein. Mike könnte dir dabei helfen, er ist echt ein toller Mann. Und dass es zwischen euch gefunkt hat, ist ja wohl nicht zu übersehen.« Wieder zwinkerte Jennifer ihr zu, diesmal noch vergnügter als zuvor.

»Da war nichts!« Natascha spürte die Röte in sich aufsteigen.

»Ich weiß. Das ist ja das Problem.« Jennifer lachte. »Ich muss rein. Um acht, okay?« Sie ließ das unbequeme Thema einfach in der Luft hängen und Natascha mit ihrer Verlegenheit allein am Tisch zurück.

Natascha blickte ihrer Freundin nach. Jennifers Haar reichte ihr inzwischen bis zur Hüfte und war, seit sie auf Mallorca lebte, noch blonder als zuvor. Sie beide waren wirklich so was von unterschiedlich – sowohl optisch als auch vom Wesen her. Eigentlich genaue Gegensätze, und das schon immer, und doch von Beginn an so verbunden, einander so nah. Auch was die Wahl ihrer Männer anging, hätte es sie unterschiedlicher nicht treffen können. Während Jennifer mit Frank einen Fang gemacht hatte, von dem die meisten Frauen träumten – zuverlässig, klug, gebildet, idealistisch, empathisch, charakterstark und dazu noch gutaussehend –, hatte sie nur die herbe Enttäuschung eines sie nach Strich und Faden hintergehenden Taugenichts erfahren müssen. Wie hatte sie damals nur auf ihn hereinfallen können? Der größte Fehler, den sie in ihren dreiundvierzig Lebensjahren zustande gebracht hatte. Und geendet hatte es in einem Fiasko, das sie völlig aus der Bahn geworfen hatte. Einzig ihre gemeinsame Tochter ließ sie rückblickend Sinn in diesen verlorenen Jahren erkennen, ohne den Mistkerl würde es Lea nicht geben, sie war das Beste, das ihr in ihrem ganzen Leben passiert war.

Dieser Mehrklang in der Bewertung ihrer gescheiterten Beziehung war manchmal schwer auszuhalten. Ja, ihre Tochter war ein Geschenk des Himmels! Leider aber war ihr Ex-Mann in diesen himmlischen Plan eingebunden. Warum gerade er, das war die Frage, auf die sie wohl in diesem Leben keine Antwort bekommen würde. Und dass sie es sich vorgenommen hatte, ihre Tochter da nicht mit hineinzuziehen und ihm den Kontakt zu ihr daher regelmäßig ermöglichte, machte es nicht einfacher. Sobald sie ihn aber sah oder hörte, kam alles wieder in ihr hoch, es war dann immer, als fange sie mit der Bewältigung des Ganzen wieder ganz von vorne an. Ein Dilemma, aus dem sie noch keinen Ausweg gefunden hatte.

Lea, ihr Sonnenschein! Wie unbeschreiblich sie ihre Kleine liebte! Sie würde alles für sie tun! Ein Lächeln umspielte Nataschas Lippen als sie nun daran dachte, wie stolz Lea heute Morgen gewesen war, als sie zum ersten Mal in der Kinderbetreuung des Hotels bleiben durfte, damit Mama tauchen gehen konnte! Und wie sehr hatte Natascha mit sich gerungen, ob sie ihre Tochter wirklich für ein paar Stunden dort anmelden sollte. Aber als Lea so glücklich über die ihr zugetraute Selbständigkeit war, da war jede Sorge wie weggeblasen. Und dass Jennifer extra freigenommen und sie auf ihrem letzten Tauchgang begleitet hatte, war die Krönung gewesen. Als sie nun genauer darüber nachdachte, musste sie Jennifer recht geben: den Tag konnten ihr die drei Kamikaze nicht madigmachen. Sie sollte öfter auf Jennifer hören…

Das Smartphone riss Natascha aus ihren Gedanken. Lea? Nein, es konnte nicht der Kids-Club sein, es war noch Zeit. Sie schaute aufs Display. Eine E-Mail war hereingeflattert, von Nadine, einer Freundin. Zumindest dachte Natascha bis vor wenigen Wochen, dass sie das waren, Freundinnen. Aber dann…

Ohne Vorwarnung hatte Nadine plötzlich die Freundschaft gekündigt. Mit einer WhatsApp! Was für ein Glück, dass sie es auf WhatsApp nicht gleich in der Mutter-Kind-Gruppe hinausposaunt und sich herabgelassen hatte, ihr die Neuigkeit persönlich zu übermitteln! Naja, persönlich ging anders… Wie konnte man eine jahrzehntelange Freundschaft einfach so aufgeben, ohne dass konkret etwas vorgefallen war?! Noch dazu übers Smartphone?!

Die Chemie passt nicht mehr, hatte Nadine geschrieben, und wir sehen uns ohnehin zu wenig und haben auch kaum noch gemeinsame Interessen, geschweige denn gemeinsame Zeit. Ich will nicht im Streit auseinandergehen und mag dich immer noch, sehe aber einfach keine Basis mehr und somit keinen Sinn darin, bloß phasenweise Kontakt zu halten, sich hin und wieder zu treffen, fast wie eine Pflichtveranstaltung, aus Anstand, um sich mal wieder gesehen zu haben. Und viele deiner Meinungen finde ich inzwischen absolut inakzeptabel. Das ist alles nicht das, was ich mir unter Freundschaft vorstelle. Es ist sicher das Beste, es nun zu beenden.

Das Beste für wen?

Natascha war an dem Tag völlig vor den Kopf gestoßen gewesen und hatte sich gefühlt, als läge ein Sandsack auf ihrer Brust. Und was sollte das mit ihren Meinungen? Sie hatten sich doch immer über alles offen ausgetauscht! Selten hatte Natascha sich so gedemütigt und wertlos, das krasse Gegenteil von wertgeschätzt gefühlt. Und das, wo sie derzeit ohnehin voller Selbstzweifel und Sorgen war – und zu alledem der kraftraubende Alltag als alleinerziehende Mutter mit Fulltime-Job und ohne ihre eigene Mutter oder irgendwem sonst als Auffangnetz.

Wie der sprichwörtliche Hamster raste sie im Rad, bestrebt, all ihren Pflichten gerecht zu werden. Gut, dass Sie nicht auch noch die Rolle der Mega-Liebhaberin und perfekten Ehefrau und Köchin gerecht werden musste! Dann würde sie das Klischee der modernen Powerfrau perfekt erfüllen. Am besten noch nebenher in der Politik Karriere machen. Na klar! Schwachsinn das Ganze! Wer glaubte den Mist denn heute wirklich? Dass man als Frau allem und jedem gerecht werden könnte – gerecht werden müsste – und daran, dass man es tatsächlich schaffen würde! Mit einer Nanny und jeder Menge Kohle auf dem Konto und Personal-Coach, Masseur und Gourmet-Koch an der Seite, dann vielleicht, mag sein! Ins gemachte Nest gebettet, wie manche Promis, die aus ihrer perfekten Märchenwelt heraus den Normalbürgern den Spiegel vorhielten, damit diese dann mit Schrecken ihre eigene Unzulänglichkeit erkannten, vorgespiegelt aus einem Schlaraffenland voller Illusionen.

Natascha aber verzweifelte daran, dieses Klischee der Megafrau auch nur im Ansatz erfüllen zu müssen und wollte es auch gar nicht. Wenigstens diesbezüglich war sie noch »Herr« ihrer Sinne. Wenn ansonsten das meiste nicht rund lief, klar denken konnte sie noch. Oder etwa nicht?

Hatte Markus sie deswegen sitzenlassen? War sie nicht perfekt genug für ihn gewesen? Hatte sie ihn in die Arme dieser jungen Göre getrieben? War sie es, die alles falsch machte, auch noch die falschen Meinungen hatte, sich falsch verhielt, nicht nur in der Partnerschaft, sondern auch sonst?

Wendete man sich also zu Recht von ihr ab? Hatte sie sich negativ verändert, nicht etwa die anderen? War ihre eigene Neigung, sich ständig über andere zu ärgern und dabei zunehmend hart zu werden, womöglich genau das, was sie an den anderen missbilligend wahrnahm? Wenn sie wütend auf andere blickte, sah sie womöglich schlicht in einen Spiegel? War sie es, die immer zickiger, intoleranter und herzloser wurde, und nicht die Menschen um sie her? Hatte der Stress sie schon so fest im Griff? Oder waren sie allesamt gefangen in diesem Kreislauf von überhandnehmender Lieblosigkeit, Eigensucht und Stress? Klar, die einstige Natascha war sie seit geraumer Zeit nicht mehr. Aber wie könnte so ein Alltag auch spurlos an einem vorübergehen und man immer voll bei sich, in seiner Mitte sein? Sie war permanent unter Stress und fand keinen Ausweg.

Ihre Ex-Freundin Nadine hatte da gut reden – zwei Großelternpaare an der Seite, fast jedes Wochenende ausgehen und unter der Woche arbeiten dürfen und, wenn es hart auf hart kam, nicht einmal wirklich müssen – ihrem Mann und seinem Traumgehalt sei Dank… Nicht dass sie es Nadine nicht gönnte. Das tat sie von Herzen. Aber es ärgerte sie, dass Nadine den Unterschied nicht sah. Da war ein riesiger Unterschied zwischen ihrem und Nataschas Leben, aber Natascha hatte trotzdem versucht, den Kontakt so gut es ging aufrechtzuerhalten.

Ja, sicher, Nadine gegenüber hatte sie sich die letzten Jahre rargemacht – aber sie hatte es ihr auch immer wieder erklärt. Es war ihr einfach nicht möglich, auf dieselbe Weise wie früher soziale Kontakte zu pflegen. Aber sie war sich sicher, dass sie nicht weniger zugewandt war als früher. Das einzige war, dass freundschaftliche Begegnungen mit anderen Menschen – ihrem fordernden Alltag geschuldet – immer seltener stattfanden. Mit Kind, mit Job, ohne Partner, ohne Eltern, die sie hätten entlasten können, und mit begrenzten Kindergartenöffnungszeiten.

Sicher, sie hätte damals den anderen Kindergarten ein bisschen weiter entfernt wählen können – dort waren die Betreuungszeiten ausgedehnter. Aber sie wollte so viel Zeit wie möglich mit ihrer Tochter verbringen. Sicher, sie hätte öfter die Initiative ergreifen und zu Freunden fahren können, aber aus ganz verschiedenen Gründen war das immer schwieriger geworden. Die Überlastung, die unterschiedlichsten Wendungen in ihrem und im Leben ihrer Freunde, das immer magerer werdende Interesse aneinander bei gleichzeitig immer größer werdender Distanz…

Natascha hatte Lea spät bekommen – na und?! Plötzlich war sie aus dem Raster gefallen – einem Raster, dass die anderen um sie herum definiert hatten – und war mehr und mehr außen vor. Wer aber hatte ihr denn mal angeboten, Lea zu nehmen, sodass sie mal wieder mit anderen etwas hätte unternehmen können? Sie war sich nicht einmal sicher, dass sie zugesagt hätte, vielleicht war sie dazu viel zu sehr Helikopter-Mama und konnte schlecht loslassen… War das ihr Problem? Konnte sein. Aber wer hatte es ihr denn zumindest mal angeboten? Niemand! Wo war da denn Hilfsbereitschaft? Fürsorge? Das Miteinander? Unterstützung? Gemeinschaft? Freundschaft?! Zu wenig gemeinsame Zeit? Wenn das die Chemie war, die nicht mehr passte, dann war das traurig.

Okay, sie hatten sich teils in andere Richtungen entwickelt. Das ja. Sie hatte wirklich andere Meinungen als Nadine, sah sie doch auch durch ihren Job als Journalistin die Brennpunkte der Gesellschaft, die Krisenherde, notleidende und vom Schicksal gebeutelte Menschen und Missstände in Politik und Gesellschaft. Und sie machte sich viele Gedanken über das, was sie sah, versuchte dem auf den Grund zu gehen. Das war ja sogar ihr Job! Hatte sie es aber verdient, deswegen so abgekanzelt und abserviert zu werden? Gab es deswegen wirklich keine Basis mehr?

Was war nur los mit Nadine? Als hätte sie zu viele Entrümpel-dein-Leben-Ratgeber gelesen und die darin enthaltenen, manchmal sogar ganz hilfreichen Botschaften gehörig missverstanden. Als wäre sie irgendeiner Gehirnwäsche unterzogen worden oder in irgendeine Sekte hineingeraten. Natürlich war sie das nicht, aber was veranlasste Nadine dazu, so auf den Gefühlen eines anderen herumzutrampeln – auf Nataschas Gefühlen?

Am selben Tag hatte sie versucht, Nadine anzurufen, und auch an den Tagen danach. Wieder und immer wieder. Ihr gesimst, gemailt, gewhatsappt. Aber Nadine hatte sie seither wie Luft behandelt. Natascha wollte sich mit ihr treffen, sich aussprechen. Keine Chance. Immer noch glaubte sie daran, dass Nadine doch eigentlich eine ihrer engsten Freundinnen war. Nach zwei Wochen hatte sie es dann auf sich beruhen lassen, erst einmal. Dann, vor ein paar Tagen und mit ein bisschen Abstand, hatte sie sich zaghaft noch einmal gemeldet. Auch darauf keine Antwort. Keine Reaktion.

Bis heute. Hier am Tisch auf der Veranda der Tauchbasis war nun endlich ein Lebenszeichen von Nadine gekommen. Natascha öffnete die Mail und las.

Hallo Natascha, sorry, aber ich bin nicht bereit, mich mit dir zu treffen. Nicht, weil ich etwas gegen dich hätte. Einfach weil ich in den vergangenen Jahren gemerkt habe, dass dein Interesse an unserer Freundschaft nachgelassen hat und du dich mehr und mehr von mir zurückgezogen hast und meinen Meinungen widersprichst. Irgendwann wollte ich mich damit so nicht mehr zufriedengeben. Anfangs dachte ich noch, ich hätte etwas falsch gemacht, wusste aber nicht, was. Aber nach und nach wurde mir klar, dass du einfach dein Leben leben willst. Die Zeiten, dass ich mir selbst die Schuld gebe, sind vorbei. Mir ist klargeworden, dass es einfach nicht mehr passt. Ich wünsche Dir für die Zukunft alles Gute! Nadine

Liebevoller Rückzug!

»Ich fass es nicht! Was hat die nur geritten?!« Energisch schob Natascha das Smartphone auf die andere Seite des Tisches außer Reichweite, als könnte sie damit diese unverständliche Situation von sich schieben und die Ereignisse unwichtig machen. Zum zweiten Mal am heutigen Tag fragte sich Natascha, was zum Geier eigentlich mit den Leuten um sie herum los war…

Um zehn vor acht am Abend traf Natascha im Restaurant ein. Mit Lea an der Hand betrat sie den Außenbereich und steuerte geradewegs auf den großen für den Taucher-

abend reservierten Tisch zu. Das Basis-Team war fast vollzählig, und auch erste Basis-Gäste hatten sich zum Taucherstammtisch eingefunden. Die Anwesenden unterhielten sich angeregt und nahmen zuerst gar keine Notiz von Natascha und Lea. Jennifer aber, die in Blickrichtung zum Eingang saß und sie sofort sah, strahlte vor Freude, dann erhob sie sich rasch und eilte auf sie zu. Nach kurzer Umarmung – so herzlich, als hätten sie sich seit Wochen nicht gesehen – trat Jennifer einen Schritt zurück und grinste Natascha an.

»Wow! Natascha da Silva, du siehst einfach umwerfend aus, um nicht zu sagen scharf.« Jennifer setzte den übertrieben feurig-scharfen Blick eines Vamps auf und formte mit ihren Lippen eine leicht laszive Geste.

Natascha musste lachen, sie konnte nicht anders. Jennifer stimmte mit ein. Unbefangenes Rumblödeln, lange war es her…

»Du, lass mal…« Natascha lächelte unsicher und stupste Jennifer am Oberarm. Ihr war die Situation irgendwie auch unangenehm. Erst vorhin ihre Tochter, die sie, als sie sich im Hotelzimmerspiegel einem abschließenden Kontrollblick unterworfen hatte, mit ihren kaffeebraunen Kulleraugen angestarrt und dann, nach Sekunden der Stille, mit ihren gerade mal fünf Jahren gesagt hatte: »Mami, du siehst aber toll aus!« Das war so goldig gewesen und Natascha gerührt, aber es war ihr auch etwas peinlich, und wenn nicht peinlich, dann zumindest fremd. Dazu verstärkte sich das schlechte Gewissen, das schon bei der Entscheidung, am Abend auszugehen, von ihr Besitz ergriffen hatte. Normalerweise brachte sie Lea abends um acht ins Bett. Jetzt ging sie mit ihr gerade erst aus. Aber blieben die Kinder im Süden nicht alle länger auf?! Und im Urlaub, da war das doch normal! Und es gefiel den Kindern und gefiel den Eltern! Außerdem hatten Jennifer und Frank auch kein Problem, ihren dreijährigen Sohn Eric abends hin und wieder mal länger aufbleiben zu lassen. Wahrscheinlich dachte sie einfach nicht südländisch genug, trotz ihrer portugiesischen Wurzeln. Also verwies sie den imaginär erhobenen Zeigefinger in seine Schranken. Aber dass Lea ihr Outfit kommentiert hatte, hatte schon ein komisches Gefühl hinterlassen. Es war schön, aber zugleich irritierend. Und nun Jennifer.

Warum musste ich mich auch unbedingt so in Schale werfen?!

»Da kriecht wohl langsam jemand aus seinem Schneckenhaus, was?« Nur Jennifers Blick neckte noch ein wenig weiter, aber es war ein liebevolles Necken.

»Darf ich nicht mal was anderes als meinen Neoprenanzug tragen?« Jetzt war es Natascha, die verschmitzt grinste. »Hat nicht das Geringste mit Mike zu tun.« Sie schüttelte gespielt entrüstet den Kopf. Stilvoll und nicht billig, sexy aber nicht verrucht, das war schon früher ihr Garderobenmotto beim Ausgehen gewesen, Mike hin oder her. Sicher war er nicht ganz unschuldig daran, dass sie sich nach langer Zeit der Abstinenz vom Sich-in-Schale-werfen endlich mal wieder so richtig schick gemacht hatte. Und sie nahm sich nun heraus, einen Moment lang selbst zufrieden mit dem Ergebnis zu sein. Warum auch nicht? Es tat ihr gut. Ihr halblanges Sommerkleid wartete mit schlichter Eleganz und einem Schnitt auf, der ihre schlanken, aber dennoch femininen Kurven zur Geltung brachte und nicht zu viel und nicht zu wenig preisgab. Die hochhackigen Sandaletten verschafften ihren langen, braungebrannten Beinen zusätzlich Kontur und passten farblich perfekt zu dem azurblauen Kleid. So zumindest hatte sie im Hotel ihr Spiegelbild wahrgenommen, in einem vor Selbstvertrauen strotzenden Moment, und war überrascht gewesen, wie gut es sich anfühlte. Sie war dezent, nicht aufgedonnert, aber doch einen Hauch stärker als gewöhnlich geschminkt. Und um die Sache abzurunden, hatte sie sich heute entschieden, ihre vollen braunen Locken nicht wie sonst mit einem Haargummi zum Pferdeschwanz zu binden. Die dunkle Haarpracht fiel locker über ihre Schultern, nur ein paar widerspenstige lockige Strähnen hatte sie mit Festiger gezügelt – was, wie sie schon auf dem Weg zum Restaurant festgestellt hatte, nicht gut klappte. Sich nicht für ihren Pferdeschwanz-Look entschieden zu haben, den sie fast immer trug, war vielleicht doch falsch gewesen. Sie mochte es nicht, sich ständig Haarsträhnen aus dem Gesicht schieben zu müssen, außerdem konnte es von einem männlichen Gegenüber falsch gedeutet werden – zumindest, wenn man dem Artikel zum Thema Flirten glaubte, den ihre Kollegin Vivian kürzlich veröffentlicht hatte. Gut, dass sie selbst bei der ehrgeizigen und niemals schlafenden online Nachrichten-Plattform Blueball News über wichtigere Themen als so etwas schrieb! Ob es tatsächlich einladend wirken würde? Bestimmt totaler Schwachsinn! Wobei… Wenn da etwas dran war, käme ihr das heute vielleicht ganz gelegen… Sie musste unwillkürlich schmunzeln. Fünf Jahre allein – eine extrem lange Zeit, sie war aus der Übung in diesen Dingen. Sie hatte nicht die Zeit gehabt, oder vielleicht einfach nicht den Mut für eine neue Partnerschaft. Viel einfacher war es gewesen, sich einzuigeln…

Wusste sie eigentlich selbst, was sie wollte? Ob sie überhaupt wieder irgendeinen Mann in ihr Leben lassen wollte? Sie hatte schon genug Probleme… Und wenn ja, dann einen wie Mike? Ein Mann, der ein ganz anderes Leben führte als sie selbst? Wahrscheinlich machte gerade das ihn so unwiderstehlich. Aussteigerleben hin oder her, er schien ein warmherziger, ehrlicher und gutmütiger Mensch zu sein. Der Ansicht war auch Jennifer, und die kannte sich aus mit Menschen.

»Schalt einfach mal deinen Kopf für eine Weile aus und komm!« Jennifer schien just in diesem Moment genau dort hineingespickt zu haben: in ihren Kopf. Und sie hatte recht – wie so oft. Total verkopft! Sie musste lockerer werden und die Dinge laufen lassen. Und sie brauchte unbedingt ihr einstiges Selbstvertrauen zurück, und zwar dringend!

Nichtsdestotrotz – hätte Natascha gewusst, dass nur gut die Hälfte der Taucherstammtischler schick erscheinen und die anderen lässig-leger in ihren Taucher-Shirts und Shorts dasitzen würden, sie hätte sich nicht so aufgedonnert. Aber die Mischung der Gäste war immer bunt, und jeder war willkommen, wie er eben kam, schick oder leger gekleidet – ganz egal. Das jedenfalls hatte Jennifer ihr gesagt, und Natascha hatte sich darauf verlassen. Und heute hatte sie Lust auf schick, und vielleicht auch Lust auf mehr, sie würde sehen. Nur nichts überstürzen. Oder doch?

Jennifer bot ihr einen freien Platz an. Und der schien nicht zufällig gewählt – lag er doch in verdächtiger Nähe zu Mike …

Der Abend verlief erwartungsgemäß gesellig, fröhlich, unbeschwert. Während und nach dem opulenten Essen wurde geplaudert, was das Zeug hielt, und je später es wurde, desto wohler fühlte sich Natascha. Die Zahl der Gäste nahm stetig ab, doch je weniger Leute am Tisch saßen, desto persönlicher und tiefgründiger wurden die Gespräche. Ganz nach Nataschas Gusto, oberflächliches Geplänkel war nicht ihr Ding. Smalltalk ja, aber früher oder später sollte man sich auch angeregt austauschen können. So war es jetzt und hier, perfekt! Die kleine illustre Runde war am großen Tisch enger zusammengerückt und bestand mittlerweile nur noch aus ihr, Jennifer, Frank und Ralf – Franks rechter Hand in der Tauchbasis –, Mike sowie Marina, einer jungen Tauchbasismitarbeiterin. Nun rutschte man von einem Thema zum nächsten, während die Kinder unbeschwert um sie her spielten. Doch die Zeit drängte – allzu spät wollte Natascha Lea nicht ins Bett bringen, und Jennifer und Frank sahen das für ihren Eric genauso. Jennifer schlug vor, die gesellige Runde bei ihnen zu Hause noch fortzuführen, die beiden Kinder in Erics Zimmer schlafenzulegen und Nataschas letzten Abend vor dem Heimflug noch auszukosten, so lange es ging.

Gesagt, getan. Eine Stunde später saßen die sechs Erwachsenen bei Kerzenlicht und leiser Chill-out-Musik im Hintergrund auf Stebes Terrasse. Pinienduft schwebte in der sommerlichen Luft, eine leichte Brise wehte. Offensichtlich rieben unzählige Grillen ihre Beinchen aneinander, um mit dem Balzgeräusch die Weibchen zu beeindrucken, und sorgten gleichzeitig dafür, dass sich Menschen, die um diese Zeit draußen verweilten, der Natur noch verbundener fühlten und noch besser zur Ruhe kamen, als es in dieser Idylle ohnehin geschah. Zumindest ging es Natascha so. Ab und zu huschte ein Gecko im Lichtkegel der Lampen die terrakottafarbenen Wände des Hauses entlang. Die Welt war in diesem Moment in Ordnung – sogar für Natascha. So friedlich wie der tiefe Schlaf, in den die beiden Kinder inzwischen gefallen waren.

»Warum bist du eigentlich weg aus Deutschland?« Das wollte Natascha Mike schon die ganze Zeit fragen, und nun traute sie sich endlich. »So mitten im Leben, meine ich. Seit fünf Jahren bist du als Tauchlehrer unterwegs, hast du mal gesagt. Aber es muss ja ein Leben davor gegeben haben, oder nicht? Jemand in Marinas Alter, so direkt vor oder kurz nach dem Studium, der mal ein paar Monate aussteigt – okay. Aber du? Gab es eine Initialzündung, irgendetwas Einschneidendes? Man gibt nicht einfach so alles auf, was man sich aufgebaut hat, oder nicht? Du warst da – wie alt? Knapp vierzig?«

Alle Blicke richteten sich auf Mike. Der schmunzelte auf eine Art, die zu sagen schien: Die Frage musste ja kommen. Aber sie schien ihm keinesfalls zu persönlich oder lästig, im Gegenteil, offensichtlich bezog er gerne Stellung dazu.

Obwohl er schmunzelte, blickte er sie ernst an. »Da kam eins zum anderen. Es ist ja meist so, dass es nicht den einen Auslöser gibt. Aber wenn ich mich auf etwas festlegen müsste, das ich den Hauptauslöser nennen kann, dann wäre es der Job. Wenn ich weitergemacht hätte, dann hätte der mich krankgemacht.« Mike nippte nachdenklich an seinem Wein. Fast im Zeitlupentempo setzte er das Glas wieder ab.

»Warum hast du nicht einfach die Stelle gewechselt?«, fragte Marina.

»Weil das, was mich zunehmend gestört hat, ein grundsätzliches Problem ist – zumindest in meiner Branche. Klar, ich hätte komplett umsatteln können. Aber dann kam da noch die Sache mit meiner Frau dazu – sie hatte Knall auf Fall ihre Koffer gepackt und war abgehauen – und der Tod meiner Eltern, die innerhalb eines Jahres beide gestorben waren. Kinder hatten meine Frau und ich nicht. Was also hätte mich noch halten können, wo ich mich doch immer fremder fühlte?« Nachdenklich rieb er sich seine markante Kinnpartie. Dann lehnte er sich zurück.

Dieser Blick! Ob an Natascha vorbei oder ob durch sie hindurch oder geradewegs in sie hinein – sie wusste es nicht. Nur, dass er sie berührte und etwas in ihr auslöste, das spürte sie. Ein wohliger Schauer durchfuhr sie.

»Es war damals einfach Zeit für einen Neuanfang, wie ein Weckruf, all den negativen Veränderungen den Rücken zu kehren.«

Die Offenheit, mit der Mike über die Sache mit seiner Frau sprach, überraschte Natascha, doch sie überging das Thema. »Was meinst du mit ›grundsätzliches Problem‹? Was genau war es, das dich so unzufrieden machte?« Natascha da Silva! Schalt deinen Journalisten-Modus aus!

»Unzufrieden passt eigentlich nicht, das wäre zu harmlos. An Unzufriedenheit kann man arbeiten, etwas ändern. Eher habe ich mir Sorgen gemacht. Ja, Sorgen. Die zunehmende Kaltherzigkeit, ja Verrohung unserer Gesellschaft – und dass es die gibt, ist ja offensichtlich, ich denke, das sehen wir alle in den vergangenen Jahren – die habe ich nirgends so sehr gespürt wie damals in meinem Job. Damit meine ich nicht die zunehmende Belastung durch das ständig wachsende Arbeitspensum oder die Herausforderungen ganz allgemein, den Zeitdruck, die Hektik, die schwindelerregenden Anforderungen, denen ich in meiner Position gerecht werden musste. Ich meine auch nicht die Personaleinsparungen, die die verbleibenden Kollegen auffangen müssen, oder die Herausforderung der Digitalisierung oder das Streben nach immer mehr Wachstum, Wachstum, Wachstum oder die Gewinnmaximierung als oberstes Ziel, ganz egal, ob die Menschen dabei zugrunde gehen oder nicht…« Mike schüttelte fast unmerklich den Kopf. Es war offensichtlich, dass all das ihm zu jener Zeit auch gehörig missfallen hatte. »Es hat mich damals auch belastet, dass ich den Druck, den ich von oben bekam, als Führungskraft an meine Mitarbeiter weitergeben musste. Ich stand ständig mit dem Rücken zur Wand, und mir blieb nichts anderes übrig, als wiederum meine Mitarbeiter mit dem Rücken zur Wand zu stellen. Was für ein wahnsinniger Kreislauf! Aber all das war es nicht einmal. Na ja, schon, aber es waren vielmehr die Dinge, die ich grundsätzlich um mich herum beobachtete.« Mikes Blick wurde eine Spur ernster. »Ich meine die Ellenbogenmentalität, das Ausboten, jeder war sich selbst der Nächste. Schlimm! Es gab kaum mehr ein Miteinander, fast nur noch Gegeneinander. Am allerschlimmsten aber traf mich die Erkenntnis, dass ich mich damals selbst verändert hatte, schleichend zwar, aber dennoch deutlich wahrnehmbar und nicht gerade zu meinem Vorteil. Ich war immer verbissener, härter, kälter geworden, ja richtiggehend abgebrüht. Das traf mich, denn ich wollte so nicht sein, ich wollte nicht zu so einem Typen werden, als Preis dafür, im System zu funktionieren. Ich konnte mich selbst nicht mehr leiden. Daher musste ich etwas ändern und tat es dann eben radikal – die einzige Chance, aus dem Kreislauf auszubrechen. So zumindest habe ich es gesehen. Vielleicht habe ich auch nur nicht genug nach anderen Lösungen gesucht und es mir zu einfach gemacht. Vielleicht. Kann sein. Wobei – dann wäre ich jetzt nicht hier.« Mike huschte ein Lächeln übers Gesicht. Er hatte ganz ruhig gesprochen, ohne Groll in der Stimme, aber Natascha konnte die tiefsitzenden Gefühle wahrnehmen, sie hörte sie zwischen den Zeilen heraus. Und hatte er nicht recht?!

»Das Problem geht ja heutzutage schon bei den Schulanfängern los«, schaltete sich Marina ein. Natascha mochte sie auf Anhieb. Marina hatte frech-fransig geschnittenes, naturblondes, kurzes Haar und sprühte vor Lebensfreude. Das genaue Gegenteil von Natascha – sowohl im Hinblick darauf, was auf dem Kopf war, als auch bezüglich der Einstellung im Kopf. Dazu noch so jung, noch voller Träume und Tatendrang – beneidenswert… »Der Jüngste meiner Schwester ist auch gerade in die Schule gekommen«, sprach Marina weiter. »Da wird schon in der ersten Klasse Druck erzeugt. Sicher nicht bewusst, hoffe ich zumindest, aber er ist halt ganz automatisch da. Bereits die Sechsjährigen kreischen verzweifelt, wenn sie nicht das ersehnte Belohnungssymbol ins Heftchen bekommen, und messen sich daran, wie viele die anderen schon in ihren Heften haben! Und wenn jemand anderes kein Belohnungssymbol bekommt, sind sie voller Schadenfreude! Klar, es ist ja für Kinder wichtig zu verinnerlichen, dass Fleiß belohnt wird. Aber irgendwie hat es seltsame Züge angenommen, finde ich. Ich bin ja viel jünger als ihr…« Ihr stieg plötzlich die Röte ins Gesicht. »Keine Ahnung, vielleicht war das bei euch in der Grundschule ja auch schon so.« Nun blickte sie einen nach dem anderen an, als würde sie sich dafür entschuldigen wollen, den anderen gerade klargemacht zu haben, dass sie ihren Zenit schon überschritten hatten. Dann fuhr sie, ohne eine Antwort abzuwarten, mit ihren Ausführungen fort: »Und ihr werdet es kaum glauben – der ältere Sohn meiner Schwester geht schon ins Gymnasium, achte Klasse, und dort ist es heutzutage schon so weit, dass manche Kinder nicht mal bereit sind, einem erkrankten Kind die Hausaufgaben zu bringen. Die lassen kranke Kinder eiskalt hängen. Heftig! Natürlich passiert das nicht jedes Mal, klar, aber es passiert! Die Kinder entscheiden ganz gezielt, wen sie hängen lassen und wen nicht… Ich meine, war das früher auch schon so?« Sie wartete die Antwort nicht ab. »Passt auf, es wird noch besser!« Nun warf sie theatralisch die Hände in die Höhe. »Meine Schwester hat mir auch erzählt, dass es mitunter sogar vorkommt, dass Kinder manchmal bewusst falsche Aufgaben übermitteln, und das alles nur, um die anderen abzuhängen. Das ist doch krass!« Marina hatte sich regelrecht in Rage geredet. »Und das lässt man denen durchgehen… oder man verschließt die Augen davor, keine Ahnung! Aber wie sind die denn in dem Alter schon drauf?! Die Kinder werden doch quasi auf Ellenbogenmentalität getrimmt, lernen das von der Pike auf, weil es eben gang und gäbe ist, sich so zu verhalten. Schöne Zukunft!« In versöhnlicherem Ton fügte sie hinzu: »Vielleicht sind das auch nur Ausnahmen. Oder es ist nur dort an der Schule so. Hm… Meine Schwester dramatisiert schon mal ganz gerne. Aber erfunden hat sie das nicht.« Sie hielt kurz inne, war aber offensichtlich doch noch nicht alles losgeworden, was sie bewegte. »Aber wisst ihr, man muss sich nicht wundern, manche Eltern leben es ihren Kindern ja auch vor. Neulich zum Beispiel, da steh ich im Foyer des Kinos am Tresen, um Knabberzeug und Getränke zu kaufen. Der Tresen geht ums Eck, besteht also aus zwei Theken. Ich war früh dran und wartete. Hinter mir standen irgendwann weitere Leute. Jetzt kommt ein Mann hinter den Tresen, nur leider an die andere Ecke. Wie von der Tarantel gestochen rennt eine Mami mit ihren zwei Kindern – die drei hatten hinter mir gestanden – ans andere Eck und bestellt ihr Popcorn. Die wussten doch, dass ich vor ihnen gestanden hatte, und das nicht erst seit einer Minute. Also komm! Nicht, dass ihr mich falsch versteht, ich hatte es ja nicht eilig, und es lohnt sich ja eigentlich auch nicht, sich über sowas aufzuregen. Aber dennoch, das ist doch ein Spiegelbild des Zustands unserer Gesellschaft. Wisst ihr, was ich meine?« Sie redete in einem Tempo, das keine Einwände zuließ. »Jetzt sagt ihr vielleicht: ›Ja, blöd, so Leute gab und gibt es aber immer.‹ Stimmt auch! Aber irgendwie ist es doch immer häufiger so. Und was ich sagen möchte: Wen wundert‘s, dass dann die Kinder so werden!« Erneut hielt sie kurz inne, als hole sie sich das Okay, noch etwas hinzufügen zu dürfen. Vielleicht holte sie auch nur mal kurz Luft. Dann redete sie schnell weiter: »Oder versuch mal, auf eine stark frequentierte Straße draufzukommen. Bis dich da mal einer reinlässt. Und und und … Es ist einfach so eine Zeit heute, denke ich. Man ist eben fixiert auf sich selbst. Sicher die Hektik, der Zeitdruck, der Stress, keine Frage! Viele sind vielleicht immer unter Strom und werden dann so, phasenweise zumindest. Ich habe das ja alles erst noch vor mir, den Stress im Berufsleben, meine ich. Erst mal studiere ich – ganz gemütlich.« Sie lachte. »Und nun bin ich erst mal hier.« Sie schnappte sich ihr Bier.

Natascha staunte. Marina war unter Wasser das komplette Gegenteil, nämlich die Ruhe selbst. Aber das kannte Natascha ja von sich auch: Eintauchen – abschalten!

Nun meldete sich Ralf zu Wort: »Wegen der Schule: Zu unserer Zeit haben wir uns Mitschülern gegenüber auch nicht immer einwandfrei verhalten. Ich denke, das war schon immer so. Vielleicht erinnern wir uns nur nicht daran.« Er zögerte eine Sekunde. »Oder es hatte zu unserer Zeit einfach doch noch nicht dieses Ausmaß«, fügte er dann eher fragend hinzu. »Könnte schon sein, dass da was dran ist. Was meint ihr?«

»Die Kinder mit sechs bilden schon Teams, in die man dazugehört oder eben nicht. Da fängt das Mobbing quasi schon in der ersten Klasse an. Das ist schon erschreckend, finde ich«, warf nochmals Marina ein.

»Gab es bei uns früher aber auch, Banden und so«, sagte Ralf, den sich Natascha mit seinem spitzbübischen Gesicht, den rötlichen Haaren und den frechen Sommersprossen lebhaft als männliche Rote Zora vorstellen konnte, eine TV-Figur aus ihrer Kindheit. »Aber vielleicht in der vierten, nicht schon in der ersten…«

»Man darf und sollte das alles sicher nicht überbewerten, nicht gleich dramatisieren, zumal wir alle mit Abstand draufschauen, weil unsere Kindheit schon ein paar Tage her ist. Aber trotzdem, es ist schon was dran, als würde heute einfach alles früher seinen Gang nehmen, und auch viel intensiver – schlimmer«, schaltete sich Frank ein.

Der ausgeglichene Frank – besonnen wie immer, dachte Natascha. Die Ruhe, die Frank für gewöhnlich ausstrahlte, stand für sie immer irgendwie im Gegensatz zu seinem eher verwegenen Aussehen. Das hätte eher zum Klischee des coolen Surfers gepasst: von der Sonne gebleichtes, naturgewelltes, halblanges Haar, türkisblaue Augen, markante und doch zugleich weiche Gesichtszüge, der gestählte Körper eines Fitnesstrainers und die draufgängerische Aura eines Lebemannes, hinter der aber ein ganz anderer Frank zum Vorschein kam. Diese Mischung versprühte eine starke Anziehungskraft – sicher auf viele Frauen. Jennifer war ein Glückspilz! Wäre da nicht Mike Sauerländer – der gute Frank hätte sich vorsehen müssen, theoretisch zumindest, denn praktisch bestand keinerlei Gefahr, Frank war Jennifers Schatz. Natascha würde sich nie für den Mann einer anderen interessieren – nicht auf diese Art zumindest. Und seit sie selbst Opfer von Untreue geworden war, erst recht nicht. Aber das war ein anderes Thema…

Das Gesprochene hallte noch in Natascha nach. Sie musste an Lea denken. In welcher Welt würde sie groß werden? Stand es wirklich so schlimm um das menschliche Miteinander? Würde Lea sich in dieser rauen Wirklichkeit zurechtfinden? Würde sie zu denen gehören, die andere unterbutterten, oder zu denen, die untergebuttert wurden? Sie würde alles daransetzen, dass Lea sich zu einer liebevollen und trotzdem taffen Frau entwickeln würde. Diese Kombination musste doch möglich sein, oder nicht?! Seinen Weg gehen und das erfolgreich, aber nicht auf Kosten anderer. Lea das zu vermitteln, nahm sie sich in diesem Moment einmal mehr vor.

Nun ergriff Mike nochmals das Wort: »Die Menschen schlagen sich seit Jahrtausenden gegenseitig die Köpfe ein. Das ist ja nicht nur ein Problem der heutigen Zeit. Es ist nur so: wo nach außen hin Friede herrscht, scheinen zunehmend innere Kämpfe stattzufinden – und zwar um Werte, quasi um das Innere des Menschen. Die Zeichen der Zeit, so nenne ich das mal.«

»Zeichen der Zeit…«, warfen nun auch einige der anderen ein. »Das passt doch irgendwie…«

»Die Frage ist nur, Zeichen für was? Was braut sich da zusammen?«, fragte Mike nachdenklich.

Nataschas Blick blieb an ihm haften. Der Mann sieht nicht nur gut aus, er hat offensichtlich auch etwas in der Birne und das Herz am rechten Fleck – und einen Hang zum poetischen Philosophieren. Schnapp ihn Dir, Natascha, und besser bald – bevor es eine andere tut!

Die nächste Stunde unterhielten sie sich weiter angeregt über dies und das. Gegen zwei Uhr ließ Jennifer durchblicken, dass es nun an der Zeit war, den schönen Abend zu beenden. Mike und Marina hatten beide ihren tauchfreien Tag vor sich – sonst hätten sie schon längst die Runde verlassen, immerhin hatten sie als Guides Verantwortung für tauchende Gäste. Jennifer, Frank und Ralf würden morgen nur in Papierstapeln abtauchen, aber Eric wäre bald wieder fidel und die Nacht somit kurz. Mit Lea würde es Natascha nicht anders gehen, und den letzten Urlaubstag nur kaputt herumzuhängen, wäre auch blöd. Irgendwann musste auch der netteste Abend zu Ende gehen – und der Zeitpunkt dafür war ohne Zweifel gekommen.

»Ich mach dir das Gästezimmer zurecht.«

»Danke, Jenny, lieb von dir, aber das Hotel ist gleich ums Eck. Ich schnappe noch ein bisschen frische Luft. Du hast keinen Aufwand und mir ist noch nicht nach schlafen zumute. Darf ich Lea nachher einfach bei dir abholen? Gegen Acht? Ist das okay?«

»Du kannst Neun daraus machen, kein Stress! Aber du kannst gerne bleiben, das weißt du. Ist doch kein Aufwand!« Jennifer hielt abrupt inne und schmunzelte. »Ah, verstehe.« Ein kurzer Luftkuss und Augenzwinkern, das Natascha allzu gut kannte. Grinsend machte Jennifer auf dem Absatz kehrt und schritt Richtung Küche. Im Laufen winkte sie Natascha noch über die Schulter zu und rief: »Viel Spaß!«

Nach gerade mal vier Stunden Schlaf und einem ausgiebigen Abschlussfrühstück, saß Natascha nun an einem kleinen Tisch des Strand-Cafés, einen Kaffee vor sich und immer wieder mal ein Auge auf Lea werfend, die fröhlich und ausgelassen mit zwei anderen Kindern eine Sandburg baute.

Nataschas Stimmung war das genaue Gegenteil. Wie hatte sie nur so blöd sein können?! Mike hatte sie in der Nacht noch zum Hotel begleitet, aber sie war nicht fähig gewesen, die Gunst der Stunde zu nutzen, und Mike wiederum so umsichtig, sie nicht zu drängen. Ihr Verlangen, ihn zu küssen, war kaum zu bremsen gewesen, doch sie hatte sich derart gegen den Impuls gewehrt, dass es ihr letztlich auch gelungen war. Selbst schuld! Mist!

Sein Blick… Es war offensichtlich… Und sie? Bescheuert!

Und warum? Er wolle in die Karibik – zumindest diesen Herbst und Winter über, dann würde er weitersehen, wo es ihn als nächstes hintreiben würde. Wahrscheinlich nach Indonesien. Oder auf die Malediven. Irgendwohin, wo es unter Wasser richtig bunt war. Nach Deutschland würde es allerdings auf gar keinen Fall gehen. Wenn er wenigstens ihre vorsichtige Frage, ob er vielleicht wieder nach Mallorca käme, bejaht hätte! Etwas über eine Flugstunde für sie – ein Klacks! Dann wäre sie vielleicht über ihren Schatten gesprungen. Mancher Mann wäre in so einer Situation mit Kalkül vorgegangen, hätte ihr durch ein, zwei Sätze Hoffnung ins Herz gesetzt, die Situation zukunftsfähig dargestellt, nur um sein Ziel zu erreichen. Fast wünschte sie sich, er hätte sich so verhalten! Nun aber hatte er mit seiner Ehrlichkeit Pluspunkte gesammelt. Es war doch kein Kalkül, oder? Oder war es genau das? Quatsch! Keinesfalls konnte er angenommen haben, dass sie genau das suchen würde – einen One-Night-Stand, eine unverbindliche, lockere Nacht – und sich gedacht haben, sie genau so für sich gewinnen zu können.

Du bist so verkopft, nein: bescheuert! Warum denkst du von jedem Mann schlecht, bloß weil der eine dich enttäuscht hat?! Okay, eine Chance auf eine gemeinsame Zukunft gäbe es wohl nicht. Aber welche Frau in ihrer Situation hätte überhaupt darüber nachgedacht? Totale Blockade! Verklemmte Kuh! Und überhaupt, welche Garantien verlangte sie denn? Chance vertan! Ein Mann, der sie durch seine herzliche und offene Art derart beeindruckte und der offensichtlich etwas übrighatte für Tugenden, ein Mann, der noch dazu blendend aussah – und Single! In ihrem Alter! Der Typ war so was von heiß – aber sie so was von blöd! Und wenn schon, musste sie ihn denn gleich anspringen, als würde sie das mit jedem machen? Würde zwischen ihnen nicht ganz natürlich etwas entstehen, wenn er wirklich das Herz am rechten Fleck und Interesse hätte? War das richtig gedacht? War das falsch gedacht? Keine Ahnung…

Natascha nippte an ihrem Kaffee und versuchte, den Frust zu verscheuchen. Ihr Blick fiel auf eine deutsche Zeitung, die jemand auf dem Tisch nebenan hatte liegen lassen. Hier auf Mallorca, dem siebzehnten Bundesland Deutschlands, schien sie für viele Pflichtlektüre zu sein – ständig lagen die Dinger irgendwo herum.

Warum nicht einen kurzen Blick reinwerfen und schauen, was die Kollegen bei der Konkurrenz so schrieben?! Konkurrenz… Wenn ihr Chefredakteur das hören würde, könnte sie zukünftig über Kochrezepte statt über Brennpunkthemen schreiben, denn er hielt seine online-Redaktion für überaus anspruchsvoll und rümpfte über Medien, die journalistisch anders arbeiteten, gerne die Nase – auch über jene, die sie sich vom Nachbarstisch schnappen wollte.

Natascha maßte sich kein Urteil an über die journalistischen Ansprüche anderer. Hatte sie nie getan. Das war ihr Grundsatz. Rede nicht schlecht über die Konkurrenz, sieh einfach nur zu, dass du deinen Job so machst, dass man gut über deine Arbeit spricht – was im Erfolgsfall vielleicht sogar bedeutet, dass die Konkurrenz schlecht über deine Arbeit redet, weil Erfolg nun einmal geneidet wird. Außerdem waren Geschmäcker verschieden. Das Ressort, das sie leitete, war sicher auch nicht jedermanns Sache. Außerdem konnte man von den Kollegen anderer Medien manchmal auch etwas lernen, es gab so viele gute Reporter.

Beim Gedanken an die redaktionelle Arroganz ihres Chefs griff sie mit besonderer Genugtuung nach dem Blatt. Doch das gute Gefühl währte nur kurz – ihr stockte der Atem.

Die Schlagzeile: Ein Tritt gegen das Herz… vielmehr ein Stich mitten hinein!

In einer Berliner Schule hatte ein vierzehnjähriger Schüler so lange auf einen Mitschüler eingeprügelt, bis dieser noch an Ort und Stelle verstarb. Natascha musste schlucken, als sie den Bericht las, seiner Grausamkeit wegen und auch weil es wie ein Déjà-vu war. In den Medien war immer wieder über ähnliche Fälle berichtet worden, und Natascha hatte sich gefragt, ob sich solche Fälle in letzter Zeit nicht häuften und an Brutalität zunahmen. Auch gestern war in der abendlichen Runde ein solches Beispiel aufgekommen, die Schlägerei in einer U-Bahn, brutal und der heutigen Meldung sehr ähnlich. Sie waren auf dieses schlimme Ereignis gekommen, als sie über die zunehmende Verrohung der Gesellschaft gesprochen hatten und beim Thema der zunehmenden Gewaltbereitschaft gelandet waren. Frank und Mike sagten beide etwas Ähnliches. Etwas wie: »Zu unserer Zeit, als wir noch Kinder oder Jugendliche waren, hat man sich auch geprügelt, das gehörte dazu, vor allem unter Jungs. Das ist halt so. Aber wenn einer am Boden lag, dann hat der andere aufgehört. Nie wäre es jemandem in den Sinn gekommen, hemmungslos und brutal auf einen am Boden Liegenden einzutreten, bis ihm der Schädel bricht. Wo sind wir hingekommen? Die Gewalt kennt heute oft keine Hemmschwelle mehr. Das hat nunmehr eine ganz andere Dimension. Natürlich nicht immer, aber immer öfter. Es ist besorgniserregend!«

Während sie darüber nachdachte und sich erneut in den Artikel der Zeitung vertiefte, bekam Natascha Gänsehaut. Komisch, dass sie ständig über solche Themen stolperte. Passierte so etwas inzwischen wirklich immer öfter, oder stieß sie nur öfter darauf?

Du ziehst diese Themen an wie ein Magnet, weil du selbst schlecht drauf bist, in allem nur noch das Negative siehst und von allem und jedem enttäuscht bist! Die Welt ist schon seit tausenden von Jahren so, es ist nichts Neues! Das gab es schon immer, du nimmst es jetzt nur verstärkt wahr! So und nicht anders ist es!

Hoffentlich schlitterte sie nicht in eine Depression! Natascha da Silva – reiß dich zusammen!

Zeichen der Zeit

Gerd Postlers Arbeitstag startete in der gewohnten und geliebten Routine. Seit dreißig Jahren im selben Job, in derselben Wohnung, mit derselben Frau – was heutzutage zunehmend aus der Mode war, so zumindest Postlers Einschätzung. Für ihn aber war es genau das Richtige. Für ihn zählten Werte wie Treue und Verlässlichkeit, daher hatte es mitunter fast schon neurotische Züge, mit welch beharrlicher Regelmäßigkeit er seinen Aufgaben nachging. Vielleicht aber – und diese Frage hatte er sich früher nie gestellt – scheute er auch nur, Neues auszuprobieren? Nicht, dass er vorhatte, es zu tun. Er war soweit glücklich und zufrieden mit seinem Leben. Und trotzdem – er konnte selbst nicht erklären, warum – hatte er sich in den letzten Tagen immer wieder gefragt, ob ein wenig Würze sein Leben nicht aufpeppen würde? Eine Würze, die bisher eigentlich gar nicht gefehlt hatte…

Diese neuen Gedankengänge irritierten ihn selbst, sie waren so ungewohnt für ihn, einen Mann, der doch genau wusste, was er wollte und wie er tickte und dessen Leben in bewährten Ritualen ablief. War er ein Langeweiler? Nannte ihn sein Bürokollege Norman Beck vielleicht zu Recht »Pantoffelheld«? Er sollte nichts darauf geben, lieber sollte Beck auf sich selbst schauen, so komisch, wie der in den letzten Wochen drauf war. Wie ausgewechselt erschien ihm der Kollege – und das nicht nur einmal. Er verhielt sich seltsam.

Postler hatte keine Ahnung, was mit dem Mann los war, die letzten Jahre hatten sie eigentlich gut zusammengearbeitet. Bis vor Kurzem, aber nun war Beck wie ausgewechselt, als stecke plötzlich eine andere Person in seiner leiblichen Hülle. Und aggressiver war er auch, rastete manchmal regelrecht aus. Den anderen in der Firma schien es gar nicht aufzufallen – aber die arbeiteten ja auch nicht so eng mit Beck zusammen wie er. Inzwischen gab es ständig Reibungspunkte. Anstatt zu arbeiten, ergötzte Beck sich immer häufiger zwischendurch an irgendwelchen Sachen im Internet; ständig streamte er irgendwelche Videos und sogar ganze Filme, postete und chattete, anstatt sich auf ihr Projekt zu konzentrieren. Postler war es egal, ob Beck immer mehr zum Medien-Junkie verkümmerte oder nicht, aber wenn es um ihren beruflichen Erfolg ging, dann hatte er sehr wohl etwas dagegen. Sollte er die ganze Arbeit allein machen? Beim Chef anschwärzen wollte er Beck aber nicht, er hoffte stattdessen, dass es nur eine Phase war und Beck bald wieder konzentriert und zuverlässig seiner Arbeit nachgehen würde. Persönlich zur Rede hatte er Beck allerdings auch noch nicht gestellt. Warum eigentlich nicht? Wahrscheinlich war er eben doch ein Weichei… Besser Weichei als Choleriker wie Beck …

Wie jeden Morgen stoppte Postler nun auf seinem Weg zur U-Bahn an Helgas Kiosk. Ein Start in den Tag ohne Tageszeitung war für ihn undenkbar, und auch der übliche Smalltalk mit Helga gehörte dazu. Verdutzt starrte er nun die fremde junge Dame hinter dem Verkaufstresen an. Helga war nicht da.

»Was darf‘s sein?«, fragte sie mürrisch. Die schlechte Laune stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Helga hat gestern gar nicht erwähnt, dass sie in Urlaub fährt«, stammelte Postler. Helga Lauditz, die Kioskbesitzerin, stand eigentlich immer im Laden, selbst mit hohem Fieber, was er stets kritisiert hatte; doch sie hatte immer nur abgewunken und das Thema gewechselt. »Sie ist doch nicht etwa krank?«, fragte Postler.

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, entfuhr es der jungen Dame barsch. »Ganz richtig in der Birne scheint sie nicht mehr zu sein, drückt mir den Schlüssel in die Hand und haut ab auf Weltreise. Einfach so, von einem Tag auf den anderen, unfassbar!«

»Weltreise?« Postler wusste, dass Helga Auslandsreisen mied wie der Hausstauballergiker einen alten Dachboden.

»Keine Ahnung, was in meine Mutter gefahren ist! Was soll ich mit der Bude hier jetzt machen?!« Die junge Dame hob hilflos die Arme. »Hätte ich heute nicht frei, wäre das Ding zu. Aber die Kosten laufen weiter, und das ist ein Problem! Drückt mir den Schlüssel in die Hand, steigt ins Taxi und haut ab – zack!«

»Ach, Sie sind –«

Postler wurde unwirsch unterbrochen. Ein Mann hinter ihm raunzte: »Also ich geh leider nicht auf Weltreise, sondern muss zur Arbeit, und das möglichst pünktlich. Könnten Sie beide wann anders weiterquatschen?! Hier warten noch andere Leute!«

»Sind in diesem Viertel alle so nett?« Die junge Dame hatte sich zu Postler vorgebeugt. Dabei entspannten sich ihre Züge für einen Augenblick, und sie lächelte Postler verschmitzt an. »Wenn ja, dann versteh ich meine Mutter.« Sie lehnte sich wieder zurück und fragte, nun für alle hörbar und in übertriebener Manier: »Sie wünschen?«

Nachdem Postler seine Zeitung im Aktenkoffer verstaut hatte, schritt er – noch immer leicht verdutzt über die überraschende Seite der Kioskbesitzerin, die sich ihm soeben offenbart hatte – weiter Richtung U-Bahn-Station.

Kurz darauf lief er beinahe an seiner Nachbarin vorbei, ohne sie zu beachten. Was hätte die von ihm gedacht? Dass auch er inzwischen zu einem unhöflichen Stoffel avanciert war? In dem Wohnblock, in dem sie beide wohnten, hatte sich das nachbarschaftliche Klima seit einiger Zeit verändert, kälter war es geworden, um nicht zu sagen: rau. Frau Störz, die Nachbarin, die ihm gerade entgegeneilte, bildete eine wohltuende Ausnahme, sie war noch immer die Alte, fürsorglich und interessiert.

»Guten Morgen Frau Störz. Sie haben‘s ja ganz schön eilig.« Postler schenkte ihr ein Lächeln, bekam aber irritierenderweise heute keines von ihr zurück. »Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Eigentlich schon! Es kam alles nur etwas plötzlich. Jetzt kann ich schauen, wie ich heute und Morgen noch alles schaffe. Sie glauben nicht, was ich zu erledigen habe!«, antwortete sie abgehetzt, während sie, inzwischen auf gleicher Höhe, an ihm vorbeieilte, zu Postlers Verwunderung ohne anzuhalten. Dann wurde ihr offensichtlich klar, dass er überhaupt nicht verstand, wovon sie sprach, und stoppte abrupt. Sie ging drei Schritte zurück. »Guten Morgen«, schob sie jetzt hinterher, »entschuldigen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein, aber ich muss schnell noch zurück in die Wohnung. Ich habe etwas vergessen – und das, wo heute Morgen so viel ansteht!« Sie atmete kurz. »Meine Tochter hat mir gestern verkündet, dass meine Enkelin morgen für ein Jahr nach Afrika fliegt. Für eine humanitäre Hilfsorganisation, einfach so, wie aus dem Nichts. Ich finde das ja richtig toll, aber es kam nur so plötzlich, so überraschend eben, auch für meine Tochter! Sie wissen schon …« Nun lächelte sie kurz. Dann seufzte sie. »Ach, ich habe nicht mehr daran geglaubt, dass sie mit den Monaten bis zu ihrem Studienbeginn noch etwas Sinnvolles anfangen würde. Zuletzt hat sie nur noch zu Hause rumgehangen, ging kaum mehr raus, war nur noch am PC. Ständig Chatten, Serien schauen, stundenlang, jeden Tag. Na ja, Sie wissen ja, wie das ist«, sagte sie wieder. »Heutzutage ist es ja wichtig, in diesen Dingen fit zu sein. Und wenn wir Senioren schon jeden Tag online sind – wer kann es dann der Jugend verdenken?!« Sie hielt Postler ihr Smartphone unter die Nase, das sie noch immer in der linken Hand hielt. Offensichtlich hatte sie es kurz vor ihrem Aufeinandertreffen noch benutzt. »Es war nur so, dass sie plötzlich immer mehr vor dem Bildschirm saß. Ich fand das nicht gut. Das wahre Leben findet doch hier draußen statt«, ruckartig schwang sie ihren rechten Arm vom Oberkörper nach vorne weg und hätte fast Postler erwischt. Sie war jetzt offensichtlich in der gewohnten Plauderlaune, von Eile nichts mehr zu spüren. »Da darf man ja auch mal was sagen, oder nicht?! War halt irgendwie eigenartig, sie hatte sich zunehmend abgekapselt. Da sorgt man sich schon, ob das Kind womöglich bald auf gar nichts mehr Lust hat, vielleicht nicht mal mehr auf das Studium. Und jetzt…« Frau Störz zog die Brauen hoch und machte große Augen, dann stieß sie hörbar die Luft aus und sagte kopfschüttelnd: »Und jetzt ist es das genaue Gegenteil, das andere Extrem kann man fast sagen. Sie stellt den Studienstart zurück, um ein ganzes Jahr in Afrika zu bleiben. Was sagt man dazu?«

Postler wusste nicht, ob er es gut oder schlecht finden sollte, und sagte lieber nichts.

War es nicht zu begrüßen, wenn gerade junge Menschen sich derart engagierten? Und was machte es schon aus in einem so jungen Leben, wenn man ein Jahr früher oder später studierte? Andere stiegen für ein Jahr aus und arbeiteten als Animateurin in einer Clubanlage oder machten Work & Travel. Frau Störz‘ Enkeltochter aber machte eben das – Hilfe leisten, wo die mehr als gebraucht wurde… Andererseits – dafür einen Studienplatz abgeben? Hm. Sicher könnte die junge Dame Menschen helfen, ohne das Land zu verlassen. Wenn es seine Tochter wäre, was würde er ihr raten?

Er selbst hatte keine Kinder, mit solchen Fragen musste er sich also nicht auseinandersetzen.

»Das sind allerdings Neuigkeiten«, sagte Postler. »Ich wünsche Ihrer Enkelin alles Gute! Ich muss jetzt leider los, tut mir leid.«

»Haben Sie das von der Kassiererin im Diskounter um die Ecke gehört?« Frau Störz berührte Postler am Arm, wie um ihn aufzuhalten.

»Was denn?« Postler warf einen Blick auf seine Uhr. Eine Minute hätte er noch. Er wollte nicht unhöflich erscheinen.

»Frau Werner, die Mollige mit den kurzen Haaren, die quasi zum Inventar gehört und seit der Öffnung vor zwanzig Jahren schon dort an der Kasse sitzt…« Sie senkte ihre Stimme.

Postler hatte keine Ahnung, wie lange Frau Werner schon dort gearbeitet hatte – so gut im Bilde über alles und jeden wie seine Nachbarin war er nicht.

»Sie haben es noch nicht gehört?!« Frau Störz sah Postler mit weit aufgerissenen Augen an. »Die hat man gestern festgenommen!«

»Festgenommen? Wie… meinen Sie von der Polizei?« Postler dachte, er hätte sich verhört oder es falsch verstanden.

»Da gab es doch diese Betrugsfälle kürzlich. Die Behörden tappten erst im Dunkeln – aber dann… na ja, es war die Werner mit zwei Komplizen.« Sie schüttelte den Kopf.

»Wollen Sie mich veräppeln?« Was erzählte die Frau denn bloß?!

»Herr Postler! Meinen Sie, ich mache Scherze über so etwas?!«

»Nein… ich meine, wenn Sie das sagen… es ist nur, das ist ja einfach nicht zu glauben… Was hat die denn geritten? Ich kann das gar nicht glauben – die Story ist echt abstrus. Diese brave Frau…« Was war das nur für ein Morgen? Der erste April? Waren alle verrückt geworden. Wie kam es eigentlich, dass er von der Sache noch nichts wusste?

»Wann war das, sagten Sie? Ich habe das gar nicht gelesen – wo ich doch jeden Tag Zeitung lese.« Postler konnte sich an so eine Meldung nicht erinnern.

»Sie lesen ja auch keine lokale Zeitung!« Missbilligend zeigte sie auf seinen Aktenkoffer. Offensichtlich kannte sie seine Gewohnheiten. »Solche banalen Meldungen von kleineren Delikten in den Randbezirken stehen da natürlich nicht drin.« Es klang wie eine Rüge.

Als müsste er sich für die Auswahl seiner Morgenlektüre rechtfertigen, sagte er: »Ich muss aus beruflichen Gründen über den Tellerrand schauen.«

Sie winkte ab, mit einer Geste, die zu sagen schien: Wer interessiert sich noch für das, was mit dem Durchschnittsbürger passiert. Dann sagte sie: »Auf jeden Fall beängstigend. Man denkt, einen Menschen zu kennen, und dann das! Egal, wo man hinschaut, überall Irre. Nehmen Sie doch nur mal den Maier kürzlich – der hat doch tatsächlich –«

»Tut mir leid, Frau Störz, ich muss jetzt wirklich los, sonst verpasse ich meine U-Bahn.« Die Unterhaltung begann, unsachlich zu werden, aber das war nicht Postlers Art. Vom Einzelfall gleich in Verallgemeinerung abzudriften, mochte er nicht. Frau Störz war eine nette Dame, aber sie tratschte manchmal einfach zu gerne. »Ich habe Sie auch schon lange genug aufgehalten. Sie haben doch noch so viel zu tun, Ihre Enkelin und so…«

»Ja! Das stimmt! Wir reden ein anderes Mal weiter.« Es war ihr anzusehen, dass sie sich bei der Verbreitung des Buschfunks ertappt fühlte. Die Sache mit der Kassiererin aber war den Tratsch wert. Unerklärlich!

Postler verabschiedete sich rasch von seiner Nachbarin und schritt nun etwas zügiger als zuvor Richtung U-Bahn-Station.

Heute war Donnerstag, und wie jeden Donnerstag fing er statt um acht erst um zehn Uhr an, genau wie auch jeden zweiten Dienstag. Die gewohnte Routine, ein beständiger Pfeiler im Wirrwarr des immer turbulenteren Alltags. Und eine Möglichkeit, die Wochen im Voraus exakt zu planen. So hatte er es am liebsten.

Er ergatterte einen der wenigen freien Sitzplätze, holte die Zeitung aus seinem Koffer und schlug sie auf. Die U-Bahn-Fahrt dauerte exakt dreiunddreißig Minuten – genug Zeit, um die üblichen Rubriken in der Zeitung zu überfliegen. Meist kam er beim Lesen exakt bis zum Sportteil, das unterstrich seine morgendliche Routine. Den Rest würde er in der Mittagspause querlesen, wie immer. Dafür gönnte er sich dreißig Minuten, dann blieben ihm fünfzehn Minuten fürs Essen, Fleischkäse mit Bratkartoffeln würde heute seine Wahl in der Kantine sein, wie jeden Donnerstag.

Nach wenigen Sekunden schon blieb er an einer Zeitungsmeldung hängen. An ein und demselben Tag waren gleich in mehreren Städten Menschen von völlig Fremden vor den einfahrenden Zug gestoßen worden. »Geschubst« hieß es. Aber war das nicht ein viel zu niedliches Wort für so eine unfassbare Tat? Diese Grausamkeit schien sich auszubreiten wie ein Virus, und er wollte sich gar nicht vorstellen, wie oft eine solche Tat dann nachgeahmt wurde. Hatte er nicht neulich etwas über diesen »Schneeballeffekt« gelesen? Die Vorfälle hatten offensichtlich nichts miteinander zu tun, aber sie ähnelten sich und folgten zeitlich nah aufeinander. Jetzt noch von Einzelfällen zu sprechen, wäre irreführend.

In dem Artikel kam auch ein Sicherheitsexperte der Regierung zu Wort. Man müsse intensiv über strengere Gesetze zur Überwachung diskutieren, um Ereignissen wie diesen zuvorzukommen, sagte er. Um Ereignissen zuvorzukommen? In U- und S-Bahn-Stationen waren doch ohnehin bereits ausreichend Kameras angebracht. Offensichtlich schreckten die niemanden ab. Wie sollten denn noch mehr Kameras diese Dinge verhindern? Sie erleichterten doch lediglich das Ergreifen der Täter. Viel mehr Arbeit müsste in die Prävention solcher Gewalt gesteckt werden, das wäre sinnvoll! Die Frage war doch: Was lief schief, dass es dazu kam? Was trieb die Täter dazu? Diesen Fragen müsste man stärker nachgehen! Kameras gehörten trotzdem dorthin.

Was war das nur für eine Zeit? Was war los mit den Menschen?

Postler blätterte weiter und blieb an einem erfreulicheren Artikel hängen. Zwischendurch schaute er aus dem Fenster. Gerade fuhren sie aus dem Tunnel. Ein Blick auf die Uhr. Auf die Minute! Es ging doch nichts über Pünktlichkeit… Die U-Bahn war zuverlässiger als der morgendliche Straßenverkehr. Gleich fuhren sie über einen Bahnübergang. Danach noch einundzwanzig Minuten bis an sein Ziel. Zeit für den morgendlichen Müsli-Riegel. Die Sorte, die er seit Jahren jeden Morgen verspeiste. Akkurat faltete Postler die Zeitung zusammen und öffnete den Aktenkoffer. Da steckte der Riegel, an Ort und Stelle. In appetitlicher Vorfreude griff er danach.

Plötzlich gab es einen heftigen Ruck, ein ohrenbetäubendes Schleifen war zu hören. Postler katapultierte es nach vorne, direkt auf sein Gegenüber, der Koffer flog herunter und der Inhalt auf den Boden, Passagiere schrien, verloren ihr Gleichgewicht, gerieten ins Schwanken, einige fielen zu Boden, andere wurden auf ihren Sitzen durchgerüttelt.

Der Bahnfahrer musste eine Notbremsung eingelegt haben – die einzige Erklärung, die Postler einfiel. Gänsehaut überkam ihn – er ahnte, warum der Zug stoppte.

Zeichen der Zeit

Fritz Schuster harkte das bunte Herbstlaub zusammen. Ihm und seiner Frau Erna fiel es zunehmend schwer, sich um ihren Schrebergarten zu kümmern. Für Senioren ihres Jahrgangs waren sie beide zwar ausgesprochen fit – fünfundachtzig und noch immer imstande, den Alltag allein zu bewältigen, das war nicht allen vergönnt. Und doch – die Jahrzehnte waren auch an ihnen nicht spurlos vorbeigezogen, und Arbeiten wie diese waren inzwischen erheblich mühsamer. Ihre erwachsenen Kinder lebten weit entfernt, und es war klar, dass sie ihren eigenen Weg gingen, wo auch immer dieser sie hinführte, ob der Liebe wegen oder aus beruflichen Gründen. Dort hinziehen, wo eines ihrer Kinder lebte, wollten sie aber nicht, zu sehr hingen sie an ihrer Heimat und an ihrem geliebten Garten. Schusters Freunde und Bekannte waren entweder auch nicht mehr die Jüngsten oder bereits verstorben. Niemand bot Hilfe an, und um Helfer zu bezahlen, reichte ihre Rente nicht.

Den Schrebergarten aufgeben, das kam aber nicht in Frage. Letztlich tat ihnen die Bewegung an der frischen Luft auch gut. Der Hauptgrund aber war, dass ihr Herzblut an diesem Kleinod am Stadtrand hing. Jahrzehntelang hatten sie nahezu jede freie Minute hier verbracht und den Garten mit viel Sorgfalt und Liebe gestaltet. Daher hielten sie weiter daran fest.

Fritz Schuster hielt kurz mit dem Harken inne und schenkte seiner Erna ein liebevolles Lächeln. Die balancierte vorsichtig das Tablett, auf dem duftender Kaffee und ihr legendärer Käsekuchen standen, aus dem gemütlichen Gartenbungalow in Richtung Verandatisch.

In diesem Augenblick unterbrach lautes Gegröle die idyllische Ruhe in der Schrebergartenanlage. Schuster entging die sorgenvolle Miene nicht, die sich schlagartig im Gesicht seiner Frau breitmachte.

In den letzten Wochen hatten die Pöbeleien überhandgenommen. Nicht dass die Schusters kein Herz für jugendliche Energieabladungen gehabt hätten – sie waren schließlich selbst mal jung gewesen. Das war ihre Devise im Umgang mit jungen Menschen, die hin und wieder über die Stränge schlugen. Aber aus Gegröle der Jungs – allesamt Kinder von Schrebergartenbesitzern – war mittlerweile öfters ein schwerer Konflikt entstanden, der nicht mehr mit pubertärem Hormonchaos zu erklären, geschweige denn zu entschuldigen war.

In einigen Schrebergärten hatte es bereits Vorfälle gegeben, die man nicht mehr »unerheblich« nennen konnte. Um des lieben Friedens willen hatte man es unter den Tisch gekehrt. Oder das Finanzielle diskret mit den Eltern der Kinder geregelt. Inzwischen war das Ausmaß der Beschädigungen und Ruhestörung allerdings signifikant angestiegen – so weitergehen konnte es auf Dauer nicht. Zur Anzeige hatte die Vorfälle bisher dennoch niemand gebracht, keiner wollte den Jugendlichen ihre Zukunft verbauen, nicht zuletzt weil man einige von ihnen bereits von klein auf kannte. Doch den Tätern fehlte bisher jede Einsicht, und Besserung war nicht in Sicht.

Schuster machte sich Sorgen um diese jungen Menschen. Irgendetwas lag im Argen. Sie verhielten sich seltsam, immer aggressiver und unberechenbarer. Schlimm genug, dass sie regelmäßig so viel tranken. Das allein reichte ihm als Erklärung aber nicht aus, da musste mehr dahinterstecken. Hoffentlich waren keine harten Drogen im Spiel! Was war nur los mit diesen Jungs? Ein falscher Blick, ein falsches Wort oder schlicht die Tatsache, dass jemand zur falschen Zeit in ihrem Blickfeld erschien, konnte genügen, und sie drehten durch.

Manche Kleingärtner spielten es herunter und sagten, diese Teenager wären schlicht unerzogen. Doch Schuster teilte diese Ansicht nicht. Das griff einfach zu kurz. Den Eltern war die Erziehung und das Wohl ihrer Kinder auch nicht egal gewesen – im Gegenteil! Offensichtlich aber hatten sie nicht den gewünschten Erfolg erzielt.

Die Frage war also, was mit diesen jungen Leuten wirklich los war! Für Schuster unmöglich zu beantworten. Diese Kinder trugen eine Aggression in sich, die nichts mehr mit den Pöbelattacken der Halbstarken früherer Zeiten zu tun hatte. Derart hemmungsloses Verhalten kannte Schuster so nicht. Und wenn er die Zeitungsberichte verfolgte, so schienen immer häufiger bereits Kinder im Alter von zehn bis vierzehn Jahren aufzufallen, sie wurden immer früher und immer öfter aggressiv und handgreiflich, sogar Älteren gegenüber, wenn die in der Unterzahl und somit trotz ihres Alters unterlegen waren. Immer häufiger las Schuster von solchen Gewaltattacken, gehäuft auch gegen junge Frauen. Triebtäter im Kindesalter – wo hatte es früher so etwas gegeben? Schuster konnte sich nicht erinnern. Bei all diesen Meldungen gewann er dann hin und wieder doch den Eindruck, dass sich die Dimension jugendlicher Aggressivität verändert hatte, es war extremer als früher und ging in jüngerem Alter los. Hemmungsloser, brutaler.

Aber vielleicht bewertete er das heute einfach strenger. Es konnte doch sein, dass es früher nicht anders gewesen war. Vielleicht war damals nur sein Blickwinkel ein anderer gewesen. Und schließlich gab es ja in der heutigen Zeit auch das genaue Gegenteil, so jedenfalls argumentierte er für gewöhnlich, wenn man die »Jugend von heute« pauschal in die Sorgenschublade steckte. Dann wies er gerne darauf hin, dass sich immer mehr Jugendliche sozial engagierten, humanitär, ehrenamtlich und sogar auch politisch, dass sie im Umweltschutz aktiv waren oder ein freiwilliges soziales Jahr leisteten, dass sie höflich waren, freundlich, fleißig, zielstrebig und ihr Leben schon früh in die richtigen Bahnen lenkten.

Eine wahre Generation von Weltverbesserern war da herangewachsen, das fiel Schuster in letzter Zeit mehr denn je auf. Viele junge Leute setzten sich auf dieser Welt für das Gute ein und kämpften gegen negative Strömungen. Manche schwammen auch mal kraftvoll gegen den Strom, wenn es sein musste und ethisch richtig war. Andere aber riss der Fluss dieser seltsamen Gewalt mit sich und trieb sie Richtung Abgrund – es blieb dann zu hoffen, dass sie einen Rettungsring zu fassen bekamen, bevor es zu spät war.

Es gab einfach solche und solche, wie bei den Erwachsenen eben auch. Wie es eben immer schon gewesen war. Allerdings gewann Schuster zunehmend den Eindruck, dass sich etwas in diesem Heute veränderte. Vielleicht täuschte er sich auch, reagierte mit hypersensibler Wahrnehmung auf die gesellschaftlichen Veränderungen. Und doch: es kristallisierten sich, so schien es ihm, Extreme heraus, alles schien ausgeprägter als noch vor ein paar Jahren, egal in welcher Hinsicht. Extrem gutes Verhalten war ja zu begrüßen – wer konnte sich schon zu gut verhalten? Liebevolles, menschliches, gerechtes und soziales Verhalten konnte man doch nie genug an den Tag legen, je mehr davon, desto besser. Oder nicht? Extrem negatives Verhalten allerdings war zweifelsohne ein Problem.

Schuster hatte genug Lebenserfahrung, um zu wissen, dass oft gerade die rebellischen Jugendlichen besonders sensibel waren und man ihr Verhalten mehr hinterfragen musste, anstatt es vorschnell zu verurteilen. Diese angebliche Null-Bock-Generation versuchte letztlich nur, sich von den Erwachsenen abzugrenzen. Vieles war Fassade, hinter die zu blicken sich lohnte und den Zugang zu diesen jungen Menschen ermöglichte. Die Kunst war es, eine Brücke zu bauen zwischen Jung und Alt, zwischen den Generationen und unterschiedlichen Lebensmodellen.

Vor Kurzem hatte Schusters Sohn gesagt, dass die »Jugend von heute« mitunter sogar vernünftiger sei als es ihre Eltern im selben Alter gewesen waren. Sein Jüngster hatte kürzlich zu seinem achtzehnten Geburtstag eine große Party veranstaltet, um die fünfzig Jugendliche waren gekommen, und Schusters Sohn, der die Feier mit Argusaugen beobachtet hatte, war positiv überrascht gewesen, wie konsequent das Kein-Alkohol-bei-denen-die-fahren gehandhabt wurde. Er hatte festgestellt, dass es zu seiner Zeit oft weit weniger vernünftig hergegangen sei. Nein, es war nicht so, dass die heutige Jugend chaotischer war als je zuvor. In mancher Hinsicht hatten sie die Dinge sogar besser unter Kontrolle als früher ihre Eltern – oder wenigstens nicht schlechter.

Keinesfalls stand es um die Jugend so schlecht, wie oftmals behauptet wurde, so Schusters feste Meinung. Aber nicht alle in seinem Alter sahen das so, schon gar nicht in dieser Kleingärtneranlage, und erst recht nicht, nachdem sich in den letzten Monaten das in vielen Köpfen vorhandene Klischee bezüglich der »Jugend von heute« zu bestätigen schien.

Schuster hatte für sein Alter eigentlich einen guten Draht zu jungen Menschen. Ohnehin war er ein sehr moderner Rentner, nutzte den PC, besaß ein Smartphone und surfte bei Bedarf durchs Internet. Auch bezüglich der Rentner gab es Klischees, eben nicht nur, wenn es um die Jugend ging. Und dennoch, trotz allem: Diese Jungs hier verbreiteten Angst und Schrecken, und beides stand seiner Erna nun ins Gesicht geschrieben, sie war aschfahl. So konnte es nicht weitergehen!

Die Jungs kamen immer näher, alle drei hielten ihre Smartphones in der Hand. Der Junge in der Mitte – Schuster schätzte ihn auf sechzehn oder siebzehn – hielt seines so, dass alle drei auf das Display schauen konnten. Was auch immer sie sich da gemeinsam anschauten, es schien, als heizte es ihre Stimmung so richtig an. Das Gegröle wurde immer lauter. Gehässiges Lachen, das aus ihren höhnisch verzerrten Mündern drang, wechselte sich ab mit begeistertem Geschrei in dem für viele junge Leute üblichen Sprachjargon, an dem sich Schuster allerdings noch nie gestört hatte. Die Jugend hatte nun mal ihre eigene Sprache, auch wenn diese nicht die seine war.

Irgendetwas, das sich auf dem Display abspielte, zog sie mächtig in den Bann. Anfeuernde Rufe, dann wieder Jubelschreie, hin und wieder unterbrochen von enthusiastischen Kommentaren zu dem, was sie auf ihrem Smartphone verfolgten. Dann wieder Sekunden, in denen die drei fasziniert, regelrecht verzückt, ja fast wie in Trance auf das Smartphone starrten. Gebannt, wie im Sog, um kurz danach wieder auszuflippen. Schuster beobachtete das jugendliche Treiben aus dem Augenwinkel. Mit einer beruhigenden Geste signalisierte er seiner Frau, einfach weiterzumachen und die Situation zu ignorieren. Die Ruhe, die er seiner Frau zu vermitteln versuchte, spürte er selbst allerdings nur bedingt: Er wusste, dass auf den an seinen Garten grenzenden Parzellen gerade niemand war.

Schuster nahm wieder seine Harke auf, um sich weiter dem Laub zu widmen. Er warf einen letzten kurzen Blick auf die Jugendlichen. Als hätte er es gespürt, hob einer von ihnen seinen Blick und schaute zum Schrebergarten der Schusters, exakt in Richtung des rüstigen Rentners.

»He, was glotzt du so blöd!« Der Junge ließ das Smartphone sinken und löste sich aus der Gruppe. Nun blickten auch die anderen beiden zu Schuster herüber. Der tat das, was er für das einzig Richtige hielt: er ignorierte den Pöbler und harkte das Laub.

»He, ich rede mit Dir, alter Mann!« Der Junge schritt auf den Zaun zu.

Schuster ahnte, dass der Junge gleich mit dem Fuß gegen den Zaun treten und diesen sicherlich beschädigen würde. Genau das hatte er kürzlich beim Gartennachbarn getan, der die Sache allerdings – nur um es sich nicht mit den Eltern des Jungen zu verscherzen – auf sich hatte beruhen lassen. Ein Fehler, wie Schuster fand, man konnte sich nicht alles bieten lassen. Nun aber hoffte Schuster, dass die Gruppe einfach weiterziehen würde, wenn er selbst ruhig und besonnen blieb.

Plötzlich sprang der junge Mann über das Gartentor, rannte auf Schuster zu, riss ihm die Gartenharke aus der Hand – mit einer Wucht, dass Schuster zu Boden stürzte. Dann stürmte er auf die Veranda zu. Erna erstarrte, das Tablett, das sie gerade in den Händen hielt, fiel scheppernd auf die Steinfliesen. Wie von Sinnen schlug der Teenager mit der Harke erst auf die Hollywood-Schaukel und dann auf die Gartensitzelemente ein. In seinem Zerstörungswahn ritzte er die Polster auf und warf dann die Langstiel-Harke mitten in die Fensterscheibe, die klirrend in tausend Scherben zerbarst. Dann machte er einen Satz auf Erna Schuster zu und schrie sie so plötzlich an, dass sie vor Schreck nach hinten auswich, dabei rückwärts über einen großen Terrakotta-Topf stolperte und zu Boden stürzte. Die anderen Jungen standen draußen auf dem Weg und grölten, als genössen sie seine Aktion noch mehr als das, was sie zuvor auf dem Smartphone gesehen hatten.

»Erna!«, schrie Fritz Schuster. Wut stieg in ihm auf. Er wünschte sich, noch einmal jung zu sein und sich den Kerl vornehmen zu können – entschloss sich aber, der Realität ins Auge zu blicken und lieber sofort zu seiner Frau zu eilen. Währenddessen schnappte sich der Junge eine gegen das Holzhaus gelehnte Schaufel und schlug damit auf alles ein, was ihm unterkam. Dann rammte er sie vor einer kleinen Buchsbaumreihe in die Erde und hob mit Wucht einen Teil der Büsche halb aus der Erde aus. Das alles geschah in einer Art Automatismus und in so rascher Abfolge, als wäre der Junge fremdgesteuert und nicht Herr seiner selbst. Außer Kontrolle im wahrsten Sinn des Wortes. Dann rannte er zurück zum Garteneingang, trat dort links und rechts neben dem hölzernen Gartentor mit dem Fuß in den Maschendrahtzaun, so fest, dass dieser ausbeulte. Zum Abschluss seiner Verwüstungstat trat er mit aller Kraft gegen das Holztürchen, das krachend aus den Angeln brach.

»Krass, Alter, so was von cool, ey! Fast so cool wie Bash – ey geil!«, rief einer der Jungs begeistert und deutete wie wild auf das Smartphone. »Du bist echt fast schon wie der!« Er grinste und hielt seine Hand hoch. »High Five, Mann!« Der Junge, der soeben einen Teil des Gartens zerstört hatte, schlug ein.

»Kommt, lasst uns verschwinden, es geht gleich weiter«, er zeigte auf das Smartphone, »nicht, dass wir den Rest verpassen.« Er drehte sich nicht einmal mehr zum Garten um und lief einfach davon, einer der beiden anderen direkt hinterher.

Der dritte Junge lief nicht sofort mit, sondern zögerte einen Augenblick. Sein Blick traf auf Schusters Blick. Der hatte gerade seiner Erna hochgeholfen, die glücklicherweise unverletzt war, und blickte nun, seine Frau stützend, zum Garteneingang. Trotz der Entfernung konnte Fritz Schuster etwas wie Erleichterung wahrnehmen, vielleicht auch Reue oder Unverständnis. Oder alles davon. Schuster konnte den Gesichtsausdruck nicht deuten, und es war auch nur ein flüchtiger Augenblick. Denn gleich darauf hob der Junge die Hand, zeigte den beiden Senioren seinen ausgestreckten Mittelfinger und schickte sich an, es den anderen beiden Jungen gleichzutun und zu verschwinden.

München

Wer nicht bereits depressiv war, lief Gefahr, es bei diesem Wetter zu werden, dachte Natascha, als sie und Lea aus dem Terminal des Flughafens ins Freie traten und die nasskalte Novemberluft sie umhüllte. Das Grau des nebligen Herbstwetters passte perfekt zu ihrer trüben Stimmung und der Beklemmung, die sie ergriff, wenn sie daran dachte, dass sie schon morgen dem deprimierenden Redaktionsalltag wiederbegegnen würde. Es war, als trete sie soeben von einer Welt in eine andere, und sie wünschte sich zurück. Eine Windböe pfiff mit solcher Wucht von hinten, als wollte sie Natascha vollends in die Realität hineinschubsen.

Eine Stunde später schloss sie die Tür zu ihrer Wohnung auf, und der heimelige Geruch empfing sie. Ihr Zuhause zumindest verströmte Geborgenheit. Den Rest des Tages machten Lea und sie es sich gemütlich, gingen zwischendurch einkaufen und begannen, die ersten Wäscheladungen zu waschen. Der Postlagerauftrag würde erst morgen enden und die Post erst dann wieder zugestellt werden. So beschränkten sich die Neuigkeiten, die während ihrer Abwesenheit aufgelaufen waren, auf den AB. Viel war nicht drauf, denn sie hatte von Mallorca aus zweimal per Fernabfrage die Nachrichten abgehört, und ihre privaten Mails hatte sie im Urlaub ohnehin gelesen.

Am nächsten Morgen brachte sie Lea gleich um sieben Uhr dreißig in den Kindergarten und fuhr dann direkt in die Redaktion – und wünschte sich, sie hätte noch einen Urlaubstag als Puffer eingebaut.

Als sie die Redaktion betrat, hatte sie ein komisches Gefühl. Es war, als schwebe irgendetwas in der Luft. Waren es die Blicke und Begrüßungen der Kolleginnen und Kollegen, die anders waren als sonst? Redete sie es sich ein, oder suchten manche von ihnen unmerklich das Weite, bevor sie an ihnen vorbeilaufen konnte? War das gerade ein mitleidiger Blick gewesen? Galt der ihr? Warum grinste die Verena so höhnisch? Warum war der Bernd so kurz angebunden, er hatte doch sonst immer Lust auf ein Schwätzchen. Komisch. Es herrschte die übliche morgendliche Hektik in der Redaktion, das gewöhnliche Gewusel und Gemurmel, und dennoch… Ach, was soll’s, wahrscheinlich hatte der Chef wieder mal schlechte Laune, wie meistens. Wobei – hatte der nicht jetzt Urlaub? Sie meinte, sich zu erinnern, dass er vor ihrer Abreise etwas in der Art angedeutet hatte. Umso besser, das hellte das dunkle Grau des Tages mächtig auf!

Natascha goss sich einen Kaffee ein, wechselte ein paar flüchtige Worte im Vorbeigehen, wurde aber das Gefühl nicht los, dass irgendetwas im Argen lag. Der Chef war wirklich seit heute im Urlaub, das hatte sie in Erfahrung gebracht. Prima! Der Tag konnte somit eigentlich nur noch besser werden!

Sie startete ihren PC, und während der hochfuhr, durchstöberte sie ihr Fach. Es hatte sich eine Menge angesammelt. War ja klar. Nachdem der Computer hochgefahren war, checkte sie ihr elektronisches Postfach, überflog die Mails, löschte direkt jene, die sie für unwichtig hielt, und teilte die zu bearbeitenden in A-, B- und C-Aufgaben ein – außer, sie waren in einer Minute zu beantworten, dann nahm sie sich ihrer sofort an. So arbeitete sie sich wie immer von den älteren zu den neuen Mails durch, auch wenn gute Gründe dafür sprachen, es genau andersherum zu tun.

Minuten später ließ sie eine der Mails stocken. Sie war gerade mal zwei Tage alt. Dem Betreff nach zu urteilen, handelte es sich um ein Meeting, das man für den nächsten Tag, also gestern, anberaumt hatte, und es war offensichtlich um das Ressort gegangen, das ihrer Verantwortung unterlag. Was sollte das? Was konnte so dringend gewesen sein, dass man es nicht noch einen Tag hätte verschieben können, bis sie wieder da war?! Urplötzlich schob sich da etwas in ihr Hirn, sie konnte nur nicht deuten, was.

Schnell scrollte sie die Mails nach oben. Sie würde ja wohl zumindest im Nachgang eine Info erhalten, um was es bei der Sitzung gegangen war, in ihrem Postkorb war nämlich kein Protokoll gewesen. Aber da war auch nichts! Dann wird es so wichtig nicht gewesen sein… Hm… Egal.

Trotzdem, sie fühlte sich außen vor – wieder einmal. So erging es ihr in letzter Zeit ständig. Sie war ja nicht blöd! Es war offensichtlich, dass ihr Chef sie permanent wie Luft behandelte oder gleich nach besten Kräften mobbte. Er wollte sie loswerden, das war ihr schon länger klar. Einzig die Wertschätzung, die der Herausgeber ihr entgegenbrachte, gab ihr Rückhalt, der kannte ihre journalistischen Qualitäten, während ihr Chefredakteur sich von den erotischen Qualitäten dieser Schlampe Vivian buchstäblich um den Verstand bringen ließ. Dass Vivian scharf auf ihren Job war, wusste im Prinzip jeder. Und auch, dass der Chef scharf auf Vivian war. Und dass Vivian mit dem Chef seit einer Weile ins Bett hüpfte sowieso. Ein offenes Geheimnis. Interne Liebeleien, denen sie schlicht im Wege stand. Nicht, dass sie etwas dagegen hätte – obwohl… wenn es nur darum ging, sich in der Firmenhierarchie von unten nach oben zu bumsen, um auf diese Weise Karriere zu machen, dann konnte sie es nicht leiden! An meinem losen Mundwerk will ich zwar arbeiten – aber das heißt ja nicht, dass ich nicht Klartext denken darf!

Vor einer wie Vivian konnte sie einfach keinen Respekt haben. Sie habe sich hochgearbeitet, hieß es gemeinhin. Hochgearbeitet – na klar! Die Frage war nur, wie! Nach oben gebumst, das war auch noch untertrieben. Sie hatte im Erdgeschoss angefangen, damals noch als kleine Praktikantin, und kein Stockwerk und keine Chance ausgelassen. Nun saß sie in der obersten Etage von Blueball News. Hier saß der Chefredakteur, hier hatten die wichtigsten Ressorts ihren Platz und die besten Ressortleiter und wichtigsten Redakteure auch. Diese Anordnung war vor ein paar Jahren auf Balders Mist gewachsen und Spiegelbild seiner Arroganz. Natascha hatte sich hart nach oben gearbeitet, Vivian hingegen sich hart nach oben… Natascha!

Komm runter! Du redest sonst nicht so, und die Tussi ist es nicht wert! Vivian entsprach so sehr dem Klischee der Betriebsschlampe, dass Natascha es nicht glauben würde, wüsste sie es nicht besser. War sie in einem klischeehaften Hollywood-Streifen gefangen?! Selbst der miese Chef kam darin vor: Balder.

Sie lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück und nippte nachdenklich an ihrem Kaffee. Das eigentliche Problem war ein anderes. Balder hatte Natascha fortwährend angebaggert und war richtig penetrant gewesen. Doch er hatte immer darauf geachtet, dass es nicht offensichtlich war und sein Image sauber blieb. So richtig bei Balder verkackt hatte sie es nämlich erst, seit sie auch auf der Weihnachtsfeier letztes Jahr nicht auf seine Anmache angesprungen und – anders als Vivian kurze Zeit später – auch nach ein paar Gläschen zu viel nicht mit ihm in die Kiste gesprungen war. An dem Abend war das Ganze zum Höhepunkt gekommen – nur nicht zu dem, den er im Sinn hatte… Wie könnte sie auch! Der Kerl sah zwar gut aus, war finanziell gutgestellt, bestens vernetzt und einflussreich. Doch er war ein Widerling – zumindest nach Nataschas Geschmack. Geschmäcker waren ja bekanntlich verschieden. Seit diesem Event stand Natascha nun auf seiner Abschussliste.

Dieser geile Bock! Wenn es so weitergeht, kostet mich sein verletztes Ego noch meinen Job! Wie in Trance starrte sie auf den Monitor. Sie würde zu gern wissen, um was es bei dem Meeting gegangen war. Was war so wichtig gewesen, dass es nicht hatte warten können, und gleichzeitig so banal, dass man es nicht für nötig erachtet hatte, sie im Nachgang einzuweihen? Es ging schließlich um ihr Ressort!

Nataschas Smartphone riss sie aus ihren Gedanken. Gleichzeitig poppte ein kleiner Briefumschlag auf ihrem Monitor auf. Eine Mail. Absender war der Mann, der auf der Liste der Mistkerle in ihrem Leben auf Platz zwei rangierte, wenn auch mit meilenweitem Abstand zu ihrem Ex: Klaus Balder, ihr Chefredakteur.

Sie ahnte nichts Gutes. Derzeit stand sie in der Redaktion extrem unter Druck. Nachdem sie die Mail gelesen hatte, wünschte sie sich, sie hätte die drei Kamikaze-Taucher von ihrem letzten Tauchgang dazu gebracht, bei ihrer nächsten Mission Balder ins Visier zu nehmen… Nataschas offensichtlich bereits chronische Wut hatte ein neues Ziel: Balder. Sie las die Zeilen noch einmal und konnte nicht glauben, was er ihr geschrieben hatte:


Hallo Natascha,

in unserer gestrigen Sitzung sind wir zu dem Entschluss gekommen, »Die Augenöffner« einzustampfen. Wir wollen der zuletzt von Flops gebeutelten Rubrik allerdings noch eine letzte Chance geben. Liefern Sie uns einen Burner, etwas, das die Leser mitreißt! Ein Thema, das wir über mindestens vier Folgen ausschlachten und mit dem wir die Reichweite von Blueball News wieder dorthin katapultieren können, wo sie war, als Ihr Vorgänger noch verantwortlicher Redakteur war. Schaffen Sie das? Ich hoffe es! Ansonsten müssten wir uns zum Quartalsende ernsthaft über Ihre Zukunft unterhalten. Ich muss es leider so deutlich zum Ausdruck bringen. Lassen Sie es nicht so weit kommen! Ich zähle auf Sie, Sie packen das! Überlegen Sie sich was, packen Sie ein heißes Eisen an, etwas, das die Menschen bewegt und am Puls der Zeit ist. Und machen Sie etwas daraus, und das schnell! Nehmen Sie die Sache selbst in die Hand, überlassen Sie es nicht Ihrem Team. Back to the roots, Natascha! Zeigen Sie, dass Sie es noch immer können, besser als alle anderen. Zeigen Sie, dass Sie zu Recht das Ressort in den Händen haben. Lassen Sie sich von Ihren Redakteuren unterstützen, aber nehmen Sie das Projekt selbst in die Hand – somit gibt es hinterher auch keine Entschuldigung, kein Versagen der anderen, nur das Ihrige. Aber Sie werden nicht versagen.

Wenn doch, haben wir ein Problem, Natascha. Ein großes Problem. Das ist mein Ernst. Und Ihre Chance. Die hoffentlich nötige Motivation für Sie… Ich gebe Ihnen eine Woche, um sich auf ein Reportage-Thema festzulegen. Und weitere vier Wochen, um zu recherchieren und die Reportage zu schreiben. Vermasseln Sie es nicht! Und Natascha: konzentrieren Sie sich endlich wieder auf Ihren Job, dann wird auch etwas daraus…! Wir sehen uns nach meinem Urlaub. Bis dann…

Gruß Klaus Balder

Fassungslos starrte Natascha auf den Bildschirm. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Nach einem Augenblick voller Resignation fasste sie einen Entschluss. Die Augenöffner, das war ihre Rubrik, und sie würde sie sich nicht wegnehmen lassen! Sie würde Balder die Augen öffnen – und den Lesern gleich mit. Sie würde ihm die Stirn bieten! Und sie wusste, mit welchem Thema sie das tun würde: die Verrohung der Gesellschaft, das Thema, das sie regelrecht zu verfolgen schien. Vielleicht sollte es so sein?! Sie schnappte sich einen Notizblock und einen Stift und schrieb auf:

Mangelndes Einvernehmen unter den Menschen – Empathie- und Rücksichtslosigkeit – Übervorteilen, Ausboten, Ausstechen der Anderen – für das Erreichen eigener Ziele über Leichen gehen, und das oft auch real – Hartherzigkeit und Selbstsucht, wohin man blickt – Egoismus und Geiz sind up to date – Ich-Bezogenheit und fehlende Hilfsbereitschaft zeichnen die heutige Zeit aus – Ellenbogengesellschaft, das System der Wirtschaft – Gier – Macht – Geld – Wachstum.

Als wäre die offensichtliche Tendenz zur zunehmenden Rücksichtslosigkeit und Kaltherzigkeit des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft nicht schlimm genug, schien es, wohin man auch blickte, in der Bevölkerung eine wachsende Gewaltbereitschaft zu geben. Die Gesellschaft verrohte nicht nur immer mehr – sie erkrankte!

Und Natascha fiel auch direkt ein Name für die neue Brennpunkt-Reportage ein: Zeichen der Zeit. Diese Worte richteten sich auch an sie, wenngleich auf andere Weise. Ja, es war an der Zeit, ihr Leben neu anzupacken, privat, beruflich, vielleicht auch in der Liebe. Sich herauszuziehen aus diesem Sumpf von Frust und Selbstmitleid. Die alte Natascha, die selbstsichere, fröhliche und nicht ständig missmutige Natascha aus dem Schlamm, dem Morast zu ziehen, in dem sie vor langer Zeit versunken war. Die wahre Natascha! Vielleicht war all das heute ein Zeichen der Zeit, ein Signal für den Aufbruch, eine Reise, ein Neubeginn. Schade nur, dass jene Zeichen der Zeit, die ihre Gedankenkette angestoßen hatten, so gar nicht zu ihrer Aufbruchstimmung passten – ganz im Gegenteil.

Zeichen der Zeit

Erst Stunden später kam Gerd Postler ins Büro. Noch immer zitterte er am ganzen Leib. Der Schock saß tief. Die Bahnstrecke war noch immer gesperrt – und das würde die nächsten Stunden auch so bleiben. Die Vorstellung, dass die U-Bahn, in der er gesessen hatte, einen Menschen getötet hatte, ließ Postler einfach nicht los. Natürlich wusste er, dass niemand in der U-Bahn es hätte verhindern können. Und doch fühlte er sich in die dramatischen Ereignisse verwickelt, ganz anders, als wenn er nur aus der Zeitung davon erfahren hätte. War es ein Selbstmord gewesen? Oder war wieder jemand vor den Zug gestoßen worden? Er würde es morgen in der Zeitung lesen oder vielleicht sogar schon heute aus dem Radio oder Internet erfahren.

Das Schicksal des verstorbenen Menschen berührte und erschreckte ihn zugleich, er war verwirrt. Verwirrt durch das, was um ihn herum geschah. Da draußen spielte in letzter Zeit so vieles verrückt, war verrückt, ver–rückt im wahrsten Sinne, irgendetwas war dabei zu entgleisen. Ein unpassendes Bild nach dem, was heute auf den Gleisen passiert war, und doch beschrieb es genau sein Empfinden. Bildete er sich nur ein, dass irritierende, bedrohliche, schockierende Ereignisse zunahmen? Und warum fielen ihm plötzlich und so zahlreich eigenartige Dinge und Veränderungen an seinen Mitmenschen auf?

Er wollte und konnte sich damit aber jetzt nicht beschäftigen – in wenigen Minuten stand das Meeting an. Darauf musste er sich jetzt konzentrieren, der Tag war schon genug aus dem Ruder gelaufen.

In diesem Moment betrat Postlers Kollege Beck das Büro. Kein Wort zu dem Vorfall mit der Bahn, dabei hatte er inzwischen bestimmt schon davon gehört. Wie konnte er nur so empathielos sein? Oder sah Beck es einfach nur so nüchtern, wie er es besser auch sehen sollte: Du warst nur ein Fahrgast. Hast die Bahn nicht gefahren. Kanntest den Verunglückten nicht. Konntest ihn auch nicht retten. Und gestoßen hast du ihn erst recht nicht. Und falls es ein Selbstmord war, warst du nicht die Ursache seiner psychischen Probleme. Menschen sterben. Jeden Tag. Tausendfach. Überall. Was nimmst du dir diese Bahnfahrt so zu Herzen?

Nein! Es war normal, dass einen so etwas schockte. Was nicht normal war, war die Teilnahmslosigkeit dieses…

»Arschloch!«, entwich es Postler. Leise zwar, aber dennoch hörbar, für ihn zumindest. Es war einfach so rausgerutscht, ausgerechnet ihm!

»Was hast du gesagt?« Beck klang desinteressiert, keinesfalls wütend. Offensichtlich hatte er ihn nicht verstanden. Ein Glück. Postler überlegte einen Moment, ob er es wiederholen sollte, diesmal laut und deutlich, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Er konnte Beck nicht einschätzen, und es war auch möglich, dass der gar nicht wütend reagierte, sondern mit einem selbstgefälligen Spruch, etwas wie: Na, da macht sich ja mal einer endlich locker! Dann hätte seine ungezügelte Charakterskizze des Kollegen Beck ohnehin jede Wirkung verfehlt.

»Nichts. Ich komme mit den Zahlen hier nicht klar«, wich Postler aus, »und das Meeting ist gleich. Bist du vorbereitet? Steht dein Part?« Er schnappte sich sein Notebook und stand auf, um den Raum zu verlassen.

»Nö.« Beck setzte sich und begann, auf der Tastatur zu tippen.

»Wie, nö?!« Postler blieb abrupt stehen.

»Ich reiß mir hier keinen mehr ab, werde ohnehin kündigen…«

Postler sagte nichts. Er starrte Beck nur ungläubig an.

»Und meine Frau verlasse ich auch. Fang komplett neu an. Am besten irgendwo, wo ich schnell und einfach ein paar neue finde.«

»Ein paar neue was?« Postler blickte ihn verwirrt an. »Stellen?«

»Frauen!« Beck begann dreckig zu lachen. Dabei machte er ein paar obszöne Gesten – unmissverständlich, was er damit sagen wollte.

Der Kerl war echt durchgeknallt. Dieser Tag war es auch. Besserung war nicht in Sicht – jetzt durfte er im Meeting wieder allein den Kopf hinhalten. Typisch! Was war der Kerl eigentlich für ein Idiot geworden?!

»Arschloch!«, schrie Postler aus voller Inbrunst. »Du bist so ein Riesenarschloch!«, legte er nach. Es war befreiend. Reinigend. Und überfällig. »Dieses Mal werde ich dich nicht aus dem Schlamassel ziehen! Macht ja auch nichts – du willst ja eh kündigen. Vielleicht kommt dir der Chef ja entgegen und beschleunigt die Sache. Mal sehen, was ich tun kann!«

Wütend stapfte Postler aus dem Büro Richtung Konferenzraum.

Mallorca

Frank Stebe bearbeitete gerade einige Formulare, als es an seiner Bürotür klopfte – kräftig, gut hörbar, aber nicht aufdringlich. Frank blickte auf. Die Tür stand offen, wie immer. Nur wenn Frank ungestört arbeiten wollte, machte er eine Ausnahme und schloss sie.

In der Türschwelle stand ein auffallend gut gekleideter, untersetzter Mann mittleren Alters. Frank hatte keinen Besuch erwartet, und offensichtlich hatte auch niemand vom Basis-Team den Mann bis zum Büro begleitet. Vorne in der Tauchbasis hielten sich momentan Jennifer und drei Mitarbeiter auf, doch der Weg zu Franks Büro, das im hinteren Teil des Gebäudes lag, war auch über den Hintereingang frei zugänglich, letztlich für jeden, der wusste, wo Frank zu finden war. Es war also nicht ungewöhnlich, dass ab und zu jemand unerwartet vor seinem Arbeitszimmer stand.

»Ja, bitte?« Frank schenkte dem Besucher ein offenes Lächeln und bat ihn mit einer Handbewegung hereinzukommen. Im selben Atemzug erhob er sich, um den Mann zu begrüßen.

»Herr Stebe? Doktor Frank Stebe?«

Die Frage klang nicht wirklich, als müsste der Mann sich erst noch vergewissern, ob er überhaupt im richtigen Büro gelandet war.

Hatte Frank soeben eine leichte Betonung auf Doktor herausgehört? Vermutlich hatte es sich einfach nur ungewohnt angehört. Aber warum sprach der Mann ihn überhaupt mit seinem Titel an? Sein akademischer Grad spielte hier auf Mallorca, auf seiner Tauchbasis und unter Tauchern, nie eine Rolle. Nur eine Handvoll Gäste, Kunden oder Geschäftspartner wusste überhaupt, dass er einen solchen besaß, und die, die um Franks früheres Berufsleben wussten, erwähnten den Titel nicht. Dazu kam, dass der dunkelhaarige Mann, der nun gemächlich in den Raum trat, nicht wie ein Taucher wirkte. Nicht wegen seiner Statur – auch unter Tauchern war Übergewicht nicht selten. Auch nicht aufgrund seines eleganten Erscheinungsbildes, wie er dastand, in seinem feinen Zwirn, einem offensichtlich hochwertigen Business-Anzug, mit Hemd im konservativen Stil und teuren Schuhen.

Nicht selten hatte Frank auch mit Geschäftsleuten zu tun und kannte ihr Outfit – schicke Anzüge, die nicht aus Neopren waren, wenngleich die meisten seiner Kontakte eher den sportlich-lässigen Look bevorzugten, so wie er selbst ja auch. Nein, dieser Mann wirkte einfach nicht wie ein Taucher und auch nicht, als wolle er nun im Rahmen eines Tauchkurses einer werden und wäre gekommen, um sich darüber zu informieren. Dieser Mann wollte etwas gänzlich anderes, das wusste Frank intuitiv. Die Frage war nur, was? Franks Neugier war geweckt.

»Ja, da sind Sie richtig.« Frank trat vor seinen Schreibtisch.

»Guten Tag, Dr. Stebe, bitte entschuldigen Sie, dass ich einfach so reinplatze, so ganz ohne Voranmeldung!« Der unangemeldete Besucher sprach freundlich und höflich und machte auch sonst einen sympathischen Eindruck. »Mein Name ist Seth Grothe, CEO von Sub Search. Dürfte ich Sie kurz in einer geschäftlichen Angelegenheit sprechen? Es dauert auch nicht lange.« Er reichte Frank eine Visitenkarte und lächelte ihn an.

Frank reichte Grothe die Hand. Dessen Händedruck war kräftig, aber nicht unangenehm, die Intensität war wohldosiert. Frank beäugte kurz Grothes Karte. Wieso kam jemand aus der Führungsebene selber? Wahrscheinlich war es ein sehr kleines Unternehmen… Sub Search? … »Setzen Sie sich doch. Was kann ich für Sie tun?«

Grothe schien zu ahnen, dass Frank den Laden nicht kannte: »Sub Search ist ein europaweit tätiges wissenschaftliches Forschungsinstitut, Teil eines Verbunds diverser Institute, öffentlicher Einrichtungen und privatwirtschaftlicher Unternehmen, die sich aufgrund ihrer Forschungen und Aktivitäten auf denselben Gebieten und Geschäftsfeldern als eine Art Interessengemeinschaft zusammengeschlossen haben und dabei jeweils einzelne Teilgebiete abdecken. Sub Search fällt dabei eine führende Rolle zu, als einstiger Mitinitiator und Mitbegründer der Gruppe. Wie Sie meiner Visitenkarte entnehmen können, bin ich CEO bei Sub Search Underwater, einem sagen wir mal sehr kleinen, verhältnismäßig unbedeutenden Ableger von Sub Search. Nun, das ist natürlich relativ. Denn ich halte die Forschung, die ich leite, für alles andere als unwichtig im Gesamtgefüge der Thematik, um die es geht. Sie verstehen?« Er lächelte wieder. »Das Anliegen, mit dem ich Sie aufsuche, rechtfertigt es, dass ich persönlich vorbeikomme. Außerdem wollte ich schon immer mal nach Mallorca. Kaum zu glauben: So nah, und ich war noch nie hier!« Grothe schien Franks Gedanken zuvor gelesen zu haben. Er lächelte noch einen Tick mehr, zog sich den Stuhl zurecht und setzte sich – wie es aussah, gab es seinem ausschweifenden Vorstellungsplädoyer nichts mehr hinzuzufügen.

»Ihr Unternehmen sagt mir nichts, tut mir leid. Normalerweise kenne ich die Unternehmen und Institute, die sich mit Tauchen beschäftigen, mit dem Meer, der Welt unter Wasser, deren Flora und Fauna oder den darin versunkenen Objekten.« Frank warf erneut einen prüfenden Blick auf die Visitenkarte, als würde er auf den zweiten Blick den Aha-Effekt erhaschen können, der ihm beim ersten offensichtlich entgangen war. Das Design der Karte war exquisit.

»Nun ja, der Begriff Sub steht nicht zwingend dafür, wofür er in Ihrer Welt meist so steht, obwohl es bei uns auch einen Forschungszweig unter Wasser gibt – dazu komme ich gleich noch, es gibt ja einen Grund, warum ich hier bin.« Grothe setzte eine bedeutungsvolle Pause. »Vielmehr geht es bei uns um Themen, deren Erforschung noch nahezu jungfräuliches Gebiet oder zumindest wissenschaftliches Randgebiet darstellt. Es geht um die teilweise noch recht verborgenen, unbekannten, sozusagen unterhalb der bekannten Wirklichkeiten liegenden wissenschaftlichen Bereiche. Vor allem biologische, medizinische und physikalische Themen. Aber nicht nur. Es ist sehr komplex.« Wieder eine kurze Pause und ein vielsagender Blick. Dann: »Daher steht Sub in unserem Fall für etwas Mehrdeutigeres als nur schlicht für Sub wie in ›Submarine‹ oder dergleichen.« Er lachte. »Aber das würde jetzt wirklich zu weit führen. Wir kommen ohnehin darauf zurück, sollten Sie Interesse haben, Interesse an dem, was ich Ihnen zu unterbreiten, vorzuschlagen, ja: anzubieten habe.« Grothe öffnete die Knöpfe seines Einreihers, nahm eine bequeme Position ein und schaute Frank einen Augenblick lang abwartend an. Seine Erläuterungen wirkten etwas einstudiert, doch er sprach mit einer einnehmenden Stimme und wirkte überzeugend, wie ein Typ, bei dem man gerne seinen Rollrasen bestellte oder mit dem man lange Angeltouren unternahm.

Frank schwieg offensichtlich eine Sekunde zu lang, denn sein Gesprächspartner kam seiner unausgesprochenen Frage zuvor.

»Nun, Dr. Stebe, Sie fragen sich sicher, was das alles mit Ihnen zu tun hat, was ich von Ihnen möchte und um was es überhaupt geht.«

»Allerdings. Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Wasser? Was kann ich Ihnen anbieten?« Frank stand direkt auf und setzte sich in Bewegung.

»Kaffee wäre prima, danke. Schwarz, bitte. Ohne Zucker.«

Frank griff nach zwei Tassen, stellt eine davon in Position und drückte den entsprechenden Knopf am Kaffeevollautomaten. Während die Maschine ratterte, drehte er sich zu Grothe. »Schießen Sie los. Was führt Sie zu mir?« Der Kaffee floss derweil zischend in die Tasse.

»Wir betreiben mehrere Unterwasser-Forschungsstationen, Unterwasser-Habitate, über ganz Europa verteilt. Seit Kurzem befindet sich auch hier, nahe des Unterwasser-Naturschutzparks vor der Insel Dragonera, ein Unterwasser-Habitat. Sie wissen davon, nehme ich an?«

»Natürlich. Seither können wir in einer großen Zone rund um Dragonera nicht mehr tauchen. Forschungsarbeiten, heißt es. Um was es da genau geht, erfährt man nicht. Vom ersten Tag an eine ziemliche Geheimniskrämerei.« Frank stellte Grothe die gefüllte Tasse hin. »Bitte.«

»Danke.« Grothe zog die Tasse ein paar Zentimeter zu sich. »Ja, notwendigerweise. Sie können das sicher gut verstehen. Ihre Projekte wurden einst ja auch nicht unnötig vor der Öffentlichkeit breitgetreten, oder nicht? Ist es nicht überall so, ganz egal, welche wissenschaftlichen Arbeiten laufen, bei allen Projekten, die enorm wichtig und sehr kostenintensiv sind, und ganz egal, in welchen Bereichen der Forschung?«

Frank sagte nichts. Was sollte er auch sagen? Zum einen hatte der Mann recht. Zum anderen schien er gut über Franks früheres Leben im Bilde zu sein. Obwohl der Medienhype um Franks einstige Forschungserfolge inzwischen abgeflaut war und er nicht mehr im Rampenlicht der medialen Berichterstattung stand.

»Die wissenschaftlichen Bereiche, die Sie angesprochen haben… Ich bin Unterwasserarchäologe, Wissenschaftler und Forscher auf völlig anderem Gebiet…« Frank drückte wieder den Knopf am Kaffeeautomaten.

»Wir suchen einen fachlichen Berater – für Taucheinsätze, die im Rahmen unserer Forschungen und Experimente hier vor Ort stattfinden. Einen Vollblut-Profi. Jemanden, der über höchstmögliche Erfahrung im Tauchen auch unter schwierigsten Bedingungen verfügt. Aber nicht nur das. Diese Person muss vor allem ein guter Beobachter sein, jemand, der komplexe Zusammenhänge erkennt, wo auf den ersten Blick keine sind. Jemand, der – wie soll ich sagen – von außen, neutral, aber doch mit Verstand beobachtet. Jemand mit dem Entdecker-Gen höchster Güte. Jemand wie Sie. Jemand, der ein untrügliches Gespür hat für das Unbekannte, das Mysteriöse und das Grenzwertige. Ich möchte – ich kann jetzt nicht ins Detail gehen.«

»Sie sprechen in Rätseln.« Frank runzelte die Stirn.

»Sie sind doch Fachmann für große, ja weltbewegende Rätsel, Dr. Stebe, oder nicht?« Grothe grinste breit. »Spaß beiseite.« Seine Miene wurde plötzlich ernst. »Heute möchte ich bei Ihnen nur vorfühlen. Vorfühlen, ob Sie sich überhaupt vorstellen könnten, während der Saisonpause, im Herbst und Winter, eine solche Berateraufgabe zu übernehmen. Ob Sie generell Lust auf eine neue, ganz besondere Aufgabe verspüren und noch immer der Forscher, der Wissenschaftler, der Entdecker, ja: der Pionier in Ihnen steckt, der Sie einst waren. Und ob Sie noch immer große Schätze entdecken wollen – auch wenn es, wie Sie sich denken können, bei unseren Forschungen nicht um materielle Schätze geht, die es zu heben gilt, sondern um Schätze im Sinn von Erkenntnissen, Entwicklungen, Veränderungen, Neuerungen, die Großes bewirken und die Menschheit vorwärtsbringen. Und ob Sie sich die Zeit dafür nehmen würden, Zeit dafür, Teil von etwas ganz Großem zu werden. Letztlich muss erst mal geklärt werden, ob Sie eine Abwechslung, eine Herausforderung dieser Art, etwas ganz und gar nicht Alltägliches überhaupt suchen.« Grothe schaute Frank herausfordernd an. »Es heißt, sie seien ein Suchender – immer schon gewesen. Sind Sie es noch? Ein Suchender? Bestrebt, Erkenntnisse zu erlangen, die sich vorher noch niemandem erschlossen haben, getrieben vom Forschergeist und dabei großen Rätseln und Entdeckungen auf der Spur. Nur ginge es nicht mehr um Altertumsforschung.«

Frank stellte seine inzwischen gefüllte Tasse auf den Tisch und nahm seinem Besucher gegenüber Platz. Er schaute Grothe einige Sekunden schweigend an. Dann nippte er an seinem Kaffee und lehnte sich im Bürosessel zurück. Er konnte sich des Eindrucks nicht verwehren, dass sein Besucher mehr wusste, als man über ihn in den Medien herausfinden konnte. Die Frage war nur, warum hatte sich Grothe so gut über ihn informiert? Und vor allem, wie gut kannte er ihn? Die Situation war eigenartig. Da war etwas, das ihn aufhorchen ließ. Er war sich sicher, dass dieser Mann nicht einfach alle kompetenten Profi-Taucher der Region abklapperte und nun auf seiner Headhunting-Tour eben bei ihm gelandet war und ihn mit ein paar persönlich klingenden Phrasen auf seine Seite ziehen wollte, nein, dieser Mann war eigens nach Mallorca gekommen, um ihn aufzusuchen, das spürte Frank. Und er hatte sein Interesse geweckt, das musste sich Frank eingestehen.

»Das war früher. In einem anderen Leben sozusagen.«

»Einmal Forscher, immer Forscher. Oder nicht?«

»Warum ich?«

»Wie gesagt: Meinen Informationen nach entsprechen Sie dem Typus, den wir suchen, so perfekt wie sonst niemand. Keiner käme für den Job so gut in Frage wie Sie. Zumindest keiner, den wir ausfindig machen konnten – noch dazu auf Mallorca.«

Dem Typus, den wir suchen…

»Einen Job, den Sie mir noch immer nicht erläutert haben.«

»Das werde ich heute auch noch nicht. Ich möchte nur wissen, ob Sie Interesse an einer wissenschaftlichen Arbeit haben, es sich zumindest vorstellen und sich in den nächsten Monaten dafür die Zeit einplanen können und auch werden. Wenn ja, gehen wir ins Detail, später. Bevor ich Ihnen dann allerdings erkläre, um was es genau geht, müssten Sie eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben.« Grothe trank einen kräftigen Schluck seines Kaffees.

»Vor meiner Entscheidung, ob ich überhaupt für Sie arbeite? Sie scherzen.« Aber es war nicht so, das konnte Frank aus Grothes Miene herauslesen. »Um was geht es? Ein militärisches Projekt mit höchster Sicherheitsstufe? Sind Sie vom Pentagon? Der NSA? « Frank lachte.

Grothe schmunzelte. »Sie müssen das verstehen. Ich muss erst wissen, ob Sie sich ganz grundsätzlich einen Job als fachlicher Berater vorstellen können. Wenn ja, gehen wir ins Detail, dann weihe ich Sie ein. Natürlich können Sie auch danach noch ablehnen. Aber wenn Sie erst mal wissen, um was es geht, werden Sie nicht ablehnen.« Grothe lächelte ihn verschwörerisch an. »Falls aber doch – rein hypothetisch – müssen Sie Stillschweigen bewahren. Auf Dauer. Das ist der Deal. Ich denke nicht, dass das ein Problem für Sie darstellt, Dr. Stebe. Sie sind doch ein Mann der Geheimnisse.« Er setzte bedeutungsvoll eine kurze Pause. »Ich meine natürlich, ein Mann, der es liebt, Geheimnissen auf die Spur zu kommen.«

Zeichen der Zeit

Fritz Schuster saß in seinem Sessel, seine Frau Erna auf dem Sofa. Schusters Rücken schmerzte. Als der junge Randalierer ihm brutal die Harke aus der Hand gerissen hatte, war er unglücklich auf den Steiß gefallen. Das linke Handgelenk war auch verstaucht. Er würde heute den Garten nicht in Ordnung bringen können, so viel stand fest. Nun saßen er und seine Frau bei einer Tasse Kaffee und lasen die Tageszeitung. Sie hatten sie sich aufgeteilt – beide hielten nur einen Teil in den Händen, später würden sie die Seiten untereinander austauschen.

Fritz Schuster war gerade in eine Pressemeldung auf der Titelseite vertieft, die ihn verwirrte. Am Tag zuvor war ein Büromitarbeiter, der seinen Job kündigen wollte, mit einer Waffe in den Konferenzraum des Unternehmens gestürmt. Nachdem er zunächst die dort anwesenden Kollegen und seinen Chef bedroht und beschimpft hatte, hatte er auf sie geschossen und dabei immer wieder »Jetzt zeig ich‘s euch!« gerufen. Es gab nur drei Überlebende, sie hatten es irgendwie geschafft zu entkommen und berichteten, der Amokläufer sei eiskalt vorgegangen und habe keinerlei Gefühlsregung gezeigt.

Fritz Schuster schüttelte fassungslos den Kopf. War nicht kürzlich etwas Ähnliches vorgefallen? Wo und wann war das gewesen? Es fiel ihm nicht ein.

Er blätterte weiter und begann gerade mit einer anderen Nachricht, als es an der Wohnungstür klingelte. Fritz Schuster ging zur Tür. Seit nunmehr dreißig Jahren wohnten sie dort, im dritten Stock des Mehrfamilienhauses. Von Frühjahr bis Herbst kamen sie eigentlich nur zum Schlafen her, und manchmal nicht einmal das, da sie mitunter auch in ihrem Schrebergarten schliefen. Nun konnten sich die Schusters das allerdings nicht mehr vorstellen – nicht nach dem, was sie erlebt hatten! Erna Schuster war noch immer verstört und kapselte sich ab. Wenn es klingelte, fuhr sie zusammen, als befürchte sie jedes Mal, dass die Jugendlichen vor der Tür stehen und sich dafür rächen würden, dass die Schusters den Vorfall im Schrebergarten der Polizei gemeldet und die drei Täter angezeigt hatten. Heute würden die Jugendlichen dem Richter vorgeführt werden, wie Fritz Schuster vor einer halben Stunde von der Polizei erfahren hatte.

Er schaute durch den Spion und staunte nicht schlecht. Gerade wollte er die Tür öffnen, als ihm der Gedanke durch den Kopf schoss, dass der Nachbarsjunge vor der Tür möglicherweise mit den Randalierern befreundet sein könnte… Schuster verwarf den Gedanken aber sogleich – es war einfach zu unwahrscheinlich. Die Familien der straffällig gewordenen drei Jungen, die seine Frau und ihn attackiert hatten, wohnten am anderen Ende der Stadt.

Vor der Tür stand der sechzehnjährige Ole Schilling, ein unhöflicher und nicht selten frecher Junge, dem alles egal zu sein schien. Entsprechend verhalten begrüßte Schuster den Jungen. Dieser hatte aber ausgesprochen freundlich »Guten Tag!« gesagt, was Schuster zusätzlich irritierte. Er konnte sich nicht erinnern, dass der Junge jemals gegrüßt hätte – es sei denn, eine Grimasse ziehen ging jetzt als Gruß durch.

»Ich habe gehört, was mit Ihnen – Ihrem Garten – passiert ist.« Der Junge druckste ein bisschen herum, als wüsste er selbst nicht recht, wie er anfangen sollte. »Ich möchte Ihnen meine Hilfe anbieten. Also dass ich Ihnen die nächsten Tage nach der Schule – und natürlich nach den Hausaufgaben – zur Hand gehe und Ihnen helfe, die Schäden zu reparieren. Und neue Gartenpolster mit Ihnen einkaufe, jetzt, wo Sie doch Ihr Auto verkauft haben. Ich könnte Ihnen tragen helfen. Oder die Sachen mit meinem Fahrradanhänger transportieren. Sicher fällt Ihnen alles, was ansteht, ein bisschen schwer, oder? Zumal Sie sich doch etwas verletzt haben.« Der Junge zeigte auf die Bandage, die sich Schuster selbst angelegt hatte.

Schuster wusste gar nicht, über was er zuerst staunen sollte, darüber, dass sich der Junge für sein verstauchtes Handgelenk interessierte, oder über die Tatsache, dass der Junge Hausaufgaben erledigte, oder darüber, dass er ihnen seine Hilfe anbot, den Garten wieder in Ordnung zu bringen… Schuster konnte sehen, dass der Junge sehr wohl seine Skepsis bemerkte, und als habe er gewusst, was Schuster gleich sagen wollte, fügte er hinzu: »Es ist mit meinen Eltern abgesprochen, ich darf das machen.«

Schuster zog die Augenbrauen hoch. Darf? Nicht soll?

»Es war übrigens meine Idee, nicht deren«, schob Ole hinterher, als könnte er Schusters Gedanken lesen. »Also, darf ich Ihnen helfen?«

Da stimmt doch was nicht. Schuster wusste nicht, wie er reagieren sollte. Der Junge blickte ihn an, ohne die Durchtriebenheit, die er sonst für gewöhnlich an den Tag legte. Und er lächelte. Er lächelte! Sogar ausgesprochen freundlich! Und es wirkte ehrlich. Schuster verstand die Welt nicht mehr und stotterte perplex: »Ja – warum nicht – gerne – vielen Dank.«

Unterwasser-Habitat, Mittelmeer, vor Mallorca

Joachim Seidel starrte auf die kleine weiße Pille in seiner Hand. Es war Zeit. Alle vier Stunden musste er die Dinger schlucken. Diese ständige Wiederholung unterstrich die Monotonie seines Probanden-Daseins in dieser Unterwasser-Forschungsstation. Auf was hatte er sich nur eingelassen? Vierzig Meter über ihm an Land genossen tausende Menschen den Sonnenschein auf Mallorca, und das Leben pulsierte. Hier unten fragte er sich, ob sein Puls überhaupt noch schlug. Vom Leben da draußen bekam er jedenfalls nichts mit. Dass es ihm so schwerfallen würde, zwei Wochen ohne Unterbrechung unter Wasser zu bleiben, hätte er nicht gedacht. Und was für einen bescheuerten Tagesablauf er über sich ergehen lassen musste, erst recht nicht.

»Bist du nicht neugierig, was das für ein Zeug ist?« Seidel warf Manfred Tatzer einen fragenden Blick zu. Der zuckte nur gelangweilt mit den Schultern. Tatzers Desinteresse ging Seidel auf den Keks. Der Typ war die personifizierte Lethargie. Egal bei was. »Ich wüsste zu gern, was zum Geier wir uns da überhaupt reinpfeifen«, setzte er nach.

Die Verantwortlichen dieser Feldversuche hatte er schon gefragt. Das traf es ja wohl: Feldversuche. Sonst wären er und die anderen ja keine Probanden. Und so wurden sie genannt: Probanden! Wiederholt hatte er gefragt, was genau sie einnehmen würden. Dass er keine Auskunft darüber erhalten würde, war ihm eigentlich klar gewesen, und dass er nicht wusste, was die Ärzte seinem Körper zuführten, war Bestandteil der wissenschaftlichen Versuche, an denen er hier teilnahm. Und sie taten es ja freiwillig. Im Dienst der Forschung? Eher im Dienst des Geldes! Die Bezahlung stimmte. Und in den Verträgen wurde ihnen versichert, dass sie physisch und psychisch keine Schäden davontragen würden und die Risiken überschaubar waren – wenngleich nicht gänzlich ausgeschlossen. So, wie es eben ist, wenn man als Proband bereit ist, sich Wissenschaft und Forschung zur Verfügung zu stellen. Vielleicht hätte er es bleiben lassen sollen…

Was genau die Wissenschaftler hier veranstalteten, wusste er auch nicht. Wenn er es wüsste, würde es die Ergebnisse beeinflussen, weil er nicht mehr neutral an den Versuchen teilnehmen könne, hieß es. Das leuchtete ihm sogar ein. Dennoch gefiel es ihm nicht. Er war es nicht gewohnt, die Kontrolle über sein Leben aus der Hand zu geben. Und das tat er seit ein paar Wochen. Er hätte wenigstens gerne gewusst, wofür. Doch keiner der Probanden war eingeweiht. Auch er nicht.

Einzig hatte er mitbekommen, dass er und die anderen in vier Versuchsgruppen unterteilt waren. Wobei das Wort Gruppen übertrieben war. Team traf es besser. Jedes Team bestand aus gerade mal zwei Personen; einer Frau und einem Mann, die allerdings zeitlich versetzt in der Unterwasser-Station tätig waren, sodass immer entweder vier Frauen oder vier Männer gleichzeitig unter Wasser beziehungsweise an Land waren.

Die Pillen, die sie nehmen mussten, sahen für alle gleich aus. Aber sein Instinkt sagte ihm, dass es verschiedene Sorten gab. »Knöpfe«, so nannte er die Pillen wegen ihres Aussehens, denn sie waren groß wie ein Hemdknopf, hatten zwei kleine Vertiefungen auf der einen Seite, die aussahen wie Knopflöcher. Vielleicht lag er mit seiner Einschätzung auch falsch und es war immer dasselbe Mittel. Auch möglich, dass alle vier Gruppen Placebos bekamen. Oder die Pillen waren nur Ablenkungsmanöver für die Psyche. Immerhin standen sie hier unten, so eng zusammengepfercht, unter ungeheurem Druck – im übertragenen Sinne. Physisch standen sie tatsächlich unter hohem Druck – nämlich dem Umgebungsdruck. Hier unten, in der Tiefe des Meeres, in diesem unterseeischen Forschungslabor, diesem kleinen, utopisch aussehenden Objekt unter Wasser, war ihre Körpergewebe maximal mit Stickstoff gesättigt, den Tauchgängen und dem Aufenthalt unter Wasser geschuldet. Die Auftauchphasen, die nicht im Wasser, sondern in einer Druckkammer stattfanden, dauerten entsprechend lange. Die Vorfreude darauf war trotzdem groß, denn es bedeutete jedes Mal das Ende der zweiwöchigen Schicht unter Wasser und die willkommene Unterbrechung davon an Land.

Vielleicht ging es in Wirklichkeit aber nur darum, was sie hier unter Wasser taten. Um die Aufgaben, die sie von morgens bis abends zu erfüllen hatten, die Tests, die regelmäßig zu bearbeiten waren, die Fragen, die sie dabei zu beantworten hatten. Vielleicht ging es darum, welche Auswirkungen es auf Körper und Befinden hatte, dass sie wochenlang unter Druck verweilten und ihr Körper daher bis zum Anschlag mit Stickstoff gesättigt war. Oder waren es gar Tests in soziologischer Richtung? Untersuchungen, wie sich das gemeinsame Leben auf engstem Raum und unter ungewöhnlichen Bedingungen nach und nach veränderte und welche Auswirkungen es auf das Zusammenleben im Habitat, aber auch auf die Freizeit hatte?

Es hätte um alles gehen können. Immerhin standen nicht nur psychologische und neurologische Wissenschaftler und Forscher hinter dem Ganzen, sondern auch Ärzte aus dem Bereich der Humanmedizin und sogar Physiker. So viel hatten sie erfahren. Viel war das nicht.

»Eigentlich mutig, als Proband einfach alles so zu unterschreiben. Oder einfach auch nur total bescheuert! Wer weiß das schon?!«, Seidel gab einen seltsamen, grunzenden Laut von sich. »Was soll’s!« Mit einer ruckartigen Bewegung katapultierte er die Pille in seinen weit geöffneten Mund und schluckte den Knopf runter. »Bin ich froh, bald wieder oben zu sein. Du nicht?« Seidel blickte zu Tatzer rüber. Doch der war schon wieder geistesabwesend in sein Computerspiel vertieft und reagierte nicht. Seidel zog die Augenbrauen hoch und schüttelte missmutig den Kopf. Die beste Gesellschaft hatte er hier unten nicht. Aber bald hatte er wieder eine Phase Freizeit… freie Zeit… in ihrem Fall quasi die befreite Zeit, denn es fühlte sich langsam wie in einem Gefängnis an! Stinklangweilig hier unten! Nur das Tauchen war aufregend! Aber ansonsten – ätzend! Wahrscheinlich würde er hier bald einen Koller bekommen…

Vielleicht waren die Pillen auch gegen so etwas? Psychopharmaka? Hm. In Verbindung mit Tauchen? Schwer vorstellbar, dass Ärzte das durchgehen ließen. Mögliche Nebenwirkungen wären viel zu riskant, und die Tauchgänge waren anspruchsvoll.

An den Tagen an Land mussten sie die Medikamente weiternehmen, das war die strikte Anweisung. Nicht nur bezüglich der Pillen gab es Vorschriften, sondern auch bezüglich der Aktivitäten während des Aufenthalts an Land. Das Kuriose daran war, dass sie außerhalb des Unterwasserhabitats nicht nur machen durften, was sie wollten – sie sollten es sogar! Sie sollten darauf achten, ihre Bedürfnisse auszuleben, gut und gerne alle, welcher Art auch immer. Das sei wichtig, hatte es gleich zu Beginn des Projekts geheißen. Es sei von großer Relevanz, dass sie über die vier Monate ihrem inneren Drängen und ihren Gelüsten folgten und intensiv dem nachgingen, wozu sie Lust hatten. Sie sollten sich »treiben lassen«, »loslassen«.

Wie im Urlaub sollten sie sich fühlen, sich frei sehen von Verpflichtungen, frei von Konventionen, frei von Normen, möglichst auch von jenen, die sie sich sonst selbst auferlegten oder die ihnen in der Regel aus ihrem Umfeld auferlegt wurden. Klang genial. Ein Traum!

Wie das genau gemeint sei, hatte Seidel einen der Ärzte gefragt, offenbar ein Psychologe. Auch wenn es ungewöhnlich klinge, es gehe darum, dass er und alle anderen Probanden im Zeitraum der Versuche sie selbst seien, so sehr, wie nur irgendwie möglich, hatte er als Antwort bekommen. Das sei wichtig für die Betrachtung gewisser Daten und Werte, deren Verlauf man beobachte. Einzige Bedingung an Land: Ein detailliertes Protokoll des Tages erstellen, jeden Tag, eine Art Tagebuch führen, auch wenn sie es für blödsinnig hielten, es sei Teil der Forschung und wichtig. Und noch etwas hatte der Arzt hinzugefügt: Sie sollten sich während des Aufenthalts an Land möglichst nicht mit anderen Probanden treffen. Das würde die wissenschaftlichen Ergebnisse verfälschen.

Da brauchten sie keine Sorge haben, Seidel hatte nicht vor, auch noch seine Zeit an der Oberfläche mit diesen Döseln zu verbringen. Wobei damit offensichtlich nicht nur die Probanden-Kollegen aus seinem Habitat gemeint waren, sondern Probanden aus allen Laboren des Experiments. Man solle deswegen vor Ort bleiben und dürfe nicht herumreisen.

Als wenn Seidel jemandem über den Weg laufen könnte, der Versuchskaninchen war wie er, nur an einem anderen Ort. Während des Aufenthalts im Unterwasser-Habitat wiederum sollten die Probanden sich mit genau den Dingen beschäftigen und die Aufgaben erledigen, die man ihnen auftrug, ohne Ausnahme. Hier müsse der Alltag, so hieß es, anders als an Land in sehr eng gesetzten Grenzen ablaufen. Ebenso beim Tauchen, was sich ja aber sowieso von selbst verstehe. Und außerdem dürften keine Aufgaben innerhalb der vier Gruppen ausgetauscht werden, weder im Habitat, noch während des Tauchens. Das sei enorm wichtig, und die Einhaltung würde auch streng überwacht und kontrolliert. Bei einem Verstoß würde man mit sofortiger Wirkung vom Projekt entbunden werden – der Schlussbonus, ein Batzen Geld, den Seidel unbedingt benötigte, wäre dahin. Wenn seine Tauchschule nicht schon die dritte Saison in Folge miserabel gelaufen wäre, hätte er über den Winter nicht so einen Drecksjob annehmen müssen. Aber die Bezahlung war gut, sehr gut. Und die Sache war einfach, vielleicht zu einfach, wenn er genauer darüber nachdachte. Schon seltsam… Egal!

Seidel ließ erneut den Blick durchs Habitat schweifen, von einem Probanden zum anderen. Er wurde einfach nicht warm mit diesen Jungs. Komische Typen. Einer seltsamer als der andere. Aber was soll‘s!

»Heute und morgen noch, dann ist es hier unten erst mal wieder vorbei«, rief Seidel durch den Raum, der gerade mal etwa dreißig Quadratmeter groß war. Die anderen Räume im Habitat waren viel kleiner, von den Schlafkammern ganz zu schweigen, die waren praktisch übergroße Särge. »Eine Woche an Land, yeah!« Gute Laune zog auf, aber nur bei ihm, die anderen drei gaben sich emotionslos wie immer. Mit diesen Typen hier zu sein, war wie in einer Gruft zu verweilen. Was war nur los mit denen?! Legt Euch einfach in die Kojen – dann seid ihr schon gleich im Sarg, ihr Scheintoten! Genervt nahm Seidel seine Spielekonsole zur Hand und tat es seinen Kollegen gleich, die allesamt seit Stunden in ihre Game-World eingetaucht waren. Als wäre die Welt hier unten nicht schon monoton genug, hatte man ihnen auch noch jede Abwechslung verboten. Es war leider nicht erlaubt, sich als Pärchen für die Forschungstests anzumelden. Das hätte zumindest ein bisschen für Abwechslung gesorgt. Er lachte in sich hinein. Was blieb, waren diese bescheuerten Computerspiele, mit denen sie die Zeit totschlugen wie die Figuren am Bildschirm ihre virtuellen Gegner, um dadurch mit Siegesfanfaren ins nächste Level aufzurücken. Und die ganzen Trash-Filme, die er inzwischen bald auswendig kannte! Immer derselbe Mist. Die Auswahl an Filmen war klein. Abwechslung? Dafür musste er sich diese bescheuerte Streaming-TV-Serie reinziehen, von der hier alle Staffeln auf Festplatten vorhanden waren. Als hätte er jemals Serien geschaut! Er hatte ein unerklärliches Verlangen nach Büchern. Warum es hier keine gab, blieb ihm ein Rätsel.

Aber inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, nur noch auf Bildschirme, Monitore und Displays zu starren, große und kleine. Ja, die einzig sinnvolle Abwechslung hier unten wären Bücher! Lange her, dass er danach Verlangen empfunden hatte. Selbst konnte er sich nicht damit versorgen, denn sie durften von Land nichts mitbringen. Aus dem Wasser oder Habitat etwas mit hoch an Land nehmen durften sie auch nicht. Was ihn aber am meisten nervte, war die Tatsache, dass sie selbst dieses digitale Zeug zum Zeitvertreib in vier Gruppen aufteilten. Jeder der vier Probanden besaß sein eigenes Spiele- und TV-Equipment. Seidel war seines schon lange überdrüssig. Sobald sich ihm die Gelegenheit bot, würde er sich mal die Teile des Typs neben ihm ausleihen. Die mussten klasse sein, so wie der beim Spielen immer regelrecht in Trance verfiel. Warum eigentlich nicht gleich jetzt? Seidel zwängte sich aus dem Eck, in dem er gekauert hatte, und schlenderte auf seinen Mitbewohner zu. Er setzte sich neben ihn. »Lass mal sehen!« Er beugte sich zu ihm rüber.

Der andere Proband – sein Name war Kevin Maier – war so vertieft darin, irgendwelche imaginären Gegner zu eliminieren, gefangen in der Welt visueller und akustischer Effekte, dass er gar nicht bemerkte, dass Seidel nun neben ihm hockte. Er spickte auf Maiers Bildschirm und staunte nicht schlecht. Der Typ spielte dasselbe Game wie er! Nur war der Kerl bereits in ein höheres Level vorgedrungen.

Beim besten Willen kapierte Joachim Seidel nicht, warum es nicht wenigstens unter den Vieren ein unterschiedliches Angebot an Spielen gab, wenigstens diese Abwechslung! Ihn beschlich das dumpfe Gefühl, dass der Kerl in seinem engen Kabuff auch dieselben Filme zur Auswahl hatte wie er. Sie taten und schluckten alle dasselbe. Zumindest sah es danach aus. Ihm graute beim Gedanken, dass das für die nächsten zwei Monate sein Alltag bleiben sollte. Umso mehr musste er die Zeit auskosten, wenn er wieder an Land war. Missmutig schüttelte er den Kopf, erhob sich mühsam und schlenderte wieder ins Eck, aus dem er gekommen war.

Subliminal

Подняться наверх