Читать книгу Subliminal - Thorsten Oliver Rehm - Страница 6
ОглавлениеEr goss sich eine Cola ein, riss sich eine Tüte Chips auf und wählte einen Film aus.
Seltsam, dachte er, eigentlich hasse ich doch Cola und Chips, oder nicht?
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Sie sind doch ein Mann der Geheimnisse.
War das wirklich nur ein simpler Versprecher, oder wollte der Mann damit etwas andeuten? Geheimniskrämerei widerte Frank an! Ja, einst hatte er Geheimnisse vor sich hergeschoben, damals, als die dramatischen Ereignisse um Bornholm ihren Lauf nahmen. Ja, einst hatte er selbst ein Geheimnis gehegt. Und hatte es gerechtfertigt vor sich. Mittel zum Zweck war es damals. Um Schlimmeres zu verhindern, um das Richtige zu erreichen.
Aber wo hatte es damals hingeführt? In ein unbegreifliches Drama, viel größer als je hätte werden können, was Frank zu verhindern versucht hatte.
Seither wollte er nie wieder Geheimnisse haben. Die Wahrheit war das einzig richtige! Und er hatte das Gefühl, als wären die Forschungsarbeiten, an denen diese Sub-Search-Gruppe beteiligt war, alles andere als offenes Terrain.
Wer weiß schon, worum es dabei geht? Sollte es nur ums Geld gehen – dafür wurde das Meer inzwischen genug ausgebeutet, von den Riffen war der Raubbau durch den modernen Menschen schließlich bis zum Meeresgrund der Tiefsee vorgedrungen; nur um des Geldes wegen – da wäre er raus aus der Nummer, um Geld war es ihm noch nie gegangen, bei nichts, nicht einmal damals als Forscher, noch später als Inhaber einer Tauchbasis. Das Materielle war nie sein Antrieb gewesen. War es auch heutzutage nicht. War nur die Frage, um was es hier bei dieser Sache eigentlich ging. Ziemliche Geheimniskrämerei… Hm… Andererseits… Reizvoll wäre das schon – eine Beratertätigkeit.
Und er könne selbst viel tauchen, hieß es. Obendrauf würde sich ihm ein kleiner Traum erfüllen. In all den Jahren als Taucher, Forscher und Tauchlehrer mit seinen knapp zehntausend geloggten Tauchgängen war es ihm nie vergönnt gewesen, in einer Unterwasser-Station mitzuarbeiten. Einzig hatte er zwei stillgelegte Unterwasser-Habitate von außen gesehen, kürzlich erst, während eines Urlaubs. Verlassene, mystisch anmutende Gebilde, die sich präsentierten wie ein Ding aus einer anderen Zeit oder einer anderen Dimension und die inzwischen nur noch als Tauchtouristen-Attraktionen herhielten.
Inzwischen war es später Nachmittag, Frank war in seinen Gedanken versunken auf dem Weg zu seinem Auto, um kurz zum Hafen zu fahren. Wie fast jeden Tag wollte er nach der letzten Tauchausfahrt des Tages beide Boote checken und kurz nach dem Rechten sehen. Nötig war es eigentlich nicht, sondern mehr eine Gewohnheit, ja fast ein Ritual, den Tag damit – und mehr noch mit dem obligatorischen Kaffee im Pepe – abzuschließen.
Die Taucher-Runde im Pepe bestand immer aus denselben Bootseignern, allesamt Inhaber hiesiger Tauchbasen, die sich untereinander Neuigkeiten mitteilten, die fürs Tauchgeschäft von Belang waren. Vor allem aber dienten die Treffen dem Miteinander unter Konkurrenten, die sich gegenseitig dennoch nicht wie Konkurrenten behandelten, sondern sich vielmehr als Gleichgesinnte betrachteten und so einander auch begegneten. Menschen mit ähnlichen geschäftlichen Bedürfnissen, Freuden, Sorgen und Nöten. Meist kam er nach circa eineinhalb Stunden wieder vom Hafen zurück und erledigte dann noch im Büro den Papierkram, der über den Tag angefallen war.
Ohnehin hatte er in letzter Zeit das Gefühl, mehr und mehr zum Geschäftsmann zu mutieren, zum Tauchen kam er nur noch selten. Ein Jammer, das war doch der Grund, warum er vor Jahren seinem alten Leben den Rücken gekehrt hatte. In seiner Funktion als Unterwasserarchäologe war er auch viel getaucht, aber das war nicht vergleichbar gewesen. Vielmehr war das, was damals geschehen war, der Grund für den Schlussstrich… Aber das Kapitel war abgeschlossen, er hatte seinen Frieden gefunden.
Sein Neubeginn als Tauchlehrer war gewiss nicht nur der Leidenschaft zuzuschreiben, sondern auch eine Art Rebellion gegen sein früheres berufliches Wirkungsfeld gewesen. Er hatte einen Schlussstrich gezogen. Endgültig, so dachte er zumindest. Bis heute. Bis dieser Grothe aufgetaucht und ihm eine Tätigkeit angeboten hatte, bei der er nach langer Zeit wieder als Forscher, als Wissenschaftler und vor allem als Taucher gebraucht wurde, nicht nur als Papiertiger und Bürokrat, der er zunehmend geworden war und der sein innerstes Ich eigentlich nicht sein wollte.
Nicht, dass ihn der heutige Besuch dieses Mannes in einen unwiderstehlichen Sog gezogen hätte wie damals. Es war anders als der Lockruf vor fünf Jahren, dem des archäologischen Instituts, mit dem er fünfzehn Jahre zuvor gebrochen hatte, jenem Lockruf, der ihn nach langer Funkstille damals zurück in sein altes Leben geführt und der ihm letztlich ermöglicht hatte, alte Rechnungen zu begleichen und endlich Frieden zu finden. Jener Ruf aus der Vergangenheit war ein völlig anderer gewesen. Intensiver. Aufwühlender. Er hatte alte Wunden aufgerissen und das nicht verarbeitete Trauma ans Tageslicht befördert. Und hatte ihn in einen Strudel gezogen.
Nein, diese heutige Verlockung, nach langer Zeit ein kleines bisschen wieder Forscher zu sein, war damit nicht zu vergleichen. Und doch: als tauchender Berater tätig zu werden, kitzelte sein offensichtlich noch immer latent vorhandenes Forscher-Ich aus ihm heraus, und mit jeder Stunde, die seither verstrichen war, breitete es sich mehr und mehr in ihm aus, anders als damals, aber doch deutlich wahrnehmbar. Die Sache klang nach Abenteuer, nach der Jagd nach Erkenntnissen, nach Neuem. Und etwas in ihm lechzte nach Veränderung.
War es das, was man gemeinhin als Midlife-Crisis bezeichnete? Unwillkürlich musste er schmunzeln. Ganz so abwegig war es ja vielleicht nicht. Schlitterte er in letzter Zeit womöglich klammheimlich in eine Krise hinein, und dieser Mann hatte ihn nur zur rechten Zeit am rechten Ort mit der richtigen Lösung für seine Ruhelosigkeit abgeholt? Gerade zu einer Zeit, als er fast täglich hinterfragte, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, erneut zu expandieren? Er war endgültig vom abenteuerlustigen Taucher zum Unternehmer avanciert! Ums Geld ging es nicht. Um was dann? Es hatte sich einfach so entwickelt, ein unaufhaltbarer Prozess, der dazu führte, dass er sich nun zunehmend gefangen fühlte. Zwar entlastete ihn sein Freund Ralf, der sich immer in Franks Sinne und nahezu eigenständig um den ersten Basis-Ableger auf Mallorca kümmerte.
Aber trotzdem: Franks Aufgaben waren immer umfangreicher geworden. Und jetzt sollte noch eine dritte Basis dazukommen?! Übernahm er sich da nicht? Wenigstens führte er die Allgäuer Tauchbasis nicht mehr, die in Deutschland bis vor einer Weile noch parallel zu der auf Mallorca bestanden hatte. Es hatte eine Weile gedauert, bis Frank die geschäftlichen Brücken nach Deutschland endgültig abgerissen hatte. Leicht war ihm das nicht gefallen, doch es war besser so. Lange Zeit war er zwischen beiden Ländern hin und her gependelt. Die dafür investierte Zeit und Energie hatte er nun gewonnen, dafür aber gleich das neue Projekt auf der Insel in Angriff genommen. So weit, so gut.
Was ihm aber in letzter Zeit am meisten zu schaffen machte, war der Umstand, dass er selbst nicht einen einzigen Kurs mehr gab. Er wollte Tauchlehrer sein, liebte die Begeisterung in den Augen seiner Schüler, den Glanz in ihren Augen nach ihrem ersten Tauchgang und den Glanz nach jedem weiteren und den Glanz aufgrund der Vorfreude auf den nächsten Dive. Er war nicht nur dabei – er war mittendrin gewesen.
Und jetzt? Nicht einmal mehr dabei war er! Er stand im Hintergrund, lenkte den Alltag seiner Mitarbeiter, die das Leben lebten, das er und Jennifer eigentlich hatten leben wollen. Oder sah er das Ganze zu negativ? War es nicht der normale Lauf der Dinge? Er war nicht mehr dreißig, sondern fünfundvierzig. Er und Jennifer hatten sich weiterentwickelt, das Unternehmen hatte sich weiterentwickelt. Unternehmen! Allein das Wort… Er war plötzlich mehr Geschäftsmann als Taucher. Zwar war er noch immer Taucher aus Leidenschaft, nur konnte er selbst dieser Leidenschaft kaum mehr frönen. Und zunehmend hatte er auch immer weniger Momente als Ehemann und Vater, denn auch diesen Rollen schien er immer weniger gerecht zu werden. Er war im sprichwörtlichen Hamsterrad gefangen, raste wie ein Wilder darin voran und kam trotzdem nicht von der Stelle – das wahre Leben zog mehr und mehr an ihm vorüber, so zumindest empfand er es, jeden Tag ein Stückchen mehr.
Und heute war unvermittelt dieser Anwerber in sein Leben getreten. Ein Wink? Woher? Gut oder schlecht? Er hatte keine Ahnung. Wobei Jennifer alles andere als begeistert gewesen war, als er vorhin ganz nebenbei erwähnt hatte, dass man ihm ein Angebot unterbreitet habe, und er sie gefragt hatte, was sie denn davon halte. Um was genau es denn gehe, hatte Jennifer gefragt. Das könne er ihr auch noch nicht sagen, wisse es selbst nicht genau, habe nur Andeutungen gehört, war seine Antwort gewesen. Es gehe jetzt erst mal darum, ob er grundsätzlich in der Art etwas tun wolle und solle. Als Forscher Geheimnissen auf den Grund gehen – ja! Wenn aber Menschen Geheimnisse hatten – nein! Und noch weniger mochte er es, wenn er aufgrund einer Verschwiegenheitserklärung vor anderen Geheimnisse haben sollte, ohne im Vorfeld aber zu wissen, ob es überhaupt redlich war, sein neues Wissen dann für sich zu behalten. Wer wusste schon, um was es bei dieser Forschung ging und ob es mit seinem Idealismus vereinbar war? Jennifer betrachtete die Sache mit Skepsis, und sie hatte recht. Wenn es ihn aber glücklich mache, solle er es tun. Sofern er nicht nur noch fort sein würde, hatte sie mit ernster Miene hinzugefügt.
Und trotzdem, da war sie wieder, diese Abneigung gegen Geheimnisse. Wieder schoss es ihm durch den Kopf. Sein damaliges Geheimnis. Und das war nicht klein gewesen. Ja, es hatte damals Mittel zum Zweck sein sollen, um Schlimmeres zu verhindern und das Richtige zu bewirken. Am Ende war er in einen Abgrund geschlittert, und andere Personen gleich mit, inklusive Jennifer. Das wollte er nie wieder erleben. Alles hatte zum Schluss ein gutes Ende genommen, das ja, und hatte sogar zum inneren Frieden geführt und dazu, dass er endlich einen Schlussstrich zog. Aber es war ein schockierender, trauriger und harter Weg gewesen. Zudem hatten einige Personen einen hohen Preis dafür bezahlt, auch wenn er selbst dafür damals nichts konnte. Mit Geheimnissen war es eben so eine Sache, mit den kleinen, und mit den großen erst recht… Nicht immer im Leben heiligte der Zweck die Mittel…
Aber er solle sich nicht so viele Sorgen machen, das zumindest würde Jennifer sagen. Die Frage war nur, was sie sagen würde, wenn er ihr mitteilen würde, dass er inzwischen so gut wie entschlossen war, sich die Details der Forschung anzuhören und – je nachdem, was dabei herauskäme – höchstwahrscheinlich zuzusagen und über den Winter tatsächlich etwas Neues auszuprobieren? Das war nun seine größte Sorge… Und ganz nebenbei stand noch Grothes Frage im Raum nach hochqualifizierten Tauchern, die sich für die Forschungsarbeiten als Probanden zur Verfügung stellen würden. Er solle überlegen, wer aus seinem Umfeld in Frage komme, und den Kontakt herstellen. Diese Jobs seien gut bezahlt und würden kein gesundheitliches Risiko bergen.
Frank hatte schon jemanden im Sinn, dem er von der Sache erzählen würde. Vielleicht würde derjenige dann den Winter über doch auf Mallorca bleiben, statt in die Karibik zu flüchten, was die Chancen erhöhen würde, dass er zum Frühjahr wieder Franks Team verstärkte. Jemand, der inzwischen zu einem guten Freund geworden war und den er, würde er die Insel verlassen, wahrlich vermissen würde.
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Zeichen der Zeit
Larissa Ebel saß auf einem Stuhl in der hinteren Reihe. Hätte ihr Blick töten können, ihre Mitschülerin Marie Gessner wäre just in diesem Moment auf der Bühne umgefallen. Bühne. Podium. Wie auf einen Thron erhoben muss sich die blöde Kuh vorkommen! Lässt sich feiern, die Bitch! Larissa kochte. Hass brachte ihr Blut in Wallung. Neid war es nicht. Warum sollte sie auf Marie neidisch sein?! Dafür, dass diese Schnepfe und ihr Anhang heute vom Bürgermeister persönlich ausgezeichnet wurden? Dafür, dass sie sich mit ihrem vor einem Jahr ins Leben gerufenen Jugendprojekt auf sozialer Ebene in einer Weise verdient gemacht hatte, wie es nur wenige junge Menschen je zuvor fertiggebracht hatten? So jedenfalls nannten es die schleimigen Redakteure der lokalen Presse. Oder dafür, dass nun auch hohe Tiere in Berlin auf das Projekt aufmerksam geworden waren und diese ekligen Good-Girls Lobeshymnen und Blumen von dort erhielten? Dafür, dass sie nun vollends zu Vorbildern stilisiert und schlimmer denn je gelobhudelt wurden? Sicher nicht!
Diese Tussis! Wie Stars auf der Bühne! Die hatten ja schon immer einen Hang zum Strebertum – aber wie die seit letztem Jahr abgingen – Kotz! Allen voran diese Marie, so was von perfekt! Aber das Blatt würde sich wenden. Die Rollen, die Marie und ihre bescheuerten Freundinnen eingenommen hatten, waren etwas für Loser. Mit ihrem ganzen Gutmenschen-Gehabe und ihrer »Vorbildfunktion für alle Schüler«, wie es immer genannt wurde, würde es bald ein Ende haben. Die Zeit war gekommen. Diese von allen geliebten Püppchen hatten sich für die falsche Seite entschieden, im echten Leben wie auch innerhalb der Community. Und jetzt hatten sich ihre ekelerregend perfekten Einstellungen und Eigenschaften auch noch übel potenziert. Kotz!
Aber egal – deren Problem. Naja, am Anfang… Inzwischen war es ein Problem der gesamten Community, also ein Problem von allen. Zum Glück gab es ja auch noch Bad-Girls – so wie sie. Früher schon, und inzwischen mehr denn je. Gut so. Noch mehr von diesen Vorzeigepüppchen, die Community würde stinkelangweilig werden.
Das war ein Problem! Aber ein Problem, das bald gelöst wäre. In den letzten Tagen war Larissa mehr und mehr klargeworden, worin ihre Aufgabe bestand und was zu tun war.
Die Aula der Mittelschule war zum Bersten gefüllt, Lehrer, Eltern, Freunde, Bekannte und die Presse. Die meisten lauschten dem ganzen Gelaber. Warum war sie eigentlich hergekommen? Sie wusste es selbst nicht so recht. Marie auszuschalten, stand erst später an. Wahrscheinlich wollte sie sich nochmals überzeugen, wie nervig Marie und ihr Anhang tatsächlich waren. Das war gelungen. Wenn sie die Mädels auf dem Podium so sah, war klar, dass sie diesen Weg beschreiten musste. Wie um ihr Vorhaben zu bestätigen, fasste sie in ihren Rucksack und fühlte den Schlagring, den ihr eine Freundin besorgt hatte. Er fühlte sich kalt an. Das passte. Sie grinste in sich hinein.
Dann schaute sie auf die Uhr. Fast hätte sie die nächste Folge verpasst. Besser würde sie die Dauer der Veranstaltung nicht nutzen können, wo sich doch zum Ende der aktuellen Staffel gerade alles so zuspitzte… Schnell kramte sie ihr Smartphone heraus, stöpselte sich den Lautsprecherknopf ins Ohr, loggte sich im Portal ein und startete die neueste Folge ihrer Lieblingsserie. Schon kurz darauf war sie so darin vertieft, dass sie alles um sich herum ausblendete.
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Zeichen der Zeit
Mit voller Wucht schmiss Tom Meissner die Tür zu seinem Zimmer zu. Sofort war der Wutschrei seiner Mutter zu hören. »Spinnst Du?! Musst Du die Tür immer so zuknallen?!«
Tom reagierte nicht. Er schmiss seine Jacke in die Ecke und ließ sich am Schreibtisch in den Stuhl plumpsen. Mit einer Hand schnappte er sich die Cola-Dose, mit der anderen startete er den PC. Er war spät dran. Mit seiner Mutter würde er später reden – was auch immer sie schon wieder wollte, als sie ihn eine Minute zuvor unten abzufangen versucht hatte. Ich bin fünfzehn, nerv nicht, Alte! Kurz darauf war er eingeloggt.
Die nächsten vier Stunden hatte er Zeit, das neue Level zu erreichen. Das Level! Marc, dieser Vollpfosten, war seit Tagen drin. Warum war er selbst noch nicht so weit? Die letzten Tage waren nicht gelaufen wie geplant, weder hier im Game, noch in seiner »Rolle«, die er in der aktuellen Staffel der Serie übernommen hatte, entwickelten sich die Dinge so, wie er es erwartet hatte. Wenigstens den heutigen »Außenauftrag« hatte er erledigt, das brachte ihm Zusatzpunkte. Heute war der Tag!
Hunderte brutal niedergemetzelte virtuelle Spielgegner und euphorisch klingende Triumphmelodien später ertönte nach drei Stunden lautstark die langersehnte Siegesfanfare, er hatte das nächste Level erreicht. Jep! Jetzt bin ich gespannt, was auf mich wartet, dachte Tom und lehnte sich zurück, ungeduldig mit den Füßen wippend.
Da blinkte das Kurierbriefsymbol! Er öffnete die Nachricht. Ups! Alter… krass… Er musste Marc anrufen und ihn fragen, welche Wahl der getroffen hatte und ob er sich auch so entscheiden sollte. Voll krass…
Tom sah auf die Uhr. Er hatte Zeit aufgeholt. Nach dem Telefonat mit Marc würde ihm noch ausreichend Zeit bleiben, um an seiner Rolle mitzuarbeiten. Heute war es noch möglich, Vorschläge für die nächste Folge einzureichen. Seine Ideen wurden von Tag zu Tag besser, und er konnte es kaum erwarten. Diese Staffel versprach actionreicher und aufsehenerregender zu werden als alle Staffeln zuvor. Hast Du deine Hausaufgaben heute schon gemacht?, hörte er die Stimme seiner Mutter im Kopf. Er grinste. »Und ob«, raunte er.
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Trotz Stau kam Natascha pünktlich zu ihrem Termin. Kurzfristig hatte sich der renommierte Neurowissenschaftler, Hirnforscher, Psychologe und Verhaltensforscher Prof. Dr. Dr. Hubert Stenzel bereiterklärt, Natascha zu empfangen. Wenn er – eine Koryphäe auf seinem Gebiet – keine Antworten auf ihre Fragen hätte, wer dann?!
»Frau da Silva, kommen Sie herein, setzen Sie sich, bitte!« Stenzel zog Natascha einen Stuhl heran, wartete, bis sie Platz genommen hatte. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?« Er setzte sich.
Natascha wählte einen Espresso, den kurz darauf ein junger Mann hereinbrachte. »Vielen Dank, Herr Professor Stenzel, dass Sie sich so kurzfristig Zeit für mich nehmen. Ich weiß das zu schätzen.«
»Gern. Sie hatten wirklich Glück. Die nächsten Wochen bin ich fast nur unterwegs. Wie kann ich Ihnen konkret behilflich sein?«
Der Professor, ein etwa sechzigjähriger Herr mit schütterem grauem Haar, einer schwarz umrandeten Brille und weißgrauem Vollbart, verschwendete keine Zeit mit Small-Talk, was Natascha recht war, sie hatte noch einen weiteren Termin, eine Stunde Fahrtzeit entfernt, bei einer Fachkollegin von Stenzel. Natascha hatte sich vorgenommen, sich in den nächsten Tagen ein Meinungsbild darüber zu machen, ob an ihrer Wahrnehmung, dass das Miteinander in der Gesellschaft sich gegenwärtig stark veränderte, etwas dran war, wie das die Fachleute sahen und welche Gründe sie vermuteten. In kurzen Zügen schilderte sie, worum es ihr ging, an was sie arbeitete, und was sie sich von dem Gespräch erwartete.
»Empathie. Ein gutes Stichwort, Frau da Silva. Empathie. Eine sinnvolle Fähigkeit, die uns Menschen in die Wiege gelegt wurde.« Stenzel lehnte sich zurück. Sein üppiger Bauch präsentierte sich jetzt in voller Pracht. Er hielt einen Moment inne. »Rücksichtsvolles Miteinander, sich um andere kümmern, für jene da sein, die uns brauchen, für Kinder, für ältere, pflegebedürftige oder einfach für schwächere Mitmenschen und Schmerz, Leid, Trauer mit anderen zu teilen, ja darauf überhaupt zu reagieren, all das wäre ohne die Fähigkeit zur Empathie schlicht unmöglich.« Wieder eine kurze Pause, als suche er nach den richtigen Worten, einem Laien etwas klarzumachen. »Wie kommt es nun dazu, dass sich dieses natürlich vorhandene Empfinden eines Menschen ändert? Die Ursachen sind komplex. Teils ist es auch genetisch bedingt, dazu später. Vereinfacht gesagt: im Frontalhirn schrumpfen jene Areale, die für die Kontrolle unseres Verhaltens und unserer Emotionen zuständig sind. Ist der Anteil dieser Hirnbereiche gering oder wird er zunehmend geringer, dann nimmt bei der betreffenden Person die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, ab. Übrigens nimmt auch die Fähigkeit ab, Aggression zu kontrollieren, und Aggression tragen wir ja mehr oder weniger alle in uns, zumindest zeitweise und in unterschiedlicher Intensität. Beide Verluste spielen in Folge negativ ineinander. Emotionen haben für unser Verhalten ohnehin eine immense, ganz grundlegende Bedeutung, dies einmal vorweg. Wie gesagt, die Prozesse sind komplex. Eine Schlüsselrolle beim Verlust oder der gravierenden Abnahme der Fähigkeit zur Empathie spielen dabei allerdings die Spiegel-
neuronen. Den Begriff haben Sie schon mal gehört, nehme ich an.«
»Sicher. Eine Doktorarbeit darüber zu schreiben, würde allerdings schwer.« Natascha lächelte. Mit einer Handbewegung signalisierte sie dem Professor weiterzureden.
Der schmunzelte. »Keine Angst, ich werde nicht zu sehr in Fachchinesisch verfallen. Aber Sie sind schließlich zu mir gekommen, um Veränderungen, die man wahrnehmen kann, besser zu verstehen.« Er neigte seinen rundlichen Kopf und zog die buschigen Augenbrauen hoch, es wirkte wie eine Entschuldigung. »Nun, die Spiegelneuronen arbeiten im Gehirn wie ein biochemisches Resonanzsystem, es versetzt uns in die Lage, die Gefühle anderer nachempfinden zu können. Durch die Spiegelneuronen werden Gefühle unseres Gegenübers für uns selbst spürbar – natürlich nicht so intensiv, wie es der Betroffene selbst empfindet. Wobei es auch Menschen gibt, denen ihre Anteilnahme mehr zusetzt als dem Leidenden selbst, aber das ist ein anderes Thema. Zurück zur Spiegelung: Beobachten Sie jemanden, der schwer verletzt ist, dann leiden Sie irgendwie auch ein bisschen – habe ich Recht?«
»Sicher. Und man möchte auch sofort helfen. Ist doch normal.«
»Dann ist es um Sie gut bestellt, Frau da Silva.« Er lächelte. Dann aber wurde seine Miene ernster. »Leider gibt es das ja auch anders.«
Unwillkürlich schossen Natascha schockierende Schlagzeilen in den Kopf. Natürlich gab es das auch anders!
»Das eigentliche Programm – um den Begriff mal so zu verwenden, denn unser Gehirn ist eine Art Super-Computer – ist dies: Jemand lächelt Sie an, und Sie lächeln zurück. Wir gähnen selbst, wenn andere gähnen. Spricht aus dem Gesicht des Gegenübers purer Schmerz, grinsen wir nicht, nein, wir werden unwillkürlich selbst ernst, blicken sogar schmerzverzerrt drein. Wir spiegeln die Reaktionen unseres Gegenübers. Sind Sie selbst Mutter?«
»Ja, ich habe eine fünfjährige Tochter.« Natascha ahnte, worauf der Professor hinauswollte. Ja, das wäre wahrlich ein treffendes Beispiel.
»Schon wenige Tage nach der Geburt«, fuhr der Professor fort, »spiegelt Ihre Tochter bereits Ihre Gefühle, sie reagiert, verändert ihre eigene Mimik, lacht oder weint, zeigt Erstaunen oder Neugier, und das alles ohne Denkprozess. Es ist die biologisch vorhandene Fähigkeit des Menschen, mit seiner Umwelt in emotionale Resonanz zu treten. Aber: Die Aktivität der Spiegelneuronen entwickelt sich keinesfalls von allein und nur aufgrund genetischer Disposition. Wir Menschen brauchen vom ersten Tag an ein Gegenüber, um diese speziellen Gehirnzellen zum Blühen zu bringen. Neugeborene benötigen den Austausch mit anderen Menschen, sie benötigen Zuwendung, bestenfalls die Mutter, deren Emotionen sie wahrnehmen können. Erst dann werden die Zellverbände aktiviert und die Entwicklung der Spiegelneuronen und deren vollständige Vernetzung im Gehirn ausgelöst. Dieser Entwicklungsschritt ist im Alter von ungefähr drei oder vier Jahren abgeschlossen, was Sie daran erkennen, dass das Kind nun seine Eltern zu trösten versucht, wenn diese traurig sind – und das, obwohl es rein intellektuell natürlich noch gar nicht begreift, was da gerade abläuft. Sie haben das sicher selbst erlebt.«
»Das ist äußerst interessant, Herr Professor Stenzel. Ansatzweise ist mir das bekannt, nicht aber im Detail. Was genau führt dann aber zur Abstumpfung des Mitgefühls, was bei uns Menschen anscheinend zunehmend passiert, so empfinde ich persönlich es zumindest. Wie sehen Sie das? Ist meine Beobachtung, dass uns Menschen diese Fähigkeiten mehr und mehr verloren geht, zutreffend? Das ist nun sehr pauschal formuliert. Klar gibt es zahlreiche Abstufungen, auch ist sicher nicht jeder betroffen, nehme ich an. Aber sehen Sie – wissenschaftlich betrachtet – eine Zunahme dieses Phänomens?«
»Phänomen ist gut gesagt. Das ist es – und ist es nicht. Man kann klar die Tendenz erkennen, dass Gefühle- und Verhalten des Einzelnen und in Folge der gesamten Gesellschaft einer großen Umwälzung unterworfen sind – zumindest gewinnt man den Eindruck, wenn man gut beobachtet. Dazu braucht man kein Psychologe zu sein. Wenn man Gründe dafür sucht, kann man auch Antworten finden, dann ist es immerhin ein erklärbares Phänomen.«
Stenzel stand plötzlich auf. Er ging zum Fenster und blieb einen Moment nachdenklich davor stehen. Dann drehte er sich zu Natascha um. »Entscheidend für die Ausbildung der Spiegelneuronen-Aktivität sind die emotional prägenden Erfahrungen der frühen Kindheit. Nicht nur, aber sie fallen besonders ins Gewicht. Die durch die Spiegelneuronen ausgelöste emotionale Resonanz greift immer auf eigene Erfahrungen zurück, je prägender diese sind, desto stärker spielen sie eine Rolle. Wird die Entwicklung der Spiegelneuronen unterdrückt oder durch sehr häufige, sich ständig wiederholende negative Emotionen abgestumpft, dann kann die Fähigkeit zur Empathie gegen Null tendieren, irgendwann, das ist ein schleichender Prozess. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Das Gehirn Erwachsener ist diesen Einflüssen ebenso unterworfen. Nur, je jünger das Gehirn, desto stärker die Wirkung negativer Einflüsse. So einfach ist es natürlich nicht. Es gibt sehr wohl Einflüsse, die dem Gehirn eines Erwachsenen fast ebenso zusetzen. Grundsätzlich gilt aber: Kinder sind die Gesellschaft von morgen.«
»Verstehe. Klingt plausibel. Nicht wirklich neu. Ich nehme an, Sie wollen auf etwas ganz Bestimmtes heraus?« Natascha nippte an ihrem Espresso.
Stenzel nickte fast unmerklich. »Wenn wir vom Schmerz eines anderen erzählt bekommen, aber nicht direkt mitfühlen, dann handelt es sich um eine kognitive Perspektivenübernahme. Es kommt einem mitfühlenden Denken gleich. Im Fall der sogenannten affektiven Empathie handelt es sich dagegen um eine spürbare emotionale Resonanz. Wir fühlen dann aktiv mit. In unserem Gehirn werden dabei genau jene neuronalen Netzwerke aktiv, die auch den eigenen Gefühlen zugrunde liegen. Mit Hirnscans kann man körperliche Reaktionen der mitempfindenden Person nachweisen und ihre Empathie de facto messen.« Stenzels Ausflug zum Fenster war kurz. Er nahm wieder Platz. »Die Veranlagungen zu mehr oder weniger Empathie sind individuell ausgeprägt. Vor allem aber verändern sie sich im Laufe des Lebens sehr individuell. Die Aktivität der Spiegelneuronen nimmt entweder zu oder ab. Ganz nach dem Leitsatz Use it – or lose it. Die Frage, die mich als Forscher umtreibt, ist folgende: Was verursacht eine derart negative Entwicklung solcher Prozesse, dass wir von einem ›Phänomen‹ sprechen können?«
In seiner Frage lag eine Schärfe, die sie verwirrte. Als wäre sie in einer Diplom-Prüfung. Sie blickte den Professor erwartungsvoll an. Bisher hatte er ihr nicht wirklich Neues erzählt. Ein paar Details, ja, aber sie brauchte neue Ansätze, auf denen sie ihre Reportage weiter aufbauen konnte. Es mussten ja keine revolutionären Neuigkeiten sein. Aber zumindest Erkenntnisse, die Leser aufhorchen und weiterlesen lassen würden.
»Nun, Frau da Silva, da gehen unter uns Fachleuten die Meinungen natürlich auch auseinander. Und es gibt ja nicht nur den einen Grund, warum unsere Gesellschaft kühler würde. Der zunehmende Stress des Einzelnen, vor allem auch beruflich, der ständig steigende Erfolgsdruck, das immer schwieriger werdende Zeitmanagement. Streben nach mehr – nicht nur materiell, sondern auch im Sinne der Selbstverwirklichung, die uns Menschen immer wichtiger wird – was ja nicht per se schlecht ist, und viele Faktoren mehr. Belastung, Überarbeitung, ausgelaugt sein, ausgebrannt sein. Der Wegfall der Großfamilien, der sozialen Gemeinschaft, des Auffangnetzes nämlich, um die Fülle an Alltagsaufgaben besser zu bewältigen, was ja dem am Limit laufenden Einzelnen auch Entlastung bringen würde. Und dann die ständige Reiz- und Informationsüberflutung unserer heutigen Zeit – sowohl privat, als auch beruflich. Und vieles mehr! Die Frage ist doch, was wirkt heutzutage besonders stark auf die Gefühlswelt der Menschen? Was hat die Kraft, ja geradezu die Macht, derart auf unser Hirn einzuwirken, dass wir oberflächlicher, empathieloser, rücksichtsloser, ichsüchtiger oder kaltherziger werden? Abgesehen von unserer genetischen Veranlagung und den ohnehin allgemein angenommenen äußeren Einflüssen ist es relevant, ob wir geborgen oder verwahrlost, behütet oder alleingelassen, gut situiert oder in prekären Verhältnissen aufwachsen und uns später darin weiterbewegen oder nicht. Das alles spielt eine Rolle, war aber schon immer so. Was aber hat erst in den letzten Jahren derart an Bedeutung gewonnen? Was war zwar schon vorher da, aber nicht so?« Wieder dieser Blick, als erwarte er von ihr eine Antwort.
»Ich bin gespannt.« Natascha beugte sich auf ihrem Stuhl vor.
»Nun, das, was ich persönlich als einen der Hauptgründe sehe, ist auch nicht wirklich neu und wird schon lange diskutiert. Aber meiner Meinung nach schenkt man diesem Hauptgrund nicht die Aufmerksamkeit, die wir ihm als moderne Gesellschaft mit offensichtlichen Problemen zugestehen müssten.
»Und der wäre?« Natascha sah Stenzel neugierig an.
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Hamburg
»Wir haben Anweisung, in dieser Staffel doch noch einige Parameter zu verändern. Nicht alle, keine Sorge. Kommt auf die Gruppe an. Wirf mal ‘nen Blick drauf!« Thomas Muhr streckte seinem Kollegen Sawaan die schwarze Mappe entgegen.
Keine fünfzehn Minuten war es her, dass er sie mit einem etwas mulmigen Gefühl vom CEO der Filmproduktionsfirma, für die er tätig war, erhalten hatte. So ganz wohl fühlte er sich nicht bei der Sache. Irgendwie entwickelten einige Serien-Figuren in den letzten Wochen eine ungewöhnlich starke Eigendynamik. Inzwischen diskutierten sogar manche Darsteller in den Pausen am Set über den ungewöhnlichen Verlauf des Drehbuchs, darüber, wie extrem sich einige Serienfiguren verändert hatten – und wie rasant. Das war den Schauspielern ein Rätsel.
Dass das Drehbuch aus vielen Sub-Drehbüchern bestand und diese wiederum aus den Plot-Vorschlägen unterschiedlicher Fan-Gruppen, deren Mitglieder sich bestimmten Filmhelden der Serie fest zuordneten und virtuell in ihre Rollen schlüpften, wussten natürlich alle. Das neuartige Erfolgskonzept ihres Quotenrenners kannte jeder, der sich mit Filmen und Serien auch nur ein bisschen auskannte. Was genau allerdings die unterschiedlichen Streaming-Zuschauer der Serie voneinander unterschied, das wussten weder die Millionen von Mitgliedern, die mit Leidenschaft am Drehbuch mitschrieben, noch die Darsteller, die in ihrer Freizeit auch Zuschauer der Serie waren und sich – das war das Kuriose daran – selbst in einer Zuschauergruppe am Drehbuch beteiligten. Über neunzig Prozent der Zuschauer waren Mitglied der Drehbuch-Community – rein statistisch gesehen also auch neun von zehn Darstellern, zumindest, wenn sie von der Serie begeistert waren – und das war bei fast jedem der Fall. Wer war nicht fasziniert vom Format Ashes Real mit seinen genreübergreifenden Storys, der Action, dem Drama, dem Moralingesättigten, dem Mysteriösen und den preisgekrönten Kostümen, die über die Laufstege und Boutiquen nun auch das Straßenbild erobert hatten?! Seit fast zwei Jahren brach die Serie alle Rekorde. Wer vorher noch nicht gestreamt hatte, tat es spätestens, seit Ashes Real an den Start gegangen war. Kaum jemand konnte sich der Faszination der Serie entziehen, nur jene, die sich dem Medienkonsum grundsätzlich verweigerten oder nur ausgesprochen wenig fernsahen. Die Konsumenten des Streaming-Formats waren wie in einem Sog.
Der Erfolg der Serie, der Erfolg der zwei anderen Formate des Hauses sowie das ganze Merchandising hatten die Produktionsgesellschaft Pink Rock geradewegs in die Liste der hundert stärksten Unternehmen Deutschlands geführt. Nicht mehr lange, und das Unternehmen würde eines der einflussreichsten Unternehmen in Deutschland sein. Um das zu prognostizieren, musste man wahrlich kein Wirtschaftsexperte sein. Binnen kürzester Zeit hatte sich Muhrs Arbeitgeber zu einem Giganten entwickelt, der inzwischen mit dem Merchandising mehr verdiente als mit der Ausstrahlung der Serien über Streaming-Abos.
Doch seit Kurzem verliefen die Dinge eigenartig. Einzelne Gruppen und die ihnen zugeordneten Seriencharaktere schienen völlig von der Rolle, was der Redensart »von der Rolle« auf ironische Art gerecht wurde. Und statt erst einmal abzuwarten, wie sich die Dinge weiterentwickelten, gingen der Firmenvorstand und die verantwortlichen Produzenten schon den nächsten Schritt – nein, sprangen regelrecht einen Satz nach vorne. Die Auswirkungen der angedachten Änderungen würden aber nicht unbeträchtlich sein, da war er sich ziemlich sicher. Muhrs Meinung nach sollten sie die restlichen Folgen der Serie erst mal unverändert ausstrahlen, hatten sie sich doch im Vergleich zur letzten Staffel ohnehin ziemlich weit vorgewagt. Sie waren auf medialem Neuland unterwegs, da hieß es: Vorsicht!
Aber er musste tun, was man ihm sagte, das war der Preis, den er dafür bezahlte, dass er sich vor zwei Jahren auf das lukrative Angebot eingelassen hatte. Gekribbelt hatte es, als er erfahren hatte, was genau man vorhatte; und er hatte sich geehrt gefühlt, dass er auserwählt worden war, diesem Quantensprung des medialen Zeitalters beizuwohnen, nein, ihn mitzugestalten. Es gab nur wenige Mitarbeiter der Filmproduktionsfirma, die eingeweiht waren. Die Anweisungen kamen von ganz oben. Woher die wiederum ihre Instruktionen bekamen, wusste er nicht, aber er ahnte, dass das Projekt sicherlich größere Kreise zog, denn es hing viel zu viel dran, es war zu komplex. Eines war sicher: Pink Rock war nur ein Rädchen im Getriebe. Aber die Idee hinter dem Ganzen – wer hatte die? Sein CEO? Woher hätte der dieses Wissen nehmen, wie das Konzept für die Umsetzung entwerfen sollen?
»Na los, schau rein!« Muhr klopfte drängend mit der freien Hand auf die Mappe. »Wir müssen loslegen, heute noch!«
»Bist du sicher?« Muhrs Kollege nahm die Mappe so zögerlich entgegen, als könnte er sich noch überlegen, die Anweisung anzunehmen oder nicht. Als hätte er eine Wahl. Welche Wahl? Sie hatten es begonnen, nun mussten sie es auch zu Ende führen. Zu Ende? Welches Ende? Vom Ende des Projekts waren sie weit entfernt, vielmehr war es ein Beginn. Der Beginn einer neuen Ära an Möglichkeiten. Keiner konnte absehen, wohin das alles führen würde, und es sah auch nicht danach aus, als ob es überhaupt jemals wieder gestoppt werden sollte.
»Außerdem sollen wir die Frequenz weit unter fünfzig Millisekunden drücken und die Abfolge der Icons nochmal umändern, wir nehmen die iGPX6 mit Einbettung«, fügte Muhr hinzu.
»Die Darbietungszeiten ändern? Das bringt doch nichts. Die meisten handelsüblichen Displays erreichen einfach noch nicht die volle Leuchtdichte. LC-Displays haben einfach physikalische Grenzen, gerade, was die Bildwiederholfrequenz angeht. Das ist alles für die Katz. Außerdem könnte die Frequenz möglicherweise zu kurz sein.«
Muhr starrte auf die Mappe. Streng vertraulich stand drauf. Als ob das nötig wäre! Waren sie im Filmgeschäft oder beim Geheimdienst?! Aber es stimmte schon: Die Hände, durch die Unterlagen wie diese gingen, gehörten allesamt zu Leuten, die genau wussten, dass nichts davon den Kreis der Eingeweihten verlassen durfte – sonst wären sie alle dran. Was sie taten, war nicht nur juristisch hoch problematisch – nein, es war schlicht verboten und vor allem ethisch fragwürdig. Sie hingen mit drin. Er hing mit drin.
Sawaan schlug die Mappe auf und überflog den Inhalt. »Die Masken verändern? Was soll das nun schon wieder. Wie oft sollen wir denn noch an den Störreizen was ändern?« Sawaan schüttelte genervt den Kopf und stieß hörbar den Atem aus.
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»Der in den letzten Jahren extreme Konsum medialer Gewalt?«
Natascha bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. Bisher hatte sich der aufwendige Weg mitten in der Rush-Hour durch ganz München alles andere als gelohnt. Neu waren Stenzels Aussagen wirklich nicht.
»Verstehen Sie mich nicht falsch!«, fügte der Professor schnell an, so schnell, als könnte er hören, dass Natascha innerlich aufstöhnte, »auch ich schaue ab und zu gerne spannende Filme, und da geht es eben oft auch um Gewalt, beziehungsweise die spielt eben mit rein. Ist halt so. Es kommt jedoch darauf an, ob der Film eine berührende und sinnvolle Story hat oder ob es nur ein plumper B-Movie ist, in dem die Fetzen fliegen und der nahezu sinnfrei und einzig auf Brutalität ausgelegt ist, finden Sie nicht? Und es macht auch einen Unterschied, welches Ausmaß die Gewalt im Film einnimmt. Ich liebe gute Filme, vor allem spannende, und natürlich sind die nicht immer ohne Gewalt. Das Gehirn eines Erwachsenen kann damit recht gut umgehen – zumindest, wenn es nicht täglich und stundenlang und immer härter damit konfrontiert wird. Es entsteht nicht gleich ein Schaden.« Er machte eine abschwächende Handbewegung. »Die Dosis macht’s, wie so oft. Aber auch das Alter. Und darauf will ich hinaus. Es geht mir nicht nur um Filme, vielleicht sogar am wenigsten, sondern viel mehr um die extrem brutalen Computerspiele. Ich kann nachvollziehen, dass Kinder und Jugendliche und natürlich auch viele Erwachsene begeistert von Computerspielen sind, auch wenn ich selbst dem gar nichts abgewinnen kann. Mir geht es nicht darum, die Medien der heutigen Zeit zu verteufeln, sie haben auch ihre guten Seiten. Sie können sinnvolle Inhalte vermitteln, angenehme Gefühle stimulieren und bilden. Sie gehören einfach zu unserer heutigen Zeit! Nein, es geht mir um immer fragwürdigere, brutalere Inhalte, darum, dass diese Inhalte in immer stärkerem Maß von immer jüngeren Konsumenten konsumiert werden. Egal, ob im Fernsehen, im Internet oder bei einem Computerspiel. Und das ist ein Problem, wissenschaftlich betrachtet. Darum erzähle ich es Ihnen.« Stenzel hielt kurz inne. Er schien auf eine Reaktion von Natascha zu warten, als wolle er sich die Erlaubnis holen fortzufahren, in Sorge, das Gespräch mit seinem Monolog zu überfrachten. Er rückte seine Brille zurecht und strich sich mit einer Hand nachdenklich über den weißgrauen Vollbart. Nach ein paar Sekunden fuhr er fort: »Im Rahmen von Hirnscans lässt sich eindeutig nachweisen, dass bei täglichem Konsum von Gewaltdarstellungen die Spiegelneuronen-Aktivität im Hirn abstumpft. Das Empfängergehirn stumpft ab – der Mensch stumpft ab. Es ist so simpel wie alarmierend. Und das gilt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen; allerdings ist es so, dass sich diese Veränderungen in den Hirnstrukturen junger Menschen vielfach intensiver und langfristiger vollziehen, da das Gehirn bei ihnen besonders stark auf Wachstum und Lernen ausgelegt ist. Studien belegen, dass das Gehirn eines achtjährigen Kindes beispielsweise nur zu 22% genetisch geprägt ist – den größten Anteil haben also äußere Einflüsse welcher Art auch immer und ganz egal, ob Signale bewusst oder…«, er stockte kurz und rieb sich mit der Hand den Bart. Dann räusperte er sich. »…oder unbewusst aufgenommen werden und es auf dem Nährboden der Emotionen zu Reaktionen im Hirn kommt und sich somit neuronale Muster verfestigen.« Stenzels Blick wanderte unruhig – fast unsicher wirkend – durch den Raum. Er machte eine unverhältnismäßig lange Sprechpause und schien seine nächsten Worte genau abzuwägen. »Im schlimmsten Fall ist jemand überhaupt nicht mehr in der Lage, Mitgefühl zu empfinden. Er kennt infolgedessen auch Bedauern, Schuld oder Reue kaum, manchmal sogar gar nicht.«
»Es kann doch aber nicht sein, dass wir Menschen durch Beeinflussung der Spiegelneuronen-Aktivität uns im Extremfall zu Psychopathen entwickeln? Das wäre ja eine Horrorvorstellung!«
»Moment. Das müssen wir schon differenzieren. Was ist ein Psychopath? Heute weiß man, dass das Gehirn von Psychopathen und auch von Soziopathen meist extrem wenig oder oftmals auch gar keine Spiegelneuronen-Aktivität aufweist. Die Hirnbereiche, die fürs Verständnis von Emotionen zuständig sind, verfügen über weniger graue Hirnmasse als die der meisten anderen Menschen.«
»Graue Hirnmasse?« Wollte der Mann nicht verständlich reden?
»Bitte, verzeihen Sie, ich schweife ab. Ich wollte darauf hinaus, dass solchen Menschen zwar ansatzweise die bereits erwähnte kognitive Perspektivenübernahme ihres Gegenübers gelingt – aber es kommt zu keiner echten emotionalen Anteilnahme. Den Unterschied hatte ich erläutert. Das Leid des anderen lässt solche Menschen innerlich kalt, die kognitive Anteilnahme benutzt so jemand dann vor allem, um sein Gegenüber zu manipulieren. Neueste Studien legen nahe, dass die psychopathische Persönlichkeitsstruktur vorrangig genetisch bedingt ist.«
»Um Psychopathen soll es in meiner Reportage aber ja nicht gehen. Vielleicht habe ich mich etwas missverständlich ausgedrückt, Herr Professor«, bremste Natascha ihn. »Eher geht es um das zunehmend kühler werdende zwischenmenschliche Miteinander in unserer Gesellschaft.«
»Ja, ich weiß. Auf der Leiter von normaler Spiegelneuronen-Aktivität über ihre Verminderung bis hin zum totalen Fehlen finden Sie unzählige Ausprägungen, die wiederum die Emotionen und das Verhalten mehr oder weniger stark steuern. Es ist ja zum Glück so, dass Extremfälle nur einen kleinen Teil ausmachen – die absolute Minderheit. Nicht auszudenken, wenn es anders wäre! Es ist im Gegenteil so, dass Menschen mit stark eingeschränkter Spiegelneuronen-Aktivität oft fest in die Gesellschaft integriert sind. Mit ihrer in der Regel hohen Intelligenz und oft auch starken Anziehungskraft nehmen sie andere für sich ein, um ihre eigene Macht zu vergrößern. Wie Raubtiere unterwerfen sie ihr Umfeld, lügen und betrügen und bereichern sich auf Kosten anderer, ohne schlechtes Gewissen. Oft täuschen sie gute Absichten vor – doch das Wohl anderer ist ihnen völlig egal. Sie wissen genau, was die Gesellschaft von ihnen erwartet, und passen sich daran an, doch letztlich verfolgen sie nur ihre eigenen Interessen. Durch die verringerte, oft kaum mehr vorhandene Aktivität der Spiegelneuronen sind ihre Hemmschwellen gesunken oder fehlen im schlimmsten Fall ganz. Fliegen sie auf, stellen sie sich gerne als Opfer dar, Opfer ihrer Geschichte, ihres Elternhauses oder der Umwelt. Sicher sind das alles Einflussfaktoren, aber eben weniger ausschlaggebend als oftmals angenommen. Aber bezogen auf den langfristigen, ausgiebigen und extremen Konsum medialer Gewalt ist festzuhalten: Irgendwann bleiben im Gehirn empathische Reaktionen vollends aus – es ähnelt dann zunehmend dem Hirn eines Psychopathen. Aufgrund der geschrumpften Aktivität der Spiegelneuronen fällt es solchen Menschen zunehmend leichter, über die Gefühle anderer hinwegzugehen, sie auszutricksen, auszubooten, ja sie zu verletzen – irgendwann womöglich auch Schlimmeres, denn die neuronal erlernten Strukturen verfestigen sich immer mehr, und das Gehirn stuft als normal und richtig ein, was am Ende womöglich nur eines ist: herzlos – hemmungslos – brutal.«
Natascha sagte kein Wort. Das war harter Tobak.
Als hätte der Professor ihre Gedanken gelesen, fügte er hinzu: »Alles hängt ab von der Dosis, der Intensität, der Dauer und der Häufigkeit der Reize. Hinzu kommen die genetische Disposition und das Umfeld, in dem man groß geworden ist, sowie das Umfeld, in dem man sich aktuell bewegt. Und dann können auch bisher völlig unbeachtete Faktoren eine gravierende Rolle spielen. Aber Forschungen in diese Richtung sind noch nicht so weit.« Er hielt einen Moment inne – zu lange für Nataschas Geschmack. »Und vergessen wir den Faktor Sucht nicht.«
»Was genau meinen Sie damit?«, hakte Natascha nach. Da war etwas in Stenzels Stimme, das sie aufhorchen ließ. Als lägen irgendwo zwischen seinen Sätzen endlich Informationen, die Neues, vielleicht sogar Spektakuläres aufs Tablett brachten… Die Forschungen in dieser Richtung sind noch nicht so weit… Aber er wollte offensichtlich nicht mehr rausrücken, warum auch immer, und um Verfestigung von Hirnstrukturen durch permanente Wiederholung, um Suchtpotenzial im Allgemeinen konnte es ihm nicht gehen. Bestenfalls hing es mit dem, auf das er nicht eingehen wollte, lose zusammen, das würde auch seinen schnellen Gedankengang zur Sucht erklären. Wobei: Zwang und Triebkraft gehörten immer irgendwie zu den Gedanken eines Hirn- und Verhaltensforschers. Das konnte es also allein nicht sein, und dazu hatte er bei ihrem Treffen bereits Stellung bezogen.
»Meine Thesen hierzu sind noch zu lückenhaft. Vergessen Sie die Bemerkung einfach.« Stenzel verstand sein Fach. Er hatte genau wahrgenommen, dass Natascha nicht den letzten Satz meinte. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich muss Sie auf ein anderes Mal vertrösten, ich bin heute sehr eng getaktet. Lassen Sie mir die Abschnitte, in denen Sie mich zitieren, bitte zur Prüfung zukommen! Mir ist wichtig, nicht falsch verstanden zu werden. Ich habe da so meine Erfahrungen mit Journalisten. Nichts gegen Sie persönlich – Sie verstehen?«
»Das hätte ich ohnehin getan, Herr Professor.«
»Gut. Danke. Sollten Sie noch Fragen haben, mailen Sie mir am besten. Ich bin eher schwer zu erreichen, Sie hatten bisher Glück.«
Redete sie es sich ein, oder hatte sie ein erleichtertes Seufzen vernommen?
»Das mache ich, Herr Professor Stenzel. Ganz bestimmt sogar.«
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Zeichen der Zeit
Barash Tamm war auf dem Sprung zur Spätschicht, doch fünf Meter vor seinem Auto blieb er verdutzt stehen. Jemand hatte kackfrech in zweiter Reihe neben seinem geparkt. Gerade jetzt, wo er es eilig hatte, er war spät dran.
Er blickte sich um, vielleicht war der Fahrer ja noch irgendwo. Da sah Barash drei Haustüren weiter eine Person, bei der es sich vielleicht um den Fahrer handelte. Er spurtete los und rief bereits im Laufen: »Hallo! Entschuldigung! Warten Sie bitte einen Moment!« Als Barash den Mann nahezu erreicht hatte, drehte der sich auch schon um. Ein schlaksiger Typ, vielleicht um die dreißig, Barash kannte ihn nicht. »Danke! Ist das Ihr Wagen dort?« Außer Atem zeigte Barash zu dem Fahrzeug, das ihn blockierte. Der kurze Spurt hatte seinen Puls hochgetrieben, in Form war er offensichtlich nicht mehr.
»Ja. Warum?«, fragte der Mann beiläufig oder vielmehr gleichgültig, als ahnte er gar nicht, was Barash von ihm wollte, oder als interessierte es ihn einfach nicht und dieses Auto stünde da, wo man ein Auto eben hinstellte.
»Sie haben mich leider zugeparkt. Könnten Sie bitte kurz wegfahren? Ich muss zur Arbeit und hab‘s sehr eilig«, bat Barash ihn, ruhig und freundlich. Auch er hatte schon mal in zweiter Reihe geparkt, um schnell etwas zu erledigen, wer machte das nicht mal… Wenigstens war der Fahrer in der Nähe geblieben. Alles gut.
»Warten Sie, bis ich wieder da bin«, antwortete der Mann und drehte sich wieder zur Tür. »Ich hab‘s auch eilig. Muss nur schnell an den PC von Sebastian«, er zeigte auf das Klingelschild des Hausbesitzers, »wird eh schon knapp. Dauert nicht lang. Wird auf ein paar Minuten ja sicher nicht ankommen.« Der Mann klingelte, dazu klopfte er mehrfach, heftig, dann blickte er auf seine Armbanduhr. »Basti! Ich bin‘s, beeil dich!«
Für ein paar Sekunden war Barash völlig perplex. Und als wäre er nicht schon verwirrt genug, hatte er obendrauf noch eine Art Déjà-vu. Es war verrückt: Als er vor ein paar Wochen im Urlaub auf Korsika gewesen war, hatte ein Mann eine Reinemachefrau des Hotels zur Schnecke gemacht, weil sie ihm nicht schnell genug sein Zimmer aufgesperrt hatte. Der Gast hatte sich versehentlich ausgesperrt und brauchte dringend seinen PC. Irgendwie ähnelte diese Situation hier jener, die er beim Vorbeilaufen im Gang der Hoteletage mitbekommen hatte. Sachen gibt‘s! Barash fing sich wieder, kam gedanklich zurück ins Hier und Jetzt. Wahrscheinlich hatte ihn das Hämmern an die Tür aus seiner Starre gerissen. Der Ignorant, der ihn zugeparkt hatte, klopfte immer härter an die Tür, er hatte es offensichtlich wirklich eilig. Das war trotzdem kein Grund sich so zu verhalten! Es war doch selbstverständlich, erst das falsch geparkte Auto wegzufahren – es sei denn, es ginge um Leben und Tod! Aber das war hier ja wohl nicht der Fall.
Barash riss nun allmählich der Geduldsfaden. In forderndem Ton sagte er: »Ich weiß nicht, ob Sie mich nicht verstanden haben?! Ich – muss – zur – Arbeit! Und zwar jetzt! Ich will losfahren! Sofort! Nicht in ein paar Minuten. Was soll denn das?«
Barash machte einen Schritt auf den Mann zu. In dem Moment öffnete sich die Tür. Der Ignorant verlor kein Wort, nicht mal für die Begrüßung, und wollte ins Haus.
Barash machte noch einen Satz nach vorne, um den Mann am Arm festzuhalten. »Sie bleiben schön hier!«, fuhr er ihn barsch an.
Alles ging verflixt schnell, Barash konnte nicht mehr ausweichen. Der Faustschlag traf ihn mitten ins Gesicht. Dann knallte die Tür zu.
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Mallorca
Joachim Seidel und sein Tauchpartner Manfred Tatzer tauchten nach links weg, um an dem für sie vorgesehenen Platz unter Wasser ihre heutigen Aufgaben zu erfüllen. Wie jeden Tag bestanden diese aus der Entnahme von Proben an unterschiedlichen Stellen des Riffs sowie aus der Beobachtung der Fischpopulation. Sinnvolle Arbeiten, keine Frage. Was es allerdings mit den Fragen auf sich hatte, die sie später, wenn sie wieder in der Station waren, beantworten mussten, blieb ihm ein Rätsel, wie so vieles hier. Fragen wie: »Beschreiben Sie Ihren Gefühlszustand bezogen auf die Zeiten, in denen Sie im Wasser arbeiten. Welche Gedanken gehen Ihnen dabei durch den Kopf? Was empfinden Sie für die Tier- und Pflanzenwelt, die zu schützen Sie mit den Untersuchungen helfen?«, und eine Menge anderer Schwachsinn.
Er selbst stellte sich eigentlich nur zwei Fragen: Was zum Geier das alles mit den Medikamenten und den Verhaltensregeln während der Landgänge zu tun hatte? Und warum Elektroden zur Messung diverser Vitaldaten und offensichtlich auch zur Aufzeichnung der Gehirnaktivität an seinem Körper angebracht waren? Wo es doch hier offensichtlich um Umweltforschung ging, nicht um Beobachtung eines Menschen unter für ihn unnatürlichen Bedingungen und Isolation? Letzteres würde für ihn Sinn machen, einer gewissen Logik folgen, wenngleich es nicht die Einnahme der Medikamente erklärte.
Vielleicht erfüllten die Probanden hier unten ja auch verschiedene Zwecke gleichzeitig? Vielleicht war es eine Kombination verschiedener Forschungen? Meeresbiologische, humanmedizinische und psychologische Tests? Der Punkt, dass sie jeweils viele Tage am Stück hier unten verweilten und sie dadurch psychisch und physisch in einer ungewöhnlichen und auch extremen Situation waren, musste auf jeden Fall eine Schlüsselrolle spielen. Warum sonst tauchte man nicht einfach drei oder vier Mal am Tag ab und lebte die restliche Zeit ganz normal an Land? Der reine Zeitgewinn durch die Tatsache, dass sie nonstop unter Wasser verweilten, konnte es nicht sein. Es mussten die widernatürlichen Bedingungen sein, um die es bei den Versuchen an den Probanden ging. Möglicherweise erforschte man die Auswirkungen des Stickstoffs auf Körper und Geist, die Folgen des Sättigungstauchens. Die meeresbiologischen Arbeiten hier unten stellten entweder reinen Zeitvertreib oder aber die Erfüllung diverser Aufträge aus gänzlich anderen wissenschaftlichen Bereichen dar. Vielleicht finanzierte man damit das Ganze auch nur.
Aber er würde den Zweck des Ganzen ohnehin nicht ergründen, mit seinen Fragen drehte er sich nur im Kreis. Er sollte es gut sein lassen und einfach seinen Job machen, das Geld absahnen, und gut war.
Joachim Seidel wollte die Zeit am Riff nun in vollen Zügen genießen. Früh genug musste er wieder zurück ins Habitat – sein Gefängnis – besser konzentrierte er sich nun auf die Zeit hier draußen. Nach ein paar Minuten jedoch schweiften seine Gedanken erneut ab. Er fragte sich, ob die anderen Probanden an ihrem Platz ähnliche Aufgaben erfüllten wie er oder ob sie etwas anderes taten. Eine der Regeln war, nur den eigenen Arbeitsplatz unter Wasser aufzusuchen, diesen auf direktem Weg vom Habitat aus anzutauchen und nach Erledigung der Aufgaben auf direktem Weg dorthin zurückzukehren. Nur in Notfällen durfte die Tauchstelle anderer Taucher aufgesucht werden.
Seidel wurde unruhig. Er wollte zu gerne wissen, ob sie alle auch während der Tauchgänge dasselbe tun mussten wie innerhalb der Station. Er nahm an, dass es so war. Im Habitat hatten alle Probanden dieselben Möglichkeiten zum Zeitvertreib, nahmen zumindest augenscheinlich dieselben Pillen und konnten auf dieselben Filme und Spiele zugreifen. Sie tranken und aßen sogar fast dasselbe, was die vielen Fragebögen zu Allergien und Unverträglichkeiten erklärte.
Seidels Neugier siegte. Zeit war genug, er würde so oder so bald zur Unterwasser-Füllstation tauchen, um den Atemgasvorrat zu erneuern. Genauso gut konnte er das gleich jetzt machen und dann beim Lostauchen versehentlich die falsche Richtung einschlagen. Was sollte diese Geheimniskrämerei?! Er zeigte seinem Tauchpartner an, dass er zu einer anderen Stelle tauchen würde. Tatzers Protest lief ins Leere. Kaum hatte sich Seidel in Bewegung gesetzt, musste Tatzer widerwillig folgen. Keinesfalls durfte man in ihrer Situation allein tauchen. Ein Ausfall des Atemreglers oder ein anderes gravierendes Problem, und für den Betroffenen würde es übel ausgehen. Das Habitat war fast zweihundert Meter entfernt, und ein Notaufstieg wäre keine Option, da der im Körpergewebe gelöste Stickstoff unkontrolliert ausperlen würde.
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Dennoch finden wir diese - mehr oder weniger - eingeschränkte Spiegelneuronen-Aktivität wahrscheinlich ständig um uns herum. Immer wieder hallte dieser Satz in Nataschas Kopf nach. Sollte sie die Reportage verstärkt von der wissenschaftlichen Seite aufziehen? Es wäre ein interessanter Ansatz. Zu fachlich durfte sie das Thema aber auch nicht aufbereiten – zumal sie selbst daran zweifelte, dass die gesellschaftlichen Veränderungen einzig durch biochemische Veränderungen im Gehirn zu erklären waren. Und selbst wenn – wo blieb eine Erklärung dafür, dass das Sozialverhalten der Menschen gerade so extrem abkühlte? Der verstärkte Medienkonsum konnte als Erklärung allein nicht herhalten. Sicher spielten viele Faktoren zusammen, diese zu betrachten und zu analysieren, würde eine gute Grundlage für die Artikel-Serie bilden. Sie war auf dem richtigen Weg, das spürte sie. Sie wusste aber, sie musste ihre Fühler auch in andere Richtungen ausstrecken. Vielleicht sollte sie das Thema sogar ausweiten? Von Verrohung hin zu Gewaltbereitschaft ließ sich möglicherweise eine Brücke schlagen. Irgendwie hing das alles zusammen. Biochemisch betrachtet war es vom Verlust der Empathie-Fähigkeit zur Gewaltbereitschaft offensichtlich nur ein schmaler Grat, ja: das eine war zwangsläufig eine Folge des anderen. Diesem Ansatz nachzugehen, würde sich lohnen.
Sie war gespannt, was der heutige Tag bringen würde. Zwei Stunden noch, dann würde sie mit einer renommierten Kollegin Stenzels zusammensitzen und hören, was sie zum Thema zu sagen hatte. Nataschas Erkundigungen nach zu urteilen, warf Dr. Paula Dannowitz Thesen in den Raum, die in Fachkreisen nicht selten kontrovers diskutiert wurden. Vielleicht brachte sie neue Impulse für die Reportage. Die nächsten beiden Fachleute, die Natascha interviewen wollte, lebten und praktizierten nicht in München, sondern in Hamburg und Köln. Natascha würde ihre Mitarbeiter auf sie ansetzen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie Lea lassen sollte, wenn sie die beiden Interviews selbst durchführen würde.
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Etwas über eine halbe Stunde später näherten sich Seidel und Tatzer dem Abschnitt, in dem seine lethargischen Kollegen eingeteilt waren. Wenn die bei allem so emotionslos waren wie in der Station, dann pennten die beiden wahrscheinlich auch unter Wasser.
Ein paar Meter vor sich erblickte Seidel dieselben Behälter, Laborutensilien und Messgeräte, die auch er und Tatzer am Riff bei sich hatten. Einige Labor-Röhrchen und Behälter waren bereits mit Proben und Entnahmen gefüllt. Ganz klar, die Jungs hatten denselben Arbeitsauftrag. Schön, dass diese Vollpfosten zumindest damit ein gutes Werk taten – sie halfen dabei, mehr herauszufinden über die Flora und Fauna am Riff oder um was auch immer es hier gehen mochte…
Seidel schaute sich um. Keine Spur von den Typen. Tatzer hörte nicht auf zu nerven. Ständig drängte er Seidel, in ihren Quadranten-Abschnitt zurückzukehren. Wieder einmal schoss Seidel der Gedanke durch den Kopf, dass er lieber allein unterwegs wäre, Solo-Tauchgänge entsprachen seinem Naturell viel mehr. Er war eher ein Einzelgänger, nur zu gerne hätte er auch hier sein eigenes Ding durchgezogen. Eigentlich würde das auch mehr ins Bild passen, denn sie sollten doch ihren Vorlieben nachgeben. Warum dann beim Tauchen an konservativen Sicherheitskonzepten festhalten?! Es war nicht schlüssig. Aber was war hier schon schlüssig?!
Seidel entschloss sich, den großen Felsen zu umrunden, auf dem das Leben blühte wie selten im Mittelmeer. Er zeigte Tatzer sein Vorhaben an. Der zögerte wieder, folgte dann aber doch, blieb jedoch in einigen Metern Abstand zu Seidel, aus welchem Grund auch immer. Seidel aber war das recht. Besser, als sich ständig auf der Pelle zu hocken.
Nach einigen Metern entdeckte Seidel unter sich auf sandigem Grund eine große Tasche von der Sorte, in die man Tauchausrüstungen packte. Sie war offen. Seidel spähte hinein. Einige Bleistücke waren darin, wohl um die Tasche an ihrem Platz zu halten. Erst auf den zweiten Blick erkannte Seidel, was sich noch darin befand. Sofort war ihm klar, dass die Bleistücke nicht der Standortsicherung dienten, sondern ihren Zweck erfüllt hatten, der darin bestand, die Tasche an dieser Stelle des Meeres zu versenken, was wohl niemand hatte mitbekommen sollen, am wenigsten er.
Sein Atem stockte. Was zum Henker?! Dann löste er sich aus der Sekundenstarre. Ohne Tatzer auch nur ein Zeichen zu geben, trat er mit aller Kraft in die Flossen und schwamm so schnell er konnte vorwärts.
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Dr. Dannowitz war eine Frau, die das gewisse Etwas ausstrahlte, das andere Menschen und insbesondere Männer unweigerlich in ihren Bann zog – das zumindest hatte Nataschas Redakteur Kessler gesagt, der sie auf einer Konferenz persönlich kennengelernt hatte. Natascha konnte ihrem Kollegen nur zustimmen, die Frau, die nun auf sie zuschwebte wie ein vollkommenes Geschöpf auf dem Catwalk, schaffte es, dass selbst Nataschas Blicke eine Sekunde länger als gewöhnlich an ihr hafteten. Die Bilder auf Wikipedia und den wissenschaftlichen Internetseiten hatten nicht annähernd ihre Schönheit zur Geltung gebracht, das stellte Natascha neidlos fest. Rotbraun schimmerndes, leicht gewelltes Haar, das füllig bis über die Schultern fiel, ein makellos schönes Gesicht, feine und perfekt proportionierte Züge, ihr Make-up, ihr Style, ihre Figur, ihr eleganter Gang, ihre Kleidung – einfach alles war unwirklich schön und anmutig. Aristokratisch und doch natürlich schritt sie auf Natascha zu. Wie eine hochrangige Elfe aus einer anderen Welt, verletzlich und zugleich unglaublich stark. Und dann diese im Kontrast zu Haarfarbe und Teint tiefblauen Augen! So tief, dass man sich, sobald man hineinblickte, in ihnen verlor. Die Frau hatte eine enorme Sogwirkung. Als sie nun vor Natascha stehen blieb, sah sie aus, als hätte sie sich soeben direkt von einem Pariser Laufsteg hierher gebeamt, ohne dabei dem leisesten Lüftchen ausgesetzt gewesen zu sein oder stundenlang in einem Autositz zugebracht zu haben – was den knitterfreien Stoff ihres figurbetonten Hosenanzugs und den perfekten Sitz ihrer Frisur erklärte. Selten hatte Natascha eine derart schöne Frau getroffen, und es würde sie nicht wundern, wenn die Männer dieser Elfe bedingungslos in ihre Anderswelt folgen würden. Es war eine gute Entscheidung gewesen, nicht einen ihrer männlichen Kollegen vorbeizuschicken – die hätten sich wahrscheinlich nicht auf ihre Aufgabe konzentrieren können. Natascha grinste, richtete sich auf, stellte sich vor und streckte der Psychologin die Hand entgegen. Deren Händedruck war kräftig für eine Frau, aber nicht unangenehm; Natascha schüttelte selbst auch gerne mit reichlich Schmackes Hände.