Читать книгу Status Quo - Thorsten Reichert - Страница 3

Tag 1

Оглавление

ARD Tagesschau, Samstag, 20.04 Uhr

„Berlin. Nach zähen Verhandlungen wurde gestern Abend das Freihandelsabkommen zwischen zahlreichen Europäischen Ländern und den nordamerikanischen Staaten USA und Kanada unterzeichnet. Es schafft eine Freihandelszone, durch welche eine bessere wirtschaftliche Kooperation zwischen den Partnern möglich werden soll. Kritiker bemängeln die fehlende Transparenz des Abkommens und wiesen darauf hin, dass große Teile des Abkommens von Lobby-Vertretern aus Wirtschaft und Industrie verfasst und damit nicht in demokratischen Entscheidungsprozessen entwickelt worden seien. Sie sehen darin einen Sieg der Lobbyisten über die Politik. Die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens war zuvor mehrmals verschoben worden, unter anderem wegen der NSA-Affäre 2013. Zuletzt hatte Bundeskanzlerin Merkel eingelenkt, nachdem der amerikanische Nachrichtendienst NSA weitreichenden Einblick in seine in Deutschland gesammelten Abhördaten zugesagt hatte. Die Kanzlerin betonte, es gebe keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Freihandelsabkommen und dem Offenlegen der Abhördaten. Die zwischen den Jahren 1954 und 2010 gesammelten Daten abgefangener Telefonate, Briefe und Emails aus Deutschland werden in den kommenden Wochen dem Bundeskriminalamt zur Einsicht zur Verfügung gestellt. Regierungssprecher Seibert betonte, hiermit sei die NSA-Affäre endgültig abgeschlossen und das deutsch-amerikanische Verhältnis aufs beste wiederhergestellt.“

Bundeskriminalamt, Wiesbaden, Montag 8.17 Uhr

„Frau Wohlfahrt, kommen sie bitte mal rein und setzen sich.“

Francesco Mayer, langjähriger Mitarbeiter des BKA, Abteilung „Interne Ermittlungen“, saß hinter seinem für BKA-Verhältnisse erstaunlich aufgeräumten Schreibtisch und lehnte sich in seinem Bürosessel zurück. Er sah zu, wie seine Mitarbeiterin die Türe schloss und sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch setzte. Stefanie Wohlfahrt, 32 Jahre alt, blond, attraktiv, zielorientiert. Sie hatte sich nach Abschluss ihres Studiums im Zeitraum von zweieinhalb Jahren bereits zweimal innerhalb des BKA hochgearbeitet, war nun leitende Angestellte und führte in erster Linie Ermittlungskooperationen zwischen BKA und diversen Landeskriminalämtern. Mayer mochte sie, weil er einen Ehrgeiz in ihr sah, der ihm imponierte. Sie könnte es mit ihrem Aussehen auf viel einfachere Weise schaffen, aber sie ließ lieber Taten sprechen. Solche Leute brauchten sie beim BKA.

„Frau Wohlfahrt, woran arbeiten sie gerade?“

„Ich bin gerade gemeinsam mit dem LKA Brandenburg an dieser Schieberbande dran, aber wir kommen leider nach wie vor nicht an die Kontaktleute in Polen ran.“

Sie gab bereitwillig Auskunft. Man hatte keine Geheimnisse beim BKA, auch nicht vor dem Chef, sie wusste und schätzte das. Lügen und Rumdrucksen war nie ihre Sache gewesen. Wenn sie etwas konnte oder wusste, dann sagte sie es, und wenn sie einen Fehler gemacht hatte, dann gab sie ihn unumwunden zu. Mayer war informiert darüber, dass es in der Sache seit längerem nicht voran ging. Es verschwanden immer wieder teure Luxusautos made in Germany in Richtung Polen, aber niemand wusste genau, auf welchem Wege und mit welchem Ziel. Es gab ein paar Informanten diesseits und jenseits der Grenze, aber auf die war wenig Verlass, wie sich im Laufe der Ermittlungen zeigte.

„Kann ich sie von der Sache abziehen?“

Mayer unterbrach ihre Gedanken und verwirrte sie für einen Augenblick.

„Herr Mayer, sie wissen ja wie das ist...“

Er lachte.

„Frau Wohlfahrt, machen sie sich keine Sorgen, ich nehme ihnen den Fall nicht weg, ich habe nur eine wichtigere Sache für sie, die sie in den kommenden Wochen betreuen sollen. Danach können sie sich gern wieder ihrer Schieberbande widmen.“

Ihr Gesichtsausdruck entspannte sich, er hatte wieder ihre volle Aufmerksamkeit.

„Sie wissen ja, dass die NSA uns freundlicherweise Einblick in sechzig Jahre Mithörpraxis gegeben hat. Ja, zu gütig, nicht wahr?“ Er lachte, der Sarkasmus in seiner Stimme war unüberhörbar.

„Die Daten sind Ende letzter Woche hier eingetroffen. Es handelt sich um eine Festplatte mit knapp einem Terabyte Daten. Eingescannte Briefe, Emails, kopierte Akten, mitgeschnittene Telefonate und sonstige Aufnahmen, von denen wir keine Ahnung haben, wie die NSA dazu gekommen ist. Ehrlich gesagt sollte uns das auch egal sein. Wir haben weder die Manpower noch die Aufgabe, sämtliche Daten aufzuarbeiten und nach kriminellen Machenschaften zu suchen. Das Ziel dieser Dateneinsicht ist nicht, unsere amerikanischen Freunde auf die Anklagebank zu bringen, sondern uns einen groben Überblick über das zu schaffen, was wir seit Jahrzehnten vermuten und seit Jahren mit Gewissheit wissen. Wir wurden von der NSA konsequent ausgehorcht, das machen wir mit zwei Dutzend europäischen Ländern ganz genauso. Je weniger wir darüber reden, desto kleiner ist die Gefahr, dass sensibles Wissen an Leute gerät, die es nicht für sich behalten können.“

Sein eindringlicher Blick verriet, dass er einen ganz konkreten Mann vor Augen hatte, der die ganze NSA-Geschichte seinerzeit ins Rollen gebracht hatte. Edward Snowden, der „Whistleblower“, Ex-Mitarbeiter der NSA, hatte sich mit einer ziemlichen Menge sensibler Daten im Gepäck aus den USA abgesetzt und mit dem Ausplaudern seiner NSA-Kenntnisse sowohl seinen ehemaligen Arbeitgeber als auch die Vereinigten Staaten an sich in eine ernsthafte diplomatische Krise gestürzt. Stefanie Wohlfahrt hatte sein Verhalten im Gegensatz zu einigen ihrer Kollegen aufs Schärfste verurteilt. „Was geheim ist, muss geheim bleiben“, war ihr Motto, nach dem sie ihr Privatleben ebenso wie ihren Beruf gestaltete. Nicht zuletzt deshalb hatte sie es in kürzester Zeit an den Punkt geschafft, an dem sie jetzt stand: Sie sollte die Daten eines der größten Abhörskandale aller Zeiten sichten. Das war keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für übermotivierte Mitarbeiterinnen, das war ihre Chance, mehrere Karrierestufen auf einmal zu nehmen. Wenn sie jetzt alles richtig machte, dann würde sie vielleicht nicht weltberühmt wie Mister Snowden werden, aber dann wäre ihre Karriere innerhalb des BKA zumindest für die nächsten Jahre gesichert.

„Sie verstehen, was ich meine.“ Ihr Chef beugte sich in seinem Stuhl nach vorn und blickte sie an. „Wir haben hier eine Aufgabe. Die besteht darin, keinen weiteren Offenbarungsjournalismus zu betreiben. Sie besteht darin, zu akzeptieren, was nicht zu ändern ist: dass jeder Staat dieser Welt seine Freunde ebenso wie seine Feinde bespitzelt. Und sie besteht darin, diesen riesigen Berg an Daten zu strukturieren und dann für immer in unseren Archiven verschwinden zu lassen.“

Mayer war Pragmatiker, das hatte sie bereits an ihrem allerersten Tag in der internen Abteilung erkannt. Es war ihr sympathisch, weil es bedeutete, dass er nicht um die Dinge herumredete oder sich um Unwesentliches kümmerte. Er wollte Fakten, nichts weiter. Und er wusste, wann eine Spur heiß oder kalt war. Diese Spur, diese Sache mit der NSA, sie war keine heiße Spur, sie war ein Übel, das abgearbeitet werden musste. Je emotionsloser, desto besser. Sie war die perfekte Wahl für diesen Job.

„Ich glaube, wir verstehen uns, Herr Mayer. Wann kann ich mit der Sichtung der Daten beginnen?“

Mayer lehnte sich entspannt zurück und lachte.

„Genau so hatte ich es erwartet, Frau Wohlfahrt. Sie können es gar nicht schnell genug hinter sich bringen. Aber passen sie auf, dass sie nicht in dem Durcheinander verloren gehen. Die Amis haben uns fast eintausend Gigabyte geschickt, und zwar nicht etwa schön sortiert als Datenbank mit Suchfunktion und so. Sie könnten Jahre damit zubringen, das Chaos in eine sinnvolle Struktur zu bringen. Zum Glück ist das nicht notwendig. Wir haben die Aufgabe gesplittet und beziehen die LKAs mit ein. Sie können sich vorstellen, dass die Mehrheit der Daten von Bundes- oder Landesregierungen stammt. Die NSA hatte schließlich besseres zu tun als Otto-Normalverbraucher zu bespitzeln oder Facebook-Profile von Max Mustermann zu durchforsten. Die haben unsere Regierungen und Abgeordneten abgehört. Also haben wir die Daten vervielfältigt und den zuständigen LKAs zukommen lassen. Ich habe denen drei Wochen Zeit gegeben, ihre jeweiligen Daten zu sichten und uns zurückzusenden. Die sollen sich nur einen groben Überblick verschaffen, wer bei ihnen in welchem Umfang abgehört wurde.“

„Drei Wochen? Mehr als einen sehr groben Überblick werden die da nicht bekommen“, unterbrach die Mitarbeiterin ihren Chef. „Man dürfte mindestens eine Woche benötigen, um überhaupt mit der Struktur solcher Daten zurecht zu kommen.“

„Gute Einschätzung, Frau Wohlfahrt.“ Mayer nickte zufrieden. „Das heißt, wir geben den LKAs nicht genug Zeit, um irgendwelche selbsternannten Whistleblower auf eine Rambo-Idee zu bringen. Die sollen das Buch nicht besprechen sondern quer lesen. Wir wollen von denen keine Literaturkritik, nur eine Zurkenntnisnahme.“

Wohlfahrt erhob sich von ihrem Stuhl. „Das heißt, in drei Wochen kann ich mich wieder meinen heiß geliebten Luxusschlitten widmen?“ Ein verschmitztes Lächeln umspielte ihren Mund, eine weitere Bestätigung für Mayer, dass er die Richtige für diesen Job ausgewählt hatte.

„Drei Wochen, Frau Wohlfahrt, und sie werden sich für ganz andere Aufgaben empfohlen haben. Ich vertraue ihnen in der Sache. Machen sie alles richtig, und die Zukunft gehört ihnen.“

YES!

Mit einem kribbelnden Glücksgefühl wandte sie sich zur Tür. „Die Zukunft gehört ihnen“, aber hallo, und wie sie ihr gehören würde!

„Haben sie nicht was vergessen?“

Überrascht drehte sie sich zu Mayer um. Er hielt eine Festplatte in der Hand.

„Sie glauben doch nicht etwa, dass solche Sachen auf dem Postweg verschickt werden?“, lachte Mayer, während er die Festplatte in seiner Hand wiegte. Sie griff danach und hielt das Metallding für einen Moment nachdenklich in ihren Händen. Ihr Chef schien ihre Gedanken zu ahnen.

„Ein halbes Jahrhundert Geheimdienstarbeit passt heutzutage auf eine Festplatte. Ist das nicht gespenstisch?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Gespenstisch nicht – eher enttäuschend. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass ganze Serverräume mit diesen Daten gefüllt wären, dabei ist es nur eine ein-Terabyte-Festplatte.“

„Urteilen sie nicht zu vorschnell, Frau Wohlfahrt. Sie werden wenig Freude an dem Chaos haben, das sich in dem Ding da verbirgt.“

Wieder zuckte sie mit den Schultern und ging zur Tür.

„Eines noch, Frau Wohlfahrt.“

Noch einmal drehte sie sich um und sah ihren Chef an.

„Je weniger Leute von ihrem neuen Job wissen, desto besser.“ Er blickte sie auf eine Weise an, die sie von ihm nicht kannte. Es lag ein gewisser Ernst darin, fast hätte sie es als eine Drohung auffassen können. Ohne den Blick von ihr zu nehmen, ergänzte er:

„Das meine ich nicht nur in Bezug auf Leute außerhalb dieses Gebäudes sondern auch innerhalb.“

Sie hielt ihre rechte Hand zum militärischen Gruß an die Schläfe und erwiderte lächelnd:

„Alles roger. Over. Piep!“

Spiegel-Redaktion, Hamburg, Montag 9.32 Uhr

„Was haben wir?“

Streitmeier blickte erwartungsvoll in die Runde der anwesenden Redakteure. Hajo Streitmeier, 56 Jahre, Chefredakteur eines der auflagenstärksten Magazine Europas, passionierter Golfer und Oldtimer-Liebhaber, Workaholic und dennoch ein liebenswerter und für alle großen und kleinen journalistischen Probleme offener Chef. Er hatte sein Redaktionsteam fest im Griff, hatte nicht einen einzigen Skandal in seiner inzwischen fast zehnjährigen Zeit als Chefredakteur zugelassen – bei einem explosiven Medium wie dem Spiegel eine bemerkenswerte Leistung – und verfolgte den Leitspruch: „Setz den Leuten nur das vor, was sie auch verdauen können.“ Kritiker behaupteten, der Spiegel habe unter seiner Leitung die Schärfe früherer Jahre verloren, was sich nicht zuletzt in dem erstaunlich guten Verhältnis zwischen der Chefredaktion und der Bundesregierung widerspiegelte. Von wegen nomen est omen – Hajo Streitmeier war ein Revoluzzer der 80er Jahre. Er hatte in seiner Jugend nicht gegen die Alten aufbegehrt, nicht gegen Vietnam und veraltete Traditionen auf der Straße gestanden, seine Revolutionen gingen nach innen. Selbsterkenntnis statt politische Demonstration, Gender-Diskussion statt Flowerpower. So war er ohne viel anzuecken weit gekommen, hatte nicht seine Streitfähigkeit sondern seine journalistischen Fähigkeiten für sich sprechen lassen. Seit einer Dekade leitete er das zweiteinflussreichste Printmedium Deutschlands, ohne Kanten vielleicht, aber dafür mit Niveau. Die Auflage stimmte, selbst im digitalen Zeitalter. Journalistische Qualität setzt sich durch, das wusste Streitmeier, und was er hier versammelt sah, das war journalistische Qualität allererster Klasse.

„Israel“ - „EU-Abgasnorm“ - „Filmpreis“ - „Elbphilharmonie“

Den Stichworten seiner Redakteure gab Streitmeier jeweils ein zufriedenes Nicken zur Antwort. Jeder hier am Tisch wusste, was er oder sie zu tun hatte. Er mischte sich nur ein, wenn er Kritik an Fragen der Qualität, Objektivität oder Arbeitseffizienz hatte. Letzteres machte ihm zuletzt häufiger bei seiner „Patientin“ Junkermann zu schaffen. Sie war als nächste an der Reihe und warf ihm anstatt eines Stichwortes einen gequälten Blick zu.

„Barschel?“ fragte er in ihre Richtung. Einige Kollegen konnten sich ein nett gemeintes Lachen nicht verkneifen. Jeder wusste, dass sie mal wieder die Arschkarte gezogen hatte. Als die Kieler Staatsanwaltschaft aufgrund eines aufgetauchten Haares in den Barschel-Akten den Fall von 1987 wieder aufrollen wollte, dachten alle, dass jetzt endlich die Lösung dieses verschlungenen politischen Rätsels bevor stehen würde. Beim Spiegel gab es gleich mehrere Redakteure, die sich für den Fall interessierten. Streitmeier gab ihn an keinen von ihnen. Er vertraute ihn seiner Lieblingsredakteurin Grit Junkermann an. Nicht weil er sie bevorzugen wollte, sondern weil er wusste, dass sie nicht im Dreck wühlen und einen neuen Skandal herauf beschwören würde, wie es vielleicht der eine oder andere testosterongesteuerte Kollege gern tun würde. Doch nach wenigen Wochen war klar, dass die causa Barschel so tot war wie Barschel selbst. Junkermann arbeitete mit halbem Auge daran, während sie etliche kleinere Recherchen abarbeitete. Unterm Strich führte das dazu, dass sie seit Monaten nichts Konkretes auf die Beine gestellt hatte. Während ihre Kollegen in der Runde so manchen Wirtschaftsboss in Erklärungsnot, diverse Missstände des Sozialstaats aufgedeckt oder Steuersünder ins Schwitzen gebracht hatten, waren von ihr gerademal ein paar kurze Artikel „unter ferner liefen“ erschienen.

„Barschel? Ist tot.“ antwortete sie ihrem Chef schließlich so knapp wie trocken. Die Lacher waren jedenfalls auf ihrer Seite.

„Ehrlich, Cheffe, da geht nix. Niemand weiß nichts, und das weiß jeder. Solange wir nicht irgendwoher einen Kandidaten herzaubern können, der zu dieser vermeintlichen DNA-Spur passt, wird aus der Sache nichts werden.“

Streitmeier nickte. „Das heißt, du bist nicht sauer, wenn ich dir eine neue Geschichte auf den Schreibtisch knalle?“

„Im Gegenteil, ich bitte darum!“

Aller Augen richteten sich auf Streitmeier. Der hob beschwichtigend die Hand.

„Keine allzu großen Erwartungen, ich fürchte, die neue Story ist auch nicht wirklich eine Story.“

Einige Kollegen konnten sich ein erneutes Schmunzeln nicht verkneifen. Grit Junkermann gab einen Laut von sich, der zwischen Entrüstung und Resignation schwankte.

„Tut mir leid, Grit, aber vielleicht kannst du da am Ende wirklich was rausquetschen. Wir brauchen jemanden, der sich mit dem BKA anlegt.“

Erneutes Lachen, einer nuschelte „Bingo!“ Seine Kollegin nahm es eher als Kompliment denn als Beleidigung. Es war bekannt, dass sie zwar selten eine gute Story hervor brachte, aber dass sie ziemlich hartnäckig sein konnte, wenn sie einer Sache oder überhaupt jemandem auf der Spur war. Ihr Interesse war geweckt.

„BKA?“

Streitmeier lächelte sie mit einem breiten Grinsen an.

„Jepp, Bundeskriminalamt Wiesbaden. Die Schlaumeier von der NSA haben nämlich ihre groß propagierte und angekündigte, ach so freundschaftliche Einsicht in ihre Abhördaten nicht etwa über Wikileaks organisiert, sondern die Akten exklusiv an das BKA geschickt. Kein öffentlicher Zugriff. Nicht jetzt und nicht in Zukunft geplant.“

„Und wo ist die Story?“

Grit ahnte, dass sie beim BKA ebenso auf Granit beißen würde wie im Fall Barschel.

„Die Story darfst Du selbst machen. Finde was raus, klage sie an, schreib einen Protestartikel, in dem du forderst, dass alle die Daten einsehen dürfen – oder was auch immer. Mach einfach ne Story draus.“

Grit nickte zufrieden. Keine Vorgaben, keine Handlungsanweisungen. So gefiel ihr die Arbeit als Journalistin. Niemand erhoffte sich viel von der Sache, also war die Erwartungshaltung minimal – irgendwas brachte sie am Ende immer zustande, und wenn es nur der Zorn derer war, über die sie schrieb.

„Wann geht’s los?“

Streitmeier nickte zufrieden und wies mit einer Geste Richtung Tür.

„Am besten gestern!“

Grit sprang auf und verließ gut gelaunt den Raum. Die nicht gerade heiß ersehnte Redaktionssitzung am Montagmorgen war erstaunlich angenehm verlaufen, sie hatte einen neuen Fall und konnte mal wieder so richtig im Dreck wühlen. Die Woche ging gut los...

Fehmarnwinkel, Kiel, Montag 10.10 Uhr

„Denkst du dran, dass deine Tochter am Wochenende ihr Turnier hat?“

Mareike Johannsen sprach die Worte abwesend, während sie die Spülmaschine ausräumte. Ihr Mann, Martin Johannsen, Mitte vierzig und leitender Angestellter beim Landeskriminalamt in Kiel, versuchte gerade, sich ohne Spiegel seine Krawatte zu binden. Er war genervt, weil ihre Tochter Julia beim Frühstück wie so oft in letzter Zeit nur gemeckert und geflucht hatte. Ihr Bruder Jürgen hatte wie üblich das Weite gesucht und würde sein Frühstück wohl auf dem Fahrrad zu sich nehmen, während er freihändig zum Gymnasium radelte. Er hatte ein gutes Verhältnis zu seinen Kindern, aber seine Kinder nicht immer zu ihm. Aber er liebte sie über alles, und gerade deshalb nervte es ihn, wenn sie seine bedingungslose Liebe nicht wertzuschätzen wussten. Außerdem wollte der doppelte Windsor heute irgendwie nicht klappen.

„Hast du gehört, was ich gesagt habe?“

Seine Frau trat zu ihm und half ihm mit dem Krawattenknoten. Mit zwei Handgriffen hatte sie den Schlips in eine vollendete Form gebracht.

„Sie ist auch deine Tochter, falls du dich erinnern solltest.“

Sie warf ihm einen sarkastischen Blick zu.

Unsere Tochter, Herr Schlauberger, hat am Samstag Reitturnier.“

Er ignorierte ihre Spitze und versuchte sich daran zu erinnern, wann sie ihm von dem Turnier erzählt hatte. Julia hatte zu ihrem zehnten Geburtstag eine Reitbeteiligung geschenkt bekommen und hatte in den vergangenen eineinhalb Jahren so gute Fortschritte gemacht, dass sie ihr erlaubten, bei kleinen Turnieren teilzunehmen. Auf diese Weise konnte ihr heißblütiges Gemüt – das sie zweifelsohne von ihrer Mutter geerbt hatte – wenigstens ein wenig beruhigt werden.

„Ich weiß, Schatz, ich werde mir Samstag auf jeden Fall freihalten, damit wir gemeinsam dorthin gehen können.

Sie blickte ihn abschätzend an. Es wäre nicht das erste Mal, dass er ein solches Versprechen nicht würde halten können, daher gab er es auch lieber seiner Frau und nicht Julia. Wenn irgend etwas dazwischen kommen sollte, dann wäre sie untröstlich.

„Ich muss los, bist du hier, wenn ich zurück komme?“

„Kommt drauf an, ich habe um halb fünf einen Arzttermin“, antwortete sie, während sie zeitgleich eine Einkaufsliste schrieb. Ihre Multitasking-Fähigkeiten erstaunten ihn immer wieder. Er war schon froh, wenn er während der Autofahrt das Navi programmieren konnte, ohne einen Unfall zu bauen.

„Ich versuche um vier wieder hier zu sein. Kann aber sein, dass es später wird, wir kriegen heute wohl die Daten vom BKA rein.“

Er hatte ein mulmiges Gefühl wegen der BKA-Sache. Die Abhördokumente waren seit Monaten in allen Medien, jetzt also sollten sie einen Einblick in die Unmengen an Daten und Dokumenten erhalten. Niemand wusste bislang, was da drin stand oder welchen Umfang die Daten haben würden, aber es sollte sich um den Zeitraum der letzten fünfzig Jahre handeln, man konnte sich vorstellen, dass das mehr als ein paar Aktenordner waren. Und überhaupt, was sollten sie eigentlich mit diesen Daten anfangen? Das LKA war eine Strafverfolgungsbehörde, weder ein journalistisches Medium noch ein Gericht, schon gar kein Nachrichtendienst. Sie waren nicht für die Aufarbeitung ausländischer Bespitzelung zuständig, nicht im juristischen Sinne noch im Interesse der Öffentlichkeit.

„Versuch es einfach, ok?“

Die Stimme seiner Frau klang resigniert, er wusste, dass sie sich innerlich bereits darauf eingestellt hatte, dass er vor dem Abendessen nicht zuhause sein würde. Nicht dass dies die Regel wäre, aber er war einfach nicht besonders gut darin, Versprechen zu halten. Vielleicht war es sein Naturell, vielleicht Schicksal, ganz bestimmt aber war es sein Job, der ständig mit unangenehmen Überraschungen aufzuwarten wusste. Immerhin, diesmal würde man ihn nicht auf dem falschen Fuß erwischen. Die NSA-Geschichte war vorprogrammierter Ärger, sowohl mit den Medien als auch in der Sache selbst. Wenn es ihm nicht gelingen würde, diese Sache auf eine andere Abteilung abzuwälzen, dürfte der eingereichte, bevorstehende Urlaub leicht ins Wasser fallen.

Auf dem Weg zur Arbeit dachte er über den geplanten Urlaub nach. Es war nichts besonderes, die Kinder hatten Ferien und sie wollten gemeinsam ein verlängertes Wochenende oder vielleicht die ganze Woche in ihr Ferienhäuschen an der Ostsee fahren. Es wäre mal wieder an der Zeit, keine Frage.

Martin Johannsens Wagen führ im Autopilot die vierspurige Umgehungsstraße entlang, während der Fahrer seinen Urlaubsplänen nachsann. Als er sich wieder auf den Verkehr konzentrierte, bog er bereits auf den Parkplatz des großen Klinkergebäudes ein, in welchem das LKA Schleswig-Holstein untergebracht war. Da sage nochmal einer, er wäre nicht multitaskfähig.

Deutsche Bank Zentrale, Frankfurt am Main, Montag 10.23 Uhr

„Und schon bin ich drin.“

Mike Pawelski blickte zufrieden in die Runde. Er hatte sich soeben in das vermeintlich hervorragend geschützte Sicherheitssystem eines der größten Kreditinstitute Europas gehackt und hatte sichtlich Spaß daran. Gleiches ließ sich nicht gerade von dem Dutzend Männern sagen, die ihm in teuren Anzügen gegenüber saßen. In seiner zerrissenen Jeans und dem Che T-Shirt wirkte er komplett deplatziert, und dennoch sahen ihn die Banker an als habe er ihnen gerade die Leviten gelesen. Mithilfe eines Trojaners, den er durch die Hintertür in ihr Sicherheitssystem geschleust hatte, war es ihm gelungen, das System davon zu überzeugen, dass sein externer Zugriff ein ganz normaler Vorgang sei.

„Das ist, als würde man sich in einen Club schleichen und sich dort genauso entspannt verhalten wie die ganzen VIPs dort. Je unauffälliger man sich gibt, desto weniger Aufmerksamkeit erregt man. Das Geheimnis ist, so zu tun als gehöre man dazu.“

Er liebte seine Vergleiche, sie waren ungewöhnlich, aber absolut treffend. Fand er selbst zumindest. Die ergrauten Männer auf der anderen Seite des Tisches sahen das möglicherweise anders, jedenfalls sagte keiner ein Wort. Mike Pawelski lenkte ihren Blick wieder auf das vom Beamer an die Wand projizierte Bild, welches die Oberfläche seines Laptop zeigte.

„Ich hab es so gemacht“, begann er zu erklären. „Das Sicherheitssystem erwartet einen Frontalangriff, über eine der folgenden Adressen. Er markierte etwas mit seinem Laserpointer.

„Ein normaler Angriff würde ungefähr so aussehen, dass man hier versuchen würde, die Sicherheitsbarriere zu überwinden oder etwas einzuschleusen, was das Alarmsystem lahm legt. Natürlich sind sie dagegen gesichert, das ist ja das mindeste, was ein Sicherheitssystem leisten muss. Der Clou ist, dass man durch den Ar...“ Er unterbrach sich selbst und ermahnte sich, es mit seiner Wortwahl nicht zu übertreiben. „...dass man von hinten durch die Brust ins Herz sticht. Man muss da angreifen, wo am wenigsten ein Angriff erwartet wird. Ein gutes Sicherheitssystem kennt seine eigenen Schwächen und kann eben genau darauf reagieren.“

Anhand einiger nickenden Köpfe konnte er erkennen, dass seine Botschaft zumindest bei einem Teil der Banker ankam.

„Was sie brauchen ist ein System, das nicht nur die üblichen verdächtigen Stellen überwacht, an dem ein Eingriff möglich wäre, sondern sensibel für Zugriffe ist, die vermeintlich sicher sind. Sie brauchen ein mehrstufiges System, bei dem die unterschiedlichen Stufen sich gegenseitig überwachen. Wenn einer pennt, greift ein anderer ein.“

Er konnte die Abneigung spüren, die ihm seitens der Schlipsträger entgegen schlug, aber er sah auch ihre Anerkennung seiner Fähigkeiten in ihren Augen. Diesen Blick liebte er. Es war ein Blick, der vor allem eines bedeutete: Geld. Viel Geld.

„Sie sagen, sie seien drin.“ Der ältere Mann in der Mitte fand als erster seine Sprache wieder. Vermutlich war er der Chef oder zumindest ein ziemlich hohes Tier in dem Unternehmen. Als er „drin“ sagte, formte er die Anführungszeichen mit den Fingern seiner Hände.

„Was genau meinen sie damit. Wie tief sind sie drin? Ich meine, was könnten sie da jetzt machen?“

„Mal sehen – wie lautet ihre Kontonummer?“, konterte Mike mit einem frechen Grinsen, das seine Wirkung nicht verfehlte.

„Ich glaube wir haben genug gesehen,“ unterbrach der Nebenmann des Älteren. Offenbar war das der Chef und der andere nur der Vize. Mike interessierte sich nicht allzu sehr für Hierarchien, was ihn interessierte war Geld. Geld und Macht. Er liebte es, Macht über diese Herren zu haben, die ihn unten auf der Straße keines Blickes würdigten. Er würde es ihnen heimzahlen, indem er ihnen einen Sonderpreis machte. Eine ziemlich hohe fünfstellige Summe würde von ihrem auf sein Konto wandern, für einen Job, der ihn drei Tage Arbeit kosten würde. Das war kein so schlechter Stundenlohn. Was die Sache aber versüßte war, dass er jetzt Zugriff auf ziemlich sensible Bereiche des Netzwerks der Deutschen Bank hatte, nachdem er während der Präsentation einen zweiten Trojaner dort hochgeladen hatte, der ihm zukünftig praktisch grenzenlosen Zugriff auf ihr internes Netz gewährleisten würde. Der Trick war, dass er einen Angriff vortäuschte, den er vorher angekündigt hatte. Das System hatte den Angriff zwar nicht abwehren können, aber hatte ihn immerhin wahrgenommen. Während der – im Raum anwesende – Sicherheitsberater der Deutschen Bank aber dachte, der Angriff diene nur Demonstrationszwecken und sei so gestaltet, dass er die Schwächen des Systems offenlege, nicht aber ausnutze, nun, währenddessen grub sich der Trojaner tief ins System ein und verhielt sich dort genau so wie Mike Pawelski es zuvor beschrieben hatte: er tat so, als gehöre er genau dorthin. Kein Sicherheitssystem würde erahnen können, dass es sich hier um einen der gefährlichsten Angreifer handelte, den das System je gesehen hatte. Noch während Mike seinen Laptop einpackte und sich von den Anzugträgern verabschiedete, sendete der Trojaner kleine, unscheinbare Datenpakete an einen Server in den USA, den Mike sich zu diesem Zweck angemietet hatte. Da jeden Tag Millionen von Daten zwischen dem Netzwerk der Deutschen Bank und IP-Adressen in den USA ausgetauscht wurden, war dies die unscheinbarste Methode, die man sich vorstellen konnte, um Daten zu stehlen. Der Server, auf den die Daten transferiert wurde, stand in den Vereinigten Staaten, was für den Datentransfer wie gesagt ideal war. Der Eigentümer der Server jedoch war eine Briefkastenfirma mit Sitz auf den Cayman-Inseln, was wiederum den außerordentlichen Vorteil hatte, dass es nicht ohne größere diplomatische Konsequenzen möglich wäre, den Server seitens der USA oder eines anderen Staates zu beschlagnahmen oder sich Zugriff darauf zu verschaffen. Dieses System funktionierte seit nunmehr sechs Jahren und hatte wesentlichen Anteil daran, dass Mike das Arbeitslosengeld, von dem er zuvor gelebt hatte, nicht mehr benötigte. Offiziell verdiente er weniger als 20.000 Euro im Jahr, doch die Großaufträge namhafter in Frankfurt ansässiger Kredit-, Versicherungs- und sonstiger Großunternehmen ließen bei ihm kräftig die Kasse klingeln. Die teilweise sechsstelligen Einnahmen der Großaufträge wie dem der Deutschen Bank gab Mike an Subunternehmer weiter, welche natürlich fiktive Personen waren, die in den diversen Steuerparadiesen dieser Welt lebten. Auf diese Weise hatte er es inzwischen auf ein Vermögen von knapp einer Million Euro gebracht, steuerfrei und ohne, dass dieses Geld nachverfolgt werden könnte. „Nur Anfänger bringen ihr Geld in die Schweiz“, war sein Motto. Ein Motto, das sich in den letzten Jahren definitiv bewahrheitet hatte. Trotz seiner guten finanziellen Lage lebte Mike noch immer in seiner Bude im Frankfurter Rotlichtviertel, einer 40-Quadratmeter Souterrainwohnung, die dem Klischee eines Nerds mehr als gerecht wurde. Wenn er Meerblick wollte, dann flog er erster Klasse nach Dubai oder Singapur, natürlich kostenlos. Es war erstaunlich, was man mit einem Laptop und einem Internetanschluss heutzutage erreichen konnte. Doch in den Luxussuiten der Nobelhotels hatte er spätestens nach ein, zwei Tagen Heimweh nach seiner Bude, da konnten auch die teuren Escort-Ladies nicht viel dagegen tun. Darum waren diese Eskapaden in letzter Zeit seltener geworden, so dass er sich wieder stärker auf seine Arbeit konzentrieren und einige dicke Fische an Land ziehen konnte. Die Deutsche Bank gehörte schon vorher zu seinen Kunden, aber erst durch die heutige Demonstration war es ihm gelungen, in das innerste System ihres Netzwerks vorzudringen. Wenn er wollte, dann könnte er das weltweite Finanzsystem von heute auf morgen zum Kollaps bringen. Allein die Deutsche Bank handelte als einer der weltweit größten Devisenhändler mit etlichen Milliarden Euro jährlich. Wenn er ihre Finanzströme in einer Blitzaktion auf bestimmte Anlagen umleiten würde, dann würde das eine Kettenreaktion auslösen, die nicht mehr zu stoppen wäre. Zwar würden sofort diverse Sicherheitsmechanismen der Börsen greifen und das Ganze innerhalb weniger Stunden als Betrug bloßstellen, aber die Reaktion von Millionen von geldgierigen Brokern auf der ganzen Welt würde das nicht stoppen. Sie würden kaufen und verkaufen was das Zeug hält – und damit wie bei einem Tsunami die Welle weiter und weiter auftürmen. Nur ein sofortiges Aussetzen des Handels aller namhaften Börsen könnte den totalen Kollaps verhindern, aber keine Börse gibt sich gern eine solche Blöße, und so würde innerhalb eines Handelstages die Hälfte aller Kreditinstitute an den Rand des Ruins getrieben, allen voran die Deutsche Bank.

Dieses Szenario ging Mike durch den Kopf, während er unten auf der Straße auf den Bus wartete. Er hatte nicht vor, das Szenario Wirklichkeit werden zu lassen, aber er wusste, dass er es jederzeit könnte – und das gab ihm ein verdammt gutes Gefühl.

Landeskriminalamt Schleswig-Holstein, Kiel, Montag 10.35 Uhr

Montag war Ausschlaftag für Martin Johannsen. Er kam meist nicht vor elf ins Büro, was ok war, weil es nach dem Wochenende meist einige Zeit dauerte, bis der Workflow wieder auf vollen Touren lief. Er war Abteilungsleiter des Bereichs „Politisch motivierte Kriminalität“ und hatte damit vor allem administrative Aufgaben. Ein Dutzend Leute arbeiteten unter seiner Führung, er rief sie jeden Montag um 11 Uhr zum Briefing zusammen. So hatten sie genug Zeit, nach dem Wochenende die wichtigsten Sachen zusammenzusuchen und eine knappe Darstellung ihrer Arbeitsergebnisse vorzubereiten. Das war im Sinne seiner Mitarbeiter, und es war vor allem in seinem eigenen Sinne. Dadurch hatte er montagmorgens viel Zeit für Familie und ersparte sich gähnend lange Sitzungen, in denen die Mitarbeiter zu vertuschen suchten, dass sie nach einem durchzechten Wochenende noch keine Zeit gefunden hatten, sich vorzubereiten. Johannsen nannte daher den Montag seinen „Ausschlaftag“, obwohl er wie an jedem anderen Werktag um kurz vor sechs aufstand. Nachdem die Kinder in die Schule aufgebrochen waren, hatte er damit noch etwas Zeit und Ruhe für sich und seine Frau, aber leider war diese Zeit in den letzten Jahren von abnehmender Qualität gewesen. Kaum ein Montagmorgen, an dem sie sich nicht einen ähnlichen Austausch sarkastischer Sätze oder Blicke geliefert hatten wie heute. Es gehörte wohl dazu, zum typischen Familien-Alltag, doch Johannsen erwischte sich häufiger als zuvor bei dem Gedanken, auch montags gleich nach dem Frühstück zur Arbeit zu fahren. Das Einzige, was ihn letztlich noch davon abhielt, war die Tatsache, dass sich die 11-Uhr-Briefings als so effizient und erfolgreich erwiesen hatten, dass er kaum wüsste, wie er die Zeit vorher verbringen sollte. Natürlich, es gab immer genug Arbeit, auch für einen Abteilungsleiter; gerade für einen Abteilungsleiter. Aber die Woche startete eben erst so richtig mit dem Briefing am Montagmittag. So war es nun seit gut zwei Jahren, und so sollte es auch gern bleiben.

Als Johannsen in sein Büro kam, war es kurz nach halb elf. Das Telefon klingelte. Ohne seine Tasche abzustellen griff er nach dem Hörer. Es war Furtwängler, das konnte er bereits vor dem Abnehmen an der Lampe erkennen, die bei ihren altmodischen Telefonen bestimmte interne Leitungen anzeigte. Sein Chef fragte, ob er vor seinem Briefing noch rasch zu ihm kommen könne. Er konnte. Es gab nicht viel, was er seinem Vorgesetzten ausschlagen würde. Herbert Furtwängler war nicht nur ein hervorragender Golfer, sondern ein durch und durch sympathischer und integrer Mensch. Wenn seine golferischen Fähigkeiten nicht bereits genügt hätten, ihn auf Johannsens Sympathieliste ziemlich weit nach oben zu katapultieren, dann hätte sein messerscharfer Verstand und seine Führungsqualitäten das ihre dazu getan. Dieser Mann war einfach bewundernswert, in jeglicher Hinsicht. Wenn er nicht seit zwanzig Jahren Johannsens Chef gewesen wäre, Johannsen hätte sich in den letzten Jahren vielleicht stärker darum bemüht, seine bevorstehende Nachfolge anzutreten. Furtwängler war 64, noch sieben Monate und er würde seinen wohl verdienten Ruhestand antreten und von da an wohl jeden Tag auf einem der schönen Golfplätze Schleswig-Holsteins anzutreffen sein. Sein Nachfolger würde es unsagbar schwer haben, die Fußstapfen eines so korrekten und zugleich nahbaren Vorgesetzten zu füllen. Letztlich war dies der Grund, warum Johannsen schon vor fast zwei Jahren abgewunken hatte, als Furtwängler ihn auf einer Golfrunde ermutigte, sich um seine Nachfolge zu bewerben. Er hätte sich wohl der Unterstützung seines Chefs gewiss sein können, und das hätte sicherlich in der Entscheidungsfindung schwer gewogen, aber neben der Sorge, den Erwartungen in der Nachfolge eines solchen LKA-Chefs nicht gerecht werden zu können, wollte er weder seiner Frau noch seinen Kindern so eine zeitliche und nervliche Belastung zumuten. Als Leiter des LKA stand man auf der Abschussliste zahlreicher Kriminellen ziemlich weit oben, weshalb Furtwängler nicht nur eine gepanzerte Limousine mit Fahrer sondern ein gut bewachtes und umzäuntes Zuhause hatte, in dem sich seine Kinder bei allem Luxus, den sie dort genossen, bisweilen recht eingekerkert vorkamen. Johannsen wusste das, weil er nicht selten dort zu Besuch war. Neben der Kollegialität verband ihn mit Furtwängler eine Freundschaft, die über den Golfplatz hinaus ging. Sie waren nicht allerbeste Freunde – Furtwängler wusste so gut wie nichts aus seinem Privatleben – aber sie kannten sich gut genug, um einander absolut zu vertrauen. Das war in einem Beruf, in dem man sich mit den gefährlichsten Kriminellen des Landes anlegte, nicht ganz unwesentlich.

Als er Furtwänglers Büro betrat, war dieser gerade am Telefon.

„Kann ich sie später zurückrufen, so in fünfzehn Minuten? Wunderbar, bis später.“

Furtwängler konnte einem auf subtile aber doch unmissverständliche Weise klar machen, wie lange ein Gespräch dauern würde oder solle. Nicht dass er kein offenes Ohr für seine Mitarbeiter hatte, doch er mochte es, wenn sein Tag effizient strukturiert war. Ein Gespräch durfte gern länger dauern als geplant, es musste aber nicht. Heute hatte er offenbar nur ein oder zwei Kleinigkeiten mit Johannsen zu besprechen, sonst wären 15 Minuten kaum ausreichend gewesen.

„Martin, guten Morgen. Wie lief's gestern?“

Als Golfer waren sie per du, auch außerhalb des Platzes. Und als begeisterter Golfer war Furtwängler immer an den Resultaten seiner Mitgolfer interessiert. Gestern war in ihrem Heimatclub ein Turnier gewesen, bei dem Johannsen teilgenommen hatte. Sein Resultat ließ sich vermutlich von der spontanen Veränderung seines Gesichtsausdrucks ablesen, zumindest fuhr Furtwängler fort:

„Naja, solche Tage muss es auch geben. Ich war übers Wochenende ja in Wiesbaden, wie du weißt.“

Er konnte ein Thema innerhalb von zwei Sätzen abschließend behandeln und zum nächsten wechseln. Diese Arbeits- und Spracheffizienz war nicht jedermanns Sache, aber sie kam Johannsen zumindest insofern entgegen, dass er reges Interesse an dem Bericht hatte, den sein Chef zu seinem Besuch beim BKA in Wiesbaden zu geben hatte.

„Die haben alle Daten komplett geklont und auf 16 Festplatten kopiert. Knapp tausend Gigabyte an Daten.“

Johannsen wusste spontan nicht, ob das viel oder wenig war. Dafür, dass es sich Daten aus um fünfzig Jahren Abhörpraxis handelte, war es nicht wirklich viel, aber fast ein Terabyte an Daten durchzuarbeiten konnte dennoch eine Mammutaufgabe werden.

„Netterweise haben unsere amerikanischen Kollegen die Daten recht stringent nach Bundesländern sortiert, zumindest in großen Teilen. Das heißt, dass wir die uns betreffenden Daten nicht erst aussortieren müssen.“

„Theoretisch.“

Furtwängler lachte. „Ja, theoretisch. Ebenso theoretisch ist es auch lediglich unsere Aufgabe, die Daten gewissermaßen quer zu lesen und nur Akten, die von hoher krimineller Energie zeugen oder die strafrechtlich relevant sein könnten, genauer zu untersuchen.“

Johannsens hochgezogene Augenbrauen sagten soviel wie „Was genau hat man sich darunter bitte vorzustellen?“

„Kurz gesagt: Je weniger Anstößiges wir in den Daten finden, desto besser für alle Beteiligten“, beantwortete sein Vorgesetzter die unausgesprochene Frage.

„Das BKA gibt uns drei Wochen Zeit, dann wollen sie die Festplatte wieder zurück haben, um sie ins Hochsicherheitsarchiv zu stellen.“

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte seufzend aus dem Fenster.

„Ein halbes Leben habe ich davon geträumt, einmal Mäuschen spielen zu können und den Geheimdiensten auf ihre Festplatten zu schauen. Ich wusste immer, dass wir so manchen Schwerkriminellen und etliche Banden drangekriegt hätten, wenn wir gewusst hätten, was BND und NSA wussten. Und auf der anderen Seite war ich immer froh, nicht in diese Zwangslage zu geraten. Man stelle sich vor, wir haben ein abgehörtes Telefonat oder eine Videoaufnahme, mit denen wir einen mehrfachen Vergewaltiger überführen könnten, aber wir dürfen es nicht, weil es illegal war, den Kriminellen abzuhören. Ich war immer froh, dass ich nur diejenigen vor Gericht brachte, denen ich ihre Taten auch auf legalem Wege nachweisen konnte. Und doch habe ich mich immer gefragt, was die alles sammeln, abhören, verwanzen und was weiß ich was noch alles. Der BND, die Stasi, der KGB und natürlich die NSA, die vor allen anderen.“

Er schüttelte resigniert den Kopf.

„Und jetzt, da ich diese Daten in Händen halte“, er nahm eine Festplatte aus seiner Schreibtischschublade und legte sie auf den Tisch, „jetzt würde ich sie am liebsten in ein Schließfach legen und den Schüssel wegwerfen.“

Er sah Johannsen an, mit einem Blick, der ihn alt wirken ließ, alt und amtsmüde.

„Ich will es nicht wissen, Martin. Ich will nicht wissen, was sie uns da geschickt haben. Welche Verbrechen sie begangen haben, um an die Daten zu kommen, welche Gesetze sie gebrochen haben. Ich will nicht wissen, wen sie abgehört haben, wann, wie oft und wo sie es getan haben. Ich will nicht wissen, was die Bundeskanzlerin dem Außenminister in einer vertraulichen Email geschrieben hat oder welcher Staatssekretär heimlich auf Pornoseiten surft. Ich will nicht wissen, wie groß meine eigene Akte auf dieser Festplatte ist oder was sie über mich und meine Familie wissen. Ich will es nicht wissen, Martin.“

Er atmete tief durch und legte seine rechte Hand auf die Festplatte, wie es die Angeklagten in amerikanischen Filmen tun, wenn sie schwören die Wahrheit zu sagen, nichts als die Wahrheit, so wahr ihnen Gott helfe.

„Wenn du mich fragst, ich halte diese Einsicht in Abhördaten weder für legal noch für sinnvoll. Siebzehn hochsensible Festplatten voller Staatsgeheimnisse sind derzeit in Deutschland unterwegs. Beten wir zu Gott, dass sie in einem Monat in einem Safe liegen, ohne dass vorher eine davon in falsche Hände geraten ist.“

Von dieser Seite hatte Johannsen die Sache noch nicht betrachtet. Er hatte die Einsicht in die Abhördaten als überfällige und notwendige Sache gehalten. Dass sie gerade durch das Föderalsystem in Deutschland, durch das die Daten nun als Kopie an die LKAs in allen sechzehn Bundesländern geschickt werden mussten, zu einem Sicherheitsrisiko werden könnte, war ein neuer Gesichtspunkt, den wohl nur wenige vor Augen hatten, als sie die Vereinbarung vor dem Hintergrund des neuen Freihandelsabkommens getroffen hatten.

„Ich lege diese Verantwortung in deine Hände“, fuhr der LKA-Chef fort.

„Je weniger Menschen darauf Zugriff haben, desto besser. Vielleicht ist es am besten, wenn du dich der Aufgabe allein widmest. Am besten am Zweit-PC in deinem Büro, der an kein Netzwerk angeschlossen ist.“

Johannson nickte.

„Ich werde es genau so machen. Der Safe in meinem Büro sollte sicher genug sein für die Aufbewahrung.“

„Natürlich hat diese Sache oberste Priorität, ich werde Leitner fragen, ob er deine Aufgaben in der Zwischenzeit übernehmen kann.“

„Drei Wochen sind ja keine Ewigkeit“, sagte Johannsen, mehr zu sich selbst, als eine Art Selbstvergewisserung, dass seine Familie höchstens drei Wochen lang noch weniger von ihm zu sehen bekommen würde als ohnehin schon.

„Ehrlich gesagt, je früher wir die Festplatte zurück senden, desto besser. Ich will, dass du dich wirklich nur auf die Dinge konzentrierst, die eine strafrechtliche Relevanz haben und die dann auch juristisch verwertet werden können. Alles andere ist nur Verlockung, von den verbotenen Früchten zu kosten.“

Furtwängler brachte es auf den Punkt. So verlockend es war, zu erfahren, was und wen die Amerikaner jahrzehntelang belauscht hatten, dieses Wissen brachte mit ziemlicher Sicherheit nichts ein. Aber wer weiß, vielleicht ließ sich damit ja immerhin manche Frage klären, auf die es bislang keine Antwort gab – und sei es nur die Frage, wer Heide Simonis damals die Stimme verweigert hatte...

„Also, bitte keine Staatsaffären, Martin.“ Es war fast schon gespenstisch, wie Furtwängler manchmal die Gedanken seines Gegenübers zu lesen schien.

„Du kannst dich auf mich verlassen, ich werde mich sofort dran setzen.“

Damit war die Unterhaltung beendet, 14 Minuten nachdem sie begonnen hatte. Johannsen nahm die Festplatte in die Hand und ging zurück zu seinem Büro. Es war kein ungewöhnlicher Vorgang, dass jemand auf den Gängen des LKA mit einer Festplatte zu sehen war, aber er fühlte sich, als würden alle Augen sich auf das kleine Metallgehäuse richten, das er so fest umklammert hielt, dass seine Finger anfingen zu schwitzen. Als er in seinem Büro angekommen war, zeigte die große Uhr an der Wand 10:57 Uhr an. Er verwahrte die Festplatte in dem mit Fingerabdruck und zusätzlicher sechsstelliger PIN gesicherten Safe seines Büros und nahm um Punkt 11 Uhr im Konferenzraum Platz.

BKA, Wiesbaden, Montag 12.48 Uhr

Stefanie Wohlfahrt war deprimiert. Vor vier Stunden hatte sie den Auftrag ihres Lebens erhalten, die Sichtung eines Datenberges an streng geheimen Akten, wie ihn kein Normalsterblicher je zu Gesicht bekommen würde. Einen Vormittag später war ihr klar, dass diese Aufgabe eine Sisyphosarbeit sein würde, bei der noch nicht einmal klar war, was genau das Ziel war, das es zu erreichen galt. Die Daten auf der Festplatte waren in hunderte von Unterordnern einsortiert, ohne erkennbare Struktur. Die einzelnen Dateien hatten keine sinnvollen Namen sondern bestanden aus ellenlangen Zahlen- und Buchstabenkombinationen. Die Dokumente waren weder geografisch noch chronologisch sortiert, hatten keinen Index und waren bunt gemischt. Es gab Szenen aus Überwachungsvideos, Telefonmitschnitte, eingescannte Briefe, Emails, sonstige eingescannte Dokumente, Bilder, Standbilder aus Videos, Abschriften von Telefongesprächen oder Unterhaltungen, abfotografierte, handschriftliche Notizen und jede Menge von der NSA verfasste Textdokumente. Es war, als hätte man sämtliche Dinge, die sich im Laufe eines langen Lebens ansammeln, in eine riesige Kiste geworfen und hätte kräftig geschüttelt. In einem Ordner waren hunderte eingescannte Schwarzweiß-Bilder aus den 60er Jahren zu finden, im nächsten Ordner Emails aus dem Mailkonto des Innenministers der Schröder-Ära, dann ein Ordner voll abfotografierter Gesetzesvorlagen, die wohl nie umgesetzt worden waren. Und als ob das nicht genug Chaos wäre, gab es keinen Ordner, in welchem nicht kräftig geschwärzt worden war. Manche Bilder zeigten nur komplettes Schwarz, in vielen Dokumenten waren einzelne Zeilen, ganze Abschnitte und teilweise sogar das gesamte Dokument in der bekannten Weise dick durchgestrichen, so dass eine Rekonstruktion des Originaltextes unmöglich war. Die NSA verstand unter „Offenlegung der Akten“ offenbar etwas grundlegend anderes als das BKA. Die einzig gute Nachricht war, dass eine Software beilag, mit welcher man die Daten durchsuchen konnte. Sie erlaubte das Eingeben von „Tags“, um zum Beispiel alle für Rheinland-Pfalz relevanten Daten herauszufiltern, oder die Eingabe eines speziellen Suchbegriffes. Stefanie Wohlfahrt tippte testweise „BKA“ ein und erhielt nach kurzer Suche knapp hinderttausend Treffer. Sie klickte auf eines der Resultate und öffnete damit ein internes Memorandum des Bundesinnenministeriums aus dem Jahr 1988 zum Thema „Systematisches Doping in der DDR?“. In den unten angegebenen Tags stand neben DDR, Doping, Bundesinnenministerium und einigen anderen auch Bubka. Daher also das „BKA“. Offenbar konnte die Suchsoftware nicht unterscheiden zwischen einem Tag und einer Buchstabenfolge innerhalb eines Tags. Sie gab „Bundesinnenministerium“ ein und erhielt mehr als 150.000 Treffer. Aus Spaß probierte sie noch einige andere Suchbegriffe und fand heraus, dass „deutsch“ und „bund“ mit gut 20 Millionen bzw. knapp 30 Millionen Treffern zu den wohl häufigsten Schlagwörtern in den Abhördokumenten gehörten. Erst jetzt machte sie sich langsam die gigantische Menge an Daten klar, die sie da vor sich hatte. Der Begriff Sisyphosarbeit brachte das nicht einmal ansatzweise zum Ausdruck. Sie hatte hier solch unfassbare Mengen an Daten vor sich, dass sich darin die Tagebücher Adolf Hitlers verbergen könnten, ohne je von ihr gefunden zu werden. Um sicher zu gehen, gab sie „Hitler“ ein und fand immerhin noch einige tausend Treffer. Ein rasches Überfliegen der Trefferliste legte nicht nahe, dass seine Tagebücher dabei waren. Sie gab „Hitler“ & „Tagebücher“ ein und erhielt diesmal nur noch 178 Treffer. Der nächste Versuch, „Hitler“ & „Tagebücher“ & „1983“ erzielte noch 86 Treffer, darunter Kopien der Stern-Artikel und der BKA-Stellungnahme vom 6. Mai 1983, in welcher die Tagebücher als Fälschung entlarvt worden waren. Sie erinnerte sich dunkel daran, dass dies in ihrer Ausbildung einmal Thema gewesen war, eine der glorreichsten Stunden ihres heutigen Arbeitgebers. Der letzte Treffer in der Liste war ein Tondokument, welches ein Telefonat zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem Chefredakteur des Sterns beinhaltete. Sie doppelklickte, und der Mediaplayer öffnete sich. Zu hören war allerdings nur extrem verzerrtes Rauschen. Sie zog das Dokument auf den Desktop und öffnete es mit einem Spezialprogramm, welches sie oft nutzten, um aus Abhörbändern Geräusche herauszufiltern oder die Abspielgeschwindigkeit zu manipulieren. Doch egal was sie versuchte, sie hörte nur ein Geräusch, das ihr Ohrenschmerzen bereitete. Der Pegel des Dezibelmessers schlug voll aus. Es sah so aus, als sei das Gespräch bewusst verzerrt worden, ähnlich wie etliche Textdokumente mithilfe der schwarzen Balken unbrauchbar gemacht worden waren. Sie musste schmunzeln, als sie sich vorstellte, dass der Herr Doktor Kohl bei diesem Anruf vermutlich nicht allzu gut gelaunt war und dass es deshalb vielleicht besser war, den Wortlaut nicht hören zu können.

Eine halbe Stunde und ein paar Dutzend Bild- und Tondokumente später hatte Stefanie Wohlfahrt die Gewissheit, dass sich jemand bei der NSA ziemliche Mühe gegeben hatte, besonders interessante Dokumente oder Passagen unkenntlich zu machen. Die ganze Datenöffnungs-Geschichte war eine einzige, sinnlose Farce. An sechzehn Computern in allen Ecken Deutschlands saßen in diesem Moment LKA-Mitarbeiter und vergeudeten ebenso wie sie ihre Zeit mit dem ziellosen Eingeben von Tags und Suchbegriffen. Sie schloss den Windows Explorer, klemmte die USB-Festplatte ab und erstellte eine Rundmail an alle LKAs. Darin bat sie um Rückmeldung bis Ende der Woche, ob in den Akten kriminalistisch relevante Daten gefunden worden wären und bis wann eine Rücksendung der Festplatte absehbar sei. Sie las die Email noch zweimal durch, korrigierte einen Rechtschreibfehler, überlegte kurz, ob ihr Ton zu oberlehrerinnenhaft klang und fand, dass ihr das eigentlich ziemlich egal war, dann klickte sie auf „Senden“.

LKA Schleswig-Holstein, Kiel, Montag 15.56 Uhr

Martin Johannsen schreckte auf, als das Telefon klingelte. Seit Stunden war er in die Daten vertieft, die auf der Festplatte in zahllosen Ordner verteilt waren. Er hatte noch kein konkretes System erkennen können, aber das ziellose Herumklicken hatte ihm erstaunlich viel Vergnügen bereitet. Er wusste nun sehr persönliche Details über Erich Honecker, Franz-Josef Strauß oder Gerhard Schröder, hatte sich interne Memoranda des Bundesaußenministeriums aus den siebziger Jahren angesehen und Überwachungsfilme aus diversen Landesregierungen angesehen. Das laute, analoge Klingeln des alten Telefonapparates holte ihn in die Gegenwart zurück.

„Johannsen?“

„Hans-Gerhard hier. Sag mal, Martin, der Chef sagte mir, dass ich Deine Sachen für die nächsten zwei Wochen übernehmen soll, hat das mit der BKA-Sache zu tun?“

„Ehrlich gesagt, es gibt da im Moment nicht viel zu übernehmen. Meine Leute arbeiten an kleineren Sachen, und das ziemlich selbstständig. Wichtig ist vor allem die Donnerstags- und Montagsrunde, da können wir uns vielleicht vorher zusammen setzen.“

Er wollte nicht allzu viel über die NSA-Daten sprechen, schon gar nicht am Telefon, nachdem Furtwängler ihm so ins Gewissen geredet hatte.

„Sag mal, was findet man denn so in den Abhördaten? Wusste der Kohl jetzt von den Schwarzgeldkonten oder nicht?“

Der ironische Unterton war nicht zu überhören. Hans-Gerhard Leitner war ein durch und durch bodenständiger Mensch. Zwar war er genauso golfverrückt wie sein Chef Furtwängler, aber er machte sich nicht viel aus Geheimdiensten und Verschwörungstheorien. Nur was auf den Tisch kam, war auch relevant. Wenn sich herausstellen sollte, dass die Bundeskanzlerin in Wirklichkeit ein Transvestit sein sollte, dann würde er sagen: „Solange sie sich nicht im Bundestag auszieht, ist mir das sowas von egal.“ Diese Nüchternheit machte ihn zu einem hervorragenden Ermittler, kein Wunder, dass er in den letzten Jahren einige außerordentliche Fahndungserfolge errungen hatte und auf den Fluren des LKA als einer heißesten Kandidaten für die Furtwängler-Nachfolge galt. Für Martin Johannsen spielte das keine Rolle. Er kannte seinen Kollegen schon seit bald 20 Jahren und hatte mit ihm ein mehr als kollegiales Verhältnis. Ihre Jungs gingen in die gleiche Klasse, ihre Ehefrauen hatten sich seinerzeit im Schwangerschaftskurs kennen gelernt. Seitdem waren beide Familien freundschaftlich verbunden und hatten sogar schon ein paar Urlaube zusammen verbracht. Immer wenn Johannsen ihn brauchte, war Leitner da, um ihm den Rücken freizuhalten oder mit ihm einen besonders kniffligen Fall zu bearbeiten. Er kannte Johannsens Team sehr gut, daher war er für die Vertretung der nächsten zwei bis drei Wochen die naheliegende Wahl gewesen. Im Augenblick wollte sich Martin Johannsen ganz auf seine Aufgabe konzentrieren und selbst einen engen Vertrauten wie Leitner nicht zu tief in die Sache hinein ziehen.

„Wir besprechen das am besten morgen oder Mittwoch mal in Ruhe, aber es sieht nicht so aus als würden diese Daten unser Weltbild im Innersten erschüttern.“

„Viel Lärm um nichts, wie üblich.“

Damit hatte er wohl den Nagel auf den Kopf getroffen.

Nach Ende des Telefonats fiel Johannsens Blick auf die Uhr, und er stellte erschrocken fest, dass es bereits kurz nach vier war. Seine Frau würde wohl bereits auf dem Weg zum Arzt sein, daher tippte er eine Kurznachricht in sein Smartphone: „Wird wohl später, tut mir leid. VG“

Er war kein Experte in Sachen Neue Medien, daher war ihm die 160-Zeichen-Sprache des 21. Jahrhunderts fremd, aber er lernte insbesondere durch seine Tochter Julia mehr und mehr die Vorzüge von Dingen wie SMS, MMS oder Skype wert zu schätzen. Nachdem er auf „senden“ gedrückt hatte, legte er das Smartphone weg und sah auf seinem Laptop, dass eine neue Email eingetroffen war. Da beim LKA viel über das interne Netz lief, waren Emails relativ selten. Er bekam meist nicht mehr als eine handvoll neue Mails am Tag, meistens lagen sie morgens im Posteingang, weil besonders die jungen, kinderlosen Kollegen gern bis tief in die Nacht arbeiteten. Kontakt nach außen lief häufig über sein Team, daher waren die Absenderadressen in seinem Posteingang meistens aus Kreisen von LKA oder BKA. Die neue Nachricht war vom BKA Wiesbaden, von einer Stefanie Wohlfahrt, von der er noch nie etwas gehört hatte. Offenbar war sie die Kontaktperson in der NSA-Sache. Da Furtwängler ihm lediglich die Festplatte ohne weitere Angaben gegeben hatte, konnte er diese Tatsache nur dem Inhalt der Email entnehmen. Er las die Email zweimal durch und konnte sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen. Bis Ende der Woche möge er mitteilen, ob er auf „Kriminalistisch relevante Daten“ gestoßen sei.

„Wenn sie mich fragen, Frau, äh...“ er musste nach oben scrollen, um den Namen der Absenderin nochmals nachlesen zu können, „...Wohlfahrt, dann ist jeder heimliche Abhörvorgang eine kriminalistisch relevante Sache. Vielleicht können sie mir gelegentlich mal eine Einführung in „kriminalistische Relevanz“ geben, Frau Doktor Wohlfahrt.“

Seine gute Laune war verflogen. Das schlechte Gewissen seiner Frau gegenüber und die eher unterbewusste Enttäuschung über die Nutzlosigkeit der Daten hatten die Freude übertüncht, die er beim Durchstöbern der geheimen Dokumente gespürt hatte. Dass ihm jetzt noch eine ihm unbekannte, vermutlich blutjunge BKA-Schnüfflerin vorschreiben wollte, welche Art von Feedback sie am liebsten schon gestern in ihrem Briefkasten hätte, das wurmte ihn. Am liebsten hätte er ihr gleich eine Antwort zukommen lassen, in schönstem Beamtendeutsch, in welcher er ihr leider mitteilen müsste, dass „kriminalistisch relevante Arbeit“ sich nicht innerhalb von ein paar Tagen erledigen ließ. Aber er kannte sich selbst gut genug, um aus dem Moment heraus Nachrichten zu versenden, die man nach einer Stunde bereuen oder zumindest geschickter formulieren könnte. Wenn das BKA bis Ende der Woche um Rückmeldung bat, dann hatte er zumindest bis Mitte kommender Woche Zeit dafür. Eine Woche intensive Arbeit, das könnte tatsächlich reichen, um eine einigermaßen realistische Einschätzung abgeben zu können, was von den Daten zu erwarten sei und bis wann er seine Untersuchung der Dokumente abschließen könnte.

Spiegel-Redaktion, Hamburg, Montag 18.23 Uhr

Grit Junkermann hatte die meiste Zeit des Tages am Computer verbracht. Obwohl sie als Journalistin bei einem Magazin arbeitete, das immer auf der Höhe des politischen und wirtschaftlichen Geschehens war, entzog sie sich so gut es ging der Nachrichtenflut, las lieber Krimis als Tageszeitungen, schaute lieber Actionmovies als politische Talksendungen oder Abendnachrichten. Das hatte zur Folge, dass sie sich in neue Jobs immer grundlegend einarbeiten musste. Kurioserweise hatte sie gerade dieser vermeintlichen Untugend ihre größten Erfolge zu verdanken. Wo ihre Redaktionskollegen mitunter Fakten als „wahr“ annahmen, weil sie in allen TV-Nachrichten so berichtet worden waren, musste sie sich solche Fakten aus unterschiedlichsten Quellen zusammen suchen und lief somit weniger Gefahr, die Brille der allgemeinen Meinung aufzuhaben. Sie war wie eine Geschworene vor Gericht, die bestenfalls keinerlei Vorkenntnisse von einem Fall hatte, wenn sie im Gerichtssaal die Zeugenaussagen hört. Im Fall des NSA-Abhörskandals war sie natürlich nicht ganz unwissend. Niemand in Deutschland hatte sich in den vergangenen zwölf Monaten dem Thema entziehen können. Und doch wussten die meisten nur oberflächliche Details wie die Tatsache, dass sich die Bundesregierung erst dann ernsthaft mit dem Thema beschäftigte, als sie erfuhren hatten, dass sie selbst zu den Belauschten gehörten. Um das Wesen eines solchen Skandals zu verstehen, musste man viel tiefer ansetzen. Was genau war überhaupt die NSA? Vor zwei Jahren kannten wohl nur die wenigsten Deutschen diese amerikanische Sicherheitsbehörde. FBI und CIA kannte jeder, die kamen ja in jedem zweiten Hollywood-Film vor. Die CIA (Central Intelligence Agency) war das Pendant zum deutschen BND, der zentrale Nachrichtendienst für Auslandsangelegenheiten und Spionage. Neben dem CIA gab es aber jede Menge weiterer Nachrichten- oder Geheimdienste, zum Beispiel die Defense Intelligence Agency (DIA) und ihre Unterorganisationen (zuständig für alles, was mit dem amerikanischen Militär zu tun hatte), das National Reconnaissance Office (NRO), zuständig für die zahlreichen US-Spionagesatelliten, die National Geospatial-Intelligence Agency (NGA), welche sich um Auswertung von Karten- und Bildmaterial kümmerte, und eben die National Security Agency (NSA). Sie war die große Unbekannte, weil sie zwar Unmengen an Geld verschlang, aber niemand genau wusste, was sie damit alles anstellte. Das lag nicht zuletzt daran, dass sie nicht wie die meisten anderen nationalen Einrichtungen einem einzigen Ministerium unterstellt war, sondern neben dem Verteidigungsministerium auch noch unter Aufsicht des Office of the Director of National Intelligence stand, also einer Art Über-Geheimdienstler, der ziemlich viel Macht und erstaunlich viele Freiheiten besaß. Aufgrund des enormen Einflusses, den die NSA durch seine Abhördaten hatte, war sie zudem sehr eng mit dem US-Militär verbunden, was wiederum bedeutete, dass selbst hochrangige Politiker keinen kompletten Überblick über die Arbeit der NSA haben konnten, weil die für militärische Zwecke gesammelten Daten oftmals der militärischen Geheimhaltung unterlagen. Nicht zufällig lag der Hauptsitz der NSA innerhalb des riesigen Militärstützpunktes „Crypto City“ im US-Bundesstaat Maryland. Natürlich besaß die NSA in praktisch jedem Land dieser Welt eine Dependance, in der Regel auch dort innerhalb eines gesicherten US-Stützpunkts. In Deutschland zum Beispiel stand unter anderem auf dem Türschild eines ziemlich großen Gebäudes innerhalb der Patch Barracks in Stuttgart in großen Lettern NSA. Es war kein Geheimnis, dass die Amerikaner nicht nur den internationalen Internet-Datenverkehr, der zu nicht unwesentlichen Teilen ohnehin über amerikanische Server lief, abhörte, sondern dass sie in unserem eigenen Land ihre Richtantennen auf unsere Wohnungen und Regierungsgebäude ausrichteten. Das hatte nur bislang kaum jemanden gestört. Unter dem Eindruck des nationalsozialistischen Regimes hielt es Deutschlands erster Bundeskanzler, Konrad Adenauer, wohl für angebracht, sein Volk und dessen gewählte Vertreter von ausländischen Geheimdiensten zu überwachen, um jegliche faschistische Bewegung bereits im Keim ausmachen und stoppen zu können. Jedenfalls unterzeichnete er eine Erklärung, welche es den Besatzungsmächten auf unbegrenzte Zeit erlaubte, den kompletten Post- und Fernmeldeverkehr absolut legal abzuhören. Offiziell sollte dies in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesnachrichtendienst geschehen, aber man konnte sich denken, dass diese Zusammenarbeit bis heute eher einseitiger Natur war. Wenn man seinen Nachbarn abhören wollte, dann lag es nicht nahe, Nachbars Kinder dabei zu beteiligen. Dennoch war die amerikanische Abhörpraxis für deutsche Regierungen – ob konservativ, liberal oder sozialdemokratisch – offenbar lukrativ genug, um sie stillschweigend zu dulden. Erst im Jahr 1989 geriet diese Praxis zumindest ein wenig ins Wanken. Nicht ohne Stolz hatte Grit Junkermann herausgefunden, dass es der Spiegel gewesen war, welcher vor knapp 25 Jahren einen mutigen Artikel druckte, in dem das vermutete Ausmaß der NSA-Aktivitäten in Deutschland benannt wurde. Auslöser war ein Telefonat eines deutschen Industriellen mit einer libyschen Telefonnummer, die auf der Abhörliste der NSA gestanden hatte. Die Agency hörte mit, die Sache wurde publik und die Bundesregierung zeigte sich ungewohnt verschnupft ihren amerikanischen Freunden gegenüber. In dem am 20. Februar 1989 veröffentlichten Spiegel-Artikel „Freund hört mit“ kamen erstaunliche Einblicke in das Abhörwesen von NSA, BND und co zutage. Einblicke, die vielleicht ein ganzes Land hätten erschüttern können, wäre nicht der sich anbahnende Zusammenbruch des Ostblocks das alles überschattende Thema jener Tage gewesen. Die Sensibilität für den Schutz der Privatsphäre war Ende der 80er Jahre noch deutlich niedriger gewesen als jetzt im 21. Jahrhundert. Dennoch konnte die Journalistin kaum fassen, wie gering der Aufschrei damals war, angesichts des explosiven Inhalts jenes Artikels. Wenn sie auch nur ansatzweise einen so konkreten Einblick in die heutige Situation der NSA hätte wie ihr Vorgänger vor 25 Jahren, dann könnte sie einen Artikel schreiben, der in diesem NSA-Skandal die nächste Stufe zünden und ihre journalistische Karriere krönen würde. Doch der Whistleblower Edward Snowden war sämtlichen potentiellen Enthüllungsjournalisten zuvor gekommen, als er von sich aus zahlreiche explosive Details aus dem Alltag seines Ex-Arbeitgebers ausgeplaudert hatte. Wer könnte nun noch Dinge herausfinden, die nicht einmal Snowden wissen konnte und die nach all den immer neuen Skandal-Schlagzeilen der vergangenen Monate noch jemanden hinter dem Ofen vor locken würde. Grit Junkermann musste sich damit abfinden, dass sie nicht die große Enthüllerin sein würde, das war schließlich auch nicht die Aufgabe, welche ihr Chef ihr aufgetragen hatte. Sie sollte lediglich herausfinden, was denn nun in diesen ominösen NSA-Akten drin stand. Dazu hatte sie zunächst noch weitere Hausaufgaben zu erledigen. Ihr Wissen über deutsche und amerikanische Nachrichtendienste war in den vergangenen Stunden zwar exponentiell gewachsen, aber nun galt es, nach den Empfängern der Abhördaten zu fahnden und nach Möglichkeiten zu suchen, an diese Daten heran zu kommen. Sie wusste nur, dass die Daten an das BKA in Wiesbaden gegangen waren. Ob sie von dort weiter ans Kanzleramt, an den BND oder direkt in ein Schweizer Bankschließfach gewandert waren, ob eine hundertköpfige Sonderkommission seit Tagen an der Aufarbeitung der Daten saß und schon eine Klage vor dem Internationalen Gerichtshof vorbereitete – viele Szenarios waren denkbar, in den wenigsten würde sie auf auskunftsfreudige Kooperationspartner hoffen können. Ihre größte Chance waren ihre Wühlmaustaktik und ihr Trüffelschwein-Riecher, die ihr schon bei so mancher Story weiter geholfen hatten, als die meisten ihrer Kollegen schon lange aufgegeben hätten.

Es war ein hoffnungsloses Unterfangen, dem sie sich zu stellen hatte, keine Frage, aber kein unmögliches.

Moselstraße, Frankfurt, Montag 20.16 Uhr

Mike Pawelski lag gemütlich auf dem zerrissenen Sofa in seiner Souterrainwohnung im Frankfurter Rotlichtviertel und zappte mit der Fernbedienung durch die Kanäle. Er blieb auf einem Privatsender hängen, der die gefühlt siebzehnte Wiederholung eines Steven Seagal Films aus den Neunzigern zeigte. Dann legte er die Fernbedienung weg und nahm seinen Laptop auf den Schoß. Er prüfte die Daten, die sein Trojaner aus dem System der Deutschen Bank an seinen Server gesendet hatte. Aus Sicherheitsgründen loggte er sich für gewöhnlich nicht direkt mit seinem Laptop in gesicherte Systeme ein sondern überließ es seinen selbstprogrammierten Trojanern, selbstständig Daten an seinen Server zu senden, die er dann mit seinem Computer abrufen konnte. Alles schien ok zu sein. Der Trojaner war so programmiert, dass er seine Umgebung selbst überwachte. Würde jemand Verdacht schöpfen und den Speicherbereich, in dem er sich gerade eingenistet hatte, einer genaueren Untersuchung unterziehen, so würde er entweder den Speicherort ändern und die Daten am vorherigen Ort löschen, oder er würde notfalls sich selbst löschen. Im Moment lief alles wie geplant, Mike schaute sich die jüngsten Bilanzzahlen an und kam zu dem Schluss, dass es der Bank so gut wie lange nicht ging. Die Geschäfte in Fernost liefen hervorragend, der schwache US-Dollar spielte ihnen in die Karten und die Krise der kleinen Banken schien ein gefundenes Fressen für den Platzhirsch zu sein. Er fragte sich, ob es moralisch verwerflich wäre, das Unternehmen um ein paar hundert Millionen Euro zu erleichtern. Er würde das Geld noch nicht einmal selbst haben wollen, er könnte es in winzige Portionen aufgeteilt auf sämtliche Privatkunden der Deutschen Bank verteilen, als eine Art Volks-Dividende. Bei 15 Millionen Privatkunden wären das vielleicht zwanzig Euro pro Bankkonto. Ob das die Menschen glücklicher machen würde? Er rief die Daten eines anderen Trojaners ab, der seinen Dienst bei der Star Alliance machte, eines Unternehmens, in dem sich zahlreiche der namhaftesten Fluggesellschaften weltweit zusammengeschlossen hatten. Ein Hauptsitz der Star Alliance war am Frankfurter Flughafen, einem der wichtigsten Luftfahrtdrehkreuze und größter Luftfracht-Airport der Welt. Die Star Alliance ermöglichte nicht nur eine einfache Kooperation zwischen Airlines sondern sorgte auch dafür, dass gewisse Dienstleistungen von allen Airlines gemeinsam genutzt werden konnten. Zum Beispiel Sicherheitsberatung im Bereich Netzwerk und Internetkriminalität. Es war unglaublich, wie wenig Schutz Passagierdaten bei vielen Airlines genossen und wie einfach es gewesen war, Tickets zu fälschen, Passagierlisten zu verändern oder Unbefugten Zutritt zu sensiblen Bereichen des Frankfurter Flughafens zu gewähren, indem man Passwörter klaute und Zutrittsausweise fälschte. All das hatte er demonstrationsweise getan und vor den Augen schockierter Star Alliance Manager den fiktiven Passagier „Osama Bin Laden“ auf einen 1. Klasse Sitzplatz in einem Airbus A380 einer großen deutschen Fluglinie von Frankfurt nach Los Angeles gebucht. Dieser Passagier existierte natürlich nicht, er war auch nicht am Boarding-Gate erschienen, obwohl er online eingecheckt hatte. Aber er jagte den Fluglinienverantwortlichen einen genügend großen Schrecken ein, um Mike einen sechsstelligen Auftrag zur Überarbeitung des Sicherheitsstandards ihrer Buchungsserver einzubringen. Seitdem flog er nur noch erster Klasse und hatte sich sogar schon in Begleitung einer langbeinigen Blondine in die Honeymoon-Suite eines A380 nach Sydney gebucht. Die Blondine war das einzige, was er an dem Flug bezahlen musste, denn sein Erfolg bei Frauen war nicht ganz so groß wie sein beruflicher. Glücklicherweise konnte man mit Geld so ziemlich alles haben, auch Frauen, die sich auf Reisen als Partnerin oder Ehefrau ausgaben.

Mike dachte über sein Pech mit dem weiblichen Geschlecht nach, während er die Star Alliance Daten überflog. Es gab nur eine Frau, die er wirklich geliebt hatte. Genau genommen würde es nur eine Frau geben, die er jemals lieben würde. Leider hatte sie damals nein gesagt, und er würde nie wieder wagen, sie nochmals zu fragen. Sie waren seit ihrer Schulzeit befreundet, er hatte ihr seine Liebe mit 14 gestanden, da war sie gerade mit Gerald zusammen, dem Schönling und Frauenschwarm der ganzen Schule. Sie hat es damals ihrer besten Freundin erzählt und die brauchte keine 24 Stunden bis sie die Nachricht in die letzten Klassenzimmer des Gymnasiums verbreitet hatte. Es hat seiner Liebe keinen Abbruch getan. Später hatte sie sich für das Verhalten ihrer (von da an ehemals) besten Freundin entschuldigt, und dann waren sie beste Freunde geworden. Nunja, vielleicht nicht beste Freunde. Nach dem Abitur hatte sie ohne Rücksicht auf Verluste an ihrer Karriere gearbeitet, während er zwei Ausbildungen abbrach und seine Zeit mit Online-Shootern und dem Rippen von Pornofilmen zubrachte. Letzteres war erstaunlich lukrativ, verlor aber nach ein paar Jahren zunehmend an Reiz, so dass er sich seiner eigentlichen Liebe, dem Programmieren zuwandte. Auf einer Hacker-Konferenz in Holland lernte er einige namhafte Hacker der 90er Jahre kennen und schmiedete mit ihnen nächtelang Pläne, wie sie die westliche Zivilisation in einer groß angelegten Web-Attacke lahmlegen würden. Früher hatte er feuchte Träume von hübschen Blondinen, von da an drehten sich seine Fantasien um Bits und Bytes, um Computer-Viren und die Weltherrschaft. Zu seiner großen Liebe war die Verbindung nie abgebrochen, vielleicht auch weil sie Mitleid mit ihm zu haben schien. Während sie inzwischen einen Job in der Kriminalitätsbekämpfung hatte und in einem schicken Apartment in der Nähe von Frankfurt lebte, hing er noch immer in seiner heruntergekommenen Bude im Schatten der großen Bankentürme. Mitleid war es vielleicht auch, weswegen sie ihm ein paar kleine Jobs hatte zukommen lassen. Sie wusste von seinen PC-Kenntnissen und hatte ihn gebeten, ihr hier und da zu helfen. Da sie davon ausging, dass er Hartz IV Empfänger war, gab sie ihm ein paar Euro für seine Hilfe. Irgendwann kam sie dann mit einem Fall nicht weiter, von dem sie wusste, dass er ihr einen Sprung auf der Karriereleiter verschaffen könnte. Da besorgte er ihr Einblick in die Bankdaten eines bekannten Frankfurter Zuhälters und Drogenkuriers. Sie fragte nicht, woher die Daten kamen, vermutlich weil sie die Antwort nicht hätte hören wollen. Der Kurier jedenfalls wanderte ins Gefängnis und sie in ein neues Büro ein Stockwerk höher. Ein paarmal hatte er ihr auf diese Weise in den letzten zwei Jahren ausgeholfen und damit dafür gesorgt, dass er sie wenigstens ab und zu sehen und Zeit mit ihr verbringen konnte. Meist besuchte er sie in ihrer Wohnung, was den Vorteil hatte, dass er zum einen kein Minderwertigkeitsgefühl haben musste, wenn er ihren Blick sah, mit dem sie seine Wohnung musterte, und zum andern Gelegenheit geboten hatte, in ihrer Wohnung ein Mikrokamera zu verstecken, mit deren Hilfe er sich in ihr Privatleben schleichen konnte, wenn er einen seiner melancholischen Momente hatte. Der Laptop, den sie sich kürzlich gekauft hatte, sollte natürlich von ihm eingerichtet und geschützt werden, damit niemand darauf zugreifen konnte. In Hacker-Kreisen nannten sie das „härten“. Dazu musste der Laptop zerlegt und einige Bauteile umgelötet werden, das BIOS verändert und einige Schnittstellen wie die WLAN-Antenne beschnitten werden. Das Ergebnis war, dass selbst gewiefte Hacker nicht auf den Computer zugreifen konnten – es sein denn, der Hacker war derjenige, der das Härten selbst vorgenommen hatte. Seit einigen Monaten hatte Mike somit Zugriff auf private Emails, geschäftliche Dokumente und alles weitere, was sich auf ihrem Computer befand.

Er versuchte, sich auf ihrem Laptop einzuloggen, doch der war nicht auffindbar. Das hieß, dass sie damit gerade nicht online war. Trotz ihres speziell gehärteten Computers war sie vorsichtig und traute dem Internet nicht. Meist loggte sie sich damit nur ein- oder zweimal am Tag kurz ein, um Emails zu empfangen und Daten auf ihren Büro-PC zu senden. Diese kurze Zeit reichte aber aus, damit Mikes Spähprogramm auf ihrer Festplatte alle neuen Daten, Mails und Dokumente an einen Server in den USA schicken konnte, der eine Art Spiegelbild ihres Laptops darstellte. Dort hatte er dann rund um die Uhr Zugriff auf ihre tagesaktuellen Dateien und konnte auch ablesen, wann sie zuletzt mit ihrem Laptop online war. Seit heute früh um halb acht war sie nicht mehr im Netz gewesen. Da sie meist abends gegen 19 Uhr nach hause kam (das wusste er dank seiner in ihrer Wohnung installierten Überwachungskamera) und sich einloggte, um private Emails zu lesen oder zu versenden, bedeutete das vermutlich, dass sie heute Überstunden machte oder eine Verabredung hatte. In ihrer Wohnung brannte kein Licht, das Überwachungsprogramm der Mikrokamera zeigte an, dass seit 7.33 Uhr keine Bewegung registriert worden war. Vielleicht hatte sie einen Kerl kennen gelernt. Dank der Kamera wusste Mike, dass sie keinen festen Freund hatte, aber das würde sich über kurz oder lang ändern. Er hasste diesen Gedanken. Frustriert griff er nach dem Telefon und wählte die Nummer des Escort-Service.

BKA, Wiesbaden, Montag 21.00 Uhr

Die BKA-Mitarbeiterin Stefanie Wohlfahrt hatte den gesamten Tag in den Tiefen der NSA-Daten verbracht. Sie waren wie ein Ozean, ein Strudel, der sie hinein zog, ohne dass sie wusste, was sich in der Tiefe verbergen würde – oder ob überhaupt irgendetwas Wesentliches dort zu finden wäre. Die Anweisung ihres Vorgesetzten war klar gewesen, sie solle nicht unnötig Staub aufwirbeln oder sich zu emotional mit der Sache beschäftigen, aber das fiel ihr schwerer als erwartet. Es machte sie aggressiv, wie detailliert und umfassend ihr Heimatland über all die Jahre ausgehorcht worden war. Natürlich war sie nicht naiv, sie wusste nur zu gut, dass geheimdienstliche Operationen für die Sicherheit eines Landes notwendig waren und gerade die wirtschaftlich großen Staaten eine Menge Bespitzelung betrieben, aber das Ausmaß dieses Eingriffs in jegliche Instanz der deutschen Exekutive und Legislative war schon erschreckend. Selbst juristische Behörden waren Ziel der NSA gewesen. Gerade in diesen Dokumenten fanden sich fast ausschließlich schwarze Balken oder verzerrte Aufnahmen. Die Amerikaner wussten nur zu gut, dass gerade solche Bereiche besonders sensibel für Spähattacken waren und dass the Germans nicht gerade erfreut abgehörte Telefonate von Verfassungsrichtern zur Kenntnis nehmen würden. Doch gerade die Tatsache, dass die Ermittlerin nun zwar von diesen Mitschnitten wusste, ihren Inhalt aber nicht erfahren durfte, machte sie besonders wütend. In was für einer Welt lebten sie, in der unter Freunden solche Grenzüberschreitungen Usus waren? Sie musste sich eingestehen, dass ein wenig ihrer in ihren Teenagerzeiten recht ausgeprägten Naivität noch tief in ihr steckten und sie gelegentlich noch von einer heilen Welt träumen ließ.

Im Laufe des Nachmittags hatte sie versucht, einige Themen oder Handlungsstränge innerhalb der Daten zu verfolgen, indem sie entsprechende Tags oder Suchbegriffe eingab und die Trefferliste soweit eingrenzte, dass sie die jeweiligen Treffer zumindest kurz überfliegen konnte. Dies nahm allerdings so viel Zeit in Anspruch, dass sie sich kein umfassendes Bild einzelner Themen machen konnte. Da sie Jahrgang 1983 war, hatte sie diese Jahreszahl als Tag eingegeben, um zu sehen, für welche Themen sich die NSA im Jahr ihrer Geburt interessierte. Nach etlichen dutzend ziellosen Klicks in der gigantischen Trefferliste kristallisierten sich ein paar Themen besonders heraus: Die vorgezogenen Bundestagswahlen am 6. März, die Anschläge auf US-Einrichtungen in Beirut und die Stationierung von Pershing 2 Mittelstreckenraketen in Deutschland. Andere große gesellschaftliche Themen wie die die Veröffentlichung der Hitler-Tagebücher, das Thema AIDS, die Volkszählung oder kulturelle Phänomene wie die Neue Deutsche Welle waren kaum in den Stichproben der Trefferlisten enthalten. Die Amerikaner interessierten sich nicht für Kultur und Gesellschaft ihrer Freunde, sondern für deren Politik. An einem Dokument, war die Ermittlerin etwas länger hängen geblieben, eine interne Abhör-Anordnung des Bundesnachrichtendienstes für die Geschäftsstelle der Partei „Die Grünen“ in Bonn. Nachdem die Grünen bei den Wahlen erstmals in den Deutschen Bundestag eingezogen waren, landeten sie offenbar auf direktem Wege auf der schwarzen Liste des deutschen Geheimdienstes. Man schien den Linksradikalen (was sie in der damaligen politischen Landschaft ja noch waren) nicht zu trauen, daher wurde von oberster Stelle ihre geheime Überwachung angeordnet. Stefanie Wohlfahrt war keine Anhängerin linksökologischer Politik, aber das war schon ein beunruhigender Einblick in die Frage, wie Demokratie und Freiheit in ihrer Heimat definiert und gehandhabt wurden. Von diesem BND-Dokument war sie über Tags zu anderen, nicht minder schockierenden BND-Tätigkeiten gelangt; zu Dokumenten, die sie einhundertprozentig für Fälschungen gehalten hätte, wäre nicht die Unterschrift des Bundeskanzlers darunter zu sehen gewesen, oder zu Tonbandaufnahmen, in denen Leute abgehört wurden, die im allgemeinen, gesellschaftlichen Verständnis als absolut neutral und vertrauenswürdig gegolten hatten. Dass der deutsche Innenminister einen beliebten Talkmaster des öffentlich-rechtlichen Fernsehens überwachen ließ, weil er glaubte, dieser habe Kontakte zur Stasi, das war schon ein ziemliches Brett.

Es war nun kurz nach 9, ihre Augen brannten vom unentwegten Starren auf Bilder und viel zu klein gedruckte Texte auf ihrem Monitor, und Stefanie Wohlfahrt war ernüchtert. War sie im ersten Moment enttäuscht gewesen, dass die Späh-Dokumente nicht für eine weitere Verwendung perfekt vorbereitet und dann an entscheidenden Stellen noch geschwärzt waren, so war diese Enttäuschung inzwischen längst Zorn gewichen, dass nicht etwa nur die ohnehin nicht hoch angesehene NSA ihre Nase in alle deutschen Angelegenheiten steckte, sondern dass die deutschen Geheimdienste im Auftrag ihrer Regierung fleißig bei der Schnüffelei mitmischten. Hatte ihr Weltbild („Wir sind gut, die anderen werden es auch noch“) bis heute früh noch ein schönes Leben gehabt, welches nur hier und da im Lauf ihrer BKA-Ermittlungen ein paar kleine Macken erfahren hatte, so war es im Lauf der letzten Stunden komplett in sich zusammen gebrochen. Was sich hinter deutschen Geheimdienst-Vorhängen abspielte, das sprengte all ihre Vorstellungskraft, dabei hatte sie gerade erst begonnen, an der Oberfläche zu kratzen. Wütend zog sie das USB-Kabel aus ihrem PC und schloss die Festplatte in ihrem Büro-Safe ein. Was sie jetzt brauchte, war ein gemischter Salat und ein heißes Bad, um ihr emotionales Gleichgewicht wieder zu finden.

Fehmarnwinkel, Kiel, Montag 21.34 Uhr

Martin Johannsen saß im Auto und fädelte eben auf die vierspurige Straße ein, über die er in weniger als zehn Minuten zwischen Zuhause und Arbeitsplatz pendeln konnte. Seine Gedanken kreisten noch immer um die endlosen Trefferlisten in den Spähdaten. Das Gerede im Radio nervte ihn, so dass er gegen seine Gewohnheit den sonst sehr von ihm geschätzten Sender NDR Info abschaltete. Er brauchte Ruhe, um den Tag verarbeiten zu können. Noch wusste er nicht genau, was es zu verarbeiten galt. Es war ihm, als hätte jemand ihm eine Black Box vorgesetzt, ohne zu sagen, wie man sie ausliest und warum man sie ihm überhaupt anvertraut hatte. Ging es hier um Verbrechensbekämpfung? Um Aufklärung? Um Kriminalitätsprävention? Sollte er politische Intrigen aufklären oder Daten für die deutschen Geheimdienste aufarbeiten? Gehörte er zu den wenigen Auserwählten, denen man eine der heikelsten Missionen der deutschen Geschichte anvertraut hatte, oder war er eine menschgewordene Sackgasse für Daten, die man einfach nur unter den Teppich kehren wollte? War seine Aufgabe, etwas zu finden oder gerade nichts zu finden? Und wie könnte er überhaupt etwas in diesem Datendschungel finden, wenn alles vollkommen chaotisch und verwirrend sortiert und an entscheidenden Stellen noch geschwärzt worden war? Was erlaubte sich die NSA eigentlich, ihnen komplette Akteneinsicht zu versprechen und dann seitenweise schwarze Balken zu setzen?

Nachdem er seiner Frau angekündigt hatte, dass es später werden könnte, hatte er noch eine Stunde mit dem Versuch zugebracht, eine Struktur innerhalb der Daten zu finden, dann war er vom vielen Klicken, Navigieren, Öffnen, Schließen und auf den Monitor Starren so genervt gewesen, dass er sich drei Laserdrucker organisiert und den Techniker gebeten hatte, sie an seinen Büro-PC anzuschließen. Er hatte sich einen Ordner auf seinem Desktop angelegt und damit begonnen, relevante Bild- und Textdokumente dorthin zu kopieren und von dort an den Laserdrucker zu senden. Im Gegensatz zu seinem Sohn war er ziemlicher Computer-Laie, erfahren genug, um Office, Mailprogramm, Internet und Suchfunktion bedienen zu können, aber trotz allem eher ein Freund analoger Technik. In seinem Büroschrank lag noch immer die gute, alte Adler Schreibmaschine, mit der er sich seit je her wohler gefühlt hatte als mit einer modernen PC-Tastatur. Anders als seine Kollegin beim BKA hatte er das Suchprogramm, welches auf der Festplate war, nicht entdeckt und bislang nur über die Suchfunktion des Windows Explorers nach Schlagwörtern gesucht. Da sämtliche Dateinamen aus scheinbar sinnlosen Zeichenkombinationen bestanden, bestanden seine Trefferlisten aus Treffern, welche innerhalb der Dateien gefunden worden waren. Er hatte zunächst die Suchbegriffe „Kiel“, „Schleswig“ und „Holstein“ eingegeben, und hunderttausende Textdokumente gefunden, in welche eines dieser Stichworte enthalten war: Emails, Word-Dokumente, eingescannte und in Text umgewandelte Briefe. Das war für den Anfang genug, um die drei Laserdrucker die Nacht über zu beschäftigen. Da die Drucker nur ca. 400 Blatt fassen konnten, würde nach gut 1.000 Seiten Schluss sein, Johannsen schätzte, dass er damit weniger als 0,1% der bislang im Druck-Ordner befindlichen Daten ausgedruckt hätte. Es würde immerhin reichen, ihn den Dienstagvormittag über zu beschäftigen, während die Drucker weitere Dokumente drucken würden. Sicherheitshalber hatte er sich vom Techniker sechs Extrapatronen Toner geben lassen, allerdings würde er für den Austausch der Kassetten wohl wieder auf dessen Hilfe zurückgreifen müssen.

Er hatte die drei Druckaufträge gestartet und dann sein Büro abgeschlossen, nachdem er die Festplatte wieder in seinem Safe verwahrt hatte. Jetzt saß er in seinem Auto und schaltete die Zündung aus. Er hatte keine Ahnung, wie er nach hause gekommen war, seine Gedanken waren voll und ganz bei seiner nachmittäglichen Beschäftigung gewesen, sein Unterbewusstsein hatte mal wieder volle Arbeit geleistet, ihn sicher in seine Garage zu manövrieren.

Als Martin Johannsen die Haustür aufschloss, wurde er von der lauten Stimme seiner Tochter empfangen, die aus dem Obergeschoss rief:

„Ihr seid echt total krank, ich fass das einfach nicht!“

Im Flur begegnete er seiner Frau, die sichtlich genervt einen Müllsack zur Tür trug.

„Du kommst gerade recht, Deine Tochter hat mal wieder ihre fünf Minuten...“

In solchen Momenten hatte er das Gefühl, dass ein Arbeitstag im Büro zu lange war, um mit den innerfamiliären Entwicklungen Schritt halten zu können. Er hatte keine Ahnung, worum es ging oder warum seine Tochter ihn und seine Frau als krank bezeichnete. Sein Kollege Leitner hatte kürzlich gemeint, das sei in diesem Alter normal, aber für Johannsen schien es durchaus nicht normal, wenn seine Tochter sich ihren Eltern gegenüber so respektlos verhielt. Vielleicht war das ein Zeichen, dass er zu altmodisch war. Für ihn gehörte es sich, dass man sich gegenseitig die Tür aufhielt, in den Mantel half oder „Gesundheit“ sagte, wenn jemand niesen musste. Er hatte in seinen wilden Jahren einige Male eine Tracht Prügel einstecken müssen, als er sich seinem Vater gegenüber respektlos verhalten hatte. Er war dadurch nicht zu einem gewalttätigen Menschen geworden, sondern war dankbar, seine Lektion gelehrt bekommen zu haben. Da seine Frau körperliche Erziehung nicht duldete, hatte er bei seinen eigenen Kindern versucht, sie durch vorbildhaftes Verhalten und gutes Zureden zu respektvollen Menschen heranwachsen zu lassen, doch das war ihm bereits bei seinem älteren Sohn Jürgen nur bedingt gelungen, bei Julia schien diese Taktik vollkommen ins Leere zu laufen.

„Was ist denn los?“, fragte er, während er seiner Frau in die Küche folgte.

„Julia will ihr eigenes Pferd und kann kein „nein“ akzeptieren. Es gibt noch ein paar Nudeln, soll ich sie dir in die Mikrowelle schieben?“

Er war immer wieder erstaunt, wie seine Frau innerhalb eines Satzes das Thema wechseln konnte, ohne auch nur Luft geholt zu haben. Er blickte auf den Teller mit Nudeln und Käsesoße, den sie aus dem Kühlschrank geholt hatte und fragte: „Wie kommt sie denn auf einmal darauf, ein eigenes Pferd haben zu wollen?“

„Martin, das geht doch schon seit Monaten so. Heute hat Ingrid im Stall wohl erzählt, dass sie ihr Pferd verkaufen will...“

„Warum das denn?“, fiel er seiner Frau ins Wort. Ingrid war eine Bekannte aus dem Reitstall, soviel wusste er immerhin. Dass es Frauen gab, die sich freiwillig von ihrem Pferd trennen würden, war nach den Erfahrungen, die er bislang mit dem Thema gemacht hatte, erstaunlich.

„Sie zieht nach Hamburg und will ihr Pferd nicht mitnehmen. Frag mich nicht, ich stecke da auch nicht drin.“

Sie schob den Nudelteller in die Mikrowelle, ohne nochmals nachzufragen.

„Jedenfalls hat sie Julia gefragt, ob sie das Pferd kaufen will, und die ist natürlich jetzt Feuer und Flamme.“

„Wenn sie ihr eigenes Geld verdient, kann sie damit machen, was sie will. Bis dahin wird sie sich mit den Entscheidungen ihrer Eltern zufrieden geben müssen.“

Martin Johannsen liebte klare Gedankengänge und stringente Argumentationen. Seine Tochter würde das eines Tages zu schätzen wissen, auch wenn sie jetzt seine Hartnäckigkeit verfluchen sollte. Es war ihm wichtig, nicht in jeder Auseinandersetzung gleich nachzugeben.

„Du kannst ja versuchen, ihr das schonend beizubringen“, sagte seine Frau mit einem nicht zu überhörenden Unterton, der ihre heimliche Freude verriet, die sie bei der Vorstellung an das bevorstehende Gespräch hatte.

„Das besprechen wir in Ruhe am Wochenende, Julia sollte sich unter der Woche ohnehin mehr auf die Schule konzentrieren.“

Er versuchte, das Thema so schnell wie möglich zu beenden. Seine Frau seufzte.

„Was war denn heute wichtiges bei der Arbeit?“

Er zögerte einen Moment, weil er sich noch keine Gedanken gemacht hatte, in welchem Maße er seine Frau ins Vertrauen ziehen wollte. Er hatte keine Geheimnisse vor ihr, aber je weniger detailliert er mit ihr über die NSA-Sache sprach, desto besser würde er auch in dieser Sache Arbeit und Privates trennen können. Mit dieser Taktik hatte er die letzten 25 Dienstjahre gut überstanden. Seine Frau wusste meist nur grob, woran er arbeitete und musste keine Angst vor Alpträumen oder hinterlistigen Attacken haben, wenn er mal wieder einer Schlepperbande oder sonstigen Schwerkriminellen auf der Spur war. Seit er in der Abteilung für politische Kriminalität war, hatte das Gefahrenpotential seiner Arbeit abgenommen, doch es war ihm lieber, wenn seine Familie so gut wie möglich von den unschönen Geschichten fern gehalten wurde, die er tagtäglich auf dem Schreibtisch hatte.

„Schon gut, brauchst es nicht zu erzählen.“

Seine Frau nahm den Teller aus der Mikrowelle und setzte sich mit ihm an den kleinen Küchentisch.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, beschwichtigte er. „Wir haben diese NSA-Daten bekommen, und ich soll mich da reinarbeiten.“

„Und, wer hat Kennedy erschossen?“

Er blickte seine Frau verwirrt an. Sie lachte und nahm sich einen Apfel aus der Obstschale, die in Griffweite auf der Küchenablage stand.

„Ich dachte, die wollten euch kompletten Einblick geben?“

„Aber nur in das, was sie bei uns abgehört haben. Ich glaube nicht, dass da etwas zum Kennedy-Attentat dabei ist. Überhaupt glaube ich kaum, dass die NSA weiß, wer Kennedy erschossen hat. Obwohl...“

Er war kein Freund von Verschwörungstheorien, daher schenkte er den Menschen, die hinter dem Attentat in Dallas eine politische oder geheimdienstliche Verschwörung sahen, keine besondere Aufmerksamkeit. Aber nachdem er nun dabei war, das Ausmaß der NSA-Aktivitäten der letzten 50 Jahre zu erfassen, musste er sich zumindest eingestehen, dass, wenn überhaupt jemand mehr über das Kennedy-Attentat wusste als gemeinhin bekannt war, dass die NSA sicherlich die beste Adresse hierfür war.

„Um ehrlich zu sein, da steckt weniger drin als man glaubt. Ich soll die Sachen in den nächsten zwei Wochen durcharbeiten und dann ans BKA zurückschicken. Fertig.“

Das „Fertig“ bezog sich dabei sowohl auf seinen Bericht als auch auf das Gespräch an sich. Mehr musste seine Frau nicht wissen, und mehr wollte sie vermutlich auch nicht wissen.

„Wie war's beim Arzt?“

Seine Frau biss in den Apfel und fragte sich vermutlich, ob sie eine ähnliche Geheimniskrämerei über ihre Angelegenheiten betreiben wollte wie ihr Mann über seine. Sie beschloss offensichtlich, es ihm gleich zu tun, wenn sie antwortete knapp „Alles ok“, stand auf und räumte den leeren Nudelteller in die Spülmaschine.

So funktionierten die Ehegespräche im Hause Johannsen. Man schmiss sich kein Porzellan an den Kopf, wie es bei einem Ehepaar in der Nachbarschaft nicht selten vorkam, man empfing sich nicht wild knutschend an der Haustür, wenn der Ehemann nach einem langen Arbeitstag nach hause kam. Alles lief bei ihnen etwas ruhiger ab. Für Aufregung sorgte ihre Tochter zur Genüge.

Status Quo

Подняться наверх