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Tag 2

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BKA, Wiesbaden, Dienstag 7.59 Uhr

Eine Minute vor 8 Uhr betrat BKA-Ermittlerin Wohlfahrt ihr Büro. Sie hatte schlecht geschlafen, doch ihre emotionale Aufgewühltheit hatte sich ein wenig gelegt. Ihre Aufgabe war nicht, sich ein moralisches Urteil über ihre Fälle zu bilden, sondern ihre Arbeit schnell und ordentlich zu erledigen. Da diese Arbeit für die nächsten Wochen ausschließlich aus der NSA-Sache bestand, hatte sie heute keine Termine, keine Treffen, Sitzungen oder sonstige Dinge, die sie von ihrer Aufgabe ablenken könnten. Sie schaltete ihren Büro-PC ein und rief ihre Mails ab. Neben einigen internen Nachrichten, die sie ignorieren konnte, lagen zwei Rückmeldungen von Landeskriminalämtern im Posteingang. Das ging ja schnell, sie hatte nicht vor Ende der Woche mit den ersten Antworten gerechnet. Das LKA Berlin schrieb in einer knapp gefassten Nachricht, dass sie wichtigeres zu tun hätten als sich durch einen unendlichen Datenwust zu wühlen, in dem ohnehin nichts steckte, was man nicht längst wusste oder vermutete. Sie könne die Festplatte Ende der Woche wieder haben. Das LKA Baden-Württemberg schrieb, dass es vollkommen aussichtslos sei, die Menge an Daten in dieser kurzen Zeit abzuarbeiten. Man wolle die Aufgabe ernst nehmen und hätte daher beschlossen, ein Team von Fachleuten zusammenzustellen, welches Anfang der kommenden Woche ihre Arbeit aufnehmen und die Daten strukturiert sichten und durcharbeiten würde. Es sei zum momentanen Zeitpunkt nicht möglich, die Dauer einer solchen Arbeit abzuschätzen, der Verfasser der Nachricht ginge aber nicht davon aus, dass dies innerhalb eines Jahres möglich sei. Stefanie Wohlfahrt seufzte. Das war zu erwarten gewesen. Einige LKAs würden eine solche Gelegenheit nutzen wollen, sich so lange durch die Daten zu arbeiten, bis sie ihre Vorbehalte gegen amerikanische Geheimdienstarbeit endgültig bestätigt sähen und am Ende noch eine juristische Auseinandersetzung mit den USA heraufbeschwören könnten. Die Anweisung lautete aber, solchen Impulsen nicht nachzugehen, sondern lediglich eine grobe Sichtung der Daten vorzunehmen und den Fall so schnell wie möglich abzuschließen. Sie überlegte kurz, ob sie eine entsprechende Antwort verfassen sollte, entschied sich dann aber, die Mail an ihren Chef weiterzuleiten, damit dieser sich mit den Kollegen in Baden-Württemberg in Verbindung setzen könnte. Gerade die Schwaben, dachte sie. Die nahmen mit ihrer sprichwörtlichen Gründlichkeit natürlich alles besonders genau. Ihr Chef Mayer sollte sich mit denen rumschlagen und sie einnorden. Mit einem kurzen Vermerk leitete sie die Mail an ihn weiter und holte anschließend die Festplatte aus ihrem Safe. Sie musste sich nun ein System überlegen, nach dem sie vorgehen würde, überlegte sie, während sie die Harddisk an ihren PC anschloss. Die Suchmaske, welche die NSA den Daten beigelegt hatte, war vollkommen ungeeignet, um sinnvolle und zielführende Resultate zu erzielen. Mit den Datei- und Ordnernamen war überhaupt nichts anzufangen, zumindest solange es nicht irgend einen Schlüssel gab, mit dem man ihre Ziffernkombinationen entschlüsseln konnte. Sie bräuchte eine eigene Such- oder Sortiersoftware, welche die Daten in eine chronologische, geografische oder thematische Struktur bringen würde, mit Unterkategorien wie „Videos“, „Tonbänder“, „Bilder“, „Texte“ usw. Das wäre eigentlich die ideale Aufgabe für Michi, dachte sie. Leider war die Sache viel zu heikel, um ihren Nerd-Kumpel dort hinein zu ziehen. Michi war ihr in den letzten Jahren einige male sehr nützlich gewesen, als er ihr bei technischen Fragen geholfen oder für sie Daten zugänglich gemacht hatte, die sie mit ihren beschränkten Mitteln nicht hätte bekommen können. Sie hatte ihn nie danach gefragt, ob er dabei ausschließlich legale Methoden genutzt hatte, bei seinen ausgeprägten Computerkenntnissen hätte sie sich aber nicht gewundert, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre. Sie hatte daher nur seine Hilfe in Fällen erbeten, in denen sie es moralisch für angemessen erachtete, dass man notfalls juristische Gratwanderungen vollführte, um ein besonders verwerfliches Verbrechen aufklären zu können. In ihrem jetzigen Fall ging es nicht um Triebtäter, Frauenhandel oder Drogen. Ein Überschreiten moralischer oder juristischer Grenzen, um den Fall zu beschleunigen, würde ihrem Arbeitsethos widersprechen. Sicherlich, das Programmieren einer besseren Suchmaske wäre alles andere als illegal, doch sie müsste dazu eben einem Menschen Zugriff auf die Festplatte gewähren, dem sie – wären sie nicht seit vielen Jahren befreundet – in jeglichster Form misstrauen würde. Michi war das genaue Gegenteil von ihr. Während sie in der Schule jeden Tag für ihre guten Noten büffeln musste, war ihm alles in den Schoß gefallen. In sämtlichen naturwissenschaftlichen Fächern hatte er eine 1, ohne auch nur ein einziges Mal für eine Klausur gelernt zu haben. In anderen Fächern war es ihm egal, ob er eine 4 oder 5 im Zeugnis stehen hatte, sein Notendurchschnitt reichte dank seiner ausgeprägten mathematischen Ader für eine Versetzung und schließlich zu einem bestandenen Abitur, alles andere war ihm egal gewesen. Schon in der Oberstufe hatte er mit einem Kumpel einen Hacker-Wettbewerb laufen, bei dem sie sich Zugriff auf die damals noch kaum geschützten PCs der Schulleitung verschafft hatten – zumindest hatte er das behauptet. Sie glaubte es ihm aufs Wort, vermutlich war das einer der Gründe, warum in deinem Abitur-Zeugnis in Notendurchschnitt von 2,1 gestanden hatte. Mit einer 1 in Mathe und Physik war das nicht zu erklären, wenn jemand sonst nur unterdurchschnittliche Noten abgeliefert hatte. Seine spätere Entwicklung hatte sie nicht verfolgt, aber sie hatten sporadisch Kontakt gehalten, auch als sie schließlich nach Wiesbaden gezogen war und ihre Arbeit beim BKA begann. Es schien ihr, als hätte er sich seitdem häufiger bei ihr gemeldet, doch das war vielleicht nur Einbildung. Vor einiger Zeit hatte er ihr einen guten Dienst geleistet, als er ihren neuen Laptop so bearbeitet hatte, dass sie sich vor keiner Hacker-Attacke fürchten musste. Egal, wo sie sich damit im Internet einloggte, es war nicht möglich, sich unerlaubten Zugriff auf ihren Computer zu verschaffen. Das war ihr besonders wichtig, weil sie gern ihre Arbeit mit nach hause oder bei schönem Wetter in die nahe ihrer Arbeitsstätte gelegenen Dambachtal Anlagen nahm und dort in der Sonne arbeitete und recherchierte.

Ihre Gedanken schweiften ab, sie blickte aus dem Fenster auf sonnenbeschienene Dächer, es würde ein schöner Tag werden, ein Parktag. Doch sie würde es nicht wagen, mit einer Festplatte voller hochsensibler Daten in einen öffentlichen Park zu gehen und dort zu arbeiten. Vielleicht könnte sie am Nachmittag, wenn die Sonne auf ihren Balkon scheinen würde, nach hause fahren und dort arbeiten. Sie hatte einen Safe in ihrer Wohnung, es sollte unproblematisch sein, die Festplatte dort zu verwahren. Für den Augenblick musste sie ohnehin erst einmal die Frage lösen, wie sie ihre Arbeit anpacken sollte. Michi war keine Lösung, es würde das Ende ihrer Karriere bedeuten, würde auch nur der Verdacht aufkommen, dass sie einem Fremden Zugriff auf die Festplatte ermöglicht hätte. Die hauseigenen Techniker wären kaum in der Lage, innerhalb weniger Tage ein entsprechendes Suchprogramm zu erstellen, meist musste sie eine Woche oder länger warten, wenn sie eine ähnliche Anfrage an die Technikabteilung gestellt hatte. Die Uhren beim BKA gingen langsamer als bei anderen Polizeibehörden. Fälle, die beim BKA bearbeitet wurden, hatten nur selten die Dringlichkeit eines Mord- oder Einbruchdelikts. Eine Verzögerung von ein oder zwei Wochen war kein Problem, man hatte genug Fälle parallel laufen, um die Zeit sinnvoll nutzen zu können.

Schließlich beschloss sie, mit ihrem Chef über die Sache zu sprechen. Vielleicht sah er eine Möglichkeit, wie sie ihre Aufgabe effizient strukturieren könnte. Sie wählte seine Nummer und wartete, während es tutete. Nach fünf Sekunden legte sie auf. Er war entweder beschäftigt oder nicht in seinem Büro. Sie verzog den Mund, überlegte und stand schließlich auf.

„Zeit für einen Kaffee“, sagte sie zu sich selbst und machte sich auf den Weg zum Automaten.

Spiegel-Redaktion, Hamburg, Dienstag 8.41 Uhr

„Junkermann, guten Tag. Spreche ich mit dem zuständigen Leiter der Abteilung für politische Kriminalität?“

„Das ist korrekt, und mit wem spreche ich?“, antwortete eine tiefe, männliche Stimme am andern Ende der Leitung.

„Grit Junkermann, ich recherchiere im Fall der NSA-Dateneinsicht. Können sie mir...“

„Dann wissen sie sicherlich, dass ich ihnen darüber keine Auskunft geben kann, Frau Junkermann“, fiel er ihr ins Wort.

„Sie könnten mir wenigstens sagen, wer der Ansprechpartner für diese Angelegenheit ist und...“

Wieder kam sie nicht dazu, ihren Satz zu beenden.

„Frau Junkermann, ich denke, das Gespräch ist an dieser Stelle beendet.“

Knack. Ihr Gegenüber hatte aufgelegt. Das war das fünfte Gespräch hintereinander, das diesen Verlauf genommen hatte. Bundeskanzleramt, Bundesinnenministerium, LKA Hamburg, BND und nun BKA. Es war deprimierend. Keine Tür wollte sich auch nur einen Spalt breit öffnen, damit sie ihren Fuß dazwischen bekommen könnte. Sie würde an anderer Stelle ansetzen müssen, sich vielleicht von ungewöhnlichen Seiten dem Thema nähern, nicht direkt in medias res. Die wenigen Menschen, die seit einigen Tagen mit den NSA-Daten zu tun hatten, waren sicherlich aufs Schärfste gebrieft worden, niemanden davon zu erzählen, schon gar nicht einer Journalistin. Doch es musste Menschen geben, die weniger direkt mit der Sache zu tun hatten. Mitarbeiter in Ministerien vielleicht, Leute aus diplomatischen Kreisen, mit denen sie als Journalistin schon immer einen entspannteren Kontakt gehabt hatte als mit Leuten der Legislative oder Exekutive. Vielleicht sollte sie im US-Konsulat anrufen und sich als LKA-Mitarbeiterin ausgeben, vielleicht hatte sie Glück und ein auskunftsfreudiger, nichtsahnender Mitarbeiter könnte ihr einen Namen, ein paar Infos oder was auch immer verraten. Sie sah ein, dass diese Idee eher in die Kategorie „Verzweiflungstat“ gehörte, und verwarf sie fürs erste. Sie öffnete den Internet-Browser auf ihrem riesigen, elegant geformten Computerbildschirm und begann, sich noch ein wenig tiefer in die Geschichte von BND und NSA einzuarbeiten. Wenigstens an dieser Stelle stand einem Recherchefortschritt nichts im Weg.

LKA Schleswig-Holstein, Kiel, Dienstag 8.54 Uhr

Als Martin Johannsen sein Büro betrat, roch es streng nach Toner. Er hatte die Tür wie üblich geschlossen und die Klimaanlage ausgeschaltet, als er gestern Abend nach hause ging. Auf eigenen Wunsch hin hatte er ein Büro ohne Fenster. Er wollte sich ganz auf seine Arbeit konzentrieren und die Flächen der Wände für das Anbringen von Dokumenten, Brain Charts oder ähnlichem nutzen können, daher war ihm eine Klimaanlage lieber als ein Panoramablick über Kiel, den einige seiner Kollegen genießen konnten. Die Laserdrucker hatten ihre Papierkassetten leer gedruckt, insgesamt wohl gut tausend Seiten. Entsprechend roch es in dem knapp 30 Quadratmeter großen Raum. Johannsen schaltete die Klimaanlage auf Maximum und legte neues Papier in die Drucker. Sofort nahmen sie ihre Arbeit wieder auf. Damit es nicht zum Papierstau kommen könnte, hatte er die Auffangklappen für das bedruckte Papier abgenommen, so dass die Ausdrucke zu Boden gefallen und sich dort auf drei Haufen gesammelt hatten. Während die Drucker wieder auf Hochtouren liefen, nahm er sich einen der Haufen und legte ihn auf einen Ablagetisch in der Mitte des Raumes. Er hatte bei den Druckaufträgen darauf geachtet, dass Metadaten mit ausgedruckt wurden, also Name des Dokuments, Gesamtzahl der Seiten, aktuelle Seitenzahl, Druckdatum und einige weitere Daten. So konnte er mehrseitige Dokumente relativ leicht zusammensetzen, auch wenn sie in dem 400-seitigen Haufen nicht in exakter Druckreihenfolge lagen. Er begann, die Dokumente zu sortieren, ohne einen allzu konkreten Plan zu haben, welche Kriterien er dabei ansetzen sollte. Der Haufen, den er vor sich hatte, war der Druckauftrag des Suchvorgangs „Schleswig“ gewesen. Alle Dokumente in diesem Haufen hatten etwas mit Schleswig zu tun, entweder mit der Stadt oder dem Bundesland. Er sortierte alle komplett geschwärzten Dokumente auf einen Haufen, alle teilgeschwärzten auf einen zweiten und alle komplett lesbaren auf einen dritten. Nach wenigen Seiten unterteilte er diesen dritten Haufen nochmals in Emails, eingescannte Briefe und sonstige Textdokumente. Nach einer Viertelstunde hatte er fünf relativ gleich hohe Stapel vor sich. Noch wusste er nicht genau, was er damit wollte, aber eines war ihm klar geworden: Um alle Dokumente sinnvoll ordnen zu können, brauchte er Platz. Viel Platz. Er prüfte, dass die Drucker genug Papier hatten und die Ausdrucke noch keine Zeichen nachlassenden Toners zu sehen waren, dann schloss er sein Büro ab und nahm den Fahrstuhl in den Keller. Es gab dort abhörsichere Konferenzräume und Abstellkeller, die außer zur Lagerung von Papier oder Computern nicht genutzt wurden. Johannsen fand einen Raum, der sicherlich 60 Quadratmeter groß war und außer ein paar niedrigen Aktenschränken, einer handvoll rechteckiger Tische und alten Bürodrehstühlen nichts enthielt. Er bugsierte die Stühle auf den breiten Kellerflur, stellte die Tische zu drei langen Reihen zusammen und nahm die Poster von den Wänden, auf denen für Workstations, „neue“ Computersysteme und Büromöbel der 80er Jahre geworben wurde. Solche Poster waren vor 30 Jahren in gewesen, man war begeistert von der Vorstellung, dass eine Workstation 16 Megabyte Hauptspeicher haben konnte, eine angesichts der 80 Kilobyte, die auf eine damals übliche „Floppy Disk“ passten, unvorstellbar große Zahl. Für Martin Johannsen hatten diese Dinge nie besondere Bedeutung besessen. Er war erst mit Windows XP in das digitale Zeitalter eingestiegen, als innerhalb des LKA die endgültige Umstellung auf Intranetz, Email und digitale Signaturen vollzogen wurde. Vom Telefon, das an der Wand neben der Tür angebracht war, rief er den Techniker an und bat ihn, ihm einen Computer und ein Dutzend 1000er-Packungen Druckpapier in den Raum zu bringen. Außerdem solle er sich um die nutzlosen Bürostühle auf dem Gang kümmern. Als er wieder in seinem Büro war, hatten die Drucker bereits die nächste Ladung Papier verbraucht. Er beschloss, den Druckvorgang im Keller fortzusetzen. Die drei ausgedruckten Haufen stapelte er in einen dreistockigen Beistellwagen, um sie in seinen Kellerraum transportieren zu können. Unten traf er auf den Techniker, der bereits damit beschäftigt war, den PC anzuschließen. Er hatte ihn auf die hüfthohen Aktenschränke gestellt, die sich an der langen Wand entlang zogen. Johannsen bat ihn, die drei Laserdrucker aus seinem Büro zu holen und daran anzuschließen. Dann fiel ihm ein, dass die längst noch nicht abgeschlossenen Druckaufträge auf seinem Büro-PC lagen und es sinnvoller wäre, diesen hier in den Keller zu holen und den Druck fortzusetzen. Daher bat er den Techniker, zunächst den bereitgestellten PC ans Netzwerk anzuschließen, damit er damit Internet zugriff hatte und daneben seinen Büro-PC ohne Netzwerk nur fürs Ausdrucken nutzen konnte. Während der Techniker sich dem Transport und der erneuten Installation der PC-Sachen kümmerte, begann Johannsen damit, die Stapel in die jeweils fünf Unterkategorien zu sortieren. Auf einer der drei Tischreihen legte er die „Kiel“-Stapel aus, auf der nächsten die „Holstein“-Stapel, auf der letzten die bereits zur Hälfte sortierten „Schleswig“-Stapel. Dabei versuchte er so gut es ging, die aus den Druckern gefallenen Haufen so abzuarbeiten, dass die Dokumente in der Reihenfolge ihres Ausdrucks sortiert waren. Er wollte die Arbeit nicht umfangreicher machen als sie es ohnehin schon war.

Nach einer guten Stunde hatte er sich seine neue Arbeitsumgebung eingerichtet. Die Laserdrucker an der Wand neben der Tür surrten, bestückt mit Papier und neuem Toner, die Stapel auf den Tischreihen waren weiter angewachsen, anstelle der Poster hingen nun mehrere großflächige Pinn- und Magnetwände an den kahlen Betonwänden, darunter lagen Pins und Neonmarker, Klebstoff, Schere, mehrfarbige postIT-Blöcke und abwaschbare Filzstifte. Alles war bereit. Für was, das wusste Johannsen noch nicht so genau. In seiner Vorstellung würde er die Dokumente einander zuordnen, in eine Struktur bringen und so eine Art zigtausendteiliges Puzzle zusammen setzen, das am Ende – ja, welches Bild würde sich am Ende zeigen? Sicherlich kein Schweizer Bergpanorama und kein Renaissanceschloss mit Blumenwiese und Springbrunnen. Wie beim puzzeln war das im Moment aber auch noch nicht wichtig. Die langweilige und -wierige Vorarbeit bestand eben darin, die Himmel-, Wiesen-, Stein- und sonstigen Teile auf einen Haufen zu sortieren, damit man sie leichter ihrer späteren Position zuordnen konnte.

Saalgasse, Wiesbaden, Dienstag 11.23 Uhr

Die Kaffeepause war wenig produktiv gewesen. Stefanie Wohlfahrt hatte noch keinen konkreten Plan, wie sie ihre Aufgabe angehen sollte. Daher hatte sie getan, was sie gern als letzte Möglichkeit nutzte, wenn sie in einer Sache nicht voran kam: sie war nach hause gefahren. Bei Fällen, in denen sie nicht auf ständige Zusammenarbeit mit Kollegen angewiesen war, hatte ihr Chef ihr den Freiraum geboten, wo immer sie wollte zu arbeiten, solange die Ergebnisse stimmten, und das war bislang immer der Fall gewesen. In Wiesbadens Grünanlagen ließen sich ihre Gedanken meist besser sortieren als in der trockenen und nicht selten von Kollegenbesuchen unterbrochenen Atmosphäre ihres kleinen Büros beim BKA. Wenn selbst die Natur nicht half, dann waren ihre Wohnung und ihr Balkon die letzte Zuflucht. Die besten Einfälle waren ihr bislang dort gekommen, bei einem leckeren, selbstgemachten Latte macchiato und einem Teller mit frischen Apfelschnitzen, umgeben von Blumentöpfen mit Gartenkräutern und Frühblühern, unter der wärmenden Nachmittagssonne, die ihren Balkon zu einem Ort mediterranen Lebensgefühls machte. Jetzt war es zu früh für Mittelmeer-Feeling, die Sonne würde nicht vor zwei Uhr hinter der Dachkante hervor kommen, daher waren Sofa und Kuscheldecke das Ziel ihrer Begierde gewesen. So saß sie nun eingehüllt und mit leer getrunkenem Milchkaffee an ihrem Laptop und klickte sich durch Ordner und Dokumente. Die Entscheidung, ihre Arbeit mit nach hause zu nehmen, war ihr heute besonders schwer gefallen. Es stellte ein gewisses Risiko dar, die Festplatte an ihren Laptop anzuschließen und vor allem sie aus dem sicheren Gemäuer des BKA mit in ihre Wohnung zu bringen. Der Zweck heiligte jedoch das Mittel, dieses Risiko einzugehen, denn sie hatte bereits einige Einfälle gehabt, wie sie ihre Aufgabe zielführender gestalten konnte. Die Zeichenkombinationen, mit denen sämtliche Ordner und Dokumente benannt waren, folgten einer gewissen Struktur. Sie hatte sich diese Struktur näher angesehen und festgestellt, dass alle das gleiche Format besaßen. Alle Namen bestanden aus insgesamt 32 Ziffern, entweder Buchstaben oder Zahlen, getrennt mit jeweils einem Minuszeichen nach acht Ziffern, dann nach vier, wieder nach vier und nochmals nach vier Ziffern, also insgesamt vier Minuszeichen pro Name. Die Zeichen schienen zufällig zu sein, besaßen aber zumindest an einer Stelle eine Gemeinsamkeit: die erste Vierergruppe bestand stets aus XYde, wobei „de“ immer gleich war und möglicherweise für „Deutschland“ stand. Die anderen beiden Zeichen (XY) waren unterschiedlich, allerdings schienen sie ebenfalls einer Struktur zu folgen. Sehr oft lauteten sie 60 (also -60de-), an zweiter Stelle stand außerdem sehr oft ein „a“, zum Beispiel bei -4ade- oder -fade-. Den Inhalt der jeweiligen Ordner oder Dokumente konnte sie bislang nicht mit der Nomenklatur in Verbindung bringen, aber es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis sie das System erkennen würde, nach welchem die Namen vergeben worden waren. Immerhin hatte sie es hier nicht mit der Mitgliederkartei eines drittklassigen Hobbydetektiv-Vereins zu tun sondern mit professionell erarbeitetem Material des größten Geheimdienstes der Welt, da würde einhundertprozentig eine clevere Logik hinter den Namen stecken.

Sie hatte damit begonnen, einzelne Dokumente mit gleichem Namensteil in einen neu erstellten Ordner auf ihrem Laptop zu kopieren. Neben den sehr vielen „60“ Dokumenten stachen ihr besonders die Zeichenfolgen -fade- und -bade- ins Auge, weil sie zunächst geglaubt hatte, dass darin die entsprechenden deutschen Wörter versteckt seien. Die Dokumente hatten aber natürlich nichts mit baden zu tun, und auch das Adjektiv fade stand in keinem Zusammenhang zum Inhalt der gleichnamigen Dokumente. Nachdem gerade diese Dateien ihr aber nun ins Auge fielen, sortierte sie einige Dutzend Dokumente in die neu erstellten Ordner „60de“, „bade“ und „fade“. Dann öffnete sie die Ordner und betrachtete die Dokumente. Wie zuvor handelte es sich um bunt gemischte Bilder, Videos, Tonbandaufnahmen, Mails und andere Text- und Bilddokumente. Sie konnte in ihrem Inhalt keine spezielle Gemeinsamkeit erkennen, welche einen gleichen Namens-Anteil rechtfertigten. Trotzdem war sie sicher, dass es zwischen diesen Dokumenten eine Art Überschrift geben müsse, vielleicht waren sie geografisch sortiert, oder thematisch. Chronologisch waren sie aus unterschiedlichsten Bereichen, das konnte es also eher nicht sein. Sie stand auf, ging in die Küche und machte sich einen zweiten Milchkaffee. Dann verschob sie aus einem anderen Ordner dutzende Dateien mit entsprechenden Namens-Anteilen in ihre Unterordner. Es war eine stupide und einschläfernde Arbeit, aber es war besser als gar nichts zu tun.

Moselstraße, Frankfurt, Dienstag 12.22 Uhr

Als Mike Pawelski in der Umkleide des Fitnessstudios nach seinem Smartphone griff, sah er, dass sein Server ihm eine Nachricht geschickt hatte. Eine selbst programmierte App überwachte den Datenverkehr seines amerikanischen Servers und informierte ihn regelmäßig über Datenbewegungen. In bestimmten Fällen, zum Beispiel wenn auf einer von ihm per Trojaner beobachteten Festplatte ungewöhnlich viel Aktivität war oder wenn sich ein erfahrener Computerexperte ihm auf die Spur kommen würde, schickte die App ihm Push-Nachrichten, damit er sofort reagieren konnte. Vom Smartphone aus hatte er nur begrenzt Zugriff auf seinen Server, aber er konnte die wichtigsten Einstellungen und das Selbstzerstörungsprogramm jederzeit von unterwegs erreichen. Mehrere Kanister hochbrennbare Flüssigkeit und ein Zünder mit zusätzlichem Bewegungssensor waren direkt neben dem Server aufgestellt, so dass bei unbefugtem Betreten des Serverraumes ein beträchtlicher Krater in ein Gewerbegebiet irgendwo im US-Bundesstaat Delaware gesprengt würde. Er glaubte nicht, dass er diese Extremlösung benötigte, doch bei der Menge illegaler Daten, die dort versammelt war, schadete ein Selbstzerstörungsmechanismus sicherlich nicht. Jetzt stand er schwitzend in der Umkleide, nachdem er zuvor 75 Minuten lang Hanteln gestemmt und Crosstrainer malträtiert hatte. Seine Server-App hatte ihm die Mitteilung gemacht, dass auf „Fannys Laptop“ ungewöhnlich viele neue Daten kopiert wurden. Sie nutzte ihr Notebook vor allem für soziale Netzwerke, private Emails und das Abspielen von Musik. Dass sie um diese Uhrzeit eine größere Menge neuer Ordner und Dateien erstellt hatte, konnte nur bedeuten, dass sie entgegen ihrer Gewohnheit ihren Laptop für ihre Arbeit nutzte. Das war eine erfreuliche Nachricht. Bislang war es Mike nicht gelungen, sich Zugang zum internen Netz ihres Arbeitgebers zu verschaffen. Vielleicht bot sich jetzt diese Möglichkeit. Nicht dass er dies unmittelbar benötigte. Er war polizeilich niemals auffällig geworden, es existierte weder dort noch bei SCHUFA, Flensburger Verkehrszentralregister oder sonst einer zentralisierten Kartei ein besonderer Eintrag über ihn. Er musste sich also nicht bei ihrem Arbeitgeber einhacken, um sich von der Interpol-Fahndungsliste zu löschen. Aber die Vorstellung, Zugang zu einer der geheimsten Netzwerke der Bundesrepublik zu haben, reizte ihn maßlos. Er verzichtete auf die Dusche und schlüpfte schwitzend in seine Klamotten. Keine zehn Minuten später saß er auf seinem Sofa und klickte auf das Serversymbol auf seinem Laptop-Desktop. Er benötigte vier Klicks, um zu wissen, womit er es zu tun hatte.

„Jackpot!“

NSA-Hauptquartier, Crypto City, Maryland, USA, Dienstag 7.48 Uhr

„Sir, we have access from an unknown device.“

Ein NSA-Mitarbeiter in schwarzem Rollkragenpullover klopfte an die offen stehende Glastür des Leiters der Überwachungsabteilung „Allied Observations“ und schaute seinen Vorgesetzten fragend an.

„Follow it and report back if necessary.“

Spiegel-Redaktion, Hamburg, Dienstag 13.08 Uhr

Grit Junkermann saß in der Kantine über einem Makkaroni-Auflauf und hörte ihrer Kollegin Friederike zu. Friederike war die „Klatschtante“ der Redaktion, nicht nur weil sie sich um die aktuelle Bericherstattung zu Stars und Sternchen kümmerte, sondern weil sie alles wusste, was der Spiegel-Flurfunk zu sagen hatte.

„Ich glaub das nicht, der macht in aller Öffentlichkeit mit seiner Assistentin rum, und zuhause sitzt seine Frau mit vier Kindern!“

Friederike konnte sich wunderbar aufregen, über alles und jeden. In diesem Fall war ihre Entrüstung durchaus nachvollziehbar, auch wenn ihre moralischen Vorstellungen an vielen Stellen differierten.

„Jedenfalls sag ich zu ihm, 'Wenn du ihr das Herz brichst, dann mach ich dich fertig!' Da schaut der mich an als hätte ihn eben ein Güterzug überfahren. So ein Vollpfosten, der kapiert echt gar nix!“

Friederike hatte den Salat gewählt, und während sie sich jetzt über den Kollegen aus der Wirtschafts-Abteilung echauffierte, landeten ein paar Spritzer des Joghurtdressings auf Grit Junkermanns Brille. Sie versuchte, die kleinen weißen Flecken so gut es ging zu ignorieren und wendete sich ihrem Auflauf zu. Friederike war keine einfache Kollegin, aufbrausend und distanzlos, selbst für Grits Maßstäbe, aber sie war loyal und unterhaltsam, war für jeden Spaß zu haben und immer die letzte auf der Tanzfläche. Grit mochte sie, selbst wenn sie ihr Dressing auf ihrer Brille verteilte.

„Wie geht’s denn bei dir voran?“

Einer ihrer positiven Charakterzüge war, dass Friederike sich ernsthaft für andere interessierte. Ihre Fragen waren keine Floskeln, sie freute sich mit einem, wenn man eine gute Story hatte und half auch mal mit einem ihrer unendlich vielen Kontakte aus, wenn man einen guten Informanten brauchte. Grit kaute auf ihren Makkaroni und überlegte, ob sie Friederike um einen Tipp bitten sollte. Ihre Kollegin hatte ausgezeichnete Connections in die Hamburger Glitzerwelt, von St Pauli bis zur High Society, aber im politischen oder kriminologischen Bereich war selbst ihr Adressbuch dünn besetzt.

„Naja, geht so. Ich mach erstmal Hintergrundrecherche, bevor ich mich ans Eingemachte setze.“

Klang gut, hörte sich tatsächlich so an als hätte sie einen echten Plan.

„Erst der Barschel, jetzt diese blöde NSA-Geschichte. Du hast echt die Arschkarte.“

Friederikes Kommentare konnten ernüchternd und mitfühlend zugleich sein. Aber sie hatte Recht, derzeit lief es nicht gut für Grit, sie brauchte dringend eine gute Story, und alles, was sie hatte, waren zwei hoffnungslose Fälle.

„Immer noch besser als Promis in den selbigen zu kriechen“, konterte sie und prostete ihrer Kollegin zu.

Saalgasse, Wiesbaden, Dienstag 14.02 Uhr

Stefanie Wohlfahrt schreckte auf als ihr Smartphone klingelte. Sie musste über ihrem Laptop eingenickt sein, von der Kuscheldecke und dem Latte macchiato in einen warmen Schlummer befördert.

„Ja hallo?“

„Steffi, gewöhn dir doch endlich an, dich mit deinem Namen zu melden.“

Es war Carmen, ihre allerbeste Freundin.

„Selber! Wer soll sonst an mein Telefon gehen?“

„Hast recht, du bist ja chronisch untervögelt, da fallen eher Weihnachten und Ostern zusammen, ehe man bei dir mal nen Kerl oder ne Lady an der Strippe hat.“

„Wenn schon, dann Kerl. Aber nein danke, ich habe gerade keinen Bedarf, und wenn, dann kannst du mir sicherlich ein paar gute Kandidaten vermitteln.“

Das war die Einladung, sich Details aus Carmens neuesten Liebschaften erzählen zu lassen. Sie würde mit ihrer besten Freundin durch dick und dünn gehen, aber an ihre amourösen Abenteuer würde sie sich nicht gewöhnen können und sie schon gar nicht teilen wollen. Es mochte am Namen liegen oder am spanischen Blut, das großmütterlicherseits durch Carmens Adern floss, sie wusste es nicht. Jedenfalls ging ihre beste Freundin alle zwei Wochen mit einem neuen Kerl ins Bett, und in jeden einzelnen von ihnen verliebte sie sich unsterblich. Ihren Liebeskummer inklusive intimer Einzelheiten offenbarte sie ihrer besten Freundin am liebsten am Telefon, was zu mehrstündigen Telefonaten führen konnte, während derer Stefanie ein Schaumbad nahm, einkaufen ging, kochte, ihre Lieblingsfernsehserie schaute oder ihre Wohnung putzte. Nicht dass sie kein Interesse an Freud und Leid ihrer besten Freundin hätte, die Berichte waren einfach so ausführlich, dass Haushalt und Wellness zu kurz kommen würden, wenn sie diese Dinge nicht mit ihren Carmen-Telefonaten verknüpfte. Während ihre Freundin ihr von letzter Nacht erzählte, fragte sich Stefanie, wie sie über ihrer Arbeit hatte einschlafen können und wie lange sie überhaupt geschlafen hatte. Es war kurz nach zwei, ihr Laptop war seit fast zwei Stunden mit dem Internet verbunden. Normalerweise steckte sie das LAN-Kabel nur für wenige Minuten ein, um Mails zu checken und zu versenden. Für alle anderen Internet-Sachen war das iPad zuständig. Nun war ihr Laptop zwei Stunden lang online und zu allem Überfluss die ganze Zeit mit der NSA-Festplatte verbunden gewesen. Sie rügte sich innerlich, während Carmen von „life-changing sex“ berichtete. Natürlich hatte sie nichts zu befürchten, weil ihr Notebook von Michi „gehärtet“ worden und damit nach seiner überzeugenden Aussage unangreifbar war. Was sie dennoch wütend machte, war die Unbedachtheit, mit der sie gegen ihre eigenen Regeln verstoßen hatte. Sie nahm sich vor, strenger mit sich selbst zu sein und so etwas nicht wieder vorkommen zu lassen.

LKA Schleswig-Holstein, Kiel, Dienstag 14.27 Uhr

Im Kellerraum des Landeskriminalamtes Schleswig-Holstein in Kiel lagen tausende Blätter Papier auf Boden, Tischen und Ablagen verstreut, während drei Laserdrucker unentwegt Nachschub produzierten. Martin Johannsen lief fluchend um die Tischreihen und versuchte, das ständig wachsende Chaos zu überblicken. Seine Taktik, die ausgedruckten Dokumente in eine sinnvolle Ordnung zu bringen, war schon daran gescheitert, dass er durch unbedachtes Abarbeiten der Stapel die Unordnung nur noch größer gemacht hatte. Da die Drucker fertig bedruckte Blätter auf den Boden fielen ließen, wo sie sich dann in umgekehrter Reihenfolge stapelten oder vielmehr zu unförmigen Haufen versammelten, wurde die Reihenfolge mehrseitiger Dokumente dadurch umgekehrt. Die erste Seite lag unter der zweiten usw. Das war spätestens dann problematisch geworden, als Johannsen in unregelmäßigen Abständen die Haufen aufgehoben und auf seine drei mal fünf Stapel verteilt hatte. Dadurch riss er zusammenhängende Dokumente nur noch weiter auseinander, weil er die Haufen von oben nach unten abarbeitete, so dass die zuletzt gedruckten Seiten in seinen Stapeln unten landeten. Auf diese Weise wurden mehrseitige Dokumente teilweise komplett voneinander getrennt, und es lagen dutzende andere Dokumente zwischen ihnen. Das hatte er natürlich erst bemerkt, als er Zeit gefunden hatte, neben dem Bilden der Stapel diese nach Inhalten zu untersuchen. Zu dem Zeitpunkt waren bereits gut 5000 Seiten gedruckt und auf Stapeln verteilt worden. Er hatte einsehen müssen, dass fünf Stapel viel zu allgemein waren und hatte versucht, Dokumente einzeln auf den Tischen zu verteilen, doch selbst die meterlangen Tischreihen waren schon nach kürzester Zeit komplett mit Papier bedeckt, und der überwiegende Teil seiner Stapel lag noch unsortiert vor ihm. Daher hatte er beschlossen, alle einseitigen Dokumente auf den niedrigen, meterlangen Aktenschränken abzulegen, und zwar chronologisch sortiert. Dazu hatte er an der Wand über der Ablagefläche postIT-Zettel mit den Jahrzehnten angebracht: 1960, 1970, 1980, 1990, 2000 und 2010. Alle einseitigen Dokumente legte er an ihre ungefähre Position auf dem Zeitstrahl. Dabei halfen die Schlagwörter, welche die Drucker oben auf jeder Seite abdruckten, denn bei jedem Dokument war neben dem Dateinamen und dem Druckdatum auch etliche Schlagwörter und eben die Jahreszahl des Originaldokuments enthalten. Da die Mehrheit der Dokumente einseitig waren, blieb damit auf den Tischen Platz für das Sortieren der mehrseitigen Akten. Dennoch waren auch die Tische auf diese Weise bald belegt, und er hatte auf dem Boden fortfahren müssen. Nachdem er auf diese Weise den „Schleswig“-Stapel so gut es ging abgearbeitet hatte (die teils und ganz geschwärzten Dokumente hatte er auf ihrem Stapel gelassen und die drei anderen Unterkategorien aufgehoben, so dass es jetzt für die ungeschwärzten Dokumente keine Unterteilungen mehr gab), wurde ihm klar, dass für die „Kiel“ und „Holstein“ Stapel kein Platz mehr für eine chronologische Sortierung war. Das war der Moment, in dem er fluchend im Raum stand, kaum in der Lage, einen Schritt zu gehen, weil fast der gesamte Boden zwischen den Tischen mit bedruckten Blättern bedeckt war. Die Drucker hörten nicht auf, immer neues Material auszuspucken, und sein Ansatz, eine sinnvolle Ordnung ins Chaos zu bringen, schien komplett fehlgeschlagen zu sein. Um ein noch größeres Durcheinander zu vermeiden, stakste er zu den Druckern und montierte die Auffangklappen wieder an, damit die bedruckten Blätter nicht weiterhin chaotisch zu Boden fielen. Dann arbeitete er die am Boden liegenden Haufen so schnell es ging ab und nahm zwischendurch die dicker werdenden Stapel aus den Druckerablagen, um Papierstau zu vermeiden. Er legte diese Stapel unsortiert und mit der bedruckten Seite nach unten auf einen Stapel, um auf diese Weise wenigstens chronologische Ordnung des Ausdrucks beizubehalten. Beim Abarbeiten dieser Stapel stellte er fest, dass er deutlich schneller voran kam als mit den chaotischen Haufen zuvor. Er gab außerdem das Vorhaben auf, sich zwischen den tausenden Seiten am Boden bewegen zu können, ohne versehentlich auf sie zu treten. Er zog seine Schuhe aus und lief strümpfig durch den Raum. Auf diese Weise kam er zügig voran, ohne die Blätter zu verknicken oder Schuhabdrücke darauf zu hinterlassen. Nun hatte er immerhin ein Arbeitstempo, welches den Laserdruckern überlegen war, so dass er zwischen dem gelegentlichen Abholen der neuen Drucke ein paar Minuten hatte, die Dokumente nicht nur zu sortieren sondern auch zu sichten. Für eine Analyse einzelner Blätter blieb jedoch keine Zeit, dazu waren nun auch die letzten Winkel des Raumes – selbst unter den Tischen – mit Blättern bedeckt. Eine neue Sortiermethode musste her. Johannsen nahm den Tacker von der Ablage und begann, die mehrseitigen Dokumente zusammenzuheften. Dann sortierte er auch sie auf die drei chronologischen Ablagen Kiel, Schleswig und Holstein. Auf diese Weise würde er am Ende neben den Stapeln mit geschwärzten Dokumenten nur noch drei Dokument-Reihen haben, eben die chronologisch sortierten Akten zu den drei Ortsnamen. Als den Laserdruckern einmal mehr das Papier ausging, nutzte er diese Zwangspause, um die chronologischen Ablagereihen von ihren bisherigen Ablagen auf die drei – nun freien – Tischreihen umzubeugen. Nach zwanzig Minuten war diese Arbeit abgeschlossen und das bislang letzte ausgedruckte Dokument geheftet und auf seine Position auf den Zeitstrahlen gelegt. Bevor er neues Papier in die Drucker legte, schaute er sich die Inhalte seiner angelegten Desktop-Ordner an. Er war noch immer am Ausdrucken der ersten drei Druckaufträge. Das waren innerhalb der Ordner jeweils ein paartausend Dokumente. Insgesamt befanden sich in den Ordnern mehrere hunderttausend Dateien. Sein Enthusiasmus erhielt einen kräftigen Dämpfer. Hatte er eben geglaubt, dem Chaos Herr werden zu können, so musste er erneut die Aussichtslosigkeit seines Vorhabens erkennen. Nach dem Ausdrucken der verbleibenden Dokumente würden sich die Akten bis unter die drei Meter hohe Decke stapeln, abgesehen davon, dass dieser Vorgang geschätzte zwei Monate dauern würde. Dabei handelte es sich nur um eine minimale Auswahl an Dokumenten, nicht etwa um alle für Schleswig-Holstein relevanten Akten. Selbst wenn er den Druckvorgang erheblich beschleunigen und eine Lösung für die Lagerung der Dokumente finden könnte, es wäre unmöglich, sie alle einzeln zu sichten oder gar komplett durchzuarbeiten. Er musste sich damit abfinden, nur einen Bruchteil der Daten berücksichtigen zu können. Müde lehnte er sich gegen einen der Tische und betrachtete den Blätterwald. In dem Moment kam Furtwängler herein.

„Hier bist du also, Martin. Du machst offenbar Nägel mit Köpfen. Wann hast du denn die ganzen Papiere ausgedruckt?“

Herbert Furtwängler zeigte sich beeindruckt. Er wusste, dass er in Johannsen einen seiner besten und produktivsten Mitarbeiter hatte, aber dass er nach gut 24 Stunden einen Kellerraum mit ausgedruckten und offensichtlich bereits sortierten Dokumenten finden würde, damit hatte er nicht gerechnet.

„Das ist erst der Anfang“, entgegnete Johannsen. „Ich hatte die Menge der Daten doch ein wenig unterschätzt, das hier ist nur ein winziger Bruchteil aller Daten.“

Er deutete mit einer runden Armbewegung in den Raum. Im Licht der Neonröhren wirkten die Tische voller Akten wie eine Altpapierablage. Er fragte sich, ob die chronologische Sortierung angesichts etlicher Lagen an Dokumenten sinnvoll gewesen war.

„Denkst du, du kommst mit der vorgesehenen Zeit hin?“, fragte Furtwängler und ergänzte: „Soll ich dir Leute zum zuarbeiten geben?“

„Lass mal“, lehnte Johannsen ab. „Ich werde ein paar Nachtschichten einlegen, dann passt das schon.“

Innerhalb der letzten Stunden hatte er sich bereits mit dieser Aussicht abgefunden. Zwar hatte er auch bereits überlegt, ob er zumindest für solche Dinge wie das Ausdrucken und Sortieren der Akten jemanden einbeziehen sollte, doch die überwiegende Arbeit würde von nun an ohnehin im Lesen und Verarbeiten der Dokumente bestehen, das konnte ihm niemand abnehmen.

„Hauptsache du bist am Sonntag beim Turnier in Hamburg dabei. Ich habe angerufen und die Sekretärin gebeten, mich wie im letzten Jahr mit Steinheimer in einen Flight zu stecken. Du weißt schon, der ehemalige US-Konsul, ich möchte unbedingt, dass ihr euch mal kennen lernt.“

Martin Johannsen war im Moment nicht nach Golf zumute, aber er hatte bereits vor Wochen zugesagt, mit seinem Chef bei dem Benefiz-Turnier in der Hansestadt teilzunehmen. Es war eine Menge Prominenz dabei, was bei ihm normalerweise einen gewissen Unwillen auslöste, weil er sich zu den Golfern zählte, die sich lieber dem Spiel widmeten als dem „Who is who“. Doch nach Furtwänglers Berichten von seinen Begegnungen mit James Francis Steinheimer hatte er tatsächliches Interesse daran, den Ex-Diplomaten einmal persönlich kennen zu lernen.

„Sonntag ist fest eingeplant“, nickte er. „Am Wochenende wird ohnehin nicht viel Zeit für Arbeit bleiben, Julia hat Reitturnier, da muss die Familie anwesend sein.“

„Ausnahmezustand, was?“, lachte Furtwängler. Er wusste, dass Johannsens Tochter derzeit ihre schwierige Phase hatte und dass Reiten für sie oberste Priorität genoss.

„Ich sorge dafür, dass du hier unten zu jeder Tages- und Nachtzeit ungestört walten kannst, um das Wochenende ausgiebig genießen zu können. Wenn du was brauchst...“

Den Rest des Satzes konnte sich Johannsen denken. Er nickte und sah seinem Vorgesetzten hinterher, als dieser zur Tür ging und sie hinter sich schloss. Nun war er wieder allein in seinem selbstgewählten Verlies, umgeben von streng geheimen Akten, von denen er noch immer keine Ahnung hatte, was in ihnen steckte. Es wurde Zeit, das herauszufinden. Er ging die drei Tischreihen entlang und betrachtete die Dokumente. Seine Idee, sie chronologisch zu sortieren, war nahe liegend aber möglicherweise nicht ideal gewesen. Eine thematische Sortierung hätte vielleicht mehr Sinne ergeben, aber er hatte keine Ahnung, wie er mithilfe der Metadaten eine thematische Einordnung hätte vornehmen können. Er nahm ein Dokument vom Ende des „Schleswig“ Zeitstrahls und betrachtete es. Der Inhalt war eine Email aus dem Jahr 2009, in welcher der Gerichtspräsident in Schleswig eine interne Mitteilung an seine Mitarbeitenden verfasst hatte. Ein vollkommen wertloses Blatt Papier. Johannsen ließ es zu Boden fallen. Er nahm das nächste Dokument, zwei zusammengeheftete Blätter mit einem Brief des Bischofs von Schleswig an seinen Kollegen in Hamburg. Wertlos. Er ließ es zu Boden fallen und nahm das nächste Dokument. Nachdem er zehn Akten durchgelesen und achtlos zu Boden geworfen hatte, wurde ihm klar, dass er einen Aktenvernichter brauchte, und zwar einen guten. Er suchte in benachbarten Kellerräumen und fand immerhin einen rollbaren Kunststoffcontainer, den er als vorläufigen Papierkorb benutzen konnte. Das LKA besaß eine eigene Abteilung für Aktenvernichtung, er musste den vollen Korb also nur gelegentlich von einem Mitarbeiter abholen und dorthin bringen lassen.

Nach einer halben Stunde hatte sich der „Schleswig“ Zeitstrahl deutlich gelichtet. Ungefähr jedes zehnte Dokument schien es wert, weiterhin dort aufbewahrt zu werden, alles weitere war im Papiercontainer gelandet. Johannsen griff nach einer der wenigen, übrig gebliebenen Akten und las sie nochmals durch. Es handelte sich um ein internes Dokument des Bundesnachrichtendienstes aus dem Jahr 1987. Der Inhalt war minimal:

„Operation Hammelsprung gescheitert. Plan B2.“

Am Seitenende fand sich die Zeichenfolge „? 8c“. Ganz oben auf der Seite waren die Metadaten abgedruckt, dort stand:

„e482a2b0-0ade-7409-eb81-a6f30591c388 : 11.44 : Bart, BND, Hammelsprung, Lubeck, Schleswig-Holstein : 1987“

Die erste Zeichenfolge war der Name der Datei, in welcher das Dokument auf der Festplatte gespeichert war, dann kam die Uhrzeit des Drucks, dann Schlagwörter und Jahreszahl des Dokuments.

„Hammelsprung. Bart.“

Johannsen sprach die Worte leise vor sich hin, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Er ging zum Computer und suchte die entsprechende Datei. Dazu gab er Zeichen für Zeichen den Dateinamen in die Windows Suche ein. Das Ergebnisfenster zeigte die PDF-Datei. Er öffnete sie und sah sofort, dass es sich nicht um ein Originaldokument, also um eine Fotografie oder Kopie des Originals handelte. Zwar waren Briefkopf und Struktur des Dokuments vorhanden, aber das Schreiben hatte eine Standardformatierung, es fehlten Logo, Signatur und sonstige Gestaltungselemente. Das leuchtete ein. Es war viel einfacher, Dokumente als echte Texte aufzubewahren und nicht als Fotografien. Auf diese Weise konnte man innerhalb des Dokuments suchen und es nahm auf der Festplatte deutlich weniger Raum ein. Durch die Suche innerhalb des Windows Explorers konnte man auch nur Dateien finden, welche das Suchwort in Textform enthielten. Bilder, Fotos, Videos, Audiodateien usw. konnten auf diese Weise natürlich nicht gefunden werden. Das war ärgerlich, ließ sich aber im Augenblick nicht ändern. Schön wäre es gewesen, wenn die Dateinamen Aufschluss auf den Inhalt eines Dokuments geben würden. Johannsen konnte aber keine nachvollziehbare Nomenklatur erkennen. Er nahm das ausgedruckte Papier nochmals in die Hand und heftete es an eine der Pinnwände. Mit grünem Neonmarker hob er das Datum hervor: 1.6.1987. Dann ging er zurück zum PC und tippte er in die Windows Suche „Hammelsprung“ ein. Er wusste was ein Hammelsprung war: In Parlamenten wurde auf diese Weise gelegentlich eine schnelle und einfache Abstimmung erledigt. Die Abgeordneten mussten den Raum durch eine bestimmte Tür verlassen oder betreten, um damit ihr „Ja“, „Nein“ oder ihre Enthaltung zum Ausdruck zu bringen. Eine „Operation Hammelsprung“ war aber sicherlich eher ein Codename als die Bezeichnung für einen tatsächlichen Hammelsprung in Bundes- oder Landtag. Der 1. Juni 1987 war ein Montag, es war nicht unmöglich, dass an dem Tag im Landtag von Schleswig-Holstein ein Hammelsprung statt gefunden hatte, aber es schien nicht realistisch. Außerdem waren zusätzlich die Stichworte „Bart“, „BND“ und „Lubeck“ angegeben. Letzteres war die amerikanische Schreibweise für die Hansestadt, BND war eindeutig, und Bart war entweder ein weiterer Codename oder hatte etwas mit einem Bartträger zu tun. Johannsen googelte den 1.6.1987. Nur ein einziges politisch interessantes Ereignis hatte an dem Tag statt gefunden, das tödliche Attentat auf den libanesischen Ministerpräsidenten Raschid Karami. Der war tatsächlich Bartträger, aber wenn Operation Hammelsprung mit ihm zusammen gehangen hätte, warum würde sie dann als gescheitert bezeichnet – und warum würde weder Libanon noch Attentat oder sonst ein nahe liegendes Stichwort in den Metadaten enthalten sein, sondern stattdessen Schleswig-Holstein und Lübeck? Johannsen schrieb den Namen des damals getöteten Politikers auf das Dokument und setzte ein großes Fragezeichen dahinter. Dann markierte er den Vermerk ? 8c mit rotem Neonmarker. Sicherlich hatte das etwas zu bedeuten, im Moment war aber auch dieses Rätsel nicht zu lösen.

So begann er, einzelne Dokumente nach und nach durchzulesen und zu versuchen, ihren Inhalt in den entsprechenden historischen und geografischen Zusammenhang zu setzen.

Saalgasse, Wiesbaden, Dienstag 16.50 Uhr

„Du musst da echt mal mitkommen, das tut sooo gut.“

Stefanie Wohlfahrt telefonierte noch immer mit ihrer besten Freundin. Sie waren über deren gestriges Liebesabenteuer auf das Wetter, auf aktuelle Kinofilme, auf Einkaufen, Kleider, Kosmetik und schließlich auf Wellness im Allgemeinen gekommen. Carmen ging seit einiger Zeit einmal die Woche zur Massage, etwas, das Stefanie eigentlich zu teuer war, aber nach den schwärmenden Berichten ihrer besten Freundin hatte sie wirklich Lust, das auch mal auszuprobieren.

„Jorge ist echt der Hammer. Aber für den Anfang kannst du dir natürlich auch ne Masseurin aussuchen, das ist ja nicht jedermanns Sache, sich splitternackt vor einen gut gebauten Spanier auf eine Massageliege zu legen.“

Stefanie stellte sich die Situation vor ihrem inneren Auge vor und beschloss, sich weder von einem Mann massieren zu lassen noch sich dabei komplett zu entkleiden.

„Könnten wir wirklich mal zusammen machen. Gehst du Donnerstag wieder?“

„Ja, wir können uns dort um 5 treffen, oder du holst mich ab.“

Carmen besaß kein Auto, weshalb sie gern Stefanies Fahrdienste in Anspruch nahm. Das war ok, denn sie machte nur in einem gesunden Maße davon Gebrauch, dass ihre beste Freundin einen schicken, kleinen Flitzer fuhr. Da sie selbst meist mit Fahrrad oder Bus zur Arbeit und zum Einkaufen fuhr, tat es ihrem Auto gut, wenn es gelegentlich bewegt wurde. Daher sagte sie, um das Telefonat einem baldigen Ende entgegen zu führen: „Klar, ich hol dich um kurz vor 5 ab. Jetzt muss ich mich glaub ich mal wieder um meine Arbeit kümmern, sonst wird das nichts mit Wellness übermorgen.“

Das Gespräch dauerte anschließend noch immer weitere fünfzehn Minuten, weil Carmen und sie sich immer etwas zu sagen hatten. Der Gesprächsstoff war ihnen noch nie ausgegangen, selbst als sie einmal zwei Wochen mit dem Auto in Italien unterwegs gewesen waren und es fast nur geregnet hatte. Sie tickten einfach ähnlich, so unterschiedlich sie auch in manchen Dingen sein mochten. Mit Carmen wurde es nie langweilig, das war eine der vielen schönen Seiten, die sie an ihr schätzte.

Als sie das schnurlose Telefon auf die Ladestation legte, blinkte der Akku bereits. Ihr rechtes Ohr fühlte sich heiß und zerdrückt an, weil sie bei Telefonaten mit Carmen oft beide Hände zum Abspülen oder Kochen frei haben musste und den Apparat daher zwischen Ohr und Schulter klemmte. Sie drehte ihren Kopf langsam nach links und rechts bis es hörbar knackte. Eine Massage wäre tatsächlich eine gute Sache, so verspannt wie sie in letzter Zeit oft war.

In diesem Moment piepste ihr Smartphone, um ihr das Eintreffen einer SMS anzuzeigen.

hey du, lust mal wieder was zu unternehmen? xo m.

Michi. Sein Schreibstil war minimalistisch und von konsequenter Kleinschreibung geprägt. Lustig, dass er sich gerade jetzt meldete, nachdem sie erst heute früh an ihn gedacht hatte. Sie hatten sich seit sicherlich drei Monaten nicht gesehen, es wäre also durchaus mal wieder an der Zeit, Einblick in sein Nerd-Leben zu bekommen und sich anschließend wieder darüber zu freuen, dass ihr Leben sich nicht in Internet und einer dreckigen Kellerwohnung abspielte. Sie mochte ihn, keine Frage. Er war so etwas wie ihr einziger und bester männlicher Freund. Aber beim Gedanken an sein Leben grauste es ihr.

Warum nicht? Schlag was vor?

Drei Sekunden später war seine Antwort da.

morgen um 8 ins kino?

Das war ihr eigentlich nicht recht. Sie musste dringend mit ihrer Arbeit voran kommen und würde schon Donnerstag früher Schluss machen müssen, um sich für die Massage vorbereiten zu können. Lieber hätte sie ein Treffen aufs Wochenende verschoben, aber zwei Dinge sprachen dagegen. Erstens traf sie sich nie gern mit Michi an Abenden, an welchen sie am nächsten Morgen nicht sehr früh raus musste. Sie wusste selbst nicht so genau warum, vielleicht hatte sie Angst, sie könnte Michi damit eine Andeutung zukommen lassen, dass sie gern den ganzen Abend oder mehr mit ihm verbringen wollte (was natürlich nicht der Fall war). An einem Mittwochabend war von vornherein klar, dass ihre Verabredung nach dem Kinobesuch zu Ende sein würde, weil sie am nächsten Tag früh aus den Federn musste. Sie glaubte nicht, dass Michi etwas von ihr wollte, aber sie würde dafür nicht ihre Hand ins Feuer legen. Und dann gab es da noch den zweiten Grund: Sie musste ihm nichts von der NSA-Sache erzählen, vielleicht könnte sie dennoch ein paar Tipps von ihm bekommen, wie man sich in einer gigantischen Menge von Daten zurechtfinden könnte. Er musste ihr nicht gleich eine neue Suchmaske programmieren, nur ein paar gute Tipps zu „Suchen und Finden mit Windows“, das würde vielleicht reichen, um einen Kinobesuch mit ihm zu rechtfertigen.

Gute Idee. Um viertel vor 8 vor dem Cineplex. Bis morgen! Lg

Sie wartete ein paar Minuten, aber es kam keine weitere Antwort von ihm. Es war nun viertel nach 5, und sie hatte seit vier Stunden nichts gearbeitet. Es sah so aus als stünde heute eine längere Nachtschicht an. Daher beschloss sie, zunächst ihren Magen zu füllen und sich dann ihrer Arbeit zu widmen. Sie ging in die Küche und schaltete das Radio ein.

Spiegel-Redaktion, Hamburg, Dienstag 17.24 Uhr

Auf der Schreibtischunterlage waren mit Kugelschreiber fünf Behörden gekritzelt: Bundesinnenministerium, Bundeskanzleramt, BND, BKA, LKA. Die ersten beiden waren doppelt durchgestrichen, die dritte kaum noch lesbar mit dickem Zickzack übermalt, die letzten beiden ebenfalls durchquert, jedoch nur einfach. Grit Junkermann blickte auf die Unterlage. Ob sie es nochmals versuchen sollte beim LKA Hamburg? Oder erst beim BKA? Eine Bundesbehörde machte pünktlich Feierabend, um diese Uhrzeit würde sie da nicht mehr viel erreichen. Sie hatte zu viel Zeit mit Internetrecherche und ziellosem Herumklicken bei Wikipedia vertrödelt, um diese Uhrzeit war kaum zu erwarten, dass sie heute noch einen Recherchedurchbruch erringen würde. Manchmal beneidete sie Friederike, die sich nur abends ins Hamburger Nachtleben werfen musste und am nächsten Tag genug Material für drei Kolumnen hatte. Nicht dass sie keinen Spaß an nächtlichen Vergnügungsoptionen einer Großstadt wie Hamburg hatte, aber sie trennte streng zwischen Privatem und Beruflichem. Diese Trennung würde auch jetzt, um halb sechs abends angebracht sein. Noch eine Stunde produktiv arbeiten, und sie hätte sich eine Verabredung verdient, wie sie gerade in ihren Gedanken ablief. Sie schüttelte sich und riss sich zusammen. Dann nahm sie das Telefon und wählte eine Nummer. Zu ihrer eigenen Überraschung war es weder die Nummer des BKA noch die des LKA Hamburg. Es war Leitners Nummer, ihr Kontaktmann beim LKA Schleswig-Holstein, Kiel, den sie seit Wochen zur möglichen Wiederaufnahme der Barschel-Sache auszuquetschen versuchte. Noch überraschter war sie, als er bereits beim zweiten Klingeln abnahm.

„Oh, hallo Herr Leitner, Junkermann hier, ich hatte gar nicht erwartet, dass sie noch im Büro sind.“

„Und deshalb rufen sie mich an, Frau Junkermann?“

Sein Ton war ironisch, was durchaus nachvollziehbar war. Wenn man jemanden anrief, dann war es eigentlich normal, dass man davon ausging, denjenigen auch zu erreichen.

„Ja, nein, also ich wollte nur nochmal fragen...“

„Frau Junkermann, wie oft soll ich es ihnen noch sagen? Es gibt keine neuen Erkenntnisse und damit auch keinen neuen Fall Barschel. Der Mann ist tot!“

Grit lachte.

„Das hab ich meinem Chef auch gesagt, aber er hat sich damit leider nicht zufrieden gegeben.“

„Das Leben läuft nicht immer so, wie Klatschreporter es sich erträumen.“

„Ich bin keine Klatschreporterin!“, protestierte sie und fügte an: „Wenn ich das wäre, dann würde ich ihnen auflauern, sie in der Kneipe fotografieren und das Ganze mit der Schlagzeile „LKA-Ermittler über Barschel-Affäre zum Alkoholiker geworden!“ veröffentlichen.“

Er schwieg einen Moment.

„Soll das eine Art Drohung sein?“

„Eher ein Scherz, um ehrlich zu sein. Herr Leitner, wir wollen doch alle nur, dass die Wahrheit ans Licht kommt“, versuchte sie zu beschwichtigen.

„Nur dass wir beim LKA besseres zu tun haben als Tote aufzuwecken – gerade jetzt.“

Oha! Einen solchen Satz durfte man einer erfahrenen Journalistin gegenüber niemals sagen, die witterte hinter den letzten beiden Worten sofort eine Story.

„Ja, klar, kann ich auch verstehen, Herr Leitner. Mit der NSA-Sache und so, ich nehme an, sie arbeiten da eng mit dem BKA zusammen...“

Jetzt nur kein falsches Wort!

„So kann man das nicht sagen, ich stecke da selbst auch nicht drin, das bearbeitet ein Kollege von mir...“

„Achso, dann ist der nach Wiesbaden geflogen?“

„Nein, er macht das hier im Haus.“

Sehr interessant. Sie wusste sicher, dass die Dokumente direkt ans BKA gegangen waren, die würden die Akten niemals sofort wieder aus der Hand geben, schon gar nicht in den hohen Norden. Es musste sich um Kopien handeln, das würde bedeuten, dass mehrere Parteien an der Sache arbeiteten. Wenn neben dem BKA das LKA Kiel dran war, dann vielleicht sogar alle anderen LKAs. Das würde bedeuten, dass eine Menge dieser Dokumente im Umlauf waren und ihre Chancen auf eine undichte Stelle auf das bis zu sechzehnfache steigen könnte.

„Vielleicht sollte ich mich mal direkt mit ihm in Verbindung setzen?“

Es war eher eine Andeutung, keine direkte Frage. Aber sie war wohl direkt genug, um Hans-Gerhard Leitner vorsichtiger zu machen.

„Mehr kann ich ihnen dazu wirklich nicht sagen, Frau Junkermann. Das ist selbst in unserem Hause eine ziemlich geheime Angelegenheit. Mein, äh, Kollege lässt da nichts anbrennen. Ich kann ihnen nur raten, in der Sache keine sinnlose Zeit zu vergeuden. Warum schreiben sie nicht über wichtige Themen wie den Hunger in Afrika?“

Die gleiche Frage hatte sie sich in den letzten Wochen schon mehrfach gestellt.

„Nochmal zurück zu Barschel: Gibt es eine finale Stellungnahme des LKA zu dem Fall oder gilt er als 'nicht abgeschlossen'?“

„Weder noch. Alles, was es dazu zu sagen gibt, wurde bereits vor Jahrzehnten gesagt und geschrieben. Wir haben da keine Geheimnisse vor ihnen, machen sie keine faulen Hunde scheu.“

Sie war sich ziemlich sicher, dass dieses Sprichwort ursprünglich anders lautete, fast ebenso sicher wie, dass es eine Menge Geheimnisse gab, welche das LKA einer Spiegel-Journalistin wie ihr niemals anvertrauen würde. Das Telefonat hatte ihr aber zwei hilfreiche Erkenntnisse geliefert: Es gab vermutlich mehr Anlaufstellen für ihre NSA-Recherche als sie befürchtet hatte, und es war an der Zeit, all ihre Barschel-Recherchen endlich einmal in eine sinnvolle Struktur zu bringen, um sich einen Überblick über den Fall und den damit verbundenen möglichen Artikel zu verschaffen.

LKA Schleswig-Holstein, Kiel, Dienstag 18.10 Uhr

An der Pinnwand hingen Dokumente aus dem Kieler Innenministerium, dem Landeshaus, dem Regierungspräsidium Schleswig, dem LKA Kiel und von weiteren Behörden des Landes. Martin Johannsen blickte auf die bedruckten Papierbögen und musste gestehen, dass die NSA ihre Hausaufgaben gemacht hatte. Keines dieser Dokumente war öffentlich, auf einigen hatte dick „GEHEIMSACHE“ gestanden. Selbst in der in Text umgewandelten Kopie war dieses Wort in Kapitalen geschrieben, als solle es wie eine Trophäe den Schwierigkeitsgrad hervorheben, unter dem ein Geheimdienst an solche Akten gelangte. Die Tatsache, dass die Dokumente an der Pinnwand hingen, wies darauf hin, dass Johannsen sie als interessant einstufte. Doch keines zeigte sich auch nur ansatzweise so geheimnisvoll wie das allererste. Ein Memorandum des Innenministeriums, in dem das LKA um Mithilfe bei der Überwachung eines schmierigen Industriellen gebeten wurde, war sicherlich nicht ganz legal, aber es bot keinen Anlass, der Sache weiter nachzugehen; vor allem aber war es in sich schlüssig und ließ keine Fragen offen. Das Bart-Dokument dagegen hing in der Mitte der Pinnwand mit einem inzwischen dick gemalten roten Fragezeichen, das den Blick auf sich zog. Johannsen hatte eben damit begonnen, auf der Festplatte nach „Bart“ zu suchen, doch die Suchergebnisse sprengten wieder einmal jeglichen Rahmen. Versuchsweise Klicks auf einzelne Treffer brachten ihn nicht voran, er fand entweder geschwärzte Dokumente oder nutzlose Akten, die nichts mit Schleswig-Holstein oder gar einer Operation Hammelsprung zu tun hatten. Was er brauchte, war eine Suchmaske, mit der er gezielt nach Schlagwörtern oder Kombinationen von Schlagwörtern suchen konnte. Solange er die nicht hatte, war seine Arbeit nicht viel mehr als ein blindes Vorantasten.

Sein Mobiltelefon klingelte. Es war Hans-Gerhard Leitner.

„Martin, wo steckst du denn, dein Büro ist seit gestern verwaist – hast du die Arbeit mit nach hause genommen?“

Sein Freund und Kollege klang verunsichert. Es war nicht Johannsens Art, andere im Ungewissen zu lassen, er arbeitete sonst immer transparent und hielt seine Kollegen auf dem Laufenden. Er hatte zwar seit heute früh sein Telefon auf den Apparat in seinem Kellerraum umgeleitet, doch Besucher seines Büros wussten nicht, wo sie ihn finden könnten. Er wollte nicht, dass jemand unangemeldet in seine Arbeit platzte. Da sein Team Bescheid wusste, dass er für drei Wochen nicht verfügbar sein würde, kamen sie ohne ihn klar. Hans-Gerhard Leitner hatte die Betreuung seiner Mitarbeiter übernommen, es würde daher notwendig sein, einige Dinge mit ihm abzusprechen.

„Ich habe mich in einem anderen Raum eingemietet, um mehr Platz und Ruhe zu haben. Wenn es dir passt, dann sollten wir uns morgen zusammen setzen wegen meines Teams.“

Er wollte nicht zu viel über seine derzeitige Arbeit sprechen, wenn die Sache vorbei war, würde er Leitner sicherlich einweihen können, aber für den Augenblick war es ihm lieber, wenn er sich allein auf seine Arbeit konzentrieren konnte.

„Ich könnte um elf bei dir sein.“

„Ich komme zu dir ins Büro und bringe ein paar Unterlagen mit, damit du für das Donnerstags-Treffen vorbereitet bist.“

„Gut, dann um elf bei mir. Übrigens, meine spezielle Freundin vom Spiegel ist jetzt nicht nur an Barschel, sondern auch an der NSA-Sache dran. Die scheint sich immer für die gleichen Sachen zu interessieren wie wir. Ich hab ihr nichts gesagt, aber wundere dich nicht, wenn die auf einmal bei dir in der Strippe hängt.“

„Danke für die Vorwarnung.“ Johannsen überlegte. Sein Kollege hatte von der Journalistin erzählt, er hatte der Sache aber keine große Beachtung geschenkt. Das LKA stand nicht unter ständiger Beobachtung der Medien, ganz im Gegensatz zu den Legislativbehörden, daher waren sie es nicht gewohnt, dass ihnen Journalisten an den Hacken hingen. Solange die Redakteurin vom Spiegel nicht wusste, wer die Sache bearbeitete, hatte er aber wohl nichts zu befürchten.

„Sag mal, Hans-Gerhard, hast du mal was von einer Operation Hammelsprung gehört?“

Er folgte einer Intuition, auch wenn es keine allzu gute Idee war, Details aus den Dokumenten mit seinem Freund zu teilen. Nach ein paar Momenten Schweigen, die nur vom Klackern einer PC-Tastatur unterbrochen wurde, antwortete Leitner.

„Operation Hammelsprung, da haben wir was in den Daten. Ist allerdings im Moment nicht bei uns gelagert, sondern in NRW.“

„Aha. Hast du in der Datenbank nachgeschlagen?“

„Ja, es sind drei Akten verzeichnet, aber die sind wie gesagt alle ausgeliehen.“

„Warum gerade Nordrhein-Westfalen?“

„Frag mich was anderes, kannst ja mal die Kollegen in Düsseldorf anfunken.“

„Ok, danke, bis morgen!“

Johannsen legte auf und fragte sich, was Akten aus dem LKA Kiel in Düsseldorf zu suchen hatten. Die Antwort wussten wohl wirklich nur die Kollegen in NRW. Er nahm einen Edding und schrieb „NRW“ auf das Bart-Dokument. Dann schaltete er den Computer aus, schloss den Raum ab und ging zum Aufzug.

Atlantic Hotel, Hamburg, Dienstag 20.08 Uhr

Grit Junkermann hatte sich in ihr kleines Schwarzes gezwängt und ihr teuerstes Parfum aufgetragen. Frisch epiliert und mit perfektem Make-Up saß sie an der Lobby-Bar des 5-Sterne Atlantic Hotels direkt an der Hamburger Außenalster. Sie fühlte sich sexy, wusste, dass die Blicke mehrerer Männer auf ihrem Hintern und ihrem tiefen Ausschnitt ruhten. Einer hatte es ihr angetan. Er saß vielleicht zehn Meter entfernt an einem Tisch und trank einen Cocktail. Groß, gut gebaut, grau meliertes Haar, teurer Anzug, ein perfekter Kandidat für heute.

„Darf ich sie auf einen Drink einladen?“

Die Anrede ließ sie kurz zusammenzucken. Ein Herr Mitte fünfzig hatte sich in ihrem Rücken auf den Barhocker neben ihr gesetzt und beugte sich zu ihr herüber. Er war in keinster Weise das, was sie an Männern attraktiv fand. Der Anzug konnte die zu vielen Kilos nicht kaschieren, die Krawatte saß leicht schief, das After Shave roch billig. Immerhin hatte er Mut und hatte sie nicht wie manch anderer zuvor auf plumpe Weise angemacht.

„Tut mir leid, ich bin bereits verabredet.“

Er nickte, nahm sein Bierglas und stand auf. Es war leichter, einem Mann zu sagen, man sei bereits verabredet, als ihm die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Die meisten Männer fassten ein „nein“ als persönlichen Angriff auf, manche reagierten barsch oder gar aggressiv. Sagte man, dass man bereits vergeben oder verabredet sei, so akzeptierten sie das in aller Regel. Sie konnten sich sagen: „Wenn sie nicht verabredet gewesen wäre, dann...“ Sie würden die Wahrheit nie erfahren, mussten sie auch nicht. Grit war sie los, und sie hatten ihr Gesicht gewahrt.

Nachdem sie dem ersten Kandidaten eine Abfuhr erteilt hatte, wagte sich zunächst niemand sonst an sie heran. Zu offensichtlich schien, dass eine Frau wie sie bereits vergeben war. Sie bestellte einen Daiquiri und blickte zu ihrem Favoriten. Der musterte sie ein paar Minuten, dann stand er auf, trat an die Bar und stellte sich vor. Sie unterhielten sich ein paar Minuten, dann ließ sie ihren Drink stehen, erhob sich und ging mit ihm zum Aufzug. Sie mochte das Kribbeln, das sich in solchen Momenten in ihrem Körper ausbreitete, liebte seine Erregung, die sie spüren konnte, als er sich im Aufzug an sie presste während sie sich küssten. In seiner Suite im obersten Stockwerk hatte er einen fantastischen Blick über die Alster. Sie würdigte das Panorama mit keinem Blick und ging direkt zum großen King size Bett. Er schlug das Laken zurück und blickte sie an. Mit geübtem Griff öffnete sie den Reißverschluss ihres Kleides und ließ es zu Boden fallen. Sie erkannte die Begierde in seinen Augen, als sie nackt vor ihm stand. Ihre Hand fuhr über seine Hose und massierte seine Erektion. Dann legte sie sich lasziv aufs Bett und beobachtete ihn, wie er sich auszog und ein Kondom aus der Bettkommode holte. Aufmerksam verfolgte sie, wie er es über seinen mächtigen Penis streifte. Safe Sex hatte für sie oberste Priorität, daher war ein korrekt angelegtes Kondom ein absolutes Muss für sie. Zufrieden betrachtete sie das Ergebnis, dann lehnte sie sich entspannt zurück, schloss die Augen und spreizte frivol ihre Beine. Jetzt durfte er mit ihr machen, was er wollte.

Millennium Club, Frankfurt, Dienstag 20.22 Uhr

Mike Pawelski stand an der Bar des exklusiven Millenium Clubs in der Frankfurter City und flirtete lässig mit der Barkeeperin. Da er einen VIP-Ausweis besaß, würde keine Mitarbeiterin wagen, ihm die kalte Schulter zu zeigen. Sein Kleidungsstil fiel aus dem Rahmen, doch wer ihn sah, ging davon aus, dass er einer dieser superreichen IT-Freaks war, die in ihrer Garage Sachen wie Facebook oder WhatsApp entwickelten. Diese Aura des vermeintlichen Milliardärs sorgte dafür, dass er trotz zerrissener Jeans und lässigem T-Shirt ins Bild des Millennium Clubs passte. Mikes Smartphone vibrierte in seiner Hosentasche. Er blickte kurz aufs Display und ein Lächeln überzog sein Gesicht. Fanny war wieder online, jede Menge neuer Daten wanderten in diesem Augenblick auf seinen Server. In spätestens einer Stunde würde er zuhause sitzen und großen Spaß daran haben, sich durch die neuen Dateien zu arbeiten. Euphorisch steckte er das Smartphone weg, lehnte sich über den Tresen und flüsterte der Barkeeperin etwas ins Ohr.

Saalgasse, Wiesbaden, Dienstag 20.31 Uhr

Nach einer Pasta mit Gemüse und zwei Gläsern Mineralwasser war Stefanie Wohlfahrt gerüstet für eine längere Spätschicht. Nachdem sie den halben Tag mit anderen Dingen verplempert hatte, war es höchste Zeit, mit ihrer Aufgabe voran zu kommen. Ihren Laptop auf dem Schoß, eine Thermoskanne mit heißem Tee vor sich auf dem Wohnzimmertisch und einen Block mit kariertem Papier neben sich auf dem Sofa, hatte sie versucht, an ihre letzten Fortschritte anzuknüpfen. Mittags war sie über dem ermüdenden Verschieben von Dateien in ihre drei Ordner „60de“, „bade“ und „fade“ eingenickt. Nun klickte sie sich durch die einzelnen Dateien dieser Ordner und machte sich mit Bleistift Notizen auf ihrem Block. Die Inhalte des „60de“ Ordners schienen komplett unzusammenhängend und nutzlos. Abhörprotokolle von Kabinettssitzungen früherer Jahrzehnte, Emails aus dem Kanzleramt, Informationsbroschüren des Bundesagrarministeriums – wie ermüdend musste es für die NSA erst sein, täglich tausende solcher Dokumente abzufangen und zu versuchen, die wenigen wirklich interessanten Daten daraus herauszufiltern. Ähnlich langweilig waren die Dateien im „bade“ Ordner. Ein unscharfes Foto eines Mannes, der in schwarzem Anzug aus einer Limousine stieg, eine Übersicht über DAX-Aktienkurse am 19. August 1991, ein kopierter Brief, dessen Absender und Adressat geschwärzt waren. Ein weiteres Bilddokument zeigte einen Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus dem Februar 1994. Unglaublich, wofür die NSA sich interessierte. Der Artikel war aus der FAZ ausgeschnitten worden und auf ein DIN A4 Blatt geklebt worden, ehe man ihn abfotografiert hatte. Auf den weißen Seitenrand hatte jemand handschriftlich „peanuts“ geschrieben. Stefanie Wohlfahrt musste lächeln, als das Bild von Snoopy und Charlie Brown vor ihrem inneren Auge erschien, Ikonen ihrer Kindheit. Der Artikel hatte allerdings nichts mit den Zeichentrickfiguren zu tun, sondern berichtete über Immobiliengeschäfte eines Frankfurter Großunternehmers. Aus irgendeinem Grund kam ihr eine eine Szene aus ihrer Kindheit in Erinnerung: Sie saß mit ihren Eltern vor dem kleinen Fernseher und schaute wie so oft die „heute“ Nachrichten. Sie war vielleicht zehn Jahre alt und verstand wenig von dem, was da berichtet wurde, daher freute sie sich immer auf den Wetterbericht am Ende, wenn der Wettermann durch Klicken auf den kleinen Schalter in seiner Hand die Tafeln wechseln konnte. Auf einmal war es aus ihrem Vater laut hervorgebrochen: „Peanuts? Das ist ja wohl der Gipfel der Unverschämtheit! Die sollen mal einer richtigen Arbeit nachgehen, dann wissen sie, wie viel 50 Millionen Mark sind!“ Selten hatte sie ihren Vater – sonst eher ein ruhiger und introvertierter Handwerker – so aufbrausend erlebt. Er hatte ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden besessen. Erst später hatte sie verstanden, was der Hintergrund der Sache gewesen war. Sie kam ihr jetzt wieder in den Sinn. Es ging um den Milliardenbetrug des Immobilienunternehmers Jürgen Schneider, der unter anderem in Frankfurt gigantische Großprojekte bauen ließ und sich dabei zahlreiche Kredite deutscher Banken erschlichen hatte, indem er Mietprognosen und sonstige Unterlagen schönte. Irgendwann war er aufgeflogen und vor Gericht gestellt worden. Der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, die immerhin auch etliche Millionen D-Mark Verlust in der Sache machte, hatte sich dazu hinreißen lassen, die 50 Millionen Mark, die Schneider zahlreichen Handwerker-Unternehmen noch schuldete, als „Peanuts“ zu bezeichnen. Das Wort wurde später zum Unwort des Jahres gekürt, die Deutsche Bank hatte ein massives Imageproblem und von dem damaligen Vorstandssprecher hatte sie seitdem nie wieder etwas gehört. All das war allerdings nicht in dem FAZ-Artikel zu finden. Offenbar war er vor dem eigentlichen Skandal veröffentlicht worden. Da ihr Laptop ohnehin mit dem Internet verbunden war, googelte sie „Jürgen Schneider“ und fand auf seiner Wikipedia-Seite, dass tatsächlich ein kritischer FAZ-Artikel aus dem Februar 1994 der Auslöser des Skandals gewesen war. Offenbar handelte es sich dabei um den ihr vorliegenden Artikel. Er schien eigentlich ziemlich unspektakulär, war nicht reißerisch oder anklagend. Manchmal waren es wohl die kleinen Steine, die eine große Lawine ins Rollen brachten. Dass sich aber die NSA für einen solchen Artikel interessierte, war erstaunlich.

Stefanie Wohlfahrt klickte weiter durch die Dateien des Ordners und fand keine nennenswerten Dokumente mehr. Sie nahm sich den dritten Ordner vor, welcher die „fade“ Dateien beinhaltete. Die erste Datei darin war ein Tondokument, welches durch Verzerrung unbrauchbar gemacht worden war. Als nächstes öffnete sie ein PDF-Dokument, das eine in Text umgewandelte Kopie eines Briefes enthielt, verfasst vom bayrischen Ministerpräsidenten und adressiert an den Bayrischen Bauernverband. Darin gratulierte Franz-Josef Strauß dem „Bauern des Jahres 1983“ zu der Milchleistung seiner Kühe. Spektakulär. Als nächstes klickte sie auf ein Bild, das eine Gruppe von Männern zeigte, möglicherweise ein Landes- oder Bundeskabinett, nach dem Alter der Männer und ihrem erfahrenen Kamerablick zu schließen. Sie erkannte keinen von ihnen. Die nächsten Dokumente waren Briefe, Emails, Audiodateien, insgesamt mehrere Dutzend Dokumente, mit denen sie nicht viel anfangen konnte. Es hatte keinen Zweck, ohne fremde Hilfe würde sie niemals eine Struktur in die Daten bringen können. Sie dachte an Michi. Seine Fähigkeiten wären ideal für diesen Fall, aber es war unmöglich, ihn in diese Aufgabe einzuweihen. Sie machte sich weitere Notizen auf ihrem Block, schrieb ein paar Dateinamen Zeichen für Zeichen auf das Papier und notierte noch ein paar Fragen, auf die er vielleicht Antworten wüsste. Zumindest ein paar Insider-Infos, wie man mit einer so großen Menge von Dateien clever umging, das wäre schon ein Anfang. Es war gut, dass sie morgen ins Kino gingen, damit hatte sie nun fast 24 Stunde Zeit, weitere Fragen zu sammeln und Recherchen anzustellen, um ihm ihre Situation möglichst genau beschreiben zu können, ohne ihm den Inhalt ihrer Arbeit verraten zu müssen.

Fehmarnwinkel, Kiel, Dienstag 21.47 Uhr

„Dad, bist du morgen nachmittag dabei?“

Jürgen Johannsen saß neben seinem Vater auf dem Sofa und schaute das „heute Journal“. Er interessierte sich nicht besonders für Politik, aber es war ein häufiges Ritual, gemeinsam die Spätnachrichten zu schauen, ehe sein Vater ihn darauf aufmerksam machte, dass er am nächsten Morgen früh raus und zur Schule musste und es daher Zeit war, zu Bett zu gehen. Sein Vater war nie besonders streng mit ihm gewesen, daher sah er keine Notwendigkeit, sich wie Julia gegen ihn aufzulehnen. Wenn sein Vater meinte, er solle zu Bett gehen, dann konnte er, wenn er wollte, noch stundenlang im Internet surfen, ohne dass er befürchten musste, dass seine Eltern in sein Zimmer kommen und mit ihm schimpfen würden. Außerdem war sein Vater in Ordnung. Er hatte ihm die Freude an Tennis und Golf nahe gebracht und damit einen Grundstein für seine derzeitige Freizeitgestaltung gelegt, wobei Tennis eindeutig die erste Geige spielte. Jürgen hatte es inzwischen in die zweite Mannschaft seines Vereins geschafft und war mehrmals die Woche beim Training und auf dem Platz. Jeden Mittwochnachmittag aber spielte er Golf. In seinem Heimatclub war mittwochs Herrenrunde, er war ebenso wie sein Vater und einige seiner Kollegen regelmäßig dabei. Während sein Handicap sich inzwischen der magischen 10,0 Marke näherte, lag das seines Vaters seit Jahren bei gut 20. Kein Wunder, verbrachte sein Dad jede freie Minute mit Arbeit und viel zu wenig Zeit auf dem Golfplatz. Aber das war seine Entscheidung, Hauptsache er hatte überhaupt ein Hobby, das nicht wie bei anderen Vätern aus Briefmarken sammeln oder Zeitung lesen bestand.

„Ich glaube nicht, Jürgen. Ich sitze im Moment an einer Sache, die mich ziemlich gefangen nimmt.“

In den Nachrichten lief gerade ein Bericht über das noch immer nicht aufgelöste Gefangenenlager Guantanamo Bay. Wohl deshalb hatte Martin Johannsens Unterbewusstsein ihm diese etwas überdeutliche Formulierung in den Mund gelegt. Aber sie war nicht falsch. Seine Gedanken kreisten um kryptische Dateinamen, ausgedruckte DIN A4 Seiten und viele Fragen, die ihm dazu durch den Kopf gingen.

„Ist das wegen der NSA-Sache?“

Er blickte seinen Sohn überrascht an.

„Hat Mareike dir etwas erzählt?“, fragte er besorgt.

„Nee, ich beherrsche das Einmaleins ganz von allein“, lachte Jürgen. „Wenn die Sache gerade auf allen Kanälen läuft und du von einem Tag auf den anderen an einer neuen Sache arbeitest, dann muss man kein Hellseher sein, um zu kapieren, was da läuft.“

Seinen klaren Verstand hatte er von ihm geerbt, dachte Martin Johannsen.

„Es wäre mir sehr recht, wenn du dies Dinge für dich behältst“, sagte er streng.

„Dad, alles was ich wissen will, ist, ob du morgen beim Herrennachmittag dabei bist.“

Mit einem abschätzenden Seitenblick fügte er hinzu: „Die Übung würde deinem Spiel jedenfalls gut tun.“

Da hatte er einen Nerv getroffen. Seit dieser Saison lief es gar nicht bei seinem Golfspiel. Er war beruflich zu sehr eingespannt, fand kaum Zeit zum Trainieren und musste bei den wenigen handicap-wirksamen Golfrunden mit ansehen, wie sein Handicap Zehntel für Zehntel nach oben wanderte.

„Ich spiele am Sonntag ein Benefiz-Turnier in Hamburg, vielleicht können wir am Samstag zusammen üben. Ich könnte einen Coach für mein kurzes Spiel brauchen“, sagte er mit einem Augenzwinkern. Sein Sohn verdrehte die Augen.

„Dad, Samstag ist Julias Turnier, außerdem muss ich morgens zum Tennis, da wird keine Zeit für Golf bleiben.“

Julias Reitturnier, das hatte er ganz vergessen.

„Ich hoffe mal, dass du das dick in deinen Kalender eingetragen hast!“

Seine Frau war eben ins Zimmer gekommen und setzte sich neben ihm aufs Sofa. Er gab ihr einen Kuss auf ihre Wange.

„Ganz dick mit drei Ausrufezeichen“, flunkerte er.

„Das will ich sehen“, murmelte Jürgen, genervt von der Art, wie seine Eltern in letzter Zeit miteinander umgingen. „Wäre schön, wenn du morgen dabei bist, Dad. Gute Nacht.“

Damit stand er auf und ging auf sein Zimmer. In den Nachrichten lief eben ein Hintergrundbericht über das neue Freihandelsabkommen. Es wurde die Frage aufgeworfen, wie Deutschland sich von den Amerikanern so über den Tisch hatte ziehen lassen können. In allen entscheidenden Punkten hatten sich die amerikanischen Freunde durchgesetzt. Der Sprecher stellte die rhetorische Frage, ob es sich nicht doch – entgegen der Versicherungen beider Seiten – um einen Deal im Gegenzug für die Öffnung der NSA-Daten gehandelt hatte.

„Pft, so ein Schwachsinn“, kommentierte Johannsen. „Das eine hat doch mit dem anderen gar nichts zu tun.“

Ganz überzeugt klang sein Tonfall allerdings nicht.

„Jürgen würde sich, glaube ich, freuen, wenn ihr morgen zusammen spielen würdet.“

Seine Frau war immer darauf bedacht, das Verhältnis zwischen ihm und seinem Sohn zu stärken. Wenn schon Julia so ein schwieriges Verhältnis zu ihren Eltern und insbesondere zu ihrem Vater hatte, dann war es in ihren Augen umso wichtiger, dass ihr Mann in ihr und in Jürgen zwei Menschen hatte, mit denen ihn viel verband. In letzter Zeit fragte sie sich, ob Jürgen vielleicht der einzige war, der noch ein einigermaßen intaktes Verhältnis zu Martin hatte.

„Ich rufe morgen früh mal im Club an und frage, ob wir eine gemeinsame Abschlagszeit am späten Nachmittag bekommen können. Übrigens...“

Er blickte seine Frau an.

„Morgen Abend ist wieder Tango-Abend im Blauen Engel.“

Seine Frau war mindestens genauso überrascht von dieser plötzlichen Eingabe wie er selbst. Vor vielen Jahren hatten sie sich im Blauen Engel beim Tango kennen gelernt, als eine gemeinsame Bekannte ihn wegen akutem Männermangel gefragt hatte, ob er aushelfen wolle. Zwei Jahre später hatten sie geheiratet und seitdem dieses gemeinsame Hobby in einigermaßen regelmäßigen Abständen ausgeübt. In letzter Zeit waren die Tanzabende seltener geworden, insbesondere in den warmen Monaten, wenn man eher beim Grillen auf der Terrasse saß als bei Tango-Musik im Blauen Engel. Sein Unterbewusstsein war offenbar im Moment auf einer Versöhnungsmission unterwegs, anders war diese spontane Eingabe nicht zu erklären.

„Martin, was ist denn in dich gefahren“, staunte seine Frau. „Wenn du mich ausführen willst, sag ich nicht nein.“

Sie legte ihren Arm um ihn und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter. Etwas, das sie schon lange nicht mehr getan hatte.

Moselstraße, Frankfurt, Dienstag 22.02 Uhr

Mike Pawelski griff in die knisternde Tüte und schob eine große Portion Cheese&Onion Chips in den Mund. Er staunte nicht schlecht, denn Megabyte um Megabyte neuer Daten wanderten seit Stunden auf seinen Server. Inzwischen waren es so viele, dass er sich fragte, ob er den Datenfluss nicht unterbrechen sollte. Was sollte er mit so vielen Dateien anfangen? Eine einzige, wenige Kilobyte kleine Datei, geschickt auf einem Server der Deutschen Bank platziert, reichte aus, um alle seine Wünsche zu erfüllen und seine Machtfantasien zu befriedigen. Was er hier sah, hatte zwar einen ganz besonderen Reiz, aber nützlich war es ihm mit ziemlicher Sicherheit nicht. Dennoch unternahm er zunächst nichts. Wenn es um das Sammeln von Daten ging, folgte er der Google-Strategie: erstmal sammeln, irgendwann wird man es schon noch brauchen können.

Mundsburger Damm, Hamburg, Mittwoch 0.24 Uhr

Grit Junkermann saß entspannt im Taxi und ließ sich nach hause chauffieren. Eine wohlige Wärme erfüllte ihren Unterleib, ein Gefühl, das sie brauchte wie ein Junkie den nächsten Schuss. Ihr heutiger One-Night-Stand war nicht übel gewesen, sie gab ihm eine 2-. Sie musste bei dem Gedanken schmunzeln, denn sie wusste, dass sie verwöhnt war. Er war verdammt gut gewesen, vor allem gut ausgestattet und ausdauernd, aber nicht so versaut und abenteuerlustig, wie sie es sich an Abenden wie heute wünschte. Trotzdem war sie voll auf ihre Kosten gekommen. Seit sie dazu übergegangen war, sich ausschließlich erfolgreiche Geschäftsmänner ins Bett zu holen, war die Qualität ihrer One-Night-Stands deutlich gestiegen. Diese Art Mann konnte es sich nicht leisten, eine Frau unbefriedigt zu lassen. Zu viel stand für sie auf dem Spiel. Die meisten waren verheiratet, alle hatten sie einen gesellschaftlichen Ruf zu verlieren. Grit Junkermann erzählte in den meist eher knapp gehaltenen Unterhaltungen mit ihren Lovern ganz nebenbei, dass sie Journalistin eines auflagenstarken Magazins sei und aufgrund ihrer vielen Erfahrungen überlegte, ob sie einen Artikel über das geheime Sexleben erfolgreicher Geschäftsmänner schreiben solle. Damit hatte sie bislang noch jedes männliche Ego angestachelt, denn jeder wollte natürlich ihr „bester Fick“ sein und gab entsprechend sein Bestes, damit sie nicht unbefriedigt nach hause fahren musste. Während sie sich das schwarze Kleid zurecht zupfte, überlegte sie, ob sie nicht anstelle des NSA-Artikels tatsächlich etwas über ihre ONS-Erfahrungen schreiben sollte. Sie pflegte eine strikte Trennung von Privatem und Geschäftlichem, aber als Notnagel würde sie einen solchen Artikel im Hinterkopf behalten, falls sie weder bei Barschel noch in der NSA-Sache einen Erfolg würde vorweisen können.

Saalgasse, Wiesbaden, Mittwoch 0.40 Uhr

Stefanie Wohlfahrt gähnte. Normalerweise ging sie vor elf ins Bett, jetzt war es schon nach halb eins in der Nacht. Sie hatte sich die Datei- und Ordnernamen nochmals näher angesehen, konnte aber außer den vier sich wiederholenden Ziffern keine weiteren Auffälligkeiten finden. Da ihr die „Peanuts“-Sache nicht aus dem Kopf ging, hatte sie sich den FAZ-Artikel nochmals vorgenommen. Welches Interesse die NSA an so einer Sache hatte, blieb ihr rätselhaft. Sie hatte „peanuts“ und „FAZ“ in die Suchmaske eingegeben, aber keine interessanten Treffer gefunden. Sie hatte es mit einer Kombination aus „Deutsche Bank“ und „Schneider“ versucht und neben dem FAZ-Artikel unter anderem ein Dokument gefunden, das fast komplett geschwärzt war. Es handelte sich um die Fotokopie eines Briefes. Oben konnte man den Bundesadler erkennen, es handelte sich also um einen Brief aus einer Bundesbehörde oder einem Ministerium. Alles andere war geschwärzt. Unten auf der Seite war jedoch von Hand „? 8c“ geschrieben worden, was immer das zu bedeuten hatte. Eine andere Datei enthielt ein Foto, welches Jürgen Schneider zeigte, wie er gerade Helmut Kohl die Hand schüttelte. Die Metadaten der Datei verrieten, dass es aus dem Jahr 1993 stammte. Damals war Kohl Bundeskanzler und Schneider auf dem Gipfel seines Erfolges, nur wenige Monate vor seinem Niedergang. Es war spät, Stefanie Wohlfahrt war hundemüde. Vielleicht war das der Grund, warum sie schon wieder diesen Zorn spürte, wieder Verschwörungstheorien und Rachegedanken schmiedete. Jedenfalls kam ihr das Ganze merkwürdig vor. Die „Peanuts“-Geschichte hatte eigentlich keinerlei politische Bezüge, es ging damals einfach nur um milliardenschweren Betrug. Wenn man die NSA-Dokumente betrachtete, dann könnte man den Eindruck gewinnen, dass es dahinter noch eine unbekannte politische Ebene gab, die mit der Sache zu tun hatte. Sie googelte „Kohl & Jürgen Schneider“ und fand einen Zeitungsartikel, welcher davon berichtete, dass der damalige Kanzler die Deutsche Bank scharf angegriffen und offenbar versucht hatte, sich für den in die USA geflohenen Schneider einzusetzen. Es musste wirklich an der Uhrzeit liegen, anders konnte sie sich nicht erklären, dass sie glaubte, einer Sache auf der Spur zu sein, die gehörig stank.

Sie schaltete ihr Notebook aus und nahm die NSA-Festplatte mit ins Bett. Es gab in ihrer Wohnung keinen anderen Ort, der ihr für die Aufbewahrung dieser Daten sicher genug war.

Status Quo

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