Читать книгу Urlaub allein - Tilda - - Страница 5
ОглавлениеDonnerstag – Mittwoch – jetzt
Regen durchnässt deine Kleidung, lässt sie kalt auf der Haut kleben und macht das Herumstehen im Freien unangenehm. Und doch zögerst du, Unterstand in der düsteren, aber wenigstens trockenen Nische im Fels zu suchen. Du bist hierher gekommen, um eine unbekannte Höhle zu finden – oder wohl eher den Schatz, den du dort vermutest. Der Eingang zu dieser Höhle könnte sich hinter einigen heruntergefallenen Steinen irgendwo an der hinteren Wand der Nische befinden, aber du weißt es nicht genau. Zu sehen ist er von hier aus jedenfalls nicht.
Vorhin war es dir, als hättest du ein Geräusch gehört, das direkt aus der Grotte kam. Es hörte sich an wie ein lang gezogenes Seufzen, mit einem zweiten Ton gemischt, der etwas Animalisches an sich hatte.
Dir ist kalt, du hast Gänsehaut auf den Unterarmen – vielleicht auch ein Bisschen der Kälte wegen. Die Regenjacke ist nicht so dicht, wie es der Prospekt versprochen hat, die Feuchtigkeit kriecht langsam drunter. Du bist dir nicht mehr so sicher, ob du den Eingang zu dieser Höhle tatsächlich freilegen sollst – ob du ihn überhaupt freilegen willst.
Sollte ich nicht doch besser morgen wiederkommen? Der Gedanke ist plötzlich da und kommt wie gerufen. Er erscheint dir wie ein rettender Strohhalm, birgt er doch die Hoffnung in sich, einen Ausweg aus einer verfahrenen Situation gefunden zu haben. Nur wenige Sekunden später spürst du in ihm den Geschmack des Versagens, die blasse Rechtfertigung dafür, eine einmalige Chance versäumt zu haben.
– •°• –
Dabei hat alles so gut angefangen.
Du wolltest Urlaub machen!
Allein!
Hier in den Bergen wolltest du Abstand zum Beruf, zur Familie gewinnen, wolltest dem Alltag entfliehen. Du hast lange und sorgfältig geplant, hast dir die zweite Septemberwoche dafür ausgesucht, weil da die Hauptsaison schon vorüber ist und an den meisten Urlaubsorten wieder Ruhe einkehrt.
Ruhe, das ist genau das, was ich am allermeisten brauche.
Wandern, Schwimmen und vielleicht Radfahren waren als Tagesaktivitäten geplant. Das Abendessen genießen und dann mit einem guten Buch ins Bett oder bei einem actiongeladenen Martial-Arts-Fantasy-Film (Hirntot-Haudrauf ist deine Bezeichnung dafür) einschlafen. So sollten die Abende ablaufen.
Hotel Pauschitz, das Single-Hotel in Steinbach, am A... der Welt hattest du dir ausgesucht. Feiner Plan, ausgezeichnet! Endlich ungestört, endlich Zeit für dich selbst. Eine Woche lang nicht funktionieren müssen.
Am ersten Tag warst du noch auf 180, konntest es kaum fassen, dass du dir selbst deinen Wunsch nach Entschleunigung erfüllt, dass du dich einmal hartnäckig durchgesetzt hattest. Schließlich hast du vereinbart, in dieser Woche weder täglich anzurufen noch jeden Tag angerufen zu werden.
Nun hast du schon drei Tage in Langsamkeit verbracht und beginnst zu genießen. Endlich lässt du es zu, dass die Ruhe und Erhabenheit der Wald- und Felslandschaft rundum dich durchdringt.
Es wird alles gut.
Nichts wird dich aus der Bahn werfen.
Wenn da nicht gestern diese Begegnung gewesen wäre.
– •°• –
Da war gestern dieser Einheimische. War es ein Einheimischer? Na, ja, er sah jedenfalls so aus. Kautzig war sein Erscheinungsbild, mit den langen grauen Haaren, mit dem karierten Holzhackerhemd, mit der Krachledernen und mit den dicken Bergschuhen. Etwas kleinwüchsig war er außerdem. Über die Menschen, die in den engen Gebirgstälern leben, hört und liest man ja so einiges.
Dieser Mann jedenfalls, der etwas nach Pfefferminze und nach Kerzenwachs roch, hatte sich mit seiner Kleidung und auch mit seinen Haaren hoffnungslos in einem großen, wilden Rosenbusch verfangen. Er hat nicht um Hilfe gerufen, aber du hattest ihn schon von Weitem schimpfen und fluchen gehört, als du auf deiner Tageswanderung, am Weg zum Ritterausguck, dort vorbeigekommen warst.
Ja, sicher hätte er sich auch selber befreien können. Er hätte aber wahrscheinlich Haare lassen müssen und sowohl seine speckige Kniehose als auch sein schmuddeliges Hemd hätten weitaus größeren Schaden genommen. Dann erst hast du bemerkt, dass eine der Dornenranken quer über seinem Gesicht festsaß und ein Dorn sich in seinem linken Augenlid verhakt hatte.
»Oh, oh! Keine wilden Bewegungen jetzt, sonst gibt's ein Blutbad!« hast du gerufen.
So hast du zuerst beruhigend auf ihn eingeredet und ihn dann, Zentimeter für Zentimeter, aus den Dornen befreit. Kaum hattest du eine Ranke weggebeogen, verfing sich eine andere wieder neu im Gewand. Du erinnerst dich, die ganze Zeit über auf den Mann eingeredet zu haben, wie auf ein krankes Pferd, obwohl er sich ohnehin recht ruhig verhalten hatte.
Zumindest hatte er nichts geredet.
Oder zumindest war es dir nicht aufgefallen.
Eine viertel Stunde später, so gern hättest du ein Messer oder ein anderes, brauchbares Werkzeug dabei gehabt, zeugten nur noch eine einzelne Strähne seiner grauen Haare und zwei kleine, karierte, ausgefranste Stoffstücke vom Drama in den Dornen. Der Fremde, der sich nuschelnd als "Wülta" oder "Hülter" oder so ähnlich vorstellte, hat sich dann eher kurz und muffig bedankt. Jedenfalls kam er dir insgesamt nicht so recht freundlich vor.
Dir war klar, du gehst nie wieder ohne Taschenmesser aus dem Haus.
»Aber, keine Ursache!« hast du betont freundlich gesagt – worauf keine Reaktion des kleinen Mannes folgte. Als du dann bemerkt hattest, dass sich sein linkes Augenlid bedenklich blaurot verfärbte und er außerdem doch recht viele Kratzer abbekommen hatte, aus denen Blut sickerte, hast du noch hinzugefügt »Sie sollten das desinfizieren und rasch verbinden!« dabei hast du mit dem Finger auf sein linkes Auge gezeigt. »Am besten, Sie gehen gleich direkt zum Arzt.«
Du warst dir sicher, dass er Schmerzen haben musste, so angestrengt und so traurig, wie er schaute.
Wieder sprach der Fremde murmelnd und unverständlich. Dennoch hattest du das Gefühl, er würde dir zustimmen. Zumindest klang es so. Du überlegtest, ob es zur Verständigung mit den Einheimischen wohl einen Sprachführer geben könnte.
Gerade als dir einfiel, dass du ja ein Notfalltäschchen mit dabei hattest und in deinem Rucksack zu Kramen begannst, hob der Fremde die Hand und bedeutete dir, noch etwas sagen zu wollen. Es klang gezwungen und dringlich, etwas anders als zuvor, fast verständlich: »Waun du ah nochm Schotz suachst, daun gäh net doda weida, sondan den Hoiwög nauf bisch za Robenwond und daun rechts weida bisch za Einhorngrottna. De ondern haum olle an da foischn Stöla gsuacht. Owa es is eh nua a Gschicht, an dera net fü draun is, homs donn olle gsogt, de Besawissa.«
Du hattest das Täschchen eben gefunden. Den Worten des kleinen Mannes zu folgen war so anstrengend, dass du in der Bewegung innegehalten hattest.
»Ein Schotz? Ein ... was für ein Schatz?« hast du spontan ausgerufen. Das war jetzt nicht das, womit du gerechnet hattest. Am Abend die Füße in der Wanne ausstrecken und das Entspannungs-Duftbad genießen, das war dein Plan, der dir vorhin noch in den Sinn kam, während du über den mit sehr grobem Kies geschotterten Weg mühsam heraufgestolpert warst.
Aber der Fremde reagierte nicht auf deine Fragen, sagte bloß noch »Seawas« und verschwand mit flottem Schritt seitlich im Unterholz, nur knapp am Rosenstrauch vorbei, an dem er sich zuvor gefangen hatte.
Nein, nicht wahr – war dein erster Gedanke.
»Pff! Nein, nicht wahr« sprachst du laut aus. Aber da war der Fremde auch schon außer Sichtweite. Deinem rasch gerufenen »Halt! So bleiben Sie doch!« folgte keine Reaktion. Und als du eben auf eine Antwort hoffend kurz gelauscht hattest, fiel dir auf, dass du auch keine Schritte und kein Rascheln im Gebüsch hören konntest.
»Auf Wiedersehen« brachtest du noch flüsternd hervor. Mit einem Seufzer entließt du die angehaltene Luft, denn es gab nichts weiter zu sagen. Dein praktisches Notfalltäschchen hast du in den Rucksack zurückfallen lassen.
– •°• –
Der Ritterausguck ist ein netter, freundlicher Ort – besonders bei dieser herrlichen Fernsicht. Er besteht aus einem kleinen, flachen Plateau zwischen zwei fast regelmäßig geformten Felsnadeln, die gut drei Meter hoch aufragen und sitzt auf einer Erhebung die auf drei Seiten steil abfällt. Hier endet der Wanderweg, nur noch Klettersteige und Kletterrouten führen weiter hinauf zum Gipfel. Der Blick hinab auf den Fluss und auf die umliegende Berglandschaft hatte dir sehr gefallen. Außerdem ranken sich einige Mythen um diese doch recht eigentümliche Felsformation – wenn man den diversen Urlaubsprospekten und Wanderführern des örtlichen Tourismusvereins Glauben schenken will.
Und eine davon erzählte von einem Schatz, glaubtest du dich zu erinnern. Das Grübeln über die seltsame Begegnung hatte dich den gesamten Weg entlang beschäftigt. Je länger du darüber nachdachtest, desto unsicherer wurdest du. An zwei Texte kannst du dich gut erinnern, waren sie doch für dich der Anlass, hierher zu kommen:
•) Der Wanderführer beschreibt die Stelle als >romantischen Aussichtspunkt mit mythologisch belastetem Hintergrund<.
•) Ein auf Singlereisen spezialisierter Katalog konnte sogar mit einer vielversprechenden, romantischen Prophezeiung aufwarten, wonach man einen Wunsch erfüllt bekommen oder, wenn nicht, es zumindest Glück bringen soll, die Felsnadeln mit beiden Händen zugleich zu berühren und dabei an etwas Schönes zu denken.
Gewagtes Versprechen und die passende Entschuldigung geschickt in einem Satz kombiniert – fiel dir spontan dazu ein.
»Pah!« musstest du laut ausrufen, als du dich zwischen die Felsen gestellt hattest. Sie sahen aus der Nähe weit weniger glatt und elegant aus, verströmten nicht den Flair des Mystischen. Sie waren stark verwittert, rissig, von Flechten überwachsen und an einigen Stellen mit Moos bedeckt. »Von wegen beide Felsnadeln berühren, so ein Unsinn!« war dann dein nächster, laut ausgesprochener Gedanke.
Die Felsen sind mehr als zweieinhalb Meter voneinander entfernt.
Das geht sich ja nichteinmal für einen Orang-Utan aus!
Wie groß ist der größte Mensch der Welt – ob es sich für ihn wohl ausginge? Du musstest schmunzeln beim Gedanken: Welch' clever formulierte Urlaubsprospektwahrheit.
– •°• –
Beim Abendessen gab es eine etwas längere Wartezeit zwischen dem Hauptgang (Faschierte Laibchen mit Kartoffelpüree und grünem Salat) und der Nachspeise. Frau Pauschitz, die Wirtin, hatte sich im Speisesaal laut für die Verzögerung entschuldigt – es sei ein kleines Missgeschick in der Küche passiert. Dafür gab es ein weiteres Getränk gratis und sie ging, gastfreundliche Herzlichkeit ausstrahlend, von Tisch zu Tisch und sprach mit den Gästen. Es waren aber nur fünf der zwanzig Tische besetzt – wie an jedem Abend bisher.
Nach dem wie immer wenig gesprächigen und mehr mit sich selbst beschäftigten Vital-Bio-Opa am Nebentisch, den sie immer zuckersüß mit "mein lieber, guter Herr Kreiner" anredete, und der bei jeder Mahlzeit eine vegetarische Extrawurst bekam, wandte sich die Wirtin dir zu. Die Augen nach oben rollend, begrüßte sie dich freundlich und begann einen typischen Smalltalk über das sonnige Septemberwetter, die Berge und über verschiedene Anlässe, warum Menschen in einem Singlehotel Urlaub machen.
Es roch verbrannt.
Und der Vital-Bio-Opa machte nicht den Eindruck eines lieben guten Herrn.
Er machte eher einen autistischen Eindruck, so wie er muffig vor sich hin murmelte und stundenlang kleine Zettelchen auf seinem Tisch in immer neue Anordnungen schob. Kein Gespräch, kein Kotakt zu anderen Gästen. An allen Abenden bisher war es das selbe Spiel.
Aber, um ehrlich zu sein, das junge Paar – was tut ein Paar im Single-Hotel? – das immer tuschelnd die Köpfe zusammensteckt, nachdem sie beide angestrengt und durchaus auffällig die anderen Gäste beobachtet hatten, war dir um nichts sympathischer. Die sollen doch lieber in der Stoßzeit U-Bahn fahren! Der Gedanke gefiel dir und du nahmst dir vor, ihnen deine Meinung noch zu sagen.
Als du die Wirtin geradeheraus nach einem Einheimischen fragtest und dessen Aussehen kurz beschrieben hattest, huschte ein Schatten über ihr Gesicht. »Was könnte der gewollt haben?« fragt sie ohne dich dabei anzusehen. Du hast den Verdacht, dass sie viel eher darüber besorgt war, von einer erzählenswerten Geschichte nicht früher erfahren zu haben, als darüber, jemanden nicht wiederzuerkennen. »Nein, es gibt niemanden mit diesem Namen oder zu dieser Beschreibung passend, der hier im Ort oder in der Nachbarschaft wohnt« schloss sie und ließ dabei die flache Hand mit Schwung auf den Tisch fallen. Es war wirklich alles, was sie dazu sagen wollte.
Auf deine Frage nach dem Weg zur Robbenwand konnte sie nicht sofort Auskunft geben. »Wohin? Hier gibt es keine Robben. Das nächste Meer ist ...«
»Ich denke an eine Felswand, eine die vielleicht Robenwond oder so ähnlich heißt?« Du versuchtest, die Sprache des Fremden möglichst gut nachzuahmen, denn jetzt wolltest du es schon genau wissen.
Eben noch zog sie ihre Augenbrauen zusammen, schon strahlte sie wieder Erheiterung aus, nicht nur ihr Mund, auch ihre Augen leuchteten. Berufslustig, war der Begriff, der dir spontan dazu einfiel.
»Ach! Sie meinen sicher die Rabenwand! Das einstige Kletterparadies?« Aber dann wurde sie wieder ernst und erzählte, dass es dort inzwischen zu gefährlich zum Klettern sei, weil der Fels brüchig wäre und keinen sicheren Halt böte. Es hätte in der jüngeren Vergangenheit mehrere schwere Unfälle gegeben, sogar Tote waren zu beklagen. Wie ein Wasserfall sprudelte es aus ihr heraus. Sie empfahl, für nette bis anspruchsvolle Klettertouren doch besser den Wetterstein einzuplanen, wo die Schutzhütte am Fuß der Felswand bequem per Sessellift erreichbar wäre und wo es auch mehrere gut gesicherte und gekennzeichnete Klettersteige gäbe.
Sie sah dir offensichtlich an, dass sich deine Begeisterung für den Wetterstein in Grenzen hielt. »Außerdem ist da sicher etwas mit dem Ticketpreis zu machen«, meinte sie dann noch schnell, zumal der Liftbetreiber ja ihr Schwippschwager sei.
Schon hattest du Luft geholt, um zu erklären, warum du dich ausgerechnet für die Rabenwand interessierst, da stand sie, nach einem kurzen Blick zur Küchentür, mit einem Ruck auf, murmelte ein oberflächlich klingendes »Ich glaub', es geht weiter – ich erzähle Ihnen später gerne mehr über unsere schönsten Ausflugsziele« und entschwand in Richtung Küche.
Das Orangengelee war sensationell, schmeckte unerwartet deutlich nach Karamel, und Minze war keine dabei. Egal. Die Wirtin kam jedenfalls später nicht mehr an deinen Tisch.
– •°• –
Das Fernsehprogramm lockte mit der Aussicht auf einen Dokumentarfilm über die Entstehung des Lebens auf der Erde, was zumindest interessant klang. Aber bis die Sendung begann, drehten sich deine Gedanken längst um die Erlebnisse des Tages.
Deine Inventur der Situation war wie folgt:
Die klassische Geschichte, immer dann gut, wenn einem nichts Besseres einfällt: hilfloses Waldmännchen, möglichst kauzig aussehend und natürlich rundum unbekannt wird aus der Notlage gerettet und bedankt sich indem es den Ort eines Schatzes – eines sagenhaften Goldschatzes preisgibt. Die übliche Aufforderung: Such die Höhle, geh rein, hau alles kurz und klein, nimm den Schatz (manchmal auch: rette die Prinzessin) und geh wieder. So ein Blödsinn, das gibt's doch nicht im wirklichen Leben! Das ist fettig triefender Kitsch pur. Das kann ich doch nicht ernstnehmen!
Gerade als der Sprecher im Fernsehen mit betont gelangweilter Stimme verkündete, dass sich die ersten Zellen vor fast 4 Milliarden Jahren in den Hohlräumen von Eisen-Schwefel-Mineralen gebildet haben – die Graphik war schön bunt und waberte etwas, wohl um bewegtes Wasser zu veranschaulichen – da tauchte die Spiegelung eines Gesichts auf der Fläche auf. Es war nicht dein Gesicht. Du erkanntest es sofort und musstest an den Dornenbusch denken.
Oh, Schreck! Das Waldmännchen.
Du hattest dich mit einem Ruck umgedreht, in der Erwartung, dass dieser "Wülta-Hülta" jetzt hinter dir steht ... aber da war niemand!
Spinn' ich, oder was? – schoss es dir durch den Kopf.
Aber die Spiegelung des Gesichts war noch immer da, über einem nach wie vor waberndem Fernsehbild, das aber jetzt die frühe Erde von einem imaginären Beobachtungspunkt aus dem Weltraum betrachtet zeigte und wo das Wabern irgendwie nicht angebracht erschien.
Das Gesicht begann sich zu bewegen und plötzlich begann der Fernsehsprecher zu Nuscheln, sprach mit bekannter Stimme, aber fast unverständlich weiter: »Du spinnst ned und i moch kan Schmäh. Geh doch söwa nochschau. Nimm wos zan Wegrama fia di Stana mid, da Eigong is faschit« Und schon schwammen da irgendwelche grünen Flecken über den Bildschirm, die dich stark an die Ölpatzen in einer Lavalampe erinnerten – nicht wabernd.
Die bekannte Stimme des Fernsehsprechers ist für dich gleichbedeutend mit "auf der Stelle einschlafen", doch jetzt warst du hellwach. Das Gesicht war weg und alles was blieb, waren wirre Gedanken über Drogen im Essen (Drogen mit Karamelgeschmack?) und über bislang undokumentierte Symptome der Frischluftvergiftung.
»Uff! Was soll das?« hattest du sowohl gedacht, als auch laut ausgesprochen. Gleich kamst du dir albern vor, mit dem Fernseher ... mit dir selbst zu sprechen.
Der Sprecher hatte zwar seine Nuschelphase sofort wieder überwunden, aber die Fernsehsendung war nicht mehr interessant genug, um noch weiter geschaut zu werden.
Im nun dunklen Bildschirm spiegelte sich nichts anderes als du selber auf dem Polstersessel sitzend mit einer Ecke des Schreibtisches und mit der kahlen Wand hinter dir. Keine Gesichter, keine fremden Stimmen.
Die Nacht verbrachtest du anfangs mit Grübeln, bis dir irgendwann, es war draußen stockdunkel, die Beleuchtung am Eingang war also abgeschaltet worden, endlich doch die Augen zufielen.
– •°• –
Dein Schlaf war tief, traumlos und vor allem lang. Auf jeden Fall war es für die guten Sachen am Frühstücksbuffet reichlich zu spät. So musstest du dich mit den letzten zwei Stück Vollkorngebäck (diese ovalen Dinger, die immer nach Sägespänen schmecken) und mit der viel zu sauren Kirschmarmelade zufrieden geben. Warum hat die der Vital-Opa nicht gegessen? Der isst ja sonst nur das Biozeug.
Aber die Wirtin war eh nett, denn die Frühstückszeit war offiziell seit 20 Minuten vorbei.
Der etwas dickliche Kellner begann bereits damit, fürs Mittagessen zu decken. »Heute ist kein gutes Wanderwetter. Es wird Regen geben« ließ er dich mit einem Blick auf deine Outdoorhose und auf deine Wanderschuhe wissen. »und morgen und übermorgen wahrscheinlich auch.« fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.
»Das macht nichts. Es gibt kein schlechtes Wetter, nur unpassende Kleidung.« war alles, was dir dazu einfiel. Schließlich hattest du einen Entschluss gefasst und die Aussicht auf Regen würde dich davon nicht abbringen können. »Aber danke für den Tipp!« hast du dem Kellner rasch noch hinterher gerufen, als der geschäftig in Richtung Küche verschwand.
Am Zimmer hast du eilig deinen Rucksack gepackt.
{Notiere folgende Ausrüstung: Taschenmesser, Handy, Taschenlampe, Notfalltasche (darin: Taschentücher, Pflaster, Jodtinktur, Notfalltropfen, Ersatzbatterien, Kondom*), Wasserflasche (voll), ein Vollkornweckerl mit Kirschmarmelade, Brieftasche (mit allen Ausweisen und 45 Euro Bargeld)}
Anm.: *das Kondom ist immer in der Notfalltasche, du hast einfach vergessen, es rauszunehmen. Ja, die Notfalltasche zählt, mitsamt allem Inhalt, als ein Gegenstand.
Der Rest des Vormittags war schnell vorüber. Der Ort war zu klein für einen Baumarkt, aber groß genug für einen Haushalts- und Eisenwarenhändler, ein alter Familienbetrieb. Du hast eine feste, schwere Brechstange aus dem Regal genommen, denn die einzige Schaufel, die's dort gab, sah für dein Vorhaben nicht stabil genug aus. An der Kasse bist du deiner Wirtin begegnet, die neben allerlei Reinigungsmitteln auch zwei große Edelstahltöpfe aus der Küchenabteilung in ihrem Einkaufswagen liegen hatte. Das einstudiert freundliche Lächeln des Wiedererkennens gefror ihr im Gesicht, als sie sah, was du dir ausgesucht hattest. Auch ein besonders energisches Lächeln deinerseits samt einem zaghaften Winken mit der linken Hand zeigte kaum Reaktion. Es war ihr anzusehen, wie die kleinen Zahnrädchen in ihrem Kopf emsig arbeiteten, in der Hoffnung, deine Erzählungen über den lange und penibel geplanten Singleurlaub mit diesem Ding in deiner Hand in Einklang zu bringen.
Aber da warst du schon dran mit Bezahlen. Froh über die Ablenkung, hattest du rasch den Markt verlassen, ohne dich noch einmal umzusehen.
{Ergänze deine Ausrüstung um: +Brechstange; -12 Euro}
Inzwischen hatte es leicht zu nieseln begonnen. Am Himmel waren dunkle Wolken aufgezogen – der Kellner sollte Recht behalten! Du zogst dir die Kapuze deiner Regenjacke über den Kopf.
Ohne noch einmal auf dein Zimmer zu gehen, machtest du dich zielstrebig auf den Weg zur Rabenwand. Die Strecke war im örtlichen Tourismusprospekt als "Rundwanderweg mit steinigem, teils steilem Hohlweg zur Rabenwand, um zwei Drittel des Rabenstein herum führend und über die Sauerwiese (nicht mehr bewirtschaftete Alm) sanft zurück ins Dorf; Gehzeit 4,5 Stunden, nur für trittsichere Wanderer" beschrieben.
– •°• –
Jetzt, zwei Stunden später, erreichst du schnaufend den Fuß der Rabenwand. Die Brechstange ist verdammt schwer!
{Ausdauer -2}
Der markierte Weg geht nach links weiter, nach rechts zeigt eine verwittertere Holztafel, ein mit rostigen Schrauben direkt am Fels befestigter Wegweiser: "Zur Einhornhöhle (und mit Handschrift darunter:) wegen Steinschlaggefahr gesperrt".
Da es ohnehin keinen sichtbaren Weg gibt, schlüpfst du durchs Unterholz, bei jeder Berührung einen Schauer aus Regentropfen von den Büschen auf dich herab schüttelnd. Als du schon nicht mehr dran glaubtest, hast du gefunden, wonach du gesucht hast: die Einhorngrotte.
Mit diesem unheimlichen Seufzen hat sie dich begrüßt.
Da stehst du nun. Bereit für dein Abenteuer.
Bitte wieder zurückblättern!