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1. Das Schiff

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Benedict Krzsymanski:

Da könnte ich doch manchmal an mir selbst irre werden. Ein wenig strahlende Feriensonne genügt, ein paar spielende Delphine, die vor dem Schiffsbug aus dem Wasser schnellen, ein bisschen lauer Wind, der die Haut mit seidenweichem Finger streichelt, und schon vergisst man die innere Berufung, mutiert zu einem schlichten Urlaubsbürger. Und damit noch nicht genug, auf einmal bringt es mir noch dazu Spaß, hin und wieder einen Seitenblick auf Tamara zu werfen, sie ist ja wirklich schön, wie ihr die leichte Meeresbrise so durch die Haare fährt, ihr eine blonde Strähne über die Augen legt, die sie dann mit lächelnder Ungeduld wegretuschiert, als führte sie einen Liebeshändel mit den Winden des Stillen Ozeans.

Bin ich, ein Mann der Physik, denn immer noch so primitiv programmiert, dass der alte Adam in mir auf derartige Reize wie ein Pawlowscher Hund reagiert? Längst sollte ich doch begriffen haben, dass genau darin der ganze Betrug unseres Lebens liegt. Immer wieder lassen wir uns von flüchtigen Reizen, etwas Sonnenschein oder einem Lächeln, betören. Dabei ist das alles nicht mehr als Gaukelei, Lüge und Schein. Das Meer ist das Meer ist das Meer, und meine Assistentin bloß Assistentin – nicht mehr und nicht weniger als eine halbwegs brauchbare Hilfskraft. Natürlich ist sie nebenbei auch eine junge und hübsche Frau, aber als Forscher hat mich das rein gar nichts anzugehen! Davor habe ich die Augen zu schließen, ganz bewusst und ohne Wenn und Aber.

Dennoch, immer gelingt das nicht, schon Beispiel gerade in diesem Augenblick nicht. Widerstrebend muss ich mir eingestehen, dass ich die biologische Programmierung sehr wohl in mir spüre. Ich kann einfach nicht umhin, hin und wieder auf die im Winde fliegenden blonden Strähnen zu schauen.

Welch ein Glück, dass meine hochachtenswerten Kollegen nicht über die Gabe der Hellsichtigkeit verfügen! Würde irgendjemand Krszymanski, den berühmten Nobelpreisträger für Physik, noch schätzen können, wenn er mir in die Hirnschale blicken und dabei entdecken würde, dass da neben dem Erfinder des Quantenhirns noch ein zweites armseliges Wesen haust, das der Nobelpreisträger mit seinen atavistischen Vorfahren, den Steinzeitmenschen ebenso teilt wie mit jedem x-beliebigen Mann auf der Straße? Wie gut, dass es diese undurchdringliche Hirnschale gibt und das erbärmliche Steinzeitwesen dahinter verborgen bleibt.

Ach, da steht ja Spiderton, der grient wieder einmal über das ganze Gesicht. Ich glaube, der bildet sich ein, dass wir alle nur in Erwartung des Gymnopterus hier sind – als hätte sich auch nur einer von uns wegen eines lächerlichen Vogels auf die Insel begeben. Bitte schön, wir sind hier in einer sehr ernsten wissenschaftlichen Mission. Das ist kein Schülerausflug. Ich verstehe schon, lieber Kollege, dass du die Dinge auf deine Art siehst, du bist der Erfinder dieses kuriosen Vogels und deshalb fachlich befangen und vorbelastet. Du hast dir den Vogel sogar auf den rechten Arm tätowiert. Sehr schlechter Geschmack für einen Gelehrten, das muss ich schon sagen, damit hast du dir keine Freunde gemacht.

Ist zwar ein toller Wissenschaftler, sagen alle, ein zweiter Darwin, aber davon einmal abgesehen ist der Mann schlichtweg verrückt. Und dann diese Haare! Warum hast du sie violett eingefärbt? Ob Gymnopterus ein violettes Federkleid trägt?

Seltsam, warum kommt Spiderton gerade jetzt auf mich zu? Manchmal frage ich mich, ob unsere Hirnschalen vielleicht doch nicht absolut dicht sind? Nein, so ganz ausschließen dürfen wir die Möglichkeit nicht, dass die elektrische Ladung eines Gehirns sich über eine gewisse Distanz einem anderen mitteilt. Eine bloße Hypothese, natürlich, aber sie würde vieles erklären. Jedenfalls hält Spiderton jetzt direkt auf mich zu.

Wissen Sie Newton, dass mein lieber Urvogel, Gymnopterus maximus, nach allem, was wir heute wissen, mit großer Wahrscheinlichkeit, ich möchte sogar von Gewissheit sprechen, das Vorbild war für den Vogel Greif aus Tausendundeiner Nacht? Seine Flügelspannweite betrug einmal ganze sechs Meter, da können wir uns mühelos vorstellen, dass ein Mensch in den Klauen des Maximus ebenso klein wird wie eine Maus, die von einem Adler gepackt wird. Allerdings hat das Federvieh die Fliegerei schon früh aufgegeben, seit etwa drei Millionen Jahren. Der Grund leuchtet ein: Auf Merson Island und den umliegenden Inseln hatte der Vogel keine Feinde. Also sind wir bequem geworden, haben unsere Flügel einfach nicht länger benutzt, und was man nicht benutzt, das verliert nach einiger Zeit seine Funktion. Dekadenz, nenne ich das, lieber Kollege, Dekadenz, wie sie im Buche steht.

Na ja, bis zum Jahre 1709 gab es auf Merson wirklich keine Feinde. Aber dann waren sie auf einmal da, für die armen Vögel wurde es lebensbedrohlich. Denn in diesem Jahre strandete dort die Glorious und spuckte mehr als ein Dutzend überlebender Meuterer auf die Insel. Da ist es uns – ich meine die lieben Vögel - so richtig schlecht ergangen, zumal wir die Ankömmlinge ja zunächst einmal sehr sympathisch fanden. Das waren zweibeinige Wesen ganz wie wir selbst. Deswegen haben wir sie ja auch voller Interesse begrüßt, vermutlich sogar mit naiver Begeisterung, denn eine Insel bietet ja an und für sich wenig Abwechslung. Also versuchen Sie bitte, sich diese Situation anschaulich vorzustellen! Einerseits meine Vögel, vertrauensselig und liebenswürdig, andererseits diese wilden ausgehungerten Meuterer.

Na ja, das traurige Ende der Geschichte war unschwer vorauszusehen. Die Meuterer liebten die Vögel auch, aber auf ihre Weise, nämlich erst, wenn sie gebraten waren. Das waren raue Leute, sie kamen aus einer Kolonialmacht voller Mordinstinkte und mussten zudem ums Überleben kämpfen. Natürlich hatten diese Barbaren keine Ahnung von dem wissenschaftlichen Wert meines Gymnopterus; ich fürchte, die Kerle hätten sich aber so oder so über den Nacktvogel hergemacht. Anders gesagt, die Tiere wurden zu einer leichten und, wie es scheint, überaus schmackhaften Beute für die verirrten Repräsentanten ihrer britischen Majestät. Ich halte es übrigens für durchaus möglich, dass sich die Handvoll Matrosen zwanzig Jahre lang überwiegend von Gymnopterus ernährte, solange der Vorrat an lebenden Exemplaren eben reichte. Als schließlich auch noch der letzte Vertreter des Vogel Greif im Kochtopf geendet war, starben auch die Matrosen aus. Na ja, das hätte ich ihnen natürlich voraussagen können.

Spiderton schwätzt und schwätzt. Hat er es denn nötig, seine Leistungen so an die große Glocke zu hängen? Darwin, du bist eine Kapazität, das wissen doch alle! Ein zustimmendes Lächeln kannst du durchaus von mir erwarten, aber keine leidenschaftliche Anteilnahme. Das nun ganz sicher nicht. Würde ich dir reinen Wein einschenken, dann müsste ich dir nämlich verraten, dass deine Vögel und deren Schicksal mir eigentlich herzlich egal sind. Gymnopterus hin oder her, was hat die Weltgeschichte mit dieser Kreatur zu schaffen? Ich, Krszymanski, habe es mit dem menschlichen Gehirn zu tun, also mit der wichtigsten Erfindung der Evolution, ohne die du, mein lieber Spiderton, deine Forschungen nicht einmal beginnen könntest. Das Gehirn ist die Grundlage, das Fundament, der Ursprung und Ausgangspunkt von allem, also etwas ganz anderes als dieses Federvieh. Glücklicherweise hast du es auch noch mit der Jungbrunnen-Genetik zu tun. Da treffen wir uns schon eher, da sind wir sogar Konkurrenten. Aber geh mir bitte nicht ewig mit deinem Vogel auf die Nerven! Wäre ich nicht auf akademische Höflichkeit gedrillt, hätte ich mich längst abgewendet, aber gut, so täusche ich halt ein Minimum an Interesse vor.

Immerhin, hatten Sie, lieber Spiderton, das gewaltige Glück, im Innern einer eiskalten Höhle die Reste von Knochen mit gut konserviertem Mark zu entdecken. Und dann noch die finanzielle Unterstützung durch Palmerstone. Das war eine in der Forschung überaus seltene und ausgesprochen glückliche Konstellation.

Gewiss doch! Das scheinbar Unmögliche ist uns gelungen. Wir haben den Riesenvogel aus den wenigen erhaltenen genetischen Resten wieder zum Leben erweckt. Ein Triumph für die Wissenschaft. Und wenn Sie wüssten! Nein, das werde ich Ihnen erst später verraten. Erst auf der Insel - Überraschungen müssen sein. Der Triumph ist nämlich viel größer, als Sie sich in Ihren kühnsten Träumen vorstellen können. Wir haben uns - sagen wir es in aller Bescheidenheit einmal so - noch einige zusätzliche genetische Spielereien einfallen lassen. Die Ergebnisse sind umwerfend, einfach toll. Newton, Sie werden verblüfft, Sie werden sprachlos sein.

Nur wird es doch beinahe schon ärgerlich. Ich muss mich wirklich zusammenreißen, um jetzt noch zu lächeln. Diese Selbstbeweihräucherung geht mir einfach zu weit. Ich glaube wirklich, dass Darwin allen Ernstes unter der Einbildung leidet, in unserer Runde so etwas wie der wissenschaftliche Senior zu sein.

Einige Kollegen haben die letzten Worte Darwins gehört und sind näher zu uns herangetreten. Ein köstlicher Anblick, sieht aus wie bei einem Faschingfest! Wirklich ein toller Spaß, gestandene Nobelpreisträger, lauter ehrwürdige Wissenschaftler im Sträflingsgewand zu erblicken, zwar nicht blau-weiß gestreift – das wäre denn doch eine Zumutung – aber in grün-weißen Farben, Männer wie Frauen. Der Lord ist wirklich ein Schelm und ein Sonderling.

Niemand kommt mir auf meine Insel, hat er uns wissen lassen, wenn er nicht vorher zu einem neuen Menschen wird. Also hat er uns per Dekret diese grün-weiße Aufmachung verordnet. Jetzt sehen wir aus, als kämen wir alle aus der gleichen Konservenfabrik. Vielleicht ist gerade das seine Absicht. Lord Palmerstone verteidigt die Egalität – unter geborenen Aristokraten kein allzu seltenes und jedenfalls ein Aufsehen erregendes Hobby. Es heißt, er habe sich in diese Art der Verkleidung während einer Reise nach Japan verliebt. In den Ryokans, den traditionellen Gasthäusern des Landes, legen Männchen wie Weibchen gleich bei der Ankunft die Alltagskleidung beiseite und werfen die gestreiften Sträflingskittel aus dünner Baumwolle über. Angeblich heißen die dort ebenso Kimono wie die herrlichen Festgewänder der Frauen. Die Sitte hat es dem Lord so sehr angetan, dass er nun alle, die seine Insel betreten, schon auf dem Schiff zu diesem Karneval verdammt.

Grotesk, so etwas kann sich wirklich nur ein englischer Lord ausdenken. Ich nehme an, dass er von diesem Spleen profitiert, vermutlich auf doppelte Weise. Seine angeborene Stellung macht ihm ja ohnehin keiner streitig, aber zusätzlich kann er sich mit egalitärer Vorurteilslosigkeit brüsten. In diesem Sinne hat der Lord uns alle zu Sträflingen degradiert. Der Mann ist ein leidenschaftlicher Sammler, allerdings nicht von Briefmarken oder Schmetterlingen, sondern er sammelt uns, die Geisteshelden des Globus. Merson Island will er zu einem Olymp des Geistes machen. Alles was in der Wissenschaft Rang und Namen hat, will der Lord in seinem Dunstkreis versammeln.

Und wir kommen wie der Hund, den sein Besitzer herbeipfeift. Palmerstone lockt uns mit Angeboten, die keiner von uns ablehnen kann. Er hält uns eine überaus schmackhafte Karotte vor Augen: sein phantastisches Vermögen. Ja, so ist es. Wir sind alle käuflich, jeder von uns. Deshalb haben wir die Sträflingskleider übergeworfen und lassen uns willig auf eine abgelegene Insel mitten im fernen Pazifik entführen.

Wenn nur diese verdammte Dogge nicht wäre! Dieses Riesenvieh. Jetzt hat es sich an meine Assistentin herangedrängt und schnüffelt an einer Stelle, wo man sie in der Öffentlichkeit nicht einmal berühren dürfte. Aber Tamara ist nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Ohne zu zögern greift sie der Riesendogge ans Halsband und schiebt sie von sich fort. Dieser Hund - wer ihn wohl mitgebracht hat? - könnte einem richtig das Vergnügen an dem herrlichen Tag verderben. Schnüffelnd und schnaufend jagt er in einem fort von einem zum anderen Gast.

Nein, beschweren will ich mich dennoch nicht. Diese Sonne, diese Weite, dieses Glitzern und Funkeln der Wellen, so weit der Blick reicht. Dieser glasklare, blaue Himmel, auf dem, nur um der Abwechslung willen, ein paar verirrte weiße Wolkenschäfchen schweben. Diese Unbeschwertheit. Nur bei Spiderton passt die Kleidung nicht recht, weil man auf seinem unbedeckten rechten Arm immer die Tätowierung vor Augen hat, aber meine Tamara zeigt in dieser Kleidung zum ersten Mal ihre Formen. Ich muss mir wirklich Mühe geben, nicht immer verstohlen auf ihr Haar und ihre Oberweite zu blicken. Nein, ich sollte das wirklich nicht tun. So viel muss doch ein für alle Mal klar sein: Zwischen uns darf es nichts anderes als ein strikt sachliches Verhältnis geben. Obwohl man natürlich streng logisch auch argumentieren könnte, dass eine Insel ein besonderer Raum ist, sozusagen extraterritorial. In solchen Räume könnten theoretisch andere Regeln gelten.

Solche Einfälle sind eine Qual. Sie erinnern mich immer wieder daran, dass mein biologisches Hirn grundfalsch programmiert ist. Für andere wäre das allerdings ein Grund zur Verzweiflung. Bei mir ist das anders. Ich trage immerhin die Gewissheit in mir, dass sich das alles bald endgültig ändern wird. Das Quantengehirn ...

Schön, wie dem schlanken Mann da vorn die Brise durch den Kimono fährt und die ganze Gestalt zu flattern beginnt! Der muss noch ganz jung sein, ich nehme an, nicht älter als fünfundzwanzig, allenfalls dreißig, ein wunderbares Alter. Außerdem hat er ein einnehmendes Gesicht. Jetzt nähert er sich Spiderton, rückt ihm geradezu auf die Pelle. Dem leuchtet die Begeisterung noch aus den Augen. Das ist so selten in unserer Wissenschaft. Für meine Begriffe spricht er allerdings etwas zu laut und zu selbstbewusst. Bei allem, was man gegen Spiderton sagen kann, ist er doch eine weltweit bekannte Autorität. Einer solchen Autorität sollte man mit etwas mehr Respekt näher treten, zumal wenn man noch nicht einmal dreißig ist.

Der Riesennacktvogel, ruft der junge Mann mit so lauter Stimme, dass ihn auch die ferner Stehenden hören, lateinisch Gymnopterus maximus, das ist nur eine der vielen Kostbarkeiten, die uns auf dieser Schatzinsel erwarten. Viel erstaunlicher finde ich persönlich denn doch den Barbarossa, den Vogel mit dem roten Bart. Wissen Sie, meine Damen und Herren, dass Rotbart eine Sensation unter den Papageien ist? Die meisten aus dieser Vogelgattung sind strikt monogam, aber Barbarossa bildet eine Ausnahme von der Regel - und daran trägt nichts anderes als dieser rote Bart die Schuld. Je länger der Bart, desto größer der Harem. Das ist bei den Barbarossas so etwas wie eine unverbrüchliche Regel. Ein Prachtexemplar mit weit nachschleppendem Bart braucht sich um Weibchen nicht zu bemühen. Toll vor Liebe fliegen sie ihm aus der ganzen Umgebung zu. Es ist unglaublich. Im Extremfall kann der Bart die Körperlänge des Vogels weit übertreffen und ihn so sehr beim Fliegen behindern, dass die prächtigsten Exemplare überhaupt flugunfähig sind!

Der junge Mann hat sich richtig in Rage geredet. Na ja, wie ich Darwin kenne, geht das auf keinen Fall gut. Ich weiß doch, wie Spiderton reagiert, wenn ein Außenstehender es wagt, über den Zaun zu klettern, in seine Domäne, sein Fachgebiet. Solche Anmaßung verzeiht er niemals und niemandem. Da braucht man auf den Ausgang einer solchen Verwegenheit gar nicht lange zu warten. Ich sehe schon, wie seine Nase sich kräuselt und seine Stirn zornige Falten wirft.

Junger Mann, da sagen Sie den hier Versammelten nun wirklich nichts Neues. Das ist der Wissenschaft schon seit langem bekannt.

Welch kurioser Vogel doch dieser Spiderton ist! Die Krallen des eintätowierten Phönix setzen sich bis in die Finger fort, während der Schnabel mit der Spitze den Ansatz von Spidertons Schulter berührt. Das hält der Mann für modern, aber mit dieser Geschmacksverirrung ist er nur ein Sündenfall für die Wissenschaft - so jedenfalls sehe ich diese Maskerade. Und dann noch der ballonartige Bauch! Man könnte glauben, der Mann wäre schwanger im neunten Monat. Ein solcher Bauch ist einfach unwissenschaftlich, hat Tamara einmal gesagt – und damit hat sie ja recht! Natürlich ist bleibt ein Bauch eine Privatsache, und deshalb halten wir alle ja nach außen hin brav unseren Mund. Seit Spiderton dem schwedischen König in dieser Aufmachung gegenübertrat, ist seine Erscheinung auch gewissermaßen offiziell. Da lässt sich gar nichts mehr sagen. Die Erscheinung ist sozusagen von höchster Stelle aus abgesegnet. Aber seine Gedanken wird sich immerhin noch erlauben dürfen, zumal er selbst gnadenlos ist. Er kanzelt jeden ab, der auch nur ein Wort in seinem Gebiet mitreden will.

Der junge Mann, das ist Jesus flüstert mir Tamara ins Ohr, so wird er von seinen Freunden genannt. Ein sensationell begabter Theologe. Man munkelt, dass Dr. Gottlieb Theophrast das ganze neue Testament und einen Teil des Alten auswendig hersagen kann.

Na schön, noch so ein Genie, habe ich mir schon gedacht! Dann passt der Mann ja bestens in unsere Runde. Offenbar lässt er sich von Spidertons kaltschnäuziger Zurechtweisung nicht beirren.

Barbarossa, meine Damen und Herren, stellt die Wissenschaft vor eine fundamentale Herausforderung. Ihnen brauche ich nicht zu sagen, dass die Biologen seit den Zeiten des ersten Darwin zutiefst überzeugt sind, dass nur die jeweils bestmöglich angepassten Exemplare der biologischen Evolution eine Chance auf Überleben haben. Dieser Glaube wird nun leider durch unseren Rotbart gründlich erschüttert, man könnte auch sagen: auf fulminante Art widerlegt. Gerade der Fluguntüchtige, der am wenigsten Angepasste, bringt die meisten Nachkommen hervor.

Alle Achtung, der junge Mann hat Courage. Er nimmt Spiderton direkt auf die Hörner. Das geht nun gewiss nicht gut. Da haben wir es schon: Spidertons Gesicht verfärbt sich vor Ärger.

Nun hören Sie aber auf, junger Mann! Es tut mir leid, Ihnen ein tiefes Unverständnis des wissenschaftlichen Konnexes bescheinigen zu müssen. Offenbar haben Sie nicht begriffen, dass hier sexuelle Selektion durch das Weibchen im Spiel ist. Der Bärtige gibt der Frauenschaft ein unüberhörbares Signal. Seht einmal, sagt er, ich kann kaum noch fliegen, ich bin den Feinden hilflos ausgeliefert, weil mich mein stattlicher Bart so mächtig zu Boden zieht, aber ich überlebe trotz allem. Muss ich nicht ein besonders toller Kerl sein und deshalb auch besonders begehrenswert?

Spiderton hebt den tätowierten Arm und den Finger mit der Kralle, er hebt ihn wie eine Pistole, mit der er direkt auf Jesus zielt. Ich glaube, dass er den Aufsässigen am liebsten erschossen hätte. Wenn Spiderton eines überhaupt nicht verträgt, dann ist es die Dreistigkeit eines Laien.

Er schüttelt die violette Mähne mit solchem Nachdruck, dass sogar der mächtige Bauch in wabernde Schwingung gerät.

Sehen Sie, junger Mann, es fehlt Ihnen schlicht an Einfühlungsvermögen in die weibliche Psyche, die, wie die meisten von uns ja aus persönlicher Erfahrung wissen, eine überaus komplexe Struktur besitzt. Als Theologe bringen sie für die hierzu notwendige Einfühlung vermutlich nicht die idealen Voraussetzungen mit.

Spiderton blickt sich um, aber das erwartete Gelächter bleibt aus.

Ich jedenfalls kann Ihnen als Fachmann versichern. Im Unterschied zu Ihnen begreifen die Weibchen den Bärtigen und seine Botschaft sehr wohl. Sie wissen, dass der Vogel mit dem längsten Bart vollkommen recht hat. Obwohl er sich kaum noch vom Boden erheben kann, ist er immer noch da. Wirklich erstaunlich. Eigentlich sensationell. Genau das wissen die Weibchen entsprechend zu würdigen.

Die lebhafte Auseinandersetzung hat unter den Anwesenden Betroffenheit ausgelöst. In meinem Rücken höre ich Murmeln, so leise, dass Spiderton nichts davon mitbekommt. Mir aber dringt das leise gesprochene Wort ganz deutlich ins Ohr. Irgendjemand murmelt da ein Wort, das sich wie „Papageienhirn“ anhört.

Ich drehe mich um und bemerke die eindrucksvolle Gestalt eines Mannes, der sich die Pfeife offenbar gerade eben erst aus dem Munde zog, um das bewusste Wort zu murmeln. Der Mann hat ein breites, freundliches Gesicht. Wüsste gern, wer das ist.

Nach dem Schlagabtausch verläuft sich die Runde – vermutlich fühlen sich alle etwas verärgert. Der Nachmittag ist so freundlich, die Sonne so mild, die Luft so einschmeichelnd weich. Da passt ein Streit einfach nicht zu unserer erwartungsfrohen Stimmung. Ich gehe in Richtung Bug und lehne mich über die Reling. Dort unten schwimmen noch immer die Delphine mit dem Schiff um die Wette. Sie schießen aus der Tiefe nach oben, kurz glänzt ihr Rücken silbrig auf, dann verschwinden sie erneut in der Tiefe. Sie tun es unermüdlich, treue Begleiter eines Schiffes, dessen Nutznießer sie nicht einmal kennen. Vielleicht ist diesen Tieren ein spezielles Gen eingebaut, ich meine für Lebensfreude, das bei uns Menschen leider vergessen wurde.

Nein, vielleicht doch nicht ganz vergessen. Heute verspüre ich so etwas wie sorgenfreie Zufriedenheit, ob man das Glück nennen darf? Jedenfalls ist es so angenehm, dass dir der warme Wind beinahe ungehindert durch das dünne Sträflingsgewand bis auf die Haut durchbläst! Unter dem Kimono tragen wir ja nichts als Unterhose und Unterhemd. Da spürt man den Atem des Meeres.

Tamara tritt an mich heran.

Das war Maximilian Wendell, sagt sie, der bekannte Psychologe, seine Freunde nennen ihn Freud.

Freud? sage ich. Dann haben wir also auch einen Seelenspion in der Gruppe? Diese Leute habe ich, ehrlich gesagt, nie sonderlich ernst genommen. Sie bilden sich ein, Wissenschaft zu betreiben, in Wahrheit tischen sie uns nichts als Märchen auf, aber immerhin macht er einen freundlichen Eindruck.

Der rothaarige Riese dort in der Gruppe, fährt Tamara fort, das ist ein Ire, James McGall, Lord Palmerstones Mann für alles. Neben ihm, die Frau mit den Schlitzaugen, ist Manni Zhou, eine Superdatistin, weiß immer noch nicht, was das ist. Es heißt, dass in ihrem kleinen Kopf die Datenströme aus aller Welt zusammenfließen. Den zerknitterten Mann neben ihr, scheinbar achtzig Jahre alt, in Wahrheit aber erst um die vierzig, den kennen Sie sicher vom Fernsehen. Das ist Peter Pinkelbein, der Neurologe.

Ich weiß, sage ich, wer würde Pinkelbein nicht aus dem Fernsehen kennen? Den Einstein der Neurologie nennen sie ihn. Im Fernsehen sieht er natürlich viel jünger aus, aber mit ausreichend Schminke bügelt man jedes Gesicht wieder glatt. Den Nobelpreis hat er sich übrigens redlich verdient, Pinkelbein ist eine unglaubliche Koryphäe. Die ganze Neurologie hat sich in seinem Schädel wohnlich eingerichtet. Man sagt übrigens, dass er ohne seine Frau völlig hilflos sei. Sogar bei seinen Vorlesungen ist sie zugegen, eine wahre Xantippe. Und hinter ihm, da steht doch dieser, wie heißt er noch?

Das muss Tentor Tentorius sein, der Mann mit der Dogge.

Richtig, in der Wissenschaft ist auch Tentorius ein Begriff, schon deshalb, weil niemand ihn leiden kann. Nur der Teufel experimentiert noch mehr mit Schwefel als er.

Und der da der Kauz an der Reling, der den Delphinen zuwinkt.

Das ist der Retter, wie ihn boshafte Stimmen nennen, ein enfant terrible, der die Wissenschaft als satanisches Werk bezeichnet, ein Verrückter, ein ...

Wir kommen nicht dazu, weitere Betrachtungen anzustellen, denn im gleichen Augenblick tritt der Kapitän auf die Brücke.

Land in Sicht! Merson Island. Schauen Sie dort hinten, der grüne Berg.

Die Weltenretter

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