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4. Hass und Liebe

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Gottlieb Theophrast (genannt Jesus):

Mein lieber Herr, mein gnädiger Gott! Von dieser Zusammenkunft verspreche ich mir vieles, einen Kraftschub, vielleicht eine Wende, die einen Neuanfang für mein künftiges Leben bedeutet. Zu keiner Zeit war ich mir Deines Willens und Deiner Gnade so unmittelbar bewusst und gewiss. Wem ist es schon vergönnt, zwei Wochen in engstem Verkehr mit den größten Geistern dieser und vermutlich aller anderen Zeiten in täglichem Gespräch zu verbringen? Und noch dazu geht es um die größte Aufgabe überhaupt: Es geht darum, den Planeten vor unserem sündigen Tun zu retten! Ich weiß, dass ich selbst der Geringste bin, ein Nichts angesichts der Aufgaben, denen wir in unserer Zeit gegenüberstehen, aber dank Deiner Gnade bin ich vielleicht nicht ganz unbegabt, als Helfer den Helfenden zu dienen, wie unwürdig ich als Person dieser Auszeichnung auch bin. Jedenfalls werde ich mein Bestes geben, um mich der großen Gelegenheit würdig zu erweisen. Ich bin entschlossen, mich mit ganzer Kraft für das Wohl der Menschheit einzusetzen.

Der englische Lord flößt mir den größten Respekt ein. Allein dieses Schloss – es ist mit so viel Liebe und Können erbaut! Es gehört schon etwas dazu, sich mitten im Stillen Ozean, wo man von niemandem dafür bewundert wird, ein solches Herrenhaus zu errichten. Das spricht für Idealismus, Bescheidenheit und Charakterstärke. Alles ist hier auf vornehme, wenn auch auf englisch zurückhaltende Art gestaltet. Der doppelgeschossige Haupttrakt etwas nach hinten versetzt, die beiden Seitenflügel ein wenig nach vorn verlagert, aber niedriger gehalten. Diese Gliederung besticht durch Klarheit und Eleganz.

Vom Dienstpersonal – den Lord habe ich noch nicht gesehen – werden wir erst einmal in den Haupttrakt geleitet. Hier befinden uns vor einer mächtigen Treppe, auf der bequem vier Personen nebeneinander Platz finden würden. Zu beiden Seiten ist das Geländer mit allerlei geschnitzten Fantasiefiguren verziert, offenbar aus der heidnischen Mythologie. Der Lord ist nicht nur reich, sondern obendrein ein Humanist und Philosoph. Alles atmet hier erhabene Gelehrsamkeit, wie sie nur die Muße und Begeisterung für die Wahrheit schenkt. Die übrigen Geladenen zeigen sich ebenso beeindruckt wie ich; alle blicken sie still und scheu zu den Gemälden an den Wänden und der blauen Himmelskugel mit den geflügelten Engeln, die hoch oben über der Treppe als Fresko das Deckengewölbe ziert.

Nein, nicht alle, ein untersetzter Mann mit grobem Gesicht kümmert sich nur um seine Dogge, die mit beständigem Schnüffeln von einem Besucher zum anderen läuft. Jetzt drängt sie sich gerade einer Frau mit ostasiatischem Aussehen auf. Eigentlich eine Zumutung, dass der Mann das Vieh nicht zurückruft. Der Hund und sein Besitzer sehen sich überhaupt zum Verwechseln ähnlich, der Herr so hässlich wie das Gescherr.

Wie schön diese Frau ist - schon auf dem Schiff habe ich sie bewundert. Der Herkunft nach muss sie Japanerin oder Chinesin sein. Sie wurde als Manni Zhou angeredet, also ist sie wohl eine Chinesin. Ich fühle mich gleich dazu ermuntert, Gott dafür zu danken, dass er so vollkommene Menschen erschafft. Natürlich darf man nicht nur auf das Äußere blicken, ich als Theologe schon gar nicht, aber auch die körperliche Schönheit war für mich immer ein Beweis für die Existenz eines gütigen Gottes. Oder hätte der Teufel etwa das Schöne erfunden? Gewiss nicht. Ich bin sicher, dass sich in einem so wunderbaren Körper nichts als die reine Güte verbirgt.

Es fällt mir auf, dass die ins Obergeschoss führende Treppe von einer roten Kordel abgesperrt wird, ein Schild hält uns in großen Lettern die Aufschrift „privat“ entgegen. Unsere Zusammenkünfte sind demnach auf die großen Säle hier unten im Parterre beschränkt. Ich lasse es mir nicht nehmen, einen Blick durch die breite Flügeltür auf der linken Seite zu werfen, offenbar ist das der Speisesaal. Auf der rechten Seite lese ich über der Tür die Worte „Hall of the Enlightened Spirit“, Halle des erleuchteten Geistes. Hier fühle ich mich zu Hause, schon beim ersten Hinschauen erkenne ich das Streben nach Höherem!

Aber natürlich kümmert man sich zunächst um unsere physischen Belange. Zimmernummern werden vom Dienstpersonal auf kleinen Karten verteilt. Die jungen Mädchen tragen alle das gleiche graue Gewand, aber mit recht großzügigem Dekolleté, was mich doch einigermaßen erstaunt, aber natürlich man muss das warme Klima in Rechnung stellen. Unsere Unterkünfte befinden sich im linken Seitenflügel des Schlosses. Um dorthin zu gelangen, fordert man uns auf, erneut ins Freie zu treten.

Mein Zimmer ist im ersten Stockwerk gelegen, während die meisten älteren Herren im Parterre untergebracht sind. Auch die schöne Chinesin wird im ersten Stock einquartiert, nur wenige Türen von meinem Zimmer entfernt. Ich trete ein. Zwei mächtige, dunkelrote Vorhänge verhängen die Fenster. Ein gewaltiger Schreibtisch, besser gesagt ein Sekretär, der mit all seinen Fächern und Laden einen höchst geheimnisvollen Eindruck erweckt, steht mitten im Raum. Wirklich, ein würdiges Möbelstück. Es scheint den Ankömmling geradezu aufzufordern, sich in Ruhe niederzusetzen, den Kopf von allen überflüssigen Gedanken zu leeren und in voller Konzentration die wichtigen Einsichten eines Tages in Gelassenheit niederzuschreiben.

Das werde ich in Kürze mit Sicherheit tun. Aber im Augenblick fühle ich mich noch von den vielen auf mich einstürmenden Eindrücken überwältigt. Was mich stört, ist das breite Ehebett, in dem ich hier schlafen soll. Als Theologe ziehe ich ein schlichtes hölzernes Lager vor. Bequemlichkeit zählt für mich nicht, ein Ehebett lässt nur zu leicht Gedanken aufkommen, die in meinem Kopf keinen Platz haben dürfen. Andererseits sehe ich ein, dass man die Zimmer nicht für Einzelpersonen wie mich extra herrichten kann. Unter den Gästen des Lords werden sich eben nicht selten auch Ehepaare befinden.

Ich gönne mir eine kurze Ruhepause, setze mich auf den Stuhl vor dem Sekretär und will gerade damit beginnen, das eine oder andere Fach zu öffnen, als mein Blick zur Tür hinüber auf einen dort angeschlagenen Zettel fällt, der mit roter Schrift unfehlbar die Aufmerksamkeit auf sich lenkt.

Der Anblick verblüfft mich. Der Lord hat es doch gewiss nicht nötig, nach Art eines Hotels Preise und Bedingungen für die Nutzung seiner Räume bekanntzugeben! Ich trete an die Tür, um die Botschaft zu lesen.

Meide Liebe und Hass – sie sind der Ursprung aller Verwirrung

Wer Hass und Liebe bezwingt, unterwirft sich selbst und die Welt!

Also nichts von Zimmerpreisen, sondern eine Ermahnung – und noch dazu was für eine! Ein derartiger Spruch ist mir noch nie zu Gesicht gekommen. Hass ist ein Gift, das zwischen Menschen tödliche Feindschaft stiftet. Hass ist der Ursprung aller Verwirrung. Da gebe ich dem Lord unbedingt recht. Aber die Liebe als Ursprung aller Verwirrung. Das kann ich nicht dulden, dieser Spruch gehört nicht hierher. Das ist eine ganz und gar unchristliche Botschaft. Ich bin empört. So etwas darf man nicht sagen. Ist Lord Palmerstone etwa ein Heide?

Gott hat seinen Geschöpfen die Liebe geschenkt. Es ist das größte Geschenk überhaupt. Wie kann Lord Palmerstone sie mit dem Hass auf ein und dieselbe Stufe stellen?

Ich weiß schon, der Lord denkt an die fleischliche Liebe. Die kann natürlich große Verwirrung stiften. Das ist jedem bekannt und braucht nicht besonders betont zu werden. Immer schon haben Verliebte die größten Torheiten vollbracht. Wer das nicht weiß, braucht nur regelmäßig in die Oper zu gehen, um sich alles einschlägige Wissen auf schnellste Art anzueignen. Da lernt man sämtliche Dummheiten kennen, die je im Namen der Liebe begangen wurden.

So gesehen, bin ich mit dem Lord ganz einer Meinung. Aber wie ist es möglich, dass dieser bedeutende Mann die Liebe Gottes und die geistige Liebe seiner Geschöpfe einfach in eins mit den Verirrungen der fleischlichen Liebe setzt? Das ist doch die schlimmste Ketzerei überhaupt. Und außerdem wissen wir modernen Theologen, dass selbst die fleischliche Liebe ein Abglanz der geistigen ist, wenn auch manchmal ein trüber Abglanz ihres des göttlichen Ursprungs.

Ich fasse mir an die Stirn. Ja, ich bin zugleich verwirrt und enttäuscht. Auf Merson Island hoffte ich, einen Weisen anzutreffen, aber Lord Palmerstone hat sich mit diesem Spruch geistig verirrt. Ich werde ihm ins Gesicht hinein sagen, dass er sich an unserem Glauben und an der Botschaft der heiligen Schrift versündigt.

Ja, da ist ja auch noch die zweite Zeile. Die habe ich bisher ganz übersehen. Hier deckt der Lord seine eigentlichen Beweggründe auf. Es geht ihm um Selbstbeherrschung. Sehr gut, das kann man durchaus billigen. Aber mit der Selbstbeherrschung gibt er sich nicht zufrieden. Er strebt nach der Beherrschung der Welt. Da wird mir zum zweiten Mal schwindelig. Die Herrschaft über die Welt gehört keinem Menschen, sie darf nur in den Händen Gottes liegen. Leidet Lord Palmerstone etwa an Größenwahn? Wohin bin ich hier geraten?

Die Weltenretter

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