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Vom Geschmack der Kindheit

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In diesem Buch wird dem Mund das Primat eingeräumt. Er gehört zu den ersten Instanzen, die die Welt der Erscheinungen erschließen. Tastend und schmeckend lässt er sich auf ihre Verführungen ein. Die Liebe zum Draußen, sie entsteht in der Höhle des Mundes: eine Erkundungsstation in Gaumen und Rachen. Die Lippen und die Zunge, später die Zähne, assistieren den frühen Abenteuern der Einverleibung. Der Mund eröffnet Duft und Geschmack einen Raum, er erfährt Mut wie Vorsicht, Schönes und irritierend Verwunderliches und das alles in einer Lebensphase, in der das Ich von seinem Vermögen und Verlangen noch gar nichts weiß – bis auf die gefühlte Zuversicht, dass es im Draußen etwas zu entdecken gibt, das wie eine Erweiterung des Drinnen daherkommt. Das orale Gedächtnis bewahrt die Erinnerung an eine Zeit, als das Kosten Empfindungen auslöste, lange vor jeder sortierenden Erkenntnis – Momente, in denen sich der Spürsinn des Leibes in der »Wissenschaft des Konkreten« übte.

Das Spektrum der hier zusammengestellten kuriosen und wie zufällig wirkenden Anlässe gilt Erlebnissen und apriorischen Schlussfolgerungen, die ins Vergessen abgesunken und doch nie ganz verschwunden sind. Wir sprechen Dimensionen des erkennenden Lebens an, die zum Erfahrungsschatz der frühen Kindheit zählen, über die sich der große Schleier der Gewohnheit gelegt hat und die darauf warten, als »unwillentliche Erinnerungen«, wie Marcel Proust sie genannt hat, wiedergefunden zu werden. In der Madeleine-Episode heißt es: »Geruch und Geschmack werden noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles Übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermessliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen«.

Wenngleich den hier zu Klassikern geadelten Gaumenfreuden der Status von Akteuren zugeschrieben scheint, sind wir es doch, die von ihnen ergriffen werden; sie liefern den Stoff für eine unaufhaltsame Tendenz des Leibes, das Erkennen zu erweitern. Nicht enzyklopädisch, sondern subjektiv und exemplarisch haben wir Dinge und Sensationen ausgewählt, deren Geschmack den Erfahrungsraum gegenwärtig machen, dem sie einst entstammten. Die Natur, in rohem oder bearbeitetem Zustand, gibt die Perspektive vor, initiiert in ihrer sensorischen Attraktion ein Weltverstehen und damit ein Selbstverstehen, von der Wahrnehmung angelockt, vom haptischen Erschließen, mit dem Mund in Fahrt gebracht und geeignet, sich bis zu einem flüchtig einbrechenden »Weißtdunoch?« zurückzuziehen. Entstanden ist eine Hommage an die frühen Wonnen der Oralität, die Wonnen nur in dem Maße haben werden können, in dem sie sich dem Irritierenden nicht verschlossen und in mühsamem oder auch lustvollem Streiten mit dem Ungenießbaren einen Platz im Empfinden erobert haben.

Im Geschmack der Kindheit schlummern die Vorboten der Urteilskraft. Wer unserem Vorhaben intellektuell Pate gestanden hat, ist unschwer zu erkennen: Mit den Werken Jean Piagets und Sigmund Freuds liegen die geistigen Fundamente einer Rekonstruktion des frühen menschlichen Vermögens vor, wie sie nie wieder derart subtil niedergeschrieben wurde, ergänzt um die Reflexionen Maurice Merleau-Pontys, der die Leiberfahrung als eine affektiv wahrheitsgemäße Objektivation des Daseins verstanden hat. Ihren Forschungen verdanken wir die Einsicht, dass sich die sensomotorische Aktivität und das Einverleiben als eine unerschöpfliche Quelle reichhaltiger Eingebungen, origineller Schlüsse und Sinnstrukturen verstehen lässt. Die Formen der Welterschließung, die Kindern in der Spannung von Rohem und Gekochtem, Tierischem und Pflanzlichem, Festem und Weichem, Heißem und Kaltem als geschmackliche Wunder oder Schrecken begegnen, repräsentieren alles andere als eine vorrationale Verirrung des rationalen Denkens. Sie spiegeln Gedanken aus einer magischen Zeit, die einer Logik gehorchen, wie sie Claude Lévi-Strauss in seinen Arbeiten zu den Mythologien der Völker erschlossen hat.

Wer phänomenologisch reflektiert, verliert sich leicht in der Unmittelbarkeit und übersieht die Linien, die die Erfahrung in die Wahrnehmung gezogen hat. Deshalb sei das historisch Besondere unserer Sammlung kurz skizziert. Unverkennbar entstammen die Erinnerungen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als aus den Trümmern der Anstoß zu einer vorsichtigen Lebenszugewandtheit erwuchs. Während der Zeit der Knappheit, eingedenk der Erfahrung des Hungers, war es geboten zu essen, was auf den Tisch kam. Zwischen Notwendigem und Überflüssigem zu unterscheiden, bildete die Grundlage der Gewohnheiten. Über das Essen nachzudenken, dergleichen gab es kaum; ob etwas bekömmlich war, galt als eine Frage des Maßes. Informationen über Nährstoffe und den Kaloriengehalt, geschweige denn Intoleranzen oder Allergiepotentiale, waren allenfalls Bestandteil von Folklore, nicht mehr als implizites Wissen. Von zuviel Senf, so hieß es, bekomme man Pickel, Spinat enthalte reichlich Eisen, Fisch wichtige Vitamine – auf dergleichen Alltagswissen beschränkten sich die Essensregeln. Das kulinarische Wohlergehen zählte nicht zur Philosophie des Lebens, geschweige denn, dass es je Gegenstand des Familiengesprächs oder gar angestrengter semantischer Verfeinerung geworden wäre. Der Speisezettel war dem Wechsel der Jahreszeiten unterworfen, war Nebensache und heilig zugleich – zwei Dimensionen, die dem Essen Würde verliehen ohne die grelle Aufmerksamkeit, die ihm in unserer heutigen Gesellschaft entgegengebracht wird.

Was für die Eltern eine Anstrengung bedeutete, hatte sich den Kindern eher vermittelt mitgeteilt – das Essen zu respektieren, derartige Mahnungen zählten zum Alltag, riesig die Freude der Kinder, wenn es das gar nicht selbstverständliche Süße gab, dessen wortloser Trost schon früh zu allen erdenklichen Manövern des Hinauszögerns Anlass gab. Süßigkeiten bildeten die große Ausnahme, etwas üppiger verteilt an den Feiertagen, sehnsüchtig erwartet an Geburtstagen oder auch mal, wenn die Verwandten oder Nachbarn zu Besuch kamen. Fürs Naschen galt es, sich einer ausgeklügelten Strategie des Anschleichens zu den versteckten Leckereien zu bedienen.

Für die Kinder musste es genügend Soße geben. Der Routine des Kochens ausgeliefert, taten sie, die im Einerlei des Hinzunehmenden mal Gourmands, mal Gourmets waren, im übrigen gut daran, sich in der Kunst des Herunterwürgens zu üben. Schmalhans war Küchenmeister – Fernsehköche oder Kochkurse gab es nicht. Das Gefühl für Gerechtigkeit entstand bei Tisch. Pedantisch wurde unter Geschwistern etwa darauf geachtet, dass bei den Buchstabenkeksen, Russisch Brot genannt, das »I« und das vielbeinige »M« oder »W« in gleichen Teilen auf die Teller verteilt wurde. Einzig das Weihnachtsfest und der Advent eröffneten mit »Apfel, Nuss und Mandelkern«, Datteln, Feigen und Pistazien eine heilige Zeit im Kalender, überwältigend opulent, als hätten die drei Könige aus dem Morgenland einen Zwischenstopp im Elternhaus eingelegt.

Dass auch unter den historisch besonderen Bedingungen der Kargheit ein Gespür für das Gute des Essens entstand, hat mit dem Wesen des Geschmacks zu tun. Er setzt nicht Theorie oder Belesenheit voraus, nicht Erkenntnis, sondern gründet in der erfahrungsgeschulten Klugheit des Empfindens. Nun liegt uns fern, diese Klugheit zu verklären. Eher sind wir bemüht, das geschmacklich Vertraute, das wir vergessen haben, von innen her zu verstehen, und vom Schicksal, Fetisch zu werden, zu befreien – eine gedankliche Bewegung, die gerade zugänglich ist, wem es gelungen ist, zu vergessen. Treue zur Kindheit bewahrt, wer vorm Erwachsensein nicht davonläuft und den frühen Erfahrungen nicht nachtrauert.

Die im folgenden versammelten Zugänge zum Erlebten stellen nicht mehr als einen Versuch dar. Unterschiedlich lassen sie sich lesen, als Propädeutikum für eine Phänomenologie der Geschmacksbildung, als Führer einer Bildungsreise zurück zu den Anfängen des eigenen sinnlichen Vermögens oder als Kommentar zu einer Soziologie der Mahlzeit. Wer nach einer Vorlage sucht, dem seien Robert Schumanns »Kinderszenen« empfohlen, um auf das einzustimmen, was den Leser an kulinarischen Causerien erwartet: eine Sammlung von Miniaturen oder, wie der Komponist selbst es formulierte, »Rückspiegelungen eines Älteren und für Ältere geschrieben«. An jeder Stelle läßt sich beginnen, und ähnlich wie das Essen und Trinken mit dem Atemholen in dynamischem Gleichgewicht erfolgt, so lädt das Lesen zum Verweilen ein. Innezuhalten mag auf den schönsten Schatz einstimmen, der im Oralen geborgen ist. Im überaus sensiblen Areal des Mundraums gewinnt die vokale Geste Kontur, entstehen Kraft und Klang der Stimme. In deren Resonanz spüren wir uns und werden unserer Gegenwärtigkeit gegenüber dem anderen gewahr, und ohne dass erinnerbar ist, wie sie ihren Weg zum Singen und Sprechen gefunden hat. Im Lallen und im Brüllen, im Krächzen und Grunzen, im Seufzen und Schnaufen zu einem unverwechselbaren Timbre geschult, in den hellen Koloraturen des Soprans ebenso wie, nach ihrem Bruch, im dunklen Ton des noch kaum vertrauten Bass, variantenreich und verspielt, im Wimmern wie im Jubel unverkennbar, ist die Stimme in allen Künsten der Verstellung zuhause und noch in der Vielfalt ihrer Variationen Zeuge eines unverwechselbaren Selbst.

Der Geschmack der Kindheit gibt Raum für das Atmosphärische, umspielt die Lust auf das Sprechen, das, zum Ruf und zur Kundgabe, zur Bitte und zum Dank verwandelt, das Draußen der Welt im Drinnen der Person zum Klingen bringt. Der Mund geht auf – den anderen zu erreichen, ist sein ewig strebender Wunsch.

Der Mund ist aufgegangen

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