Читать книгу Der Mund ist aufgegangen - Tilman Allert - Страница 7
ОглавлениеSüßer Schmerz
Himbeerbonbons
Das Gute erscheint selten unmittelbar, es bevorzugt den Auftritt in der Verhüllung. Sie verzögert, erhöht die Erregung und kitzelt die Vorfreude. Nicht so beim Himbeerbonbon, lange Zeit ein Solitär unter den frühen Wonnen der Oralität. Verlockend war es aufgrund seiner Nähe zum schnellen Verzehr. Schnörkellos seine Präsenz, wurde es unter Hunderten seinesgleichen mit einem Griff aus dem bauchigen Glas geholt und direkt in die offene Hand gereicht wie die Scheibe Lyoner beim Metzger, als Geschenk beim Einkauf mit der Mutter oder auch schon mal gegen einen Pfennig eingetauscht. Umwege wie etwa beim Marzipan oder beim Karamelbonbon, die geschmacklich zu einer anderen Liga gehörten und deshalb zweifach akkurat und fein umhüllt waren, gab es beim Himbeerbonbon nicht: Unverpackt war es zum Klassiker geworden. Als Bonbon war es eine ehrliche Haut, sein plumpes Aussehen vertrauenerweckend – eine Kugel zwar, aber irgendwie ramponiert durch das Gedränge unter den vielen, mit denen zusammen es aufbewahrt wurde – und erst recht in dem Zustand, in dem es in der Tüte mit den hellblauen Sternchen als Wochenration tief unten in der Hosentasche sein Dasein fristete.
So herrlich es schmeckte, so prekär waren die ersten Minuten seines Auftritts, ein Gaumenschreck – in krassem Gegensatz zum fruchtigen Original vom Strauch, dem eher das Gelupft- als Gepflücktwerden würdig schien. Es dauerte eine Weile, bis das zuckrig Harte des Bonbons auf die Größe einer glatten Murmel abgeschmolzen war, die sich unterm Gaumen hin- und herrollen ließ oder der man großzügig Ausflüge in die entferntesten Winkel des Mundraums gestattete. Ja, im geduldigen Lutschen – was für ein Wort für die hohe Kunst des sublimierten Konsums – zollte man seiner Anwesenheit dadurch Respekt, dass man ihm gestattete, beim Sprechen zu lauschen. Diese Lässigkeit, es im Mund herumlungern zu lassen, hatte ihren Preis. Das Bonbon war geschickt, und je heimischer es wurde, desto tollkühner konnte es sich gebärden. Dabei passierte es manches Mal, dass es, eben noch hoch in der Gaumenkuppel turnend, plötzlich abstürzte und viel zu früh verschwand und dazu womöglich noch kaum verkleinert. Das Verschlucken: ein kleiner Weltuntergang! Einen Augenblick lang schaffte es das Bonbon, jede Aktivität zu stoppen, die einem kurz zuvor noch wichtig erschienen war. Sein Abgang in den Schlund entfaltete sich als verwirrend mühsam. Das rumpelnde Rumoren in der Herzgegend war noch zu spüren, wenn es längst den Magen erreicht hatte, und das Gefürchtete – die Blockade mit anschließender Ohnmacht und Ersticken – ausgeblieben war. Im Moment des Schreckens konnte das Wissen kaum beruhigen, dass neben der einen Röhre wohl noch eine weitere lag, die eine fürs Essen und Trinken zuständig war, während die andere sich aufs noch viel wichtigere Atmen spezialisiert hatte. Der Ärger darüber, dass sich das Bonbon in einem Akt der Dreistigkeit auf und davon gemacht hatte, lenkte schließlich von der nagenden Sorge ab, ob vom einst willkommenen Gast, der unvermittelt zu einem Fremdkörper im eigenen Leib geworden war, womöglich späterer Aufruhr zu gewärtigen sei.
Bis man der Verlockung erneut verfiel, dauerte es eine Weile.
Der Liebesapfel
Der Liebesapfel, wie alles Runde eine überwältigende Augenweide, eine funkelnde Versuchung, zum Greifen nahe, hatte auf der gläsernen Theke der Kirmesbude seinen glänzendsten Auftritt. Um von ihm verführt zu werden, brauchte es keine Schlange. Ähnlich wie bei der Zuckerwatte vom Stand nebenan, die in ihrer wolkigen Fülle darauf aus schien, ihren Besitzer in einen Kokon aus tausend süßen Fäden einzuspinnen, verlief auch beim Apfel der erste Kontakt nicht ohne Überraschungen. Sein unwiderstehlicher Prunk – mit der glänzenden Oberfläche einem kostbaren Porzellan zum Verwechseln ähnlich – erwies sich als eine Festung, uneinnehmbar, eine Provokation für das Mahlwerk des Mundes. Er stellte ein kompliziertes Unterfangen für den Unterkiefer dar, zum einen durch seine Größe und die dickwandige Glasur, zum anderen durch den dünnen Stift aus Holz, auf dem man ihn hielt, eine wackelige Angelegenheit von Anfang an.
Äußerste Vorsicht war somit angesagt, da der Apfel, der Schwerkraft gehorchend, jederzeit von seinem labilen Gestell wegkippen konnte. Forderte allein schon das Balancieren der begehrten Trophäe besonderes Geschick, auf das sich zu konzentrieren so lästig war, dass es den bevorstehenden Genuss zu vergällen drohte, so stellte sich mit der Frage, wie überhaupt vorzugehen, wie und an welcher Stelle mit dem Beißen zu beginnen sei, ein nächstes Problem. Viel weiter kam man auch dann nicht, nachdem man sich entschlossen hatte, die Wackelpartie mit dem lächerlichen Stift aufzugeben und den kandierten Apfel in beiden Händen zu halten, ihm in der Zwinge zu Leibe zu rücken.
Das Klebrige ist der Preis der Liebe, und folglich blieb kein Finger von den Folgen der beherzten Annäherung verschont. Unmöglich, mit einer kleinen Portion zu beginnen, die Zähne wären abgerutscht. Aussichtslos war es, die Lippen zu bemühen, sie standen vor einer Wand, waren für diese Aufgabe zu schwach, wenngleich sie von ihrer Nähe zur Lust her bereit gewesen wären, sich dem Unternehmen hinzugeben. Zweifellos wäre auch die Zunge in der Lage gewesen, die karmesinrote Festung zu schleifen, liebevoll sogar. Mit einsturzgefährdeten Mauern wusste sie umzugehen, wie sie dies in geschulter Kooperation mit den Lippen an der hauchdünnen zartbitteren Kappe des Schokokusses bereits bewiesen hatte. Aber wie lange hätte das gedauert?! Aufschlagen also – ein Frevel, außerdem, womit? Und da das Objekt der Begierde, an dessen strahlendem Rot sich die Augen nicht hatten sattsehen können, eben so unwiderstehlich war, übernahmen es dann schließlich doch die Zähne, ihm zuleibe zu rücken, Ausgang ungewiss.
Ein Zurück gab es nun nicht mehr, den Liebesapfel in der Hand wurde man nicht so leicht wieder los. Aber der erste große Biss, der geschafft war, erst recht alle weiteren, die entlang der Risse in der bröckelnden Fassade des Kandis folgten, sie lohnten die Mühe, die die Frucht mit der knackigen Hülle zur sensationellen Textur verschmolz.
Ein gewöhnlicher Apfel, einer, wie man ihn täglich mit auf den Schulweg bekam und insofern ohne kulinarische Attraktion, war plötzlich geadelt durch die festliche Robe, und man nahm ihn Stück für Stück andachtsvoll zu sich. Rote Scherben, die niemals wehtaten, die sich widerstandslos weiter zerkleinern ließen und dabei das Fruchtfleisch verzauberten, begleitet von einem verheißungsvollen Knistern: eine klingende Atmosphäre des Jahrmarkts. Noch Stunden später, im Kettenkarussel, als die Welt unter einem kreiste und das sausende Furioso des Fahrtwinds Tränen in die Augen trieb, riefen die klebrigen Finger im Mund die Erinnerung an den Rausch einer zuckersüßen Affäre wach.
Nappo
So sehr man sich nach ihm sehnte – kaum hatte man seine silbrige Verpackung ehrfürchtig und mit Engelsgeduld von allem Geknitter befreit und glatt gestrichen, als bearbeite man ein heraldisches Sammlerstück oder aber sie, zur winzigen Kugel gedrückt, mit einem Schnipser davongeschossen, wusste man nicht, wohin mit ihm: ein sperriges Möbelstück, das nicht durch die Tür passt. Die kostbare Raute imponierte als Übertreibung. Kein Vergleich mit dem Maoam, das im Umfang ein Leichtes für den Mund und darüber hinaus diesseits seiner Aromen von Zitrone bis Orange allein schon mit seinem exotischen Namen lockte, der sich von vorn wie von hinten lesen ließ. Das Nappo war einzigartig in Statur und Anspruch: vornehm, und dabei fordernd in allem, was es dem Mund zumutete. Vor allem aber sprach es dem Maßhalten Hohn. Eher aus Not als dass es gepasst hätte auf das Streckbett unter den Gaumen geklemmt, holte man es höchstens gelegentlich von seinem Platz, nachdem man die dünne Schokoladenschicht aus Zartbitter, im Geschmack nicht gerade berauschend, abgeschmolzen hatte. Wenn die Zunge endlich den blanken Nougat ertastete, begann die Arbeit des Streckens und Dehnens und zwar ohne Zuhilfenahme der Zähne, die sich hüten mussten, den Widerstand brechen zu wollen. Zu kauen, zu zerkleinern, so wie es von seiner Größe her nahegelegen hätte, und dem Ausmaß des Mundraums entsprechend, wäre verhängnisvoll gewesen.
Das Nappo bestach durch seine steinharte Konsistenz, eine Widerständigkeit des Materials, durch die der Gefangene seinen Wächter zu einem Gefangenen machte, jedes im Kauen gesprochene Wort verunstaltete – eine Zumutung, die einzig erträglich wurde durch die Aussicht auf eine wahre Sensation: Der Geschmack leicht nussig, durchsetzt vom Honig der Weihnachtsbäckerei, und mit cremigem Schaum, der geduldig zu erobern war, belohnte das Nappo mit einem Vergnügen, opulenter als das des Kaugummis, der regelmäßig zur faden Knete einweichte, vollmundiger als das der wässrigen Bonbons – eine Köstlichkeit, die sich von dem ersehnten Moment an steigerte, in dem es sich schließlich ans Palatum schmiegte als schier unerschöpfliche Ressource.
Das Aroma des Nougat hatte über die Größe gesiegt, das Weiche über das Harte und die Geduld über die Gier ebenso wie über den Widerstand von Form und Beschaffenheit – ein nachhaltiges Depot des Guten war eingerichtet und intensivierte die Genugtuung über den Triumph des langen Atems. Zum Naschen langte die Zunge einfach nach oben.