Читать книгу Sex & Gott & Rock'n'Roll - Tilmann Haberer - Страница 5

22

Оглавление

Achim wohnte in München, keine zwei Kilometer von Sharani entfernt. Und doch lernten sie sich nicht vor ihrer Haustür kennen oder vor seiner, sondern im ICE zwischen Frankfurt und Mannheim. Sie saßen einander gegenüber im Großraumwagen, zwischen sich das Tischchen, nahmen das erste Mal Notiz voneinander, als sie beide die Beine ausstrecken wollten und unter dem Tisch zusammenstießen. Spontan und synchron entschuldigten sie sich, der fremde Mann zeigte ganz kurz ein strahlendes Lächeln, vertiefte sich dann wieder in seine Zeitung. Wieso entschuldigt man sich eigentlich, wenn man sich versehentlich auch nur ein bisschen berührt?

Nach zehn Minuten legte der Fremde seine Zeitung beiseite, wand sich aus dem Sitz, lächelte ihr wieder kurz zu, ging den Gang entlang Richtung Speisewagen. Sharani war einen Moment geschockt. Dieser Blick! Da war etwas wie die freudig erschrockene Frage: Du hier…? Als wäre er ein uralter Bekannter; dabei hatte sie ihn noch nie gesehen, da war sie sicher. Aber wer wusste schon, woher sie sich kannten – aus wie vielen früheren Leben… Weniger esoterisch gesagt: Sein Lächeln berührte Sharani. Tief drinnen. Es hatte etwas Vertrautes, obwohl sie sich nicht kannten, gerade mal zwanzig Minuten im selben Zugabteil gesessen hatten.

Sharani schüttelte den Kopf, zog ihr Buch aus dem Rucksack. Seit langem wieder einmal etwas von Osho. Sie hatte das Buch in Köln entdeckt und gleich mitgenommen. Jesus – Mensch und Meister. Mit etwas Wehmut erinnerte sie sich, wie es sie anfangs empört hatte, dass ihr geliebter Bhagwan so viel über Jesus sprach. Dann aber hatte sie allmählich begriffen, dass Jesus, der Mann aus Nazareth, der Meister, der Revolutionär der Liebe, etwas ganz anderes war als die blasse, moralinsaure Gestalt, die die Kirche aus ihm machte. Osho… Ein Schmerz, jäh und scharf. Auch Liebe kann wehtun, wer wüsste das besser als sie, Sharani alias Jeannie. Vor mehr als fünf Jahren hatte Osho diese Welt verlassen – niemals geboren, niemals gestorben, nur zu Besuch auf diesem Planeten. Doch sie trug seine Liebe im Herzen. Und nun las sie seine Worte, hörte durch die Übersetzung hindurch seine Stimme, sein langsames, überlegtes Sprechen, sah ihn vor sich, wie er auf seine Hände schaute, dann wieder auf seine Jünger, wie er mit einem feinen Lächeln die ungeheuerlichsten Provokationen aussprechen konnte.

Der Fremde kam zurück. Sie schätzte ihn auf Mitte vierzig, er war ziemlich groß und kräftig, hatte eine hohe Stirn und einen tief schwarzen, kurz gestutzten Vollbart. Trug ein lässiges Cordsakko zu weißem Hemd und Jeans. Gar nicht ihr Stil. Aber als er sie noch einmal kurz anlächelte, bevor er sich seiner Zeitung widmete, war es wieder wie ein vertrautes Zublinzeln. Da war wirklich etwas, als kennten sie sich seit Äonen. Sharani legte das Buch zur Seite, schaute aus dem Fenster. Langweilige deutsche Industrielandschaft – lange schon hatten sie das spektakuläre Rheintal hinter sich gelassen, Sankt Goar, die Loreley. Hatte die seltsame Unruhe, die sie erfüllte, tatsächlich etwas mit dem Mann ihr gegenüber zu tun? Volle zwei Jahre hatte sie mit keinem Mann mehr gesprochen, außer natürlich in der Praxis. Volle zwei Jahre, seit sie sich zum letzten Mal von Johnny abgewandt hatte – diesmal aber wirklich zum letzten Mal! –, zwei Jahre war sie so gut wie nie ausgegangen. Hatte die meiste Zeit zu Hause verbracht, am Zeichentisch, wenn die Arztbriefe diktiert waren, und vor allem auf ihrem Meditationskissen. War ganz in sich gekehrt. Nur mit Lakshmi, mit der sie sich die Praxis teilte, ging sie einmal in der Woche aus. Die offizielle Version war, dass sie nicht nur noch als Kolleginnen zusammenarbeiten,

sondern Freundinnen bleiben wollten. Inoffiziell wusste Sharani genau, dass Lakshmi hoffte, ihre beste Freundin doch einmal mit einem ordentlichen Mann zu verkuppeln. Aber da biss sie auf Granit. Das Kapitel war für Sharani abgeschlossen. Oder, nicht ganz so kategorisch, im Moment einfach kein Thema. Sie brauchte keinen Mann, wollte keinen Mann – und nun saß ihr gegenüber dieser Fremde und versetzte sie in Unruhe.

Und dann sprach er sie an.

Sie hatte ihr Buch wieder zur Hand genommen, versuchte sich auf die Zeilen zu konzentrieren, durch die gedruckten Buchstaben hindurch Oshos Stimme zu vernehmen. Da räusperte sich der Fremde leicht, dann, zögernd: „Entschuldigen Sie bitte, darf ich Sie etwas fragen?“

Durch die Praxis war Sharani daran gewöhnt, von Fremden gesiezt zu werden. Warum kam es ihr bei diesem Mann so unpassend vor? Sie ließ das Buch sinken, sah in ein Paar braune Augen, braun wie ihre eigenen. Hob lächelnd leicht die Augenbrauen. „Ja, natürlich.“

„Dieses Buch, das Sie lesen… haben Sie Bhagwan persönlich gekannt?“

Wider Willen wurde ihr Lächeln breiter. Sie nickte langsam. „Ich war jahrelang seine Schülerin. Habe sozusagen zu seinen Füßen gesessen.“

„Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber mich interessiert alles, was mit Bhagwan zu tun hat. Wissen Sie, damals, vor fünfzehn, zwanzig Jahren, wäre ich selbst nie auf die Idee gekommen, nach Poona zu gehen. Und heute denke ich mir manchmal: Vielleicht wäre es der Weg für mich gewesen.“

„Und warum sind Sie damals nicht gegangen?“ Einen kurzen Moment stellte Sharani sich ihn in orangen Klamotten vor, die Mala um den Hals, der Bart wilder, die Haare länger. Könnte passen.

Der Mann machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es kam einfach nicht infrage. Ich war damals sehr… hm. Sehr angepasst vielleicht. Die Bhagwans mit ihren roten Kleidern und der berüchtigten freizügigen Lebensweise haben mich eher abgeschreckt. Ich musste erst durch eine ziemliche Krise, bevor ich überhaupt daran denken konnte, einen anderen Weg einzuschlagen als den üblichen: Abitur, Uni, Job, Frau und Kinder, Rente und so… Und da war es viel zu spät für Poona. Ich bin einfach einen anderen Weg gegangen.“

Interessant. Wie ein sehr spiritueller Mensch sah er eigentlich nicht aus. Aber was sagte schon das Aussehen!

„Welchen Weg… wenn man fragen darf?“

Sein Lächeln war jetzt schon fast unverschämt offen. „Man darf, natürlich. Wobei… es ist kein Weg in diesem Sinne. Also, kein spiritueller Weg. Ich mache mir so meine Gedanken über Gott und die Welt, aber ich bin nicht religiös, und auch nicht spirituell. Aber irgendwie, wenn ich darauf stoße, merke ich, dass es mich tief drinnen doch irgendwie anspricht. Und deswegen finde ich es spannend, heute mit einer leibhaftigen Sannyasin im Zug zu sitzen.“

„Leibhaftig…“ Sharani musste lachen. „Klingt wie der Leibhaftige…“

Schlagartig war der Mann ernst. „Aber nein! Ich würde einfach gern mehr über Bhagwan erfahren, oder, nein, jetzt heißt er ja anders…“

„Osho.“

„Ah ja, richtig. Also, ich würde gern mehr über Osho erfahren, mehr als ich aus Büchern lernen kann. Deswegen. Deswegen würde ich Ihnen, wenn es recht ist, gern ein paar Fragen stellen.“

„Nur zu!“ Sharani legte das Buch auf den Tisch und stützte die Ellbogen auf. „Über Osho und die Zeit damals rede ich immer noch gern.“

Der Fremde stellte kluge Fragen, hörte aufmerksam zu, hatte einen umwerfenden Humor. Sie lachten viel, gingen zwischen Stuttgart und Ulm in den Speisewagen, erzählten und fragten immer weiter. Sharani hätte ihn gern ebenfalls ausgefragt, aber etwas hielt sie ab, ihn auf seine „ziemliche Krise“ anzusprechen. Und er selbst machte keine weiteren Andeutungen.

Scheinbar urplötzlich wurde der Zug langsamer. Sharani sah hinaus. „O, wir sind gleich in Pasing. Da steige ich aus.“ Der Fremde stand auf. „So ein Zufall. Ich auch.“

So mitten aus dem Gespräch gerissen. Ohne groß zu überlegen, kramte Sharani in ihrer Tasche nach einem Stift. Schrieb ihren Namen – Sharani – ins Buch und ihre Telefonnummer.

Mit einem scharfen Quietschen kam der Zug zum Stehen. Sharani angelte sich ihren Rucksack, der Fremde hob einen kleinen Koffer aus der Gepäckablage. Das Buch noch in der Hand, eilte Sharani zum Ausstieg, vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, dass er ihr folgte.

Wie verabschiedet man sich jetzt? Sharani machte es kurz. Sie hielt ihm das Buch hin, da aufgeschlagen, wo sie ihre Nummer notiert hatte.

„Ich würde mich freuen, wenn du mich mal anrufst.“ Kein Sie mehr.

Er sah überrascht drein, erfreut. „Gern… Sharani“, las er. „Ich bin Achim.“ Nickte, hob die Hand.

Sie widerstand dem Impuls, ihn zu umarmen. Hob ebenfalls die Hand zum Gruß. „Ciao, Achim.“ Dann drehte sie sich um und sprang die Treppe hinunter.


***

Sie war noch nicht ganz zur Tür herein, da läutete das Telefon. Sie nahm den Hörer ab, den Rucksack noch auf den Schultern.

„Ja?“

„Ich weiß, das ist jetzt ziemlich uncool. Aber ich wollte deine Stimme einfach noch mal hören. Es ging vorhin so schnell.“

Ein Adrenalinstoß. „Ja.“ Uncool? Und wenn! Coole Männer konnte sie nicht ausstehen. Und jetzt?

„Achim“, sagte sie.

„Ja.“

„Uncool ist es vielleicht. Aber dann ist es auch uncool, wenn ich sage, dass ich mich total freue. Mir ging es auch zu schnell.“

Pause. Im Hintergrund hörte sie Straßengeräusche. Er ist in einer Telefonzelle. Nein, Quatsch, so ein Geschäftsmann hat ein Handy.

„Schön. Dann darf ich auf eine Fortsetzung hoffen?“

„Gern. Sehr gern.“

Blöde Kuh, das ist jetzt wirklich sehr uncool. Aber sie hatte überhaupt keine Lust auf die üblichen Flirtspielchen. Zappeln lassen. Bullshit. Er gefiel ihr einfach, Punkt.

„Gut. Darf ich dich heute Abend anrufen? Ich habe jetzt gleich einen Termin.“

„Heute Abend? Okay, nach acht. Ja?“

„Nach acht. Gut.“

Zögern. Auf beiden Seiten.

„Dann…“

„Bis später.“

„Bis später.“

Er legte noch nicht auf. Sie auch nicht.

„Achim?“

„Ja.“

„Ähm… schon gut. Bis heute Abend.“

Immer noch ein Zögern.

„Ähm…“

„Ja?“

„Danke für das Buch.“

„Oh. Gern.“

„Ciao.“

Sie legte auf. Spürte das Herz im Hals.

Vorsicht!

Wieso Vorsicht?


***

Vorsicht! Wieso Vorsicht? Natürlich, es war einfach in ihrem ganzen Leben noch nie gut gegangen mit den Männern. Es war reiner Selbstschutz, vorsichtig zu sein. Sharani packte den Rucksack aus, sortierte die Klamotten, warf in die Waschmaschine, was zu waschen war, räumte den Rucksack in den Schrank. Machte sich eine Kanne Tee, aß einen Apfel.

Lief ziellos durch die Wohnung.

Hallo?

Gedanken schossen ihr durchs Hirn, Bilder, Fantasien. Hatte doch dieser Achim in zwei, drei Stunden ihr ganzes System in Aufruhr gebracht!

Schluss.

Sie setzte sich aufs Kissen. Es war halb sechs. Noch zweieinhalb Stunden.

Sie spürte. Atmete. Ließ die Gedanken los. Sie war geübt, nach kürzester Zeit war sie ganz in der Gegenwart, auf dem Kissen. Hatte sich abgekoppelt von Gedanken, Bildern, Fantasien, die einander jagten in der leeren Weite ihres Geistes. War bei sich. In der Position des unbeteiligten Zeugen. Ich habe Emotionen, aber ich bin nicht die Emotionen.

Und rutschte heraus. Beobachtete sich dabei, wie sie der Erinnerung nachhing, wie sie sich seinen Anruf ausmalte.

Zurück zum Atem. Zurück in die Gegenwart. Die Gegenwart ist das Einzige, was ist.

Allmählich fand sie ihre Mitte wieder, ihre Seelenruhe, die Zeugenposition. Konnte diesen Achim loslassen und das, was ihr flatterndes Herz aus der kurzen Begegnung zu machen versuchte. Sie würde es ja sehen. Was sein wird, wird sein. So einfach.


***

So einfach war es allerdings nicht. Als Achim an diesem Abend anrief, war sie gesammelt und bei sich. Sie telefonierten drei Stunden, drei geschlagene Stunden. Und am nächsten und übernächsten Tag auch.

Sharani versuchte ehrlich mit sich zu sein. Anscheinend war sie verliebt. Ganz anders als damals bei Prakash, und wieder ganz anders als… gut, an die Geschichte mit Johnny würde nichts und niemand jemals herankommen. Sowieso und überhaupt.

Bevor sie sich das erste Mal wieder sahen, saß Sharani wieder zwei Stunden auf dem Kissen. Sie atmete das Herzflattern weg, wollte bei sich sein, ganz gesammelt. Und vorsichtig. Verliebt vielleicht, ja, aber nicht identifiziert mit dem Verliebtsein.

Sie saßen beim Italiener, bis die Bedienung zum Abkassieren kam, danach ließ sie sich ein Taxi rufen. Achims Angebot, sie nach Hause zu bringen, lehnte sie dankend ab. Er nahm es mit einem Lächeln, versprach, sie anzurufen. Tat es, als sie sich gerade die Zähne putzte.

„Ich wollte dir nur gute Nacht sagen.“

„Ach, du bist süß. Gute Nacht.“

„Ich bin süß? Und du bist ein Wunder.“

„Ein Wunder? Quatschkopf.“

„Gute Nacht, du Wunder.“

„Gute Nacht, süßer Quatschkopf.“

Es war klar, lange konnte sie ihn nicht hinhalten. Und sie wollte ihn auch nicht hinhalten. Wollte bei ihm sein, wollte ihn spüren. Endlich ihn spüren.

Und hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Enge. Flucht!

Kalter Schweiß brach ihr aus den Poren. Wieder einer, der mich haben will.

Wie Johnny. Wie…

Sie atmete so tief und ruhig, wie sie konnte. Das mit Johnny ist vorbei. Das hier ist etwas ganz anderes. Und doch musste sie sich eingestehen, dass Achim in vielem Johnny ähnlich war. Ein Mann, der Gefühle hatte und darum wusste. Sie nicht nur wegdrängte, sondern spürte. Und zeigte. Ein warmherziger Mann. Mit köstlichem Humor. Und dann war er wieder ganz anders als Johnny. Völlig unmusisch, zum Beispiel. Er hatte keine einzige Schallplatte im Haus, hatte er ihr erzählt. Spielte kein Instrument, konnte nicht singen. Aber er war klug, und er war sexy.

Und er wollte sie haben.

Sie versuchte, nur noch in ihrem Atem zu sein. Alle Gedanken und Fantasien und Befürchtungen loszulassen. Alles, was sie aus der Gegenwart ziehen wollte in eine ferne, belanglose Vergangenheit. In eine nicht existente, offene Zukunft.

Nein, sie wollte nicht schwelgen. Wollte sich nicht bangen. Wollte einfach sein.

Bevor sie sich ins Bett legte, saß sie noch einmal eine halbe Stunde auf dem Kissen. Dann ging es.

Fürs Erste.


***

Achims „ziemliche Krise“ war banal in ihrer Grausamkeit, wie die meisten Lebenskrisen. Mit vierundzwanzig hatte er Lara geheiratet, mit der er schon als Siebzehnjähriger zusammen war. Sie hatten zwei Kinder bekommen, mit achtundzwanzig hatte er sich in Viola verliebt. Hatte es nach ein paar Wochen Lara gestanden. Krach, Ehekrieg. Er wollte die Familie nicht aufgeben, rang sich in heftigen inneren Kämpfen dazu durch, das mit Viola zu lassen. Kehrte zu Lara zurück, da war sie weg. Hatte sich ihrerseits mit einem anderen ein-gelassen, wollte von Achim nichts mehr wissen. Enthielt ihm die Kinder vor, es gab Kämpfe beim Jugendamt, einen schmutzigen Rosenkrieg, den er mit Pauken und Trompeten verlor. Am Ende hatte er nicht einmal mehr das Sorgerecht für die Kleinen, sah sie so gut wie gar nicht mehr.

Schon bis dahin hatte er gern mal ein Bier zu viel getrunken, aber nun wurde es heftig. Er begann mit harten Sachen, zunächst nur abends, dann auch im Büro. Wurde immer unzuverlässiger im Job. Erste Abmahnung, Personal-

gespräch, Gespräch mit dem Chef, zweite Abmahnung, dann war er seinen Job los. Flog aus der Wohnung, lebte ein paar Wochen auf Sofas von Freunden, ein paar Nächte auch auf der Parkbank. Erinnerte sich dann, wie ihn mal einer in der Kneipe angesprochen hatte.

„Ich weiß, wie das ist. Ich habe selber gesoffen, manchmal fünfzehn Bier am Tag, und dazu eine halbe Flasche Schnaps. Aber jetzt bin ich seit achtzehn Jahren trocken. Wenn du es auch versuchen willst, jeden Donnerstag um sechs ist unser Meeting.“

Natürlich war er der Einladung nicht gefolgt. Doch jetzt, halb tot auf der Parkbank, sagte er sich: Verlieren kannst du nichts mehr. Probier’s. Und ging zum Meeting der Anonymen Alkoholiker. Brauchte noch drei, vier Monate, dann ließ er den nächsten Schnaps stehen. Und lebte seither ohne Alkohol. Jeden Tag von neuem: Heute nicht. Und: Das nächste Glas lasse ich stehen.

Er hatte Glück, ein Studienfreund gab ihm eine Chance, einen Job als Controller, er fasste wieder Fuß. Gerade noch rechtzeitig. Ein paar Jahre mehr im Suff, und ich wäre weg vom Fenster gewesen. Seit fast zehn Jahren war er jetzt trocken. Feierte den Tag, an dem er zum ersten Mal nicht getrunken hatte, als seinen zweiten Geburtstag.

Aber auch wenn er nicht mehr trank, der Schmerz blieb. Der Verlust seiner Kinder tat einfach nur weh, auch noch nach Jahren. Er hatte gelernt, dass der Versuch, den Schmerz mit Alkohol zu betäuben, nicht half, ihn nur langsam umbrachte. Er ging jede Woche ins Meeting und begegnete dort immer wieder dem Ausdruck der Anonymen Alkoholiker: „Gott, wie wir ihn uns vorstellen“. Sagte sich immer wieder, dass er sich doch einmal etwas mehr mit Religion beschäftigen sollte, brachte dann aber doch das Interesse nicht auf. War es wirklich mangelndes Interesse? Oder, wovor hatte er Angst?

Das alles erzählte er Sharani an dem Abend beim Italiener. Sharani hielt es fast nicht aus, die Traurigkeit zu spüren, die ihn beim Erzählen immer noch packte. Sie musste sich ein paarmal rüde ermahnen, bei sich zu bleiben, sonst hätte sie sich über den Tisch geworfen und ihn in die Arme geschlossen. Aber dann spürte sie auch die Stärke, die er durch den Weg der Genesung von der Sucht, durch die regelmäßige Teilnahme am Meeting gewonnen hatte. Eine Stärke, die ihn die Trauer jetzt aushalten ließ. Er musste nicht mehr fliehen. Er konnte den Schmerz spüren, durchlässig sein, ohne sich mit dem Schmerz zu identifizieren. Und das ging bei ihm sogar ohne Meditationspraxis.

Beim Erzählen wirkte er reif und erwachsen und Sharani empfand eine tiefe Zuneigung zu ihm. Ja, er war ein erwachsener Mann, wie es wenige gab. Die meisten Männer waren doch nur kleine Jungs mit ihrem Spielzeug, ob es nun Fußball und Autos waren oder Aktien oder Vorstandsposten oder neuerdings Computer. Oder Frauen. Die meisten Männer flohen vor jedem tieferen Gefühl in irgendwelche hoch wichtigen Aktivitäten oder in irgendwelche Beziehungen, nur um den Schmerz nicht fühlen zu müssen oder das Glück. Das war ja das Perverse. Auch das Glück hielten sie nicht aus.

Achim dagegen war wirklich durch den Abgrund gegangen und das hatte ihn reifen lassen, Sharani spürte es deutlich. Er hatte es nicht mehr nötig, zu verdrängen, was das alltägliche Gleichgewicht stören konnte. Und gleichzeitig fand er immer wieder die Balance – genau deswegen, weil er die Gefühle wahrnehmen und zulassen konnte, ohne sich darin zu verlieren.

Und er konnte davon erzählen, ohne larmoyant zu wirken oder – umgekehrt – damit zu prahlen. An diesem Abend, und erst recht nach dem abschließenden nächtlichen Telefonat, beschloss Sharani, sich einzulassen. Koste es, was es wolle.

Und es kostete sie viel. Mehr als sie ahnen konnte.


***

Sharani packte den Stier bei den Hörnern. Für Samstagabend lud sie Achim zum Essen ein, zu sich nach Hause. Den ganzen Tag tigerte sie nervös durch die Wohnung wie eine Vierzehnjährige vor ihrem ersten Date. Sie brachte die ganze Wohnung auf Hochglanz, lüftete zwei Stunden alles durch und gab dann Rosenöl in die Duftlampen im Wohnzimmer und, ja, auch im Schlafzimmer. Ließ sie eine halbe Stunde ihr Aroma verströmen, löschte sie dann wieder. Nur ein Hauch davon sollte in den Räumen zu ahnen sein.

Sie bezog ihr Bett neu, auch eine zweite Decke, ein zweites Kissen. Stopfte beides in den Schrank, griffbereit. Stellte die hohe, schlanke Vase mit einer einzelnen Mohnblüte auf die Kommode, zwei Kerzen daneben. Wie zufällig.

Sie plante ein Essen, das sie weitgehend vorbereiten konnte – Salat mit Austernpilzen, danach eine Gemüselasagne mit Ricotta, die in im Backofen friedlich vor sich hin schmurgeln konnte, bis es Zeit war. Zu Schluss eine Crème brulée, die sie am Abend vorher schon gemacht und im Kühlschrank kalt gestellt hatte. Das war immer ein besonderer Effekt, wenn sie den Zucker am Tisch mit dem kleinen Flammenwerfer karamellisierte. Mit der Weinauswahl hatte sie keine Mühe. Achim trank sowieso keinen Alkohol und sie war glücklich mit ihrer Kanne Yogi-Tee.

Zwei Stunden brauchte sie, um ihre Garderobe auszuwählen. Ein Outfit nach dem anderen probierte und verwarf sie, schließlich entschied sie sich für einen knielangen, schwingend geschnittenen plissierten Rock aus grün-schwarz changierender Seide, ein schwarzes Top mit breitem, aber nicht zu tiefem Ausschnitt, und ein Bolerojäckchen aus dunkelgrünem Samt. Nur eine dünne Silberkette mit dem Om-Zeichen als Anhänger, nur einen Ring – Silber mit einem großen Amethyst. Dazu passende Ohrringe. Prüfend betrachtete sie sich im Spiegel. So richtig zufrieden war sie nicht, aber etwas Besseres fiel ihr jetzt nicht mehr ein. Die Haare flocht sie zu einem lockeren Zopf. Dezentes, aber sorgfältig aufgetragenes Makeup. Noch einmal der Blick in den Spiegel. Okay, Achim würde nicht gleich schreiend davon laufen, wenn er sie so sah. Die letzte halbe Stunde vor dem vereinbarten Zeitpunkt saß sie auf dem Kissen und atmete die Aufregung weg. Nahm die Position des unbeteiligten Zeugen ein. Wie dankbar war sie für diese Möglichkeit.

Als Achim drei Minuten nach sieben klingelte, war sie vollkommen gelassen.

Er auch. Mit einem breiten Lächeln stand er in der Wohnungstür, einen ganzen Busch bunter Rosen in der Hand. Sharani nahm sie ihm ab.

„O, die sind ja wunderschön.“

Achim nickte. „Nicht halb so schön wie du.“

Nichts mehr war es mit der vollkommenen Gelassenheit. Sharani spürte, wie sie rot wurde, wie ein kleines Mädchen!

„Quatschkopf“, sagte sie. „Süßer Quatschkopf.“

Sie. Sharani, die bei den Männern immer coole. Auf einmal verlegen. Das gibt’s nicht.

Aber Achim benahm sich so selbstverständlich und normal, dass die Verlegenheit schnell wieder von ihr abfiel. Er aß wie ein Bär, während sie mit der Gabel hin und wieder eine Olive, ein Stückchen Zucchini vom Teller pickte.

Dann ließ er sich den Weg zur Toilette zeigen.

Sharani saß vor dem halb leer gegessenen Teller und schüttelte leicht den Kopf. Er ist doch nur ein Mann. Aber das stimmte eben nicht. Natürlich war er ein Mann. Ein attraktiver, bewusster, humorvoller Mann. Aber das war es nicht. Auf welcher Ebene, mit welchen Schwingungen er sie erreichte, konnte sie gar nicht sagen. Klar war nur: Er traf sie mitten ins Zentrum. Wie noch kein Mann vor ihm, abgesehen von Johnny. Aber Johnny lief sowieso außer Konkurrenz. Sie konnte es nicht genauer fassen, aber wozu auch! Er war jetzt hier und es würde kommen, was kam.

Achim kam zurück, setzte sich nicht mehr auf den Stuhl gegenüber, sondern auf den rechts von ihr. Seitlich, ihr zugewandt. Sharani erschrak ein bisschen. Es war klar gewesen, dass das nun dran war. Sie hatte es ja so gewollt. Aber so schnell…? Sie nahm den Ellbogen vom Tisch, drehte sich ihm zu. Ganz ernst sah er drein, als er die Hand ausstreckte, ihre Hand nahm. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Mit dem Daumen streichelte er ihren Handrücken, dann spürte sie seine andere Hand leicht auf ihrer Wange. Wie von selbst neigte sich ihr Oberkörper nach vorn, ihm entgegen. Und beugte sich er zu ihr und küsste sie. Mit leicht geöffneten Lippen, ein Hauch nur. In ihrer Nase, in ihrem limbischen System die Ahnung eines herben, holzigen Duftes. Sie öffnete ebenfalls die Lippen und erwiderte den Kuss. Spürte, wie ihr Atem sich mit dem seinen vermischte. Konnte einen tiefen Seufzer nicht zurückhalten.

Achims Gesicht immer noch ganz nah an ihrem. Immer noch war kein Wort gefallen. Aber wozu auch Worte?

Nun suchte sie seinen Mund. Hob ihre Hand zu seinem Nacken, zog ihn zu sich. Küsste ihn wieder. Offener. Tiefer.

Die andere Hand an seinem Hals, in seinem kurzen Haar. Seine Hände nun an ihrem Rücken, ihre Körper zwischen den Stühlen fast in der Schwebe, dem Absturz nahe. Atemlos sie beide.

Sharani wurde von einer Welle überrollt und davongetragen. Ja, es war jetzt, wie es war. Jetzt küsste er sie, und er küsste sie gut. Er roch gut, er schmeckte gut, er fühlte sich gut an, alles war gut.

Auf einmal fasste er sie unter Armen und Beinen und hob sie einfach hoch. Trug sie aus dem Wohnzimmer in den Gang, steuerte zielstrebig auf die Schlafzimmertür zu. Die einzige Tür, die geschlossen war. Drückte mit dem Ellbogen die Klinke, schob die Tür auf, sah sich kurz um. Ließ sie ganz sacht und vorsichtig aufs Bett gleiten. Sie lag auf dem Rücken, fühlte sich vollkommen wehrlos und ausgeliefert. Panik… Sie versuchte ruhig zu atmen. Spürte jetzt, wie er neben ihr saß. Durch die halb offene Tür fiel ein schwacher Lichtschein. Sharani schloss die Augen. Lass jetzt geschehen, was geschieht. Atmete tief und so ruhig sie konnte.

Achim war sehr behutsam. Sehr. Die Vorsicht, mit der er ihr die Kleider abstreifte, die Achtsamkeit, mit der er ihren Leib erforschte, mit Fingern, Lippen, Zunge, hatte fast etwas Ehrfürchtiges. Die Panik verflog, sie fühlte sich vollkommen sicher.

„Achim“, flüsterte sie.

„Ja?“

„Ich will, dass du dich auch ausziehst. Für mich.“

Ohne ein Wort setzte er sich auf, zog das Hemd über den Kopf, die Hose fiel zu Boden, sie spürte ihn neben sich. Endlich war es so, wie es gehörte. Nun machte sie sich daran, ihn zu erforschen, zu tasten, zu schnuppern, zu schmecken. Und dann war er bei ihr, in ihr, sie waren zusammen, endlich, und immer noch ließ er sich Zeit, begegnete ihr mit Respekt, und gleichzeitig voller Verlangen. Jede ihrer Empfindungen schien er vorauszuahnen, seine Hände, sein Mund, sein Leib taten genau das, was sie tun mussten. Sie war ganz offen, ganz offen für ihn, alle Mauern gefallen, alle Vorbehalte im Wind zerstreut, sie war nur noch Ja und Komm und Du, zitterte unter seinen Händen, glühte in seinem Griff. Sie fiel, fiel, aber es war kein Sturz ins Bodenlose, sie fiel und blieb bei sich, war wach und bewusst und gleichzeitig entgrenzt, nicht mehr nur Sharani, war die Erde, der Kosmos, und doch in ihrem Schlafzimmer, halbdunkel, Keuchen, Schweiß, jetzt endlich ließ auch er die Kontrolle fahren, wurde zum Tiger, zum Stier, stieß sie mit aller Kraft, aber sie war vorbereitet, offen, konnte alles nehmen, alles, war seine Venus, sein Gefäß, er ihr Heros, mächtig und stark, alles war losgelassen, alles, und in einem gewaltigen Aufbäumen schleuderte er all seine Kraft aus sich heraus, und sie schleuderte alle Kraft ihrer Empfänglichkeit ihm entgegen, und die Kräfte trafen sich in der Mitte, wurden zum Feuerball… Einen Moment lang, meinte sie hinterher, war sie bewusstlos, es war zu viel, sie spürte nichts mehr, hörte nichts mehr, hörte ihren eigenen Schrei nicht, der sich mit dem seinen vermischte, ein mächtiger Zweiklang, und dann kam das Gefühl wieder, die Woge, das Feuer, das in sich zusammenbrach, der Funkenflug, der noch über sie hinweg, durch sie hindurch sprühte, die Nachbeben, die ihre Leiber schüttelten, bis sie erschöpft beieinander lagen, ineinander verknäult und verwoben, sie in seinen Armen und er in ihren, seine brennende Haut an ihrer, ihr Haar in seinem Mund, sein langsam sich beruhigender Atem in ihrem Ohr, seine Hände, zwei jetzt wieder und nicht mehr tausend, auf ihrem Schenkel, ihrer Hüfte, Ihr Arm um seinen Kopf geschlungen, in ewiger Verbindung. Der Atem jetzt allmählich wieder ruhiger. Sein Duft um sie her. Seine Kraft in ihrem Schoß, ihre Kraft wie eine bergende Hülle um ihn.

Ohne ein Wort lagen sie da und glitten in den Schlaf. Mit dem letzten Rest Wachheit registrierte sie, wie er sich vorsichtig von ihr löste, sich aus ihr zurückzog, in Löffelhaltung sich hinter sie schmiegte. Dann hüllte der Schlaf sie von allen Seiten ein.


***

Seit vielen Monaten zum ersten Mal wieder der Albtraum. Sie liegt im Dunklen, auf dem Rücken, und auf ihrer Brust ein schweres Gewicht. Sie weiß nicht, was es ist, aber es droht ihr die Luft abzudrücken. Sie will sich wehren, aber sie kann sich nicht bewegen. Sie will schreien, aber kein Ton kommt aus ihrem Mund. Das Gewicht wird schwerer und schwerer, die Panik wächst und wächst, sie ist gelähmt und stumm. Versinkt in einem Abgrund. Weiß, dass sie jetzt sterben muss.

Sie findet sich senkrecht im Bett sitzend, schweißnass, splitternackt, das Herz hämmert in der Brust, im Hals, in den Ohren. Warum ist sie nackt? Sie zittert in der kühlen Nachtluft, die durch das gekippte Fenster hereinstreicht. Ein fremdes Geräusch neben ihr, ein Atem. Eiskalt fährt es durch sie hindurch. Ein Mann. Neben ihr liegt ein Mann. Wieso ist da ein Mann? Die alte Botschaft steht glasklar im Raum: Nie wieder. Nie wieder einem Mann vertrauen. Es würgt sie. Sie kriegt keine Luft mehr. Sie muss fliehen. Aber ohne ihn zu wecken, sonst… Hastig, aber so leise wie möglich setzt sie die Füße auf den Boden, steht, schleicht mit fliegendem Atem aus dem Zimmer, die Tür steht halb offen, aus dem Wohnzimmer gedämpftes Licht.

Sie steht im Flur. Wohin? Nackt, wie sie ist, kann sie nicht aus dem Haus.

Sie spürt, wie sie atmet. Flach, hektisch.

Sharani! Was machst du!

Der Kontakt zum Atem bringt sie näher zu sich.

Auf bloßen Füßen tappt sie zum Badezimmer, macht kein Licht. Durchs Fenster fällt ein fahler Schein, ist es die Straßenlampe, ist es der Mond, sie weiß es nicht. Steht nun vorm Waschbecken, hält sich fest. Beugt sich vor. Sucht im Halbdunkel ihr Gesicht im Spiegel. Starrt in immer noch schreckgeweitete Augen. Ich habe mich nicht einmal abgeschminkt.

Dieser Gedanke brachte sie endgültig in die Wirklichkeit zurück. Mechanisch zupfte sie ein Wattepad aus der Rolle, tränkte es mit Remover, rieb sich über die Augen, wie jeden Abend. Drückte einen kleinen Strang Waschcreme auf die Hand, spürte die körnige Paste auf Stirn und Wangen, spülte mit lauwarmem Wasser nach. Wie jeden Abend. Wie jeden Abend. Alles ist gut. Alles ist normal. Nur dass ein Mann in ihrem Bett lag, das war nicht normal. Es ist Achim. Ein zärtlicher, respektvoller, liebevoller, ein guter Mann. Ihr Atem fand seinen Rhythmus wieder. Sie löste den verwilderten Zopf, bürstete die Haare glatt. Alles normal. Zum Zähneputzen hatte sie dann doch keine Lust.

Verdammt, Sharani, was ist los! Woher kommt diese Panik! Wovor hast du solche Angst!

Achim lag auf dem Rücken, als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, die Augen offen. Er war wieder der Mann, den sie… liebte? Konnte sie das schon sagen, nach wenigen Tagen? Egal. Liebe ist auch nur ein Wort. Es war, was es war.

Er sah ihr entgegen. Sie schlüpfte zu ihm, seine Schlafwärme vertrieb ihr Frösteln, sein starker Arm hielt sie gut. Mit der freien Hand strich er ihr durchs Haar. Alles war in Ordnung. Alles. Erschöpft kuschelte sie sich an ihn, spürte, wie sein Griff erschlaffte, wie er hinwegglitt in seinen nächsten Traum.

So müde sie war, sie konnte nicht schlafen. Was ist das! Jahrelang meditierte sie, die Zeugenposition war ihr innig vertraut, sie fühlte sich darin fast mehr zu Hause als im Alltagsbewusstsein. Jeden Schmerz, jede Traurigkeit konnte sie aus dieser Position betrachten, völlig unbeteiligt, bestenfalls interessiert. Und trotzdem. Trotzdem konnte sie die Panik nicht verhindern, die Panik, die sich jetzt eben zwischen sie und Achim hatte schieben wollen. Die Panik, die ihren grausamsten Ausdruck fand in dem Albtraum, der sie seit fünfundzwanzig Jahren immer wieder heimsuchte.

Im Moment war es wieder gut. Sie lauschte auf Achims Atemzüge und fragte sich, wie sie fast ein ganzes Leben ohne dieses Geräusch hatte verbringen können, dieses Zeichen, dass da jemand war, zu dem sie und der zu ihr gehörte. Sie spürte, wie sich die letzte Anspannung löste, wie sie schwerer wurde, ihr Atem tiefer, und dann spürte sie nichts mehr bewusst, tauchte ab in Träume, die bunt waren und lebendig und nichts mehr hatten von der drückenden Schwere des immer wiederkehrenden Albtraums. Schlief tief und friedlich wie lange nicht mehr, neben dem Mann, den sie seit zwei Wochen erst kannte und der ihr schon so ungemein vertraut war.


***

Als sie aufwachte, war das Bett neben ihr leer. Aber sie dachte keine Sekunde, dass Achim gegangen sein könnte. Sie tappte ins Wohnzimmer, sah, dass der Tisch abgeräumt war. Aber Achim war nicht zu sehen. Sie tappte weiter in die Küche und da stand er, hatte gerade Teller, Gläser und Besteck in die Spül-maschine geräumt.

Als er sie hörte, richtete er sich auf und kam ihr entgegen. Wie konnte das sein, dass er sich so unbefangen benahm – als sei er in diese Wohnung hineingeboren! Bei seiner Umarmung wurden ihr die Knie weich, sie spürte seinen Herzschlag. „Komm doch noch mal ins Bett“, flüsterte sie, und als er sie an der Hand nehmen wollte, fügte sie hinzu: „Trag mich, das war so schön.“


***

Und keinerlei Befangenheit beim Frühstück. Sharani konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal mit einem Mann gefrühstückt hatte. War es tatsächlich schon fünfzehn Jahre her? Seit Prakash hatte sie mit keinem Mann mehr die Nacht bis zum Morgen verbracht. Doch, natürlich. Mit Johnny, die ein-, zweimal. Natürlich. Mit wem sonst. Aber das mit Johnny war endgültig vorbei, ein für alle Mal.

Sharani fühlte sich wie ein neuer Mensch. Was war das nur! Zum ersten Mal, wirklich zum allerersten Mal in ihrem vierzigjährigen Leben war es einfach nur gut, nach einer gemeinsamen Nacht zu frühstücken. Der Albtraum war vergessen, kein Schatten trübte die Morgensonne, die in ihrem Herzen schien, obwohl es draußen eher grau und nieselig war. Kein Gedanke an Flucht. Keine Panik. Keine Enge.

Nach dem Frühstück schlug Achim vor, spazieren zu gehen. Sie schlenderten durch den Nieselregen, händchenhaltend wie zwei Siebzehnjährige. Sharani fühlte sich rundherum glücklich. That’s bliss, ging ihr durch den Kopf, das ist Glückseligkeit.

Später am Nachmittag sagte Achim: „Morgen früh muss ich nach Frankfurt. Ist es okay, wenn ich ein paar Sachen hole und wieder komme?“

Sharani schüttelte entschieden den Kopf. „Gar nicht okay! Du willst mich allein lassen? Ich komme natürlich mit!“

Achim lachte nur und sagte: „Wenn du wirklich meine Junggesellenbude sehen willst…“


***

Unter einer Junggesellenbude hatte Sharani sich etwas anderes vorgestellt. In Wahrheit handelte es sich um eine hübsche Zweizimmerwohnung, im sechsten Stock eines Wohnblocks gelegen, hell, mit großem Fenster nach Südwesten. Der Himmel im Süden hatte aufgerissen, unter den Wolken schoss die Abendsonne ihre Strahlen direkt ins Zimmer. Die Alpenkette war deutlich zu sehen. Sharani blickte sich um. Cremefarbener Teppichboden, viel helles Holz, Stahlrohr, ein penibel aufgeräumter Schreibtisch mit Computer, ein modernes und trotzdem gemütlich aussehendes Sofa. Durch die offene Schlafzimmertür sah sie ein breites Bett. Nur eine Decke, ein Kissen.

Achim packte seinen kleinen Koffer, sammelte ein paar Akten ein und holte aus dem Schrank eine Tasche, die aussah, als befinde sich darin ein Laptop. Topmodern ausgerüstet, der Gute… Aus dem Bad holte er einen Kulturbeutel, dann sagte er wie entschuldigend: „Ich muss morgen etwas seriöser erscheinen.“ Er nahm einen dunkelblauen Anzug, Hemd und Krawatte aus dem Schrank, verschwand kurz im Bad und kam als perfekt gestylter Geschäftsmann wieder heraus. Sharani hätte es nie für möglich gehalten, dass ihr ein Mann im Business-Anzug so gut gefallen könnte, aber in diesem Augenblich konnte sie sich keinen appetitlicheren Anblick vorstellen als Achim in diesem Outfit.


***

Mitten in der Nacht wacht Sharani auf. Wieder schweißgebadet, wieder mit Herzrasen. Wieder der Albtraum. Wieder die Panik, als sie neben sich den Umriss eines Körpers sieht. Wieder die Flucht aus dem Bett.

Diesmal landet sie im Wohnzimmer, öffnet das Fenster, steht nackt und frierend in der Kälte, die von draußen hereindringt. Das kann ja heiter werden. Wenn ich jetzt jede Nacht diesen Traum habe…

Sie kann noch nicht zurück ins Bett. Sie muss erst diesen Traum abschütteln Was ist das, Jeannie! Und wie kommt sie plötzlich auf diesen alten Namen!

Sie hat das Fenster wieder geschlossen, die Decke vom Sofa um die Schultern gelegt, sieht hinaus auf die verlassene Straße. Plötzlich Schritte in ihrem Rücken. Das Herz springt ihr wieder in den Hals, ein Stromschlag durch den ganzen Körper, alle ihre Haare richten sich auf. Aus weiter Ferne ein wütender, seltsam krächzender Ruf: „Na warte, du Luder!“

„Sharani?“

Das ist nicht der Vergewaltiger. Sie schüttelt sich. Will diese Erinnerung nicht. Schiebt sie weg. Dreht sich um.

„Um Himmels Willen, Sharani, was ist denn! Du schaust mich an, als wäre ich ein Geist!“

Das ist Achim.

Mühsam beruhigt sie ihren Atem. Kommt in die Gegenwart. Läuft nicht weg, als Achim auf sie zukommt, sie in die Arme nimmt.

„Du bist ja eiskalt!“

Sie kann wieder unterscheiden. Diesem Mann kann sie vertrauen. Die Spannung weicht aus ihrem Körper, sie lässt sich seine Umarmung gefallen.

Achims Wärme brachte sie zurück.

„Komm!“

Achim geleitete sie zurück ins Bett. Immer noch zitternd, kuschelte sie sich an ihn, er zog die Decke über sie.

„Sag mal, was war denn los?“

Hellwach war sie jetzt, und er offenbar auch.

Ja, was war los?

Achim strich ihr über den Kopf, hielt sie immer noch. Fest, gut. Ja, es war gut, dass er sie fest hielt. Jetzt, wo sie bei sich war, wusste sie, dass es gut war.

„Ich weiß nicht, ich hatte einen Albtraum.“

„Hast du so was öfter?“

„Den Traum habe ich regelmäßig. Es ist… einfach furchtbar. Ich werde verfolgt, von etwas Namenlosem…“ Sie schauderte. „Letzte Nacht hatte ich ihn auch.“

Achim brummte. „Hab ich mir schon gedacht. Da warst du auch plötzlich weg…“

Dann fragte er: „Hast du eine Ahnung, weshalb du ausgerechnet gestern und heute diesen Albtraum hattest? Meinst du, das hat was mit… mit mir zu tun, mit uns?“ Klar, er musste diese Frage stellen.

Wieder seufzte Sharani. „Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht. Es ist wunderbar mit dir.“ Sie küsste ihn. „Und in der Nacht habe ich dann den Albtraum. Und dann meine ich, ich muss fliehen, einfach abhauen, egal wohin. Aber es hat wirklich mit dir nichts zu tun. Jetzt, wie du mich hältst, das finde ich ganz wunderbar. Und mit dir zu schlafen, das ist auch ganz wunderbar. Ich bin total glücklich. Ich will nicht weg. Wenn ich nur diesen nicht blöden Albtraum hätte!“

„Hast du schon mal an Therapie gedacht?“

Sharani lachte hell auf. „Ich war in Poona, mein Lieber. Ich hab Therapie gemacht rauf und runter. Ich habe auf Kissen eingeprügelt bis zum Gehtnichtmehr. Ich habe Angst und Hass und Wut ausagiert bis zum Umfallen. Aber es hilft nichts. Ich habe das Gefühl, da ist etwas, da komme ich einfach nicht ran. Es zeigt sich im Albtraum und in… in dem Impuls abzuhauen. Ich hatte das ja nicht nur gestern und heute, ich habe das im Grunde immer, wenn mir ein Mann wirklich nahe kommt. Und ich habe immer und immer wieder versucht, das Ganze aus der Zeugenposition anzuschauen. Und das hilft auch, wenn ich wach bin und bei mir bin. Jetzt, da kann ich ganz leicht darüber sprechen, es ist, als ob es nicht zu mir gehören würde.“

„Und doch gehört es zu dir“, sagte Achim nachdenklich.

„Das stimmt schon. Aber ich muss mich doch davon abtrennen können. Ich habe Emotionen, aber ich bin nicht meine Emotionen.“

Achim atmete durch. „Schön in der Theorie. Das kann ja sein, dass das funktioniert, normalerweise. Aber da scheint etwas zu sein, das sitzt tief, so tief, dass du mit dem bloßen Betrachten vielleicht nicht rankommst.“

Beide schwiegen. Wenn ich nicht rankomme… heißt das, es wird mich mein Leben lang verfolgen? Sharani war sich nicht sicher, wie lange sie das aushalten würde, jedes Mal der Albtraum, wenn es eng wurde, innig.

Achim fuhr fort. „Weißt du, ich finde es am besten, das ganz pragmatisch anzuschauen. Wenn dich das Meditieren und diese Zeugenposition nicht

weiterbringen mit diesem schlimmen Erlebnis, dann ist das offenkundig nicht das richtige Mittel. Und das heißt, es ist vielleicht etwas anderes angesagt.“

„Und was soll ich stattdessen machen?“

„Ich weiß es auch nicht. Vielleicht findet sich etwas. Sonst muss ich dich eben jede Nacht zusammenklauben.“

Sie nahm ihm ab, dass er das tun würde. Trotzdem, das wollte sie auf keinen Fall. Sie seufzte noch einmal. Vielleicht findet sich etwas. Vielleicht.





Sex & Gott & Rock'n'Roll

Подняться наверх