Читать книгу Sex & Gott & Rock'n'Roll - Tilmann Haberer - Страница 6
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ОглавлениеDer Anrufbeantworter blinkte, als Hannes zur Tür hereinkam. Wer konnte das sein? Es kam im Schnitt alle vierzehn Tage vor, dass ihm jemand aufs Band sprach. Meistens seine Mutter, ab und zu mal Tobias. Alle wussten ja, dass man ihn erst am Abend erreichen konnte.
„Ruf mich zurück. Ich muss was mit dir besprechen.“
Gabi.
Das hatte es allerdings noch nie gegeben. Seit er vor zwei Jahren ausgezogen war, hatte sie den Kontakt mit ihm praktisch eingestellt. Wenn er die Kinder abholte, klingelte er unten und wartete, bis sie herunterkamen. Lieferte er sie wieder ab, wartete er unten vor der Haustür, bis Lukas oben dreimal kurz auf den Türöffner drückte. Das war das Signal, dass die Kinder in der Wohnung angekommen waren.
Gabi. Obwohl er ihre Stimme in diesen zwei Jahren so gut wie nie gehört hatte, war sie ihm sofort präsent. Rief mit einem Schlag die ganze böse Geschichte wach. Es musste wirklich dringend sein, wenn sie ihn anrief. Wahrscheinlich ging es wieder um die Besuchsregelung. Am Anfang hatte er sein Umgangsrecht einklagen müssen, erst als das Scheidungsurteil stand und der Umgang im Namen des Volkes geregelt war, lief es halbwegs problemlos. Jedes zweite Wochenende waren die Kinder bei ihm. Auch sonntags, selbst wenn das bedeutete, dass sie jeden zweiten Sonntag nicht zur Gemeinde gingen. Die Familienrichterin hatte das Recht der Kinder auf ihren Vater höher eingeschätzt als ihr Recht auf einen charismatischen Gottesdienst.
Hannes seufzte. Er hatte absolut keine Lust auf die Auseinandersetzung, die ihm jetzt wahrscheinlich wieder bevorstand. Aber das Beste war, es hinter sich zu bringen. Er wählte Gabis Nummer.
„Koschnick.“
Sie hatte ihren Mädchennamen wieder angenommen, klar. Immerhin hatte Hannes erreicht, dass die Kinder ihren – seinen – Namen behielten.
Er müsse am nächsten Wochenende die Kinder außerplanmäßig nehmen. Sie müsse nach Wuppertal.
„Wuppertal? Was machst du denn da?“
Er erwartete eine Abfuhr. Was geht’s dich an? Aber sie antwortete, und ihre Antwort haute ihn um.
„Die Gemeinde will einen Missionstrupp nach Ruanda schicken. Und der Geist hat bestimmt, dass ich mitkommen soll. Am Wochenende ist in Wuppertal die erste Trainingseinheit.“
Ruanda. War das nicht irgendwo in Afrika? Ruanda. Was will sie denn da?
„Äh…“
„Ich muss noch die Tropenuntersuchung machen, aber gesund bin ich ja. Sonst hätte der Geist mich nicht auserwählt. Wenn der Aussendungsvertrag unterschrieben ist, gehe ich noch mal nach Wuppertal, für vier Monate, und dann gleich anschließend, so Gott will und wir leben, nach Ruanda.“
„Äh…“
„Der Einsatz ist erst mal für zwei Jahre geplant, aber es kann gut sein, dass wir verlängert werden.“
„Äh… und die Kinder?“
Gabi zögerte keine Nanosekunde.
„Bleiben bei dir. Du wolltest doch immer ein guter Vater sein.“
„Und du? Wolltest sie doch nie hergeben…“
„Wenn der Herr ruft, was kann wichtiger sein? Natürlich fällt es mir nicht leicht, die Kinder hier zu lassen. Aber die Berufung geht vor. Du weißt doch, was Jesus sagt: Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein. Lukas vierzehn, sechsundzwanzig.“
Sie klang aufgekratzt. Sehr aufgekratzt. Fast wie auf Koks. Aber – Gabi und Koks? Völlig undenkbar. Hannes nahm den Hörer vom Ohr und sah ihn an, als enthielte er die Antwort auf die Frage, was in Gabi gefahren war. Ihr Engagement für die Gemeinde war ihm schon seit langem etwas übertrieben erschienen, aber das hier…
„Es hat eine Menge Prophetien gegeben, bei uns und in den Schwestergemeinden, und alle laufen darauf hinaus, dass der Herr uns braucht für Ruanda. Wir bauen eine Missionsstation auf, mit Krankenstation und Schule und…“
„… und der Herr braucht ausgerechnet dich dort.“
Gabi seufzte theatralisch. „Das ist wieder mal typisch für dich. Du lässt einfach dem Geist keinen Raum für sein Wirken. Hannes, Er hat mich gerufen, mich! Wie könnte ich mich da widersetzen?“
„Du könntest einfach daran denken, dass du zwei kleine Kinder hast, die dich brauchen.“
„Wenn der Herr mich in Afrika braucht, dann wird Er sich auch um die
Kinder kümmern. Sie haben doch dich. Oder… soll ich Mama fragen, ob sie sie nimmt?“
Nie und nimmer! So sehr Hildegard Koschnick ihn ins Herz geschlossen hatte, solange er ihr Schwiegersohn war, so radikal hatte sie ihn abgeschrieben, als er sich von ihrer Tochter getrennt hatte.
„Ganz sicher nicht. Gabi, wenn du wirklich weggehst und die Kinder im Stich lässt, bin ich natürlich für sie da. Selbstverständlich. Das kriege ich schon hin. Deine Mutter lass bitte aus dem Spiel.“
Er kannte Gabi gut genug um zu wissen, dass er sie nicht würde umstimmen können, wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Die einzige Chance war, auf Zeit zu spielen. Vielleicht überlegte sie es sich noch einmal. Außerdem schien noch gar nicht sicher zu sein, ob sie wirklich für das Projekt angenommen würde.
„Also, du holst die Kinder am Freitag hier ab, abgemacht!“
Er konnte sich nicht erinnern, zugestimmt zu haben. Aber gegen diese Energie war er machtlos. Und er wollte um jeden Preis verhindern, dass Gabi die Kinder als Waffen im Kampf gegen ihn missbrauchte. Außerdem hatte er am Wochenende sowieso nichts vor. Eigentlich war er froh, die Kinder um sich zu haben.
Manchmal war es verdammt einsam in seiner Bude. Das hatte er sich so gar nicht vorstellen können, an jenem Sonntag, als er den Kanal entlanggewandert war, bis hin zum Nymphenburger Schlosspark, weiter am Kanal durch den Park und immer weiter bis Obermenzing, wo ein paar Jahre später Jeannie ihre Wohnung fand. Aber das wusste er natürlich nicht. Trottete weiter, spürte die Müdigkeit in den Beinen, immer weiter. Nur gehen. Gehen.
Und im Inneren das Chaos. Das Karussell der Gedanken, der Sturm der Gefühle. Er konnte nicht mehr. Die Geschichte mit Tobias, der blanke Hass in Gabis Augen, hatten seine Liebe endgültig zerbrochen. Wenn er nicht vor die Hunde gehen wollte, musste er aussteigen.
Allmählich wurden seine Gedanken klarer, und auch seine Emotionen. Das Chaos lichtete sich. Sechs Jahre hatte er durchgehalten, sechs Jahre ihre Rachsucht, ihren immer unverhohlener hervortretenden Hass ertragen. War geblieben nicht nur der Kinder wegen, sondern auch aus Sturheit. Oder, freundlicher ausgedrückt, aus Treue. Treue zu ihr und zu seinem Versprechen.
Und es war ihm sauer geworden. Gabi kam ihm keinen Fußbreit entgegen. Nach einem kurzen anfänglichen Versuch, die tödliche Kränkung zu vergeben oder irgendwie zu verarbeiten, hatte sie seine Liebe und seinen Treueschwur nur noch mit Füßen getreten. Und jetzt ging es nicht mehr. Die Einsicht war unausweichlich: Seine Kraft war zu Ende.
Er versuchte sich vorzustellen, wie ein Leben ohne Gabi wäre, und ohne die Kinder. Auf Gabis Gesellschaft konnte er gut verzichten, allein schon dass er diesen Gedanken zulassen konnte, machte die Last auf seinen Schultern um ein paar Tonnen leichter. Aber die Kinder… Gabi würde sie ihm nie überlassen, er würde schon um das gemeinsame Sorgerecht kämpfen müssen. Und, ehrlich gesagt, er würde sie auch nicht nehmen können. Er arbeitete Vollzeit, da konnte er nicht noch zwei Kinder erziehen. Wenn er auf Teilzeit ginge und Gabi ihm Unterhalt zahlte… Genauso gut konnte er darauf zählen, dass die Isar irgendwann bergauf floss. Sich ein Leben ohne die Kinder auszumalen fiel ihm schwer, war schier unmöglich. Aber was hatten die Kinder davon, wenn ihr Vater psychisch vor die Hunde ging. Oder wenn er, wie in seinen schwärzesten Fantasien, ihre Mutter totschlug.
Es würde hart sein, die Kinder nicht jeden Tag um sich zu haben, sehr hart. Er würde vor Schuldgefühlen nicht mehr aus noch ein wissen. Und doch wurde ihm bei diesem Fußmarsch klar, dass es nicht anders ging. Er wollte sich gar nicht damit rechtfertigen, dass es für die Kinder vielleicht auch besser wäre, nicht in einer Atmosphäre von ständigem Streit und Unfrieden aufzuwachsen. Seine Kraft war schlicht aufgebraucht.
Er erinnerte sich an die Zugfahrt nach Ebenstädt, zu Jürgens Hochzeit, unterwegs in die Vergangenheit. Wie ihn das Gefühl überfallen hatte, er sei nur noch ein Schatten seiner selbst. Wie ihm klar wurde, dass er sein ganzes Leben aufgegeben hatte.
Genug.
Irgendwie war er am Pasinger Bahnhof gelandet. Er nahm die Tram, irgendwo würde er umsteigen können in Richtung Rotkreuzplatz. Noch eine Schonfrist, bevor er Gabi gegenübertreten musste.
***
Dann stand er in der Wohnung. Nahm all seinen Mut zusammen. Trat Gabi entgegen, schnitt ihr das Wort ab, als sie ihn mit ihrer Tirade empfangen wollte, wo er so lange bleibe und was er sich eigentlich denke.
„Gabi, es reicht. Deine Gemeinheiten will ich nicht mehr ertragen. Dass du so über Tobias hergezogen bist, das hat dem Fass den Boden ausgeschlagen. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Und darum trenne ich mich von dir. Punkt.“
Er ließ Gabi, die plötzlich keinen Ton mehr herausbrachte, mit offenem Mund da stehen. Holte aus dem Garderobenschrank die Reisetasche, sammelte seinen Kulturbeutel ein, ein paar Kleidungsstücke und die Arbeitsunterlagen, die er mit nach Hause genommen hatte, stopfte alles in die Reisetasche. Dann fiel es ihm siedend heiß ein: seine Stratocaster! Er traute Gabi ohne weiteres zu, dass sie sie zu Klump schlug wie die Schallplatte vor ein paar Wochen, oder verbrannte, als puren, gemeinen Racheakt, nicht als musikalische Performance, sie war ja nicht Jimi Hendrix.
Er kehrte ins Wohnzimmer zurück, griff hinters Bücherregal, holte den flachen Gitarrenkoffer hervor, der dort vor sich hin staubte. Packte den Koffer, hängte sich die Reisetasche über die Schulter und ging zur Tür.
Gabi stand davor, mit dem Rücken zur geschlossenen Tür, versperrte mit ausgebreiteten Armen den Weg wie ein Verkehrspolizist.
„Spinnst du? Du bleibst“, zischte sie.
„Mach Platz“, fauchte er zurück. Was du kannst, kann ich auch. Auge in Auge standen sie da. Eine Ewigkeit, wie ihm schien. Dann ließ Gabi die Arme sinken. „Okay“, flüsterte sie tonlos. „Hau ab.“ Sie trat zur Seite. „Hast du es endlich geschafft!“
Im Vorbeigehen blieb er stehen, die Klinke in der Hand. „Nein, Gabi“, sagte er, auf einmal unendlich müde. „Du hast es endlich geschafft. Ich gebe auf. Du hast gewonnen.“
Während er die Stufen hinabstieg, hatte er keine Ahnung, wohin. Zu Tobias? Nein. Zu seinen Eltern? Sein Vater hatte seit drei Jahren eine Professur an der Hochschule in Augsburg, da wäre er in einer Dreiviertelstunde mit dem Zug. Nein. Undenkbar. Wie Hänschen klein, das in der weiten Welt nicht zurechtkam… Unschlüssig stand er auf der Straße herum.
Und nun? Wohin? Das Auto musste er Gabi lassen, das war klar. Mit der Reisetasche über der Schulter und dem Gitarrenkoffer in der Hand stand er da, in den Eingeweiden das Grundgefühl des Blues: No place to go… Er hatte immer noch nicht die geringste Ahnung, wohin er jetzt gehen sollte. Schließlich suchte er sich ein Zimmer in einer Pension, für dreißig Mark die Nacht. Morgen würde er weiter sehen.
***
Keine Erleichterung. Kein Gefühl von Freiheit und Abenteuer. Hannes saß auf dem Bett in dem kahlen Pensionszimmer und fühlte sich nur mies. Fremd im eigenen Leben. Es war so plötzlich gekommen, er stand selbst unter Schock. So plötzlich… er hatte sich nicht einmal von den Kindern verabschiedet. Andererseits, wie hätte das gehen sollen! Meine Lieben, euer Papa zieht jetzt mal eben aus, tschüs dann! Unmöglich. Es war unmöglich. Was Gabi ihnen erzählen würde?
Einfach im Stich gelassen hatte er sie. War Knall auf Fall abgehauen, hatte sich aus dem Staub gemacht, feige und egoistisch. Andererseits, für die Kinder wäre es auf jeden Fall plötzlich gekommen, auch wenn er sich mehr Zeit gelassen hätte.
Eigentlich fühlte er gar nichts.
Das Loch in seinem Bauch war wohl einfach nur Hunger. Es war halb sechs, seit dem Frühstück hatte er nichts mehr gegessen. Hunger, aber nicht den geringsten Appetit. Hannes konnte sich kaum vorstellen, jemals in diesem Leben wieder etwas zu essen, etwas so Normales zu tun wie eine Mahlzeit zu sich zu nehmen.
Jeannie.
Unwillig schüttelte er den Kopf. Jeannie war weiß Gott wo. Und überhaupt, er hatte vor gerade mal zweieinhalb Stunden seine Frau verlassen und dachte schon an die nächste.
Quatsch, Jeannie wäre niemals die Nächste. Er wollte nur mit ihr reden. Sie würde ihm zuhören, würde ihn verstehen. Aber er hatte keine Ahnung, wo sie war, keine Telefonnummer, keine Adresse. Wusste nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebte.
Irgendwann verließ er dann doch das Zimmer, lief ziellos durch die Straßen, gab schließlich dem Hungergefühl nach. Setzte sich irgendwo hinein, bestellte eine Pizza und ein Weißbier, die Pizza schmeckte nach Pappe und das Bier stieg ihm in den Kopf, er hatte viel zu schnell getrunken. Trotzdem bestellte er ein zweites. Was sollte er auch sonst tun!
Dieser Drang, mit irgendjemand zu reden! Und gleichzeitig wollte er niemand sehen. Konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder ein normales Gespräch zu führen.
Jeannie. Sie wäre die Einzige. Aber sie war nicht da.
Später, während er sich auf der ausgeleierten Matratze wälzte, kein Gedanke an Schlaf, überfielen ihn die Schuldgefühle. Die Kinder waren jetzt schon im Bett. Er hatte ihnen nicht vorgelesen, ihnen keinen Gutenachtkuss gegeben. In seinem Herzen klaffte ein Riss. Wann würde er sie überhaupt wiedersehen?
Und zur selben Zeit wusste er, dass er nicht anders konnte. Es war zu Ende. Gabi hatte gewonnen. Und ihm blieb nichts. Nichts.
***
Simon kam auf die nahe liegende Idee. „Komm, wir fahren zu Hin und mit, holen ein Schlafsofa und stellen es in dein Büro. Das ist groß genug. Wir haben hier ja sogar eine Dusche.“ Die hatten sie zwar nie benutzt, aber Simon hatte Recht.
Also fuhr er mit Simon ins Möbelhaus und kaufte ein Schlafsofa, holte seine Reisetasche aus der Pension und zog in sein Büro ein. Die Matratze war besser, aber Schlaf fand er trotzdem kaum. Immer wieder dieses Gefühl, alles sei falsch. Und dann wieder die Gewissheit, dass es nicht mehr anders ging. Er hatte es wirklich versucht. Sechs Jahre lang. Jede Minute vermisste er Lukas und Judith; Gabi vermisste er nicht. Nach drei Tagen begann sich die Schockstarre etwas zu lockern, er konnte anfangen nachzudenken. Er brauchte seine Sachen. Hatte ja alles in der Wohnung gelassen.
Am Freitag nahm er sich frei, mietete sich einen Kleintransporter und fuhr zu seiner alten Wohnung, um seine Sachen zu holen, in der Hoffnung, dass Gabi nicht seinen gesamten Besitz auf den Müll geworfen hatte. Der Schlüssel sperrte nicht. Ratlos stand er vor der verschlossenen Tür.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als am Nachmittag anzurufen. Gabi war wortkarg und schnippisch, aber – o Wunder – sie ließ sich darauf ein. Morgen, am Samstag, könne er kommen.
Simon hatte angeboten, ihm zu helfen. Als sie vor der Tür der Wohnung standen, in der er sechs Jahre gelebt hatte, in der seine Kinder groß wurden, packte ihn um ein Haar das heulende Elend. Doch immer noch wusste er, dass es richtig war. Dass er keine andere Chance hatte, wenn er nicht ganz untergehen wollte. Ich will mein Leben wiederhaben, wenigstens etwas davon.
Auch Gabi war nicht allein. Sie hatte Nadine und Edda als Sekundantinnen geholt. Die Kinder waren nirgends zu sehen. „Sind bei den Großeltern“, erklärte Gabi tonlos und meinte damit selbstredend ihre Eltern. Sie sah grau und müde aus, wahrscheinlich hatte sie auch nicht viel geschlafen. Eigentlich komisch. So wie sie ihn behandelt hatte, musste sie doch froh sein, ihn endlich los zu sein. Aber natürlich war auch ihr Lebensmodell zusammengebrochen. Egal, nicht mehr mein Problem. Bei diesem Gedanken kam er sich vor wie ein Schuft und gleichzeitig lag darin die Befreiung. Er war nicht mehr verantwortlich. Für Gabi jedenfalls nicht. Und für die Kinder… da stand ihm wohl noch ein Kampf bevor.
Nadine folgte ihm auf Schritt und Tritt und beobachtete jede seiner Bewegungen. Ging auch mit in den Keller, stand wie der Zerberus in der Tür. Fehlt nur noch die Kalaschnikow.
„Nadine, du nervst“, knurrte er schließlich unwillig, als sie über seine Schulter kontrollierte, wie er seine Winterstiefel aus dem Schuhschrank zusammensuchte. „Ich werde Gabis Pumps nicht einpacken.“ Nadine antwortete gar nichts, goss nur ihren verächtlichsten Blick über ihn aus. O Mann, was muss Gabi über mich erzählt haben…
Hannes packte nur seine Bücher, die Stereoanlage und die Schallplatten ein, seinen alten Vox-Verstärker, Klamotten und Schuhe. Allen Hausrat ließ er Gabi, er hätte sowieso nichts damit anzufangen gewusst. Die meisten Sachen musste er erst einmal in Augsburg unterbringen, bei seinen Eltern auf dem Dachboden.
Seine Mutter hatte fast erleichtert gewirkt, als er ihr vor drei Tagen am Telefon von seinem Auszug erzählt hatte. Obwohl er immer vermieden hatte, sich über Gabi auszulassen, hatte sie natürlich mitbekommen, dass es ihrem Sohn nicht gut ging. Mutterinstinkt. „Und wie macht ihr das mit den Kindern?“, wollte sie nur wissen.
„Gute Frage.“ Klar war, dass er das Sorgerecht behalten würde, das konnte Gabi ihm nicht nehmen. Und das bedeutete, dass er die Kinder regelmäßig sehen würde. „Ich hoffe, Gabi legt dir nicht allzu viele Steine in den Weg“, hatte die Mutter gesagt.
Natürlich trog diese Hoffnung. Er musste das Jugendamt einschalten, das Familiengericht, um durchzusetzen, dass er die Kinder jedes zweite Wochenende zu sich holen konnte. Da hatte er dann schon seine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung gefunden, ein Wohn-Arbeitszimmer, ein Kinderzimmer, ein Kämmerchen für Bett und Kleiderschrank. Den ganzen Hausrat musste er neu anschaffen, ließ alles in allem fast zweitausend Mark bei Ikea. Seine Eltern mussten ihm dabei unter die Arme greifen, nach dem Unterhalt, den er Gabi zahlen musste, blieb ihm nicht mehr viel.
Als er die Kinder zum ersten Mal holen konnte, hatte er sich halbwegs gemütlich eingerichtet. Die Kinder fremdelten am Anfang stark. Es brauchte etliche Wochenenden, um das Vertrauen einigermaßen wiederherzustellen; Gabi hatte ihnen gesagt: „Euer Papa hat euch nicht mehr lieb.“ Von allen Schlägen, die er von ihr einzustecken hatte, tat dieser am meisten weh. Aber er war entschlossen, es nicht mit gleicher Münze heimzuzahlen. Er wollte die Kinder aus dem Konflikt zwischen ihren Eltern heraushalten, so gut es ging, aber manchmal musste er sich fast die Zunge abbeißen.
Und nun sollte er sie also ganz übernehmen. Das bedeutete einerseits Freude und Genugtuung pur, andererseits die Frage: Wie soll das gehen? Auf Dauer konnten sie zu dritt kaum in seiner kleinen Wohnung hausen. Das ganze Wochenende dachte er darüber nach, und beim Abspülen nach dem Mittagessen am Sonntag stand ihm mit einem Schlag die Lösung glasklar vor Augen: Wenn Gabi für mindestens zwei Jahre wegging, würde er wieder in die Familienwohnung ziehen. Seine Zweieinhalb-Zimmer-Klause würde er kündigen. Und wenn Gabi nach zwei Jahren zurückkam? Dann würde sie sich umsehen müssen. Wenn er die Kinder ganz übernehmen sollte, dann wirklich ganz und nicht nur vorübergehend. Das musste er Gabi klarmachen. Ganz oder gar nicht. Gar nicht kam nicht infrage, die Schwiegermutter war keine Option. Also ganz. Mit allen Konsequenzen. Er würde seine Arbeit auf Teilzeit reduzieren müssen. Finanziell würde es nicht einfach werden, aber anders ging es nicht. Und wenn Gabi wieder zurückkommen sollte, müsste sie eben ganz arbeiten und ihm den Kindsunterhalt zahlen.
Gabi kam erst am Sonntag spät nachts aus Wuppertal nach Hause. So brachte er am Montag Lukas in die Schule, Judith in den Kindergarten, nahm sich den Nachmittag frei. Holte die Kinder wieder ab, ging mit ihnen eine Pizza essen und fuhr dann zur Wohnung, die auch einmal seine Wohnung gewesen war. Er klingelte unten an der Haustür wie immer, aber diesmal ließ er die Kinder nicht allein hochgehen, wartete nicht, bis Lukas dreimal auf den Türöffner drückte. Er ging mit hoch. Stand auf einmal in der Wohnung, die noch genauso roch wie vor zwei Jahren, als er ausgezogen war. Der Flur, die Bilder an der Wand, das Chaos an der Garderobe – alles so vertraut.
Nur als Gabi um die Ecke kam, stutzte er. Ihre blonden Locken waren fast komplett verschwunden, sie hatte jetzt eine burschikose Kurzhaarfrisur. Sie hatte mindestens fünf Kilo abgenommen und sah nicht mehr sportlich aus, sondern eher hager. Außerdem trug sie nicht, wie üblich, Jeans und ein blaues oder schwarzes Top, sondern ein schreiend rot-grün gemustertes, kurzes Sommerkleid.
Sie schien überhaupt nicht überrascht, ihn zu sehen. Begrüßte ihn fast freundschaftlich. Aber Hannes war irritiert über ihre hektische Art, über die fahrige, etwas hysterische Aura, die sie umgab. So war sie in den ersten Jahren ihrer Ehe manchmal gewesen. Das waren die Tage, an denen sie die Küchenstühle grün angestrichen oder ellenlange To-do-Listen angelegt, laut und lange mit ihren Freundinnen telefoniert und genau diese hyperaktive Atmosphäre verbreitet hatte.
„Ah, Hannes“, sagte sie, machte dann auf dem Absatz kehrt und verschwand im Schlafzimmer – in dem, was einmal ihr gemeinsames Schlafzimmer gewesen war. Die Kinder ließen ihre Rucksäcke fallen und rannten ins Wohnzimmer. „Rucksäcke aufräumen“, rief er ihnen nach. Lukas rief von drinnen zurück: „Du bist hier nicht zu Hause! Du hast hier nichts zu sagen!“
„Na warte, du Schlawiner“, drohte Hannes, halb erbost, halb belustigt. Aber er ließ die Rucksäcke Rucksäcke sein und ging die paar Schritte zur Schlafzimmertür.
„Gabi, ich möchte etwas mit dir besprechen.“
Sie kruschtelte im Kleiderschrank herum. „Was ist?“ fragte sie in den Schrank hinein.
Hannes kam sich etwas blöd vor. Kann sie mich nicht mal anschauen? Dann dachte er: Was soll‘s, immerhin hört sie mir zu.
„Du hast tatsächlich vor, für zwei Jahre oder länger wegzugehen?“
„Hab ich dir doch gesagt“, kam es aus den Tiefen des Schrankes.
Okay, du willst es so. „Dann werde ich hier wieder einziehen. In meiner Wohnung ist nicht genug Platz für drei Personen auf Dauer.“
„Moment“, antwortete Gabi, tauchte aus dem Schrank auf.
Bevor sie Luft holen konnte, schob er ein weiteres Argument nach. „Für die Kinder wäre es auch am besten, wenn sie in ihrer Umgebung bleiben könnten.“
Gabi sah ihn an, ihr Blick flackerte leicht. „Du willst hier einziehen?“
„Ganz recht. Ich finde, es ist am besten so. Für die Kinder und überhaupt.“
Gabi kratzte sich an der Nase. Dann schien sie nach innen zu lauschen, bewegte leise murmelnd die Lippen. Hannes verstand kein Wort. Auf welchem Planeten lebt sie?
Auf einmal richtete Gabi ihren Blick wieder auf ihn. Aus dem fast unhörbaren Murmeln wurden klare Worte. „Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, so ihn fürchten.“
Hannes verstand gar nichts. Was sollte jetzt dieser Satz, der nach einem biblischen Psalm klang?
Gabis Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln und sie fuhr fort, den Psalm oder was es war aufzusagen. „So ferne der Morgen ist vom Abend, lässt Er unsere Übertretungen von uns sein.“ Sie sah ihn aufmunternd an. Er verstand gar nichts.
„Hannes, verstehst du nicht? Der Herr gibt uns Antwort. Erbarmst du dich über die Kinder?“
Jetzt bloß nichts Falsches sagen! Aber wovon sprach sie überhaupt? Zögernd nickte er. „Ja, klar…“ Ist mit dem Vater, der sich erbarmt, nicht Gott gemeint?
„Eben! Verstehst du nicht? Du erbarmst dich über die Kinder, Hannes, so habe ich das noch gar nicht gesehen. Und wenn das so ist, lässt Gott deine Übertretung ferne von dir sein.“ Sie strahlte, aber ihm war gar nicht wohl. Was kommt als Nächstes?
Noch einmal schien sie zu lauschen, runzelte kurz die Stirn, lief dann ans Fenster. Schaute hinaus, beachtete ihn scheinbar gar nicht mehr, doch plötzlich winkte sie ihn zu sich. „Da, schau“, rief sie aufgeregt und deutete hinaus. „Schau doch!“
Er tat ihr den Gefallen, trat neben sie ans Fenster. Roch ihren Duft, der ihn einmal so betört hatte. Folgte dann mit dem Blick ihrem ausgestreckten Zeigefinger. Nichts Besonderes zu sehen, die Straße sah aus wie immer. Parkende Autos, Leute mit Aktentaschen und Einkaufstüten auf dem Nachhauseweg. Ein Mann, der zwei Kinder in ein Auto verfrachtete.
„Da! Siehst du? Der Mann? Das ist auch ein Vater, der sich über seine Kinder erbarmt.“ Sie wandte sich ihm zu, packte ihn an den Oberarmen, schüttelte ihn. „Hannes! Das ist doch ein eindeutiges Zeichen von Gott!“
Ihm wurde immer unwohler. Was redet sie?
Gabi ließ ihn wieder los. Ihr Blick wurde leer, noch einmal schien sie irgendwohin zu lauschen, auf Stimmen, die er nicht hören konnte. Dann sah sie ihn wieder an, ihre blauen Augen blitzten wie früher. Feierlich verkündete sie: „Hannes, es ist Gottes Wille, dass du mit den Kindern hier wohnst. Wir haben eindeutige Beweise für seinen Willen gesehen. O, wie wunderbar ist Gott, dessen Barmherzigkeit groß und dessen Name heilig ist, dessen Barmherzigkeit groß und dessen Namen heilig ist, dessen Barmherzigkeit groß und dessen Name heilig ist.“ Die dreimalige Wiederholung klang wie eine rituelle Beschwörung. Hannes schauderte. Was ist in sie gefahren?
Hannes war nicht sicher, wie lange ihre Zustimmung anhalten würde, aber immerhin hatte sie hiermit offenbar ja gesagt. Abgesehen davon lief der Mietvertrag immer noch auf sie beide und er zahlte über den Unterhalt praktisch die ganze Miete. Sie konnte eigentlich gar nichts dagegen haben. Er würde eben ihre Sachen in den Keller bringen und seine wieder aus der kleinen Wohnung holen. Die konnte er dann auch aufgeben.
Er verabschiedete sich von den Kindern. Wieder mal schlug das Schicksal eine ziemliche Volte. Vorausgesetzt, Gabi blieb bei ihrem Plan, kam nun ein neuer Lebensabschnitt, als allein erziehender Vater. Öfter mal was Neues!
***
Vier Monate später war es tatsächlich so weit. Hannes zog wieder in der Familienwohnung ein. Brachte alles, was er zweieinhalb Jahre vorher unter Nadines Argusaugen abgeholt hatte, zurück. Schaffte das ehemalige Ehebett in den Keller, stellte das Ikea-Bett ins Schlafzimmer und den Schreibtisch da auf, wo einmal Gabis Arbeitsplatz gewesen war, räumte seine Kleider in den Schrank und füllte auf der Post einen Nachsendeauftrag aus. Mit viel Glück bekam Lukas einen Platz im Hort, Judith ging nach dem Kindergarten mit zu ihrer Freundin Martha, im letzten Kindergartenjahr fand er für sie einen Ganztagesplatz.
Er staunte selbst, wie schnell sich alles einpegelte. Die Kinder brauchten etwas Zeit, um sich umzugewöhnen, vor allem Lukas. Das erste halbe Jahr war schwierig. Seine Leistungen in der Schule stürzten ab und hin und wieder zettelte er auf dem Schulhof eine Schlägerei an. Zwei-, dreimal musste Hannes zur Lehrerin, die viel Verständnis hatte, aber doch deutlich machte, dass es so nicht ging.
Hannes versuchte, liebevoll, aber konsequent zu sein, und irgendwie schafften sie es. Im neuen Schuljahr, nach drei Wochen Urlaub auf dem Bauernhof, hatte Lukas sich gefangen. Fragte kaum noch nach Gabi. Er schien jetzt zufrieden damit, dass er in seiner gewohnten Umgebung bleiben konnte und nicht jedes zweite Wochenende seinen Rucksack packen musste.
Mit Hort und Ganztagesplatz war es machbar. Die Wohnung war nicht immer picobello aufgeräumt und manchmal gab es nur Miracoli, aber insgesamt war die kleine Familie auf einem guten Weg.
Im April 1989, kurz bevor Gabi nach Afrika aufbrechen sollte, erhielt Hannes einen Anruf seines Ex-Schwiegervaters. Gabi war mit einer schweren Depression in die Psychiatrie eingeliefert worden. Diagnose: bipolare, besser bekannt als manisch-depressive Persönlichkeitsstörung mit psychotischen und wahnhaften Symptomen. Sie würde wohl einige Wochen oder gar Monate stationär behandelt werden müssen. Nach Afrika könne sie auf gar keinen Fall. Und er solle den Kindern nichts sagen, das würde sie nur verstören.
Mit einem eigenartigen Gefühl im Magen legte Hannes auf. Ein Schmerz um Gabi, die er einmal geliebt, die ihm seine zwei Kinder geschenkt hatte. Ein plötzliches Verstehen. Die Puzzleteile fielen an ihren Platz. Er besorgte sich eine kurze, populärwissenschaftliche Einführung in die Krankheiten der Psyche und fand Gabi in jeder Zeile wieder, die er über die bipolare Störung las. Hätten sie miteinander leben können, wenn ihre Krankheit erkannt und behandelt worden wäre? Aber diese Gedanken waren müßig. Sie waren geschieden und er verspürte nicht die geringste Neigung, die Beziehung wieder aufzunehmen. Nach weiteren drei Monaten meldete sie sich selbst. Als er ihre Stimme hörte, erschrak er. Sie klang benommen und gedämpft, sprach undeutlich und abgehackt. Sie war dauerhaft krankgeschrieben, konnte nicht in die Schule, musste täglich ihre Psychopharmaka schlucken. War noch in der Psychiatrie, würde dann später bei ihren Eltern unterkommen. Wollte von der Gemeinde nichts mehr wissen, musste sich völlig neu sortieren und überhaupt erst einmal schauen, dass sie wieder auf die Reihe kam. Wollte sich den Kindern in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht zumuten; er erzählte ihnen nicht, dass ihre Mutter angerufen hatte.
Trotz dieser bedrückenden Nachrichten begann für Hannes eine gute, ruhige Zeit, manchmal meinte er, es sei die beste Zeit seines Lebens. Nachdem er sich in die neue Rolle als Hausmann und Vater eingelebt hatte und die Kinder mit der Situation gut zurechtkamen, suchte er den Kontakt mit seinen früheren Bandkollegen. Es juckte ihn gewaltig in den Fingern, wieder Musik zu machen. Er stellte die Stratocaster griffbereit auf den Ständer und fing wieder an zu üben. Mike, der Bassist der Thirty-nine Bandits, war verschollen, niemand wusste, wo er abgeblieben war. Aber er erreichte Angie, die Sängerin. Sie sang inzwischen in zwei anderen Bands, weniger kommerziell, Blues und Funk, beide Bands waren mit guten Gitarristen gesegnet. Aber sie wusste von einer Rockband, die einen zweiten Gitarristen suchte. Hannes rief an, spielte vor und wurde engagiert. Die Babysitterin erklärte sich bereit, jeden Donnerstagabend die Kinder ins Bett zu bringen, damit Hannes üben gehen konnte. Bald hatte er mit seiner neuen Band Strawberry Overdose die ersten Auftritte. Sein Status als Gitarrist und Sänger führte fast unvermeidlich zu einigen kleineren, unverbindlichen Affären, eigentlich immer nur ein One-Night-Stand nach einem Auftritt. Er achtete darauf, dass sich nie etwas Festeres daraus ergab. Alles in allem war er mit seinem Leben sehr zufrieden, zeitweise hielt er sich geradezu für glücklich.
Und dann kam eines Tages der Brief von Jeannie.