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Zurück in die Zukunft

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Am eigenen Leib zu erfahren, wie es früher war, und damals schon zu wissen, was morgen passiert, ist faszinierend und beängstigend zugleich. Ich muss gestehen, dass mich Zeitreisen schon länger interessieren. Nicht, dass ich mich tatsächlich schon einmal mit der Theorie auseinandergesetzt habe, aber in Filmen sind Zeitsprünge schließlich oft die Kirsche auf dem Dessert. In die (eigene) Vergangenheit zu reisen und bestimmte Begebenheiten ändern zu können, hätte durchaus seinen Reiz – und wäre zugleich gefährlich. Spätestens seit Marty McFlys kultigen „Zurück in die Zukunft”-Reisen im DeLorean weiß man, was dabei alles schieflaufen kann. Und dennoch bestärkt mich die klassische „Ende gut, alles gut”-Hollywood-Mentalität in meinem Vorhaben, für dieses Buch einen kleinen Zeitsprung zu wagen. Keine Angst, denn heute im Jahr 2015, weiß ich, dass ich nichts ändern muss. Dem BVB geht’s wieder gut, vielleicht sogar besser als je zuvor. Ich möchte lediglich herausfinden, ob diese Entwicklung in Ansätzen absehbar war oder ob sich damals der triste Glaube an eine dunkle Epoche fest in den Köpfen eingenistet hatte.

Also reise ich mal eben mir nichts, dir nichts durch die Zeit und interviewe mein damaliges Ich. Gäbe es für diese Zeitreise ein Gerät – eine magische Uhr, einen schwarzen Sportwagen, eine HightechDuschkabine aus Alu oder was auch immer –, auf dem per Digitalanzeige die Zielzeit erkennbar ist, würden folgende Ziffern aufleuchten: 15032005. Der Tag nach der Molsiris-Entscheidung. Tag eins auf dem langen Weg zurück zu einer schuldenfreien Normalität.

Ein heller Lichtblitz, viel Rauch um nichts und ein kurzes, aber intensives Donnergrollen. Da stehe ich also und blicke auf mein fast zehn Jahre jüngeres Ich. Faszinierend – wie Mr. Spock in einem solchen Augenblick wohl sagen würde. Mein früheres Ich, also das vergangene, schlurft gerade, gedankenverloren auf ein riesiges Handydisplay blickend, vom Schulhof und steuert auf sein Fahrrad zu. Überflüssig zu erwähnen, dass ich mich für mein damaliges Outfit eigentlich selber ohrfeigen müsste. Aber egal. Dafür habe ich mich ja nicht auf diese Zeitreise begeben. Was sein muss, muss sein. Schnellen Schrittes kreuze ich den Weg und tippe mir quasi selbst von hinten auf die Schulter.

Ich kürze den klischeehaft stupiden „Wer bist und was machst du hier”-Dialog einfach mal ab und steige sofort ins Interview ein.

Älteres Ich:Jüngeres Ich, nachdem du nun also weißt, warum ich hier bin, stelle ich die grundlegende Frage am besten gleich. Die Molsiris-Entscheidung und damit sehr turbulente Wochen und Monate liegen hinter dem BVB. Was denkst du, wie geht es nun weiter?

Jüngeres Ich:Also erst mal muss ich sagen, dass ich so einen Tag wie gestern nicht noch einmal erleben möchte. Dieser unglaubliche Druck und dazu dieses beschissene Gefühl der absoluten Hilflosigkeit. Das ging mir als junger Mensch ja schon komplett aufs Herz. Keine Ahnung, wie die Alten das ausgehalten haben. Wie es weitergeht, willst du wissen? Du weißt es doch schon längst, wenn du wirklich aus der Zukunft kommst. Dann sag du es mir!

Älteres Ich:Erstens wäre es schön, wenn du bei einem Interview auf deinen Kaugummi verzichtest. Das nervt nämlich tierisch. Und zweitens habe ich dir vorhin doch schon erklärt, dass ich über das, was in den kommenden Jahren passieren wird, nicht sprechen darf. Vielmehr möchte ich deine Meinung zum Thema hören, deshalb bin ich hier.

Jüngeres Ich:Der Kaugummi ist ganz frisch. Der bleibt also. Jetzt zu der anderen Sache. Da ich du bin und umgekehrt, weißt du doch selbst am besten, was ich jetzt denke. Wie es meiner Meinung mit dem Ballspielverein weitergeht, müsstest du doch also ganz klar vor Augen haben.

Älteres Ich:Genau das ist ja das Problem. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich damals in dieser unglaublich surrealen Situation gedacht habe. Meine Gedanken zu dieser Zeit waren so zerstreut und konnten sich nicht mal ansatzweise auf die Zukunft richten. Es ist einfach zu viel auf den BVB eingeprasselt, und damit auch auf seine Anhänger.

Jüngeres Ich:Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Im Moment fühle ich mich trotz der positiven Entscheidung gestern in Düsseldorf total verloren. Irgendwie kopflos und ein bisschen so, als würde ich weder hoch noch runter denken können. Vielleicht können deine Fragen ja helfen.

Älteres Ich:Bingo! Deshalb bin ich hier. Fangen wir also an!?

Jüngeres Ich:Alles klar. Dann strukturiere mich! Aber mach’s einigermaßen kurz. Mutti bereitet Mittagessen vor, und du weißt ja, dass es sich lohnt, als Erster am Tisch zu sitzen.

Älteres Ich:Was gibt es denn Schönes?

Jüngeres Ich:Hackbraten.

Älteres Ich:Okay, ich fasse mich kurz. Also noch mal: Wie geht es beim BVB weiter?

Jüngeres Ich:Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung. Schon lange vor der Heimpleite am Sonntag gegen Stuttgart ging es ja schon nicht mehr um das Sportliche. Aber jetzt, wo die finanzielle Rettung vorläufig durch ist, sollte das Kicken wieder in den Vordergrund rücken. Tabellenplatz zwölf macht da aber auch nicht wirklich viel Hoffnung. Nach oben Richtung internationales Geschäft wird wohl nichts mehr gehen. Von daher denke ich, dass die Saison unspektakulär zu Ende gehen wird. Und solange die Blauen nicht Meister werden, ist ja alles gut.

Älteres Ich:Inwieweit wird es deiner Meinung nach Veränderungen geben, sowohl personeller als auch moralischer Natur?

Jüngeres Ich:Dass der Kader nach der Sommerpause nicht mehr derselbe sein wird, ist jedem klar. Teure Stars wird es dann nicht mehr geben. Die Chance, mit jungen Nachwuchsspielern etwas aufzubauen, klingt nach Spannung und Herausforderung. Und was das Moralische angeht: Aus Fehlern lernt man – so heißt es zumindest. Also kann man nur hoffen, dass die neuen Verantwortlichen diese Weisheit beherzigen.

Älteres Ich:Welche konkreten sportlichen Ziele würdest du für die nächsten drei Jahre formulieren?

Jüngeres Ich:Das ist schwierig, weil niemand wirklich sagen kann, in welchem Maß sich der Kader verändern wird. Die Qualifikation für einen internationalen Wettbewerb wäre natürlich eine feine Sache. Aber so wie sich die Jungs momentan präsentieren, sollte auch der Blick nach unten eine Rolle spielen. Der Schuldenabbau wird jedenfalls alles überstrahlen und damit auch die sportlichen Ergebnisse direkt beeinflussen.

Älteres Ich:Ist Bert van Marwijk in dieser schwierigen Epoche der richtige Mann an der Seitenlinie? Oder anders gefragt, wer wäre es denn?

Jüngeres Ich:Zurzeit macht er das, was geht. Ganz zufrieden bin ich nicht, kann mir in dieser Situation aber auch nicht vorstellen, dass ein anderer das Ruder herumreißen würde. Das ist ja auch für ihn blöd, dass in seiner ersten Saison die Hölle ausbricht. Sicherlich wäre es schön, wenn irgendwann mal wieder ein Trainer an der Außenlinie steht, der zum Verein passt wie Arsch auf Eimer. Aber ganz ehrlich: Junge, ambitionierte Trainer werden den BVB in nächster Zeit wohl erst mal meiden. In einem solch aufgewühlten Umfeld lässt es sich wahrscheinlich nicht ganz so konzentriert arbeiten wie anderswo. Der Traum von einem Hitzfeld 2.0 ist deshalb aber noch nicht ausgeträumt.

Älteres Ich:Das Glas ist also halbleer?

Jüngeres Ich:Zurzeit schwimmt nur noch eine kleine Pfütze am Glasboden. Aber das hat rein gar nichts mit der uneingeschränkten Liebe zum Verein zu tun, sondern vielmehr mit den kräftezehrenden vergangenen Monaten. Da bleibt vieles bis alles hängen und saugt die Fan-Reserven komplett aus.

Älteres Ich:Und das schweißt einen dann noch näher an den eigenen Verein?

Jüngeres Ich:Definitiv. Im Grunde sogar manchmal stärker als Erfolge. Die Intensität, in der ich alles, was mit dem BVB zu tun hatte, in den letzten Monaten verfolgt habe, ist schon extrem. Das kann auch gerne erst mal so bleiben, weil auch und gerade Krisenzeiten das Fansein definieren.

Älteres Ich:Meisterschaft, DFB-Pokal-Sieg und Champions-League-Finale in den kommenden Jahren sind realistisch?

Jüngeres Ich:Was tun die euch in der Zukunft denn in den Tee?

Ein heller Lichtblitz, ein kurzes, aber intensives Donnergrollen und ich bin verschwunden und lasse mich verwundert zurück. Wieder in der Zukunft oder, besser gesagt, in der Gegenwart angekommen, denke ich unweigerlich über meine eigenen Worte nach. „Damals” – wie cool das klingt, wenn man plötzlich merkt, dass man auch nicht jünger wird – war ich also verständlicherweise verängstigt und unsicher ob der Zukunft meines Ballspielvereins und teilte diese Gefühlswelt mit so vielen treuen Anhängern. Gleichzeitig aber versprühte ich Tatendrang, wenn ich an die kommenden Jahre dachte, auch wenn ich dabei nicht unbedingt auf sportliche Titel und reichlich Konfetti hoffte. Wäre ich gezwungen, diese Epoche mit den erfolgreichen 2010er Jahren zu vergleichen, würde bis auf einen konfusen Gesichtsausdruck nicht viel rumkommen. Viel zu klar sind all die Erinnerungen und viel zu schwierig der Versuch, eine künstliche Grenze zwischen jetzt und damals zu ziehen. Wann hörte die „Krisenzeit” auf, wann fing sie überhaupt an? Vielleicht schon mit dem Amtsantritt eines gewissen Gerd „persona non grata” Niebaums Mitte der achtziger Jahre?

Es ist mühsam, darüber zu diskutieren, denn letztlich wird es nichts ändern. Fakt ist, dass wenige Leute an der Spitze – vielleicht ja auch nur eben jene Einzelperson – viel Unfug getrieben haben und somit den Lebensmittelpunkt vieler Menschen an den Rand des Abgrundes getrieben haben.

Wie gesagt, ein Vergleich dieser schwarz-gelben Zeitabschnitte ist schlichtweg unmöglich. Die Intensität von Gefühlen lässt sich nämlich nur schwerlich messen. Versucht man negative und positive Fußballgefühle gegeneinander aufzuwiegen, ist ein Scheitern vorprogrammiert. Denn wer könnte begründen, warum 25 Siege in einer Meistersaison mehr Freude auslösen als dieses eine geile Last-Minute-Tor, dieser eine geile Derbysieg, dieser eine verdiente Auswärtspunkt und die Summe all dessen während einer Durchschnittssaison. Komplizierter Stoff und eigentlich ein eigenes Buch wert. Im Endeffekt will ich damit ausdrücken, dass in einer Saison, in der wenig richtig und einiges falsch läuft, nicht jeder BVB-Fan zu Tode betrübt sein muss. Oder himmelhochjauchzend, wenn es andersrum läuft. Das Ganze verhält sich ungefähr so wie mit einem nachmittäglichen Spaziergang über einen frisch gedüngten Kartoffelacker. Der Gestank ist nahezu unerträglich. Aber schickt der Wind eine frische Brise vom benachbarten Mohnfeld, hat man just das Gefühl, in einer Parfümerie zu stehen – oder so ähnlich.

Aus der Hölle ans Licht

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