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Neuanfang, ohne neu anzufangen

Keine Insolvenz. Immer noch Bundesliga. Nach wie vor Borussia Dortmund. Es ging also weiter für den BVB. Überall in Deutschland, überall auf der Welt konnte man Menschen finden, die sich mit einer vorher selten erlebten Erleichterung Schweißperlen von der Stirn wischten. Ich war einer von ihnen. Und es waren verdammt viele und verdammt dicke Schweißperlen.

Der Molsiris-Spuk fand bekanntlich an einem Montag statt, sodass Mannschaft und Fans tatsächlich einige Tage blieben, um das Erlebte bis zum kommenden Spieltag zumindest ein Stück weit zu verarbeiten. Ein paar Wochen wären wohl angebrachter gewesen, aber fünf Tage taten es dann auch.

Der BVB war gerettet, und die Vorfreude auf das nächste Bundes-ligaspiel hätte größer nicht sein können. Zum ersten Mal wurde mir die Bedeutung der Worte „das nächste Bundesligaspiel” bewusst und auch, wie scheinbare Selbstverständlichkeiten leider viel zu selten gewürdigt werden. Der BVB und ich durften also nach Hamburg fahren und weiterhin um Bundesligapunkte kämpfen. Die Tour in den Norden empfand ich dementsprechend als etwas Besonderes. Beim Bundesliga-Dino im Volkspark. Ein würdiger Rahmen für einen Neustart.

Den Vorhang wieder weit geöffnet, alle Beteiligten brannten auf die Vorstellung in der Hansestadt. Und was das Publikum zu sehen bekam, glich ganz großem Kino.

Jetzt aber genug vom Trailer und rein in den Film:

Freitagnachmittag. Unterricht irgendwie über die Zeit gebracht. Kribbeln im Bauch. Nur noch einmal schlafen, dann ist wieder Borussia. Auswärts. Im Norden. Nach der Fast-Pleite.

Zu dieser Zeit war es für mich ohnehin normal, die Nächte vor LiveSpielen mit unruhigem Im-Bett-Hin-und-Herwälzen zu verbringen, statt ins gelobte Träumeland zu entschwinden. Noch lebte ich in Eisenhüttenstadt, läppische 580 Kilometer von Dortmund entfernt. In den Anfangsjahren des sagenumwobenen 21. Jahrhunderts konnte ich aufgrund dieser enormen räumlichen Distanz zum Westfalenstadion (und so gesehen auch zu allen anderen Bundesligastadien) froh sein, wenn ich am Ende einer Spielzeit 15 Begegnungen mit Dortmunder Beteiligung in meine Buli-Liste eintragen konnte. Hinzu kam mein blödes, weil für einen Führerschein zu junges Alter. Für 600 Kilometer mit dem Fahrrad fehlten mir bei aller schwarz-gelber Hingabe die nötige Motivation und so ein bisschen vielleicht ja auch die Oberschenkelmuskulatur.

Hamburg war da mit einer Anreise von 400 Kilometern noch sehr machbar. Ein Wochenendticket und knapp zwölf Stunden mit dem öffentlichen Nahverkehr. Ein Hauch von Paradies.

Im Zug sitzend – Zeit war ja genügend vorhanden –, machte ich mir auf solchen Touren meist heftige Gedanken über die bevorstehende Partie. Voraussetzung dafür war allerdings, dass meine Begleiter – BVB-Fans aus meinem direkten Umfeld – sich ganz den musikalischen Darbietungen der trendigen Innovation jener Zeit hingaben. Besser bekannt als MP3-Player. Während nervig anmutende Bässe aus den knuffigen Ohrstöpseln drangen, dachte ich über Personalrochaden und taktische Ausrichtungen nach. Kehl leicht angeschlagen. Dede rückt ins Mittelfeld. Wer bekleidet dann die Linksverteidigerposition? Das übliche Gedankengut eines engagierten Anhängers, dessen Meinung genauso viel zählt wie die eines stillgelegten Flutlichtmastes. Fußballalltag ist, was ihr draus macht. Und mein Spieltagsalltag sah eben so aus.

Der besonderen Aura, die sich über die Partie beim HSV legte, konnte ich mich jedoch nicht entziehen. Borussia auswärts. Anreise mit der Bahn. Alles war wie immer. Molsiris-Entscheidung vor vier Tagen. Keine Insolvenz. Alles war komplett anders. Meine Gedanken kreisten weder um die Rotsperre von Abwehrchef Wörns noch um die Formschwäche von Knipser Ewerthon. Taktikfuchs und Hobbycoach hatten Pause. Für dieses Spiel. Vielleicht ja sogar für den Rest der Saison. Diesmal galt es, demütig zu sein und jede Minute der Auswärtsfahrt so zu genießen, als sei es die letzte. Verbunden mit der schüchternen Hoffnung, die vorhandene Asche würde in absehbarer Zeit die Grundlage für eine blühende BVB-Landschaft sein.

Voller Demut also blickte ich aus dem Zugfenster, draußen rauschte die frühlingshafte Natur an mir vorbei. Noch kurz wirre Gedanken sortieren. Vergangenes Wochenende die Heimniederlage gegen einen überlegenen VfB aus Stuttgart. Der Vorabend einer Daumenhoch-Daumen-runter-Entscheidung. Die besondere Atmosphäre der schwarz-gelben Einheit, stolz ausgedrückt in einem Spruchband, das Mannschaft und Fans für die Westtribüne vorbereitet hatten: „Ihr für uns und wir für euch!” Einsame Kälte nach dem Abpfiff. Aber eins, aber eins, das bleibt bestehen: Borussia Dortmund wird nie untergehen. Wie ein helles Licht in der dunkelsten Stunde.

Dann stand ich am Berliner Ostbahnhof, wo ich umsteigen musste. Auf dem Bahnsteig erntete ich die ersten Reaktionen auf den gelben Schal, der meinen Hals bedeckte: „Da habta aber janz schön Glück jehabt, dassa noch inna Bundesliga spielen dürft, wa!”

Bei diesen Wochenendreisen quer durch die Bundesrepublik trafen die einen zu den Stadien pilgernden Fans zwangsläufig auf andere zu Stadien pilgernde Fans. Wobei die Hertha-Anhänger zu dieser frühen Stunde – es war gerade mal halb zehn – sicherlich noch nicht zum Olympiastadion unterwegs waren, sondern eher zum nächsten Getränkemarkt. Mit 16 Jahren und cool, wie ich war, zog ich routiniert ein Mixbier aus meinem Rucksack, nickte lässig und steuerte Richtung Rolltreppe. Der Herthaner wirkte etwas überrascht. Vielleicht hatte er eine Antwort erwartet. Ich musste ihn enttäuschen. Die Situation, auf andere Fans zu treffen, hatte sich durch die Fast-Insolvenz logischerweise nicht geändert – die Inhalte der Kommunikation allerdings schon. Beschränkten sich Kommentare vorher auf Sportliches, hielten jetzt zum ersten Mal wirtschaftliche Aspekte Einzug in die kleinen Neckereien. Das musste ich erst einmal sacken lassen. Die Fahrt nach Hamburg wurde planmäßig fortgesetzt. Ohne Verspätungen, ohne weitere dubiose Zusammentreffen.

Es war eine Wohltat, schon am Hauptbahnhof der Hansestadt viele schwarz-gelbe Farbtupfer in den grauen Hallen dieses in die Jahre gekommenen Altbaus zu erkennen. Bei diesem Anblick kam ich nicht umhin, mir im Bahnhofsshop ein Alsterwasser zu besorgen. Mithilfe der öffentlichen Verkehrsmittel ging es dann raus zum Volksparkstadion, wo die Farbe Gelb noch verheißungsvoller wirkte als im Bahnhof.

Dann war es endlich so weit. Der magische Moment. Anpfiff. Wir waren noch da, wir atmeten noch Bundesligaluft. Und nach zehn Minuten war sie wieder da, die Fußballekstase. Der BVB führte beim Favoriten überraschend schnell durch ein Tor von Rosicky. Der Jubel im Gästeblock war anders als sonst. Als meine Arme noch wild durch die Gegend flatterten, meine Beine aber wieder festen Boden spürten, blickte ich mich kurz um. Die Gesichter aller Fans sprachen Bände. Dieses Tor hatte Symbolbedeutung. Für Borussia Dortmund und damit auch für jeden von uns.

Da störte auch der Ausgleich wenig später nicht sonderlich. Die Mannschaft ging mit einem Unentschieden in die Kabine – bis dahin schon eine beachtliche Leistung, betrachtete man die letzten Wochen. Bitter war nur, dass Jan Koller mit einer Muskelverletzung schon früh das Handtuch werfen musste. Doch so wie am vergangenen Spieltag noch alles gegen Schwarz-Gelb zu laufen schien, sollten die Rückschläge an diesem Wochenende keinen Beinbruch darstellen. Auch nicht, als Paule Beinlich einen Freistoß zur hanseatischen Führung verwandelte. Wir waren abgehärtet, ja fast schon immun gegen solche Lappalien. Weniger als fünf Minuten hielt der HSV das 2:1. Dann netzte der Dortmunder Jung’, Lars Ricken, zum Ausgleich ein. Party im Block. Und der Wahnsinn ging noch weiter. Insolvent Geglaubte leben länger. Der für Koller eingewechselte Ewerthon machte die Überraschung perfekt. Drei zu zwei. In Hamburg. Gegen einen Kontrahenten, der mit Europapokal-Ambitionen in die Begegnung gegangen war. Zu Recht ließ sich die Mannschaft nach Abpfiff ausgiebig feiern. Ein Auswärtssieg, für den es eigentlich eine eigene Kategorie geben müsste.

So wie ich es in der Kapitelüberschrift schon habe anklingen lassen, ist dieser Auftritt als eine Art Neuanfang zu betrachten. Als ein Neuanfang innerhalb altbekannter Strukturen und mit altbekannten Strukturen. Denn wenn man genauer über die Umstände nachdenkt, hat sich zunächst einmal nicht wirklich etwas verändert. Zumindest nicht in den Bereichen, die bei einem Fußballspiel vor allem wahrgenommen werden. Trainer, Spieler und Fans? Alles beim Alten. Die Gegner in der Liga? Wie gehabt. Die Tabelle? Noch dieselbe. Die schwarz-gelbe Sicht auf diesen 26. Spieltag am 19. März 2005? Hier findet sich der springende Punkt, sozusagen die Quintessenz aus der mehrstündigen Verhandlung am Düsseldorfer Flughafen wenige Tage zuvor.

Ich kann diese Partie deshalb so ausführlich schildern, weil ich im Gegensatz zu anderen „normalen” BVB-Spielen meiner Teenie-Zeit jedes noch so kleine Detail dieses Tages, ja sogar der gesamten Woche, noch immer im Kopf habe. Dieser Auswärtserfolg setzt die Reihe „Geschichten, die nur der Fußball schreibt” in beeindruckender Weise fort. Diese verrückte Woche hätte gar nicht anders enden können.

Wie der Neuanfang eine Mannschaft formte

Der erste Schritt war gemacht, um die vielzitierte zweite Chance zu nutzen. Die wichtigen Prozesse zur Wiederherstellung einer sicheren finanziellen Basis liefen größtenteils im Hintergrund ab. Jeder Fan konnte zwar in den Medien die groben Vorgänge mitverfolgen und auch nachvollziehen, aber der wirklich tiefe Einblick ins operative Tagesgeschäft fehlte. Das war auch gut so, wie ich fand. Um die vorgefundenen Missstände beseitigen zu können, brauchten die neuen Steuermänner am Ruder des BVB vor allem Ruhe und Geduld. Schnellschüsse ohne Überlegung wären nicht sinnvoll gewesen, das hatte die jüngste Vergangenheit offenkundig werden lassen.

Die richtigen Personen für dieses schwierige Unterfangen wurden bereits in den Wochen und Monaten vor dem Beinahe-Absturz in die Fußball-Niederungen an Bord geholt. Reinhard Rauball schwang zum dritten Mal das schwarz-gelbe Präsidentenzepter. Schatzmeister HansJoachim Watzke wurde zum Geschäftsführer der Borussia Dortmund GmbH und Co. KGaA. Thomas Treß, der noch vor dem betrübten Weihnachtsfest 2004 dem verzweifelten Niebaum als externer Wirtschaftsprüfer unter die Arme gegriffen hatte, sollte schon bald zum Finanzgeschäftsführer des BVB aufsteigen. Borussia-Legende Susi Zorc war ohnehin schon länger Sportdirektor und blieb auf diesem Posten. Das sollte sie nun also sein, die längerfristig agierende Feuerwehr. Sie sollte den größten Brandherd der Vereinsgeschichte löschen.

Ich hatte von Beginn an ein gutes Gefühl bei diesen Herren, obwohl ich mir ja eigentlich vorgenommen hatte, mein Urteil gründlicher reifen zu lassen. Doch diese Männer wirkten offenbar nicht nur auf mich entschlossen genug, Borussia Dortmund nachhaltig gesund zu wirtschaften. Allerorts waren die Vorschusslorbeeren dick und saftig. Es war fast so, als spürten die Fans bereits zu diesem frühen Zeitpunkt positive Veränderungen, die sich rund um die Strobelallee ausbreiteten. Natürlich war nach den wenigen Wochen nur ein verschwindend geringer Teil des großen Scherbenhaufens beseitigt, aber das machte nichts. Das Gefühl des stetigen Voranschreitens reichte schon aus, um bei allen Beteiligten eine viel angenehmere, wärmere Atmosphäre zu kreieren. Eine Art Aufbruch zu neuen Abenteuern schien vor uns zu liegen, und jeder hatte Lust auf diese Reise.

Auch die Mannschaft wirkte gelöster. Der tolle Auswärtserfolg in Hamburg sollte Signalwirkung haben. Die Gegner der kommenden Wochen stellten große Herausforderungen dar, denn viele von ihnen standen in der Tabelle vor uns.

Zum ersten Heimspiel nach Molsiris gastierte Hertha BSC im Westfalenstadion. Ich genoss jede Sekunde an diesem Bundesliga-Wochenende. Angefangen beim viel zu frühen Weckerklingeln kurz vor fünf Uhr. Bis hin zum nervigen Zeit-Totschlagen irgendwo im Nirgendwo zwischen ein und vier Uhr in der folgenden Nacht. Das Wochenendticket hatte seinen Schrecken verloren. Alles fühlte sich irgendwie intensiver an als sonst. Und ich zelebrierte das volle Programm. Stadionwurst, Rote-Erde Bier, „You’ll never walk alone” bis zur Heiserkeit. Zur Hölle mit unseren Schulden. Bei frühlingshaften Temperaturen konnten die Jungs auf dem Rasen an die Leistung beim HSV anknüpfen und gewannen letztlich verdient mit 2:1. Die damit eingefahrenen Rückrundenpunkte 18 bis 20 bedeuteten am 27. Spieltag bereits die Einstellung der Hinrundenbilanz, die mit 18 Punkten äußerst mager ausgefallen war. Die Rückrunde zeigte eine viel gefestigtere Mannschaft, die den letzten Schliff eventuell ja sogar durch den finanziellen Fast-GAU erhalten hatte. Die Spieler kämpften, indem sie sich in jeden Zweikampf warfen, und wollten sichtlich ihren Teil zur „Resozialisierung” beitragen. Diese Art von Fußball, die in den zurückliegenden Monaten abhandengekommen schien, machte Lust auf mehr und wurde dementsprechend von uns Fans honoriert.

Der BVB befand sich also nicht nur auf Ebene der neu gebildeten Führungsetage in einer Findungsphase. Auch die Mannschaft und vor allem wir Fans mussten die Ansprüche, die in der Vergangenheit zwangsläufig gewachsen waren, mit der Wirklichkeit neu justieren. Meisterschaft. Meisterschaft. Champions-League-Titel. Fast-Abstieg. Meisterschaft. CL-Quali-Frust. Fast-Pleite. In einem Freizeitpark würde diese Art von Achterbahn ein echtes Highlight darstellen. Der ständige Wechsel von Auf und Ab ersetzt wohl jeden noch so tollen Looping. Aber was weiß ich schon davon, wo sich meine AchterbahnErfahrungswerte doch in Grenzen halten, weil mir im Kinderkarussell schon übel wird. Dieser BVB-Ritt jedenfalls schien mir genauso schwindelerregend und nervenaufreibend.

Jetzt, im Mittelfeld der Tabelle angekommen – obwohl zu Saisonbeginn mit höheren Ambitionen gestartet –, zeigte sich der wahre Charakter bei Spielern und Fans. „Wir halten fest und treu zusammen”, war also nicht nur eine dahingesungene Phrase aus dem traditionsreichen Vereinslied. Diese mystische Zeile gab die Richtung vor. Und jeder, der sein Herz an den BVB verschenkt hatte oder auch per Arbeitsvertrag an ihn gebunden war, begab sich auf diesen Pfad. Für mich als jungen Fan, der erst Mitte der neunziger Jahre zum ersten Mal den heiligen Atem des Westfalenstadions am Körper spürte, gehörte dieses Auf und Ab einfach dazu. Glücklicherweise wurde ich gleich zu Beginn meiner Zeit als glühender Anhänger des BVB mit (fast) allen Begebenheiten des Fandaseins konfrontiert. Nur das Szenario des Abstiegs blieb mir erspart. Später hörte ich die Geschichten älterer Anhänger und erhielt dadurch zumindest einen kleinen Eindruck jener vier Spielzeiten, die der BVB in der Zweitklassigkeit verbracht hatte. Die Älteren unter uns hatten also die ganze Palette mitgenommen.

Relativ schnell reifte bei mir die Erkenntnis, dass sportlich schlechtere Abschnitte – ja sogar jede einzelne Niederlage – mich noch enger an den Verein banden. Das Sprichwort „zusammen durch dick und dünn gehen” klingt oft hohl, trifft aber hier genau den Kern der Sache. Trotz aller Widrigkeiten machten diese schwierigen Phasen tatsächlich Spaß – ganz ehrlich, der eigene Verein kann nie nicht Spaß machen. Siege, Tore und gelungene Aktionen wurden zu etwas Rarem und Besonderem. Und wer die vorangegangen Jahre nicht ganz blind durch die schwarz-gelbe Welt geschritten war, der konnte zumindest erahnen, was da in Zukunft auf den BVB zukommen würde. Kostspielige Stars, hohe Gehaltsstrukturen und die enormen Lasten des Stadionausbaus. Die wichtige Einnahmen aus der verpassten Champions-League-Qualifikation würden dagegen fehlen. Eins und eins zusammengezählt – oder besser gesagt mehr als eins von eins subtrahiert – ergibt dann halt leere Taschen. Beim Weg zurück aus dieser Situation war Geduld gefragt. Krisenbewältigung auf Dortmunder Art. Ich hatte riesig Bock drauf.

Der 28. Spieltag führte den BVB zum nächsten Härtetest nach Leverkusen. Die Pharmazeutische-Erzeugnisse-Elf grüßte zwar aus höheren Tabellengefilden, passte aber nach den gelungenen Auftritten gegen den Dino aus Hamburg und die Alte Dame aus Berlin geradezu perfekt in die Serie – außer natürlich, wenn es um die Werte von Traditionsklubs geht, aber das ist eine andere Geschichte. Der Rückstand auf die Kusener war auffallend geschrumpft. Bei einem Auswärtserfolg wären es nur noch zwei Punkte gewesen. Aber die Bilanz aus der Vergangenheit ließ wenig Raum für Hoffnung. Ich installierte mir das Spiel daheim mit meinem Vater und zwei Freunden. Leichtsinnig und vorlaut, wie ich manchmal bin, setzte ich fünf Euro. Mein Vater stieg mit ein und setzte provokant zehn Euro auf die Werks-Tablettenelf.

Lange Zeit hielt die junge Dortmunder Mannschaft, in der die Nachwuchstalente Brzenska, Kruska und Gambino in der Startelf standen, ein torloses Remis. Ein Punkt hätte die Fortsetzung der Negativserie in Leverkusen bedeutet – 13 Jahre kein Auswärtssieg – und wäre dennoch als Achtungserfolg zu bewerten gewesen. Dann brach die 88. Minute an. Smolarek kam im Mittelfeld an die Kugel und wurde nur halbherzig angegriffen. Pass in die Mitte zu Kehl – und dann das Ende einer Serie, die schon viel zu lange angedauert hatte. Der dritte Sieg in Folge war perfekt. Die Mannschaft spielte sich dieser Tage in einen fast vergessenen Fußballrausch. Ich, daheim auf dem Sofa, grinste in mich hinein und nahm einen großen Siegerschluck, der ein bisschen nach Stadion schmeckte – und natürlich die zehn Euro meines Vaters.

Beim Blick auf die Tabelle stellte ich unweigerlich fest, dass die Europapokal-Plätze wieder in greifbare Nähe gerückt waren. Doch darum ging es primär überhaupt nicht. Die Mannschaft hatte (wieder) begriffen, dass sich hinter Bundesligasiegen harte Arbeit verbarg und knappe, aber verdiente Überraschungserfolge wahnsinnig geil sein konnten. Da war es momentan völlig wurst, ob der BVB über oder unter diesem ominösen Strich im ersten Tabellendrittel auftauchte. Wir Fans waren begeistert von der aktuellen Spielweise. Und wenn dann auch noch die Ergebnisse stimmten, konnte es eigentlich nicht besser laufen.

Ein oder zwei Tage nach dem gelungenen Auftritt in Leverkusen erwischte ich mich, wie ich beim Joggen mal wieder Luftschlösser erbaute. Frische Luft, Natur, soweit das Auge reicht, und zwitschernde Frühlingsvögel am Wegesrand. Da musste die traute Einsamkeit ja zwangsläufig zum intensiven Nachdenken genutzt werden. Ich lief also in gemächlichem Tempo und ließ die letzten Wochen noch mal Revue passieren. Zwischendurch dachte ich dann auch an das eine Mädchen aus meiner Klasse. Aber schwuppdiwupp wurde sie vom Fußball geradezu überrollt und verschwand ganz schnell wieder vom Gedanken-Radar. Mein Tempo verschärfte sich, der Puls schoss in die Höhe. War es vermessen, schon jetzt wieder an den Europapokal zu denken? Nach allem, was passiert war, und vor dem ungewissen Gang der nächsten Monate und Jahre, spielte die Mannschaft zurzeit wieder groß auf. Sie wirkte befreit. Und ich wahrscheinlich auch. Drei Siege in Folge. Schon 23 Punkte nach nur elf Rückrundenspielen. Das ließ die Gier nicht gerade kleiner werden. Aber genau hierin lag das persönliche Dilemma. Gute Ergebnisse reichten wohl nicht mehr aus? Musste denn immer gleich etwas Zählbares herausspringen? Einfach mal den Moment genießen, wie wäre es denn damit?

Ich suchte nach Entschuldigungen. Mein Schritt verlangsamte sich. Ich stoppte und stützte in gebeugter Haltung die Handflächen auf die Knie. Tiefes Ein- und Ausatmen und weiter ging’s. Ich bog auf eine belebtere Straße ein, und kurz danach kamen mir zwei andere Jogger entgegen. Einer von ihnen trug das rote Trikot eines Teams aus dem Süden. Gruselig. Der dachte mit Sicherheit nicht über die Option nach, ein weiteres Jahr der europäischen Bühne fernbleiben zu müssen. Aber wer weiß schon, was dieser Typ dachte. Bestimmt hatte ihm seine jähzornige Tante das Trikot vom letzten Urlaub am Bodensee mitgebracht.

Mittlerweile kamen mir immer mehr Menschen entgegen. Nicht nur Jogger, sondern auch Fahrradfahrer und Spaziergänger. Das sonnige Wetter musste sie aufgescheucht und von den heimischen Fernsehern weggelockt haben. Mir fiel es nun zunehmend schwerer, die Gedanken wieder auf dieses eine wichtige Thema zu fokussieren. Immer wieder ertappte ich mich beim wilden Gedankengaloppieren. Was für eine Geschmacksrichtung hatte wohl der Kaugummi, den der kleine Junge da vorn gerade auf den Rasen gespuckt hatte? Wie teuer war wohl der Ledermantel des leicht arrogant wirkenden Schnurrbart-Mannes, der die Hand seiner Begleiterin nur widerwillig zu halten schien? Ob der kleine, hässliche Dackel da hinten wohl wusste, wie gut er zu seinem untersetzten Frauchen passte? Dieser ganze Blödsinn wirbelte zu viel Staub auf, als dass ich den BVB noch klar sehen konnte. Ich stoppte abermals. Tatsächlich hatte ich ein kleines Steinchen im Schuh, sodass ich eh hätte anhalten müssen. Aber vielleicht tat die kurze Pause ja auch gut, um endlich wieder einen klaren Gedanken zu fassen.

Keine anderen Menschen in Sichtweite. Das Steinchen störte nicht mehr, oder ich hatte es mir nur eingebildet. Ich rannte also weiter. Aber klare Gedanken blieben Fehlanzeige. Langsam, aber sicher ging mir die Puste aus. Mein gelbes Shirt klatschte am Rücken. 45 Minuten war ich bestimmt schon unterwegs. Das musste reichen für heute. Ab nach Hause. Auf den letzten Metern, kurz bevor ich die Eingangstür erreichte und den Wohnungsschlüssel aus meiner Hosentasche zog, kam die Einsicht. Es hatte keinen Sinn, von kurzfristigen Erfolgen zu träumen und diesen Druck auf die Mannschaft zu projizieren. Selbst eine Teilnahme an europäischen Wettbewerben würde die finanziellen Probleme nicht so einfach lösen. Schlanke hundert Millionen Euro Schulden baut man nicht mal eben im Vorbeigehen ab. Plötzlich erinnerte ich mich an einen TV-Beitrag, der einige Hintergründe zur BVB-Krise beleuchtet hatte. Ein gewisser Jochen Rölfs, dessen Wirtschafts-prüfungsgesellschaft in der Vorweihnachtszeit das Sanierungskonzept ausgearbeitet hatte, behauptete, die Tabellenplatzierung im Saisonende spiele keine Rolle in Bezug auf die Sanierungsziele. Ein Abstieg war vielleicht nicht unbedingt vorgesehen, aber alle sonstigen Plätze im Bundesligatableau konnten keinen negativen Einfluss ausüben.

Mein Gott, war ich erleichtert. Sofort schraubte ich meine Erwartungen für diese Spielzeit zurück, in der immerhin noch sechs Partien auf dem Plan standen. Die Qualifikation zum UEFA-Cup stellte nicht den sprichwörtlich seidenen Faden dar, an dem Borussia Dortmunds Existenzgrundlage hing. Knapp zwei Jahre zuvor war es hingegen noch ungefähr so gewesen. Damals war das Scheitern am belgischen Klub aus Brügge und das Ausscheiden aus der Champions League ein nicht gerade kleines Puzzleteil des finanziellen Crashs. Und die Erinnerungen waren noch zu frisch. Amorosos Anlauf. Der zu lässig geschossene Elfer. Das Aus. Und schon da die Gewissheit, finanziell am Krückstock zu gehen.

Die Situation im April 2005 verhieß eine ähnliche Dynamik, aber es gab eben eklatante Unterschiede. Zum einen wusste nun jeder um die bescheidene finanzielle Kraft des Klubs, und zum anderen waren die ersten unabdingbaren Gegenmaßnahmen eingeleitet worden. Dieser innere Europapokal-Startplatz-Druck, der sich in mir aufgebaut hatte, rührte also von einer Art Instinkt her. Ein Instinkt, der sich nur schwerlich unterdrücken ließ, obwohl ich selbst ausreichend Gegenargumente parat hatte. Jetzt galt es, die richtige Balance zu finden. Ambitionen gehörten natürlich weiterhin dazu. Sportliche Erfolge erfreuen uns Fans schließlich besonders. Aber sie sind bei Weitem keine Voraussetzung für die bedingungslose Hingabe und Unterstützung.

Den schwarz-gelben Fußball konnte ich demnach wieder pur genießen. Ohne diesen künstlichen Druck von außen, der bisweilen nervte und schrecklich an die Fansubstanz ging. Der einzige Druck, der jetzt noch existierte, war der, der einen Fan ohnehin immer begleitete. Fragen, die eigentlich keine waren und ohne Antworten auskommen mussten – 90 Minuten schonungslose Selbstgeißelung in Abhängigkeit von einer legalen Volksdroge. Hier eine kleine persönliche Auswahl:

Bringen wir die letzten zehn Minuten über die Zeit?

Warum bringt der Trainer keinen frischen Stürmer ins Spiel?

Kann bitte mal jemand diesem Typen beibringen, dass es so etwas wie Abseits gibt?

Können Eckbälle demnächst auf dem Trainingszettel auftauchen?

Die glauben doch nicht ernsthaft, dass Grasflecken nie wieder aus der Hose gehen!

Seit wann werden Gelbe Karten wegen Meckerns durch Meckern zurückgenommen?

Lernen die auch mal, dass Tornetze nicht nur als Wäscheleine für Torwarthandtücher da sind?

Ach, was freute ich mich auf den Rest der Saison.

Insgesamt lief es doch so gut. Vieles passte wieder zusammen. Mit stolzgeschwellter Brust drehte ich das Borussia-Emblem auf meiner Federtasche in Richtung Geografielehrer. Denn der war nach wie vor der Überzeugung, mit seinem Hertha-BSC-Lineal auch nur irgendwen beeindrucken zu können. Wir haben’s kapiert: Die Saison läuft ausnahmsweise mal ganz gut für euch. Idiot.

Die Schule war unveränderter Dinge noch immer kein Zuckerschlecken. Hier und da gab es die allseits bekannten Unterrichtsfächer, durch die man sich Stunde für Stunde quälte. Kunst, Musik, Mathe, Chemie, Physik. Und noch ein paar andere. Unter der Woche quälte der Unterricht, es quälte die Warterei bis zum nächsten Spiel und am Wochenende quälte die Borussia. Fan sollte man sein.

Ein Samstag stand mal wieder vor der Tür. Einmal Dortmund hin und zurück bitte. Statt der Deutschen Bahn erledigten meine Eltern diesmal den Job des Beförderers. Ab und an konnte ich sie zu solchen „Familienausflügen” übers Wochenende überzeugen. Klar, war meine Mutter, seitdem ich Anfang der Neunziger mit diesem Fußballkram angefangen hatte, immer mehr in die Rolle der BVB-Anhängerin gewachsen. Es reichte mittlerweile locker aus, meine Argumentation wie folgt aufzubauen:

„Mutti, kurze Frage.”

„Was gibt’s denn, Chemietest schon wieder verhauen?”

„Nein.”

„Okay, wann willst du nach Dortmund?”

Bingo. Das sparte nicht nur Zeit, sondern verdeutlichte ein weiteres (überflüssiges) Mal, welche Anziehungskraft dieser Verein, dieses Stadion auf Menschen ausübt, sobald sie den Tempel betreten. Bratwurst, Bier, Borussia. So einfach und doch so faszinierend. Im Laufe der Jahre änderte sich dann einige Male die Rangfolge des Dialoges.

„Tim. Hast du mal kurz Zeit?”

„Ja klar, Mutti. Was gibt’s?”

„Ich würde gern mal wieder ins Westfalenstadion.”

„Kein Problem, freie Auswahl des Spiels, und dann nehme ich dich in deinem Auto gerne mit.”

Der Führerschein hatte mich in Sachen Flexibilität echt nach vorn gebracht. Kurzfristig angesetzte Bahnstreiks der GDL konnten mir so nichts mehr anhaben. Ein eigenes Auto hatte ich zwar nicht, aber von meinen Eltern stand immer eines rum. Das war dann auch die Phase, in der mein Vater bei den ursprünglichen „Familienausflügen” nicht mehr mitmachte und sich geschickt ausklinkte. Ich konnte schließlich selbst Auto fahren, und für ihn als Anhänger des Berliner Sport-Clubs war es ohnehin schon immer schwieriger gewesen, den regelmäßigen Touren nach Dortmund etwas abzugewinnen. Am liebsten wäre er sicherlich am Berliner Ring Richtung Spandau und Olympiastadion abgebogen, statt endlos auf der A2 geradeaus zu fahren. Aber was tut man nicht alles für seine Kinder. Außerdem konnte er sich der Magie des Westfalenstadions auch nicht wirklich entziehen. Bist du Fußballfan, muss dich das berühren. So oder so ähnlich hatte er das irgendwann auch mal formuliert. Später wurde aus den Auftritten der Alten Dame im Westfalenstadion eine Familientradition, sodass mein Vater uns zu diesen Spielen immer begleitete – sofern die Berliner in der ersten Liga antraten.

Zurück ins hoffnungsvolle Frühjahr 2005. Wochenend-Trip nach Dortmund und im Gepäck die zarte Hoffnung auf den vierten Sieg in Folge. Zu Gast an diesem 29. Spieltag: die Ostwestfalen aus Bielefeld, die sich als Aufsteiger erstaunlich früh aus dem Abstiegskampf verabschiedeten und den sicheren Platz im Mittelfeld der Tabelle gern halten wollten. Das Wort Angstgegner hörte man an diesem Tag im Stadion des Öfteren, denn der BVB wartete seit fast vier langen Jahren auf einen Dreier gegen die Almdudler. Zumindest die Stimmung im Tempel verbreitete Optimismus, während ich gewohnt pessimistisch das Treiben verfolgte. Meine Brezeln kauenden Eltern warteten wie die fast 80.000 anderen Menschen gespannt auf den Anpfiff. So viele waren gekommen, um den BVB weiter nach vorn zu peitschen. Auf der Süd entdeckte ich ein dazu perfekt passendes Banner mit der Aufschrift: „Wir haben zwar kein Geld, aber die besten Fans der Welt”.

Die erste Hälfte lief fast ideal. Doch der frühen Führung durch Kringe folgten zu viele ungenutzte Torchancen. Und ja, wenn man sie vorne nicht macht ...

In der 84. Minute wurde Kringe unter verdient großem Applaus ausgewechselt. Ich tippte meiner Mutter auf die Schulter und flüsterte ihr zu: „Das wird doch nichts. Die fangen sich noch einen.”

Erst erntete ich einen bösen Blick und dann die dazu passende Antwort: „Du immer mit deinem Pessimismus. Noch führen sie doch.” Noch ein böser Blick und dann die Ergänzung: „Die fünf Minuten werden sie schon noch über die Zeit bringen!”

Knapp 60 Sekunden später fiel der mehr als glückliche Ausgleich. Ich verkniff mir einen zynischen Kommentar und war froh, nach all dem Molsiris-Aktionärs-Börsen-Pleite-Geplapper endlich wieder in der wahren BVB-Welt angekommen zu sein. Spontaner Kurz-Frust über vertane Siege in den Schlussminuten, was kannst du herrlich sein!

Abpfiff und gemischte Reaktionen über die Punkteteilung. Die Leute wussten: Ganz klar, das war ein Rückschlag in Sachen Aufholjagd auf die internationalen Plätze. Trotzdem winkte noch immer die beste Punkteausbeute einer BVB-Rückrunde. Alles also einfach mal locker sehen. Heimfahrt. Den Großteil der Fußballfachgespräche mit meinen Eltern auf der sechsstündigen Rückfahrt spare ich mir mal. Zumal ich das meiste davon auch gar nicht mehr rekapitulieren könnte. Einen Ausschnitt aus dieser Gesprächsreihe habe ich über die Jahre allerdings nicht vergessen. Mein Vater – gut gelaunt, auch wenn er den 1:0-Auswärtssieg seiner Hertha in Bremen nur über die Anzeigetafel hatte wahrnehmen können – zeigte sich leicht verwundert über meine stabile Stimmungslage.

„Du wirkst heute ja gar nicht so zerknirscht wie sonst bei späten Gegentoren und unnötigen Punktverlusten. Woran liegt das?”

Ich musste leicht grinsen, bevor ich antworten konnte. „Ja stimmt, das war auch schon mal anders. Aber ganz ehrlich, so richtig erklären kann ich das jetzt nicht. Oder anders gesagt: Das würde jetzt zu lange dauern.”

„Wir sind ja noch ein paar Stunden unterwegs”, entgegnete mein Vater ebenfalls grinsend.

Ich lachte, sagte dann aber nichts mehr. Ein paar Geheimnisse müssen bewahrt bleiben – und brandheiße Fanerkenntnisse eines pubertierenden Teenagers sowieso. Ich schloss die Augen und verschlief den Rest der Strecke. So wie irgendwie auch die darauffolgende Woche, die ich mit Fieber und fürchterlichem Husten im Bett verbrachte. Stadionerkältungen sind halt die schönsten. Zumindest brachten mir diese nervigen Hustenattacken eine Krankschreibung ein. Keine Hausaufgaben, keine Leistungskontrollen. Nur Hühnersuppe und die VHS mit den Saisonhighlights von 2001/02. Und schon stand das Heimspiel gegen den 1. FCK an. Ein trotz Rückstands auf ganzer Linie überzeugender 4:2-Erfolg dank Koller-Doppelpack stand am Ende zu Buche. Das Träumen durfte weitergehen – auch auf übergeordneter Ebene: Der BVB hatte unter der Woche die Lizenz für die kommende Spielzeit erhalten – oder wieder von vorne beginnen oder wie auch immer. Noch standen vier Spieltage aus, darunter das Derby. Bei dem einen oder anderen begann sicherlich wieder das große Rechnen. Natürlich schaute ich mir die Tabelle ziemlich ausgiebig und intensiv an, aber nach hypothetischen Rechenspielchen war mir nach wie vor nicht zumute.

Beste Rückrunde der Vereinsgeschichte. Punkt. Aus. Saisonende.

Im Breisgau wartete der nächste Gegner. Am 31. Spieltag. Ende April. Andere Menschen erfreuen sich zu dieser Zeit an konventionellen Frühlingsgefühlen. Uns Fans dagegen – einer noch immer nicht offiziell anerkannten Randgruppe der Bevölkerung – geht der Arsch auf Grundeis. Dafür gibt es zwei einfache Gründe:

1. Der eigene Verein befindet sich kurz vor dem Abschluss der Bundesligasaison in einer Tabellenregion, die unmittelbaren Einfluss auf die zukünftige Entwicklung des Klubs haben kann – sowohl positiv als auch negativ. Beispielsweise kann er mitten in einem grässlich nervenaufreibenden Abstiegskampf stecken. Der Klassiker: Platz 15 am 33. Spieltag – Platz 16 am 34. Spieltag. Von Not zu Tod. Oder es geht um den Einzug in den europäischen Wettbewerb. Es droht der Absturz vom fünften Tabellenplatz auf den achten. Von international zu regional. Der Nervenkitzel. Das Adrenalin. Dieser Grenzerfahrungszutatenmix hat Fans in den letzten Spieltagen traditionell komplett im Griff. Und für jeden ist etwas anderes extrem wichtig, es gibt keine einheitliche Werteskala. Klassenerhalt ist wie Meisterschaft. UEFA-Cup ist wie Champions League. Vizemeisterschaft ist wie Abstieg. Jeder definiert sich ein individuelles System. So sorgen die letzten Spieltage einer Saison in aller Regelmäßigkeit für graue Haare, Schlafentzug, Alkoholprobleme, Krankschreibungen, Verstopfungen, Neurosen, Kündigungen, Scheidungen und verstümmelte Fingernägel. Ich weiß: Liest sich wie der Beipackzettel für Potenzpillen.

2. Ende April. Das Saisonende ist nahe. Und damit steht auch die Sommerpause unmittelbar bevor. Die schlimmste Zeit für Fans. Sechs bis acht Wochen ohne Fußball. Ja, die Nationalmannschaften geben sich manchmal die Ehre. Aber das ist bekanntlich nicht jedermanns Sache. Nationalmannschaft verhält sich zu Klub wie Kirschlikör zu Wodka – ist zwar auch Alkohol drin, dröhnt aber nicht so schön. Da geht man dann zur Schule oder studiert oder arbeitet oder was auch immer, hat aber nichts vor Augen, auf das man sich am Wochenende freuen kann. Außer vielleicht Frau und Kinder, Freunde und Verwandte. Aber das, bei allem Respekt, bringt’s ja als Ersatz auch nicht wirklich. Sommerpause. Und schon montags fragt man sich, wofür man am eh schon trüben Wochenanfang eigentlich aufsteht, wenn samstags kein Spiel stattfindet. Für „wenigstens ist das Wetter schön” kann ich mir auch nichts kaufen. Bitte. Danke. Also bleibt als Zielvorgabe nur dieser eine, weit entfernte Tag im August. Das Ende der Leidenszeit. Der Beginn der Leidenszeit.

Eigentlich hätte der BVB das Spiel in Freiburg ganz locker angehen können, denn die Erwartungshaltung an diese Saison war durch die meist tollen Ergebnisse in der Rückrunde schon erfüllt worden, zumindest von meiner Warte her. Aber es gab eben immer noch diese kleine Restchance auf einen internationalen Startplatz. Fünf Punkte Rückstand auf Tabellenplatz fünf waren es vor dem Spiel beim Sportclub aus Freiburg. In vier verbleibenden Spielen durchaus machbar.

Mal wieder lief die Borussia einem frühen Rückstand hinterher. Aber gerade erst in der letzten Woche gegen den FCK hatte die Mannschaft bewiesen, dass sie damit umgehen konnte. So auch diesmal. Ein Doppelschlag – Ewerthon und Koller – kurz vor der Halbzeit ließ den BVB in der Blitztabelle in ungeahnte Höhen klettern. Als hinderlich erwies sich dann einmal mehr ein unnötiger Gegentreffer in den Schlussminuten. Aus drei sicher geglaubten Punkten wurde ein Punkt. Ärgerlich, aber wie immer nicht zu ändern.

Eine Woche später stellten sich die Kicker von der Weser im Westfalenstadion vor. Sonntags. 81.300 Zuschauer. Rosicky als goldener Torschütze. Die Rückrunde rockte – der BVB zockte. Die größtenteils knappen Siege von März bis April spiegelten die zur Hinrunde stark verbesserte Einstellung des Teams wider. Man lief und kämpfte wieder für seine Mitspieler. Die Jungs, die von der Bank kamen, waren nicht unzufrieden mit ihrer Situation, sondern hauten sich nach Einwechslungen voll rein. Die Freude am Spiel war zurück, und andere Mannschaften hatten auch dadurch wieder eine gehörige Portion Respekt in der Tasche, wenn sie gegen Borussia Dortmund antreten mussten.

Die Saison sprintete dem Ende entgegen. Der UEFA-Cup-Platz schien mit vier Punkten Rückstand kaum noch erreichbar. Aber ein großes Highlight hatte die Saison noch in petto: das Derby in der Turnhalle. Mit diesem besonderen Spiel am vorletzten Spieltag kannst du als Mannschaft in nur 90 Minuten eine ganze Saison geradebiegen. Und tatsächlich, diese Chance ließen die Spieler des Ballspielverein 09 nicht ungenutzt. Ein 2:1-Auswärtssieg. Ein 2:1-Derbysieg. Hart erarbeitet, viel Hektik gepaart mit spielerischen Glanzmomenten und am Ende die Oberhand behalten – ein Spiegelbild der Rückrunde.

Derbysieg! Wahnsinn! Geil! Und dann auch noch die Torschützen: Ricken und Kehl. Eine Dortmunder Legende und einer, der schon damals auf dem besten Weg dorthin war. Das hätte uns noch vor wenigen Monaten niemand zugetraut, am wenigsten die verdutzten Blauen. In der Wohnung eines Kumpels flogen bei Abpfiff mehrere Tüten Konfetti durchs Zimmer, Bier schwappte in Unmengen auf die Auslegware – der Staubsauger verweigerte bei den Aufräumarbeiten seinen Dienst. Wir trugen die Derbysieger-Atmosphäre quer durch Eisenhüttenstadt, grölend und ohne T-Shirts.

Der Frühling schenkte uns warmes Wetter, der BVB den Derbysieg, und die Sommerferien kamen auch in Sichtweite. Die Woche nach dem Spiel bei den Blauen konnte ich vollends genießen – auch wenn mal wieder eine Leistungskontrolle in Chemie total nach hinten losging. Auf dem Schulhof wurde der Dortmund-Fraktion freundlich zugenickt. Zum einen, weil sich die Sympathiewerte für die Blauen korrekterweise doch arg in Grenzen hielten, und zum anderen, weil die bis dahin eingefahrenen 34 Rückrundenpunkte auf allgemeine Anerkennung stießen.

Am Ende der Woche hatte ich doch glatt – mit Ausnahme der unterirdischen Chemie-Note – die eine oder andere Eins abgestaubt, sodass sich meine Mutter veranlasst sah, das Budget für meine anstehende Wochenendtour nach Dortmund ordentlich aufzustocken. Ich drückte eh noch kräftig auf die Tränendrüse, denn mittlerweile wusste jeder, wie sensibel ich immer auf den letzten Spieltag reagierte. Mit ExtraKohle im Gepäck ging es am Samstag in aller Herrgottsfrühe Richtung Westfalenstadion. Einmal quer durch die Republik mit Umsteigehalten in Berlin, Magdeburg, Hannover und Minden. Vom aufgestockten Budget gönnte ich mir ein paar überteuerte Bahnhofsbiere. Die Züge waren brechend voll, zunächst mit typischen Wochenendpendlern und Touris der Marke „Wochenendausflug ins Grüne” und später dann – ab Hannover – mit Fußballfans. Rostock-Anhänger bestimmten dabei das Bild, was mich noch mehr auf mein Pils konzentrieren ließ. Zwei meiner Kollegen dagegen, die mich begleiteten, trafen auf etliche Auswärtsbekanntschaften. Die beiden hielten es mit Hansa Rostock und gaben ihre triste Bundesliga-Abschiedstour, denn Hansa stand als Absteiger fest. Immerhin führte sie dieser bittere Gang noch einmal ins schönste Stadion Deutschlands. Die Stimmung bei meinen Weggefährten war erstaunlich gut. Was sollten sie auch anderes machen. Zum Trübsalblasen blieb schließlich die ganze Sommerpause Zeit. Natürlich hatte ich in dieser Situation gut reden. Das musste ich mir einige Male auch genau so anhören. Wahrscheinlich konnte ich mich einfach nicht wirklich in die Lage meiner Freunde hineinversetzen.

Nachdem wir um die Mittagszeit in Minden den letzten Umstieg über die Bühne gebracht hatten und dicht gedrängt im Eingangsbereich des Regionalexpress standen, kam ich nicht umhin, meine Begleiter noch mal auf diese „Wir steigen ab, euch scheint die Sonne aus dem Allerwertesten”-Thematik anzusprechen.

„Erinnert ihr euch noch an das Hinspiel”, fragte ich nach einem weiteren kräftigen Zug am Dosenbier.

„Ja klar. Was ein beschissenes Gekicke”, kam es unisono zurück.

„Damals stand euch das Wasser aber auch noch bis zum Hals – mit ein bisschen Pech hättet ihr genauso absaufen können wie wir”, ertönte plötzlich eine tiefe Stimme dicht hinter mir.

Verdutzt drehte ich mich um und erkannte einen bärtigen RostockAnhänger, der mir beim Umsteigen in Hannover bereits aufgefallen war. Der Prototyp eines Seemanns. Ich schätzte ihn spontan auf Mitte 60. Er lächelte mir zu. Ich lächelte gequält zurück. Er hatte recht. Nach der Hinrunde waren die Vorzeichen beider Klubs nicht gerade unähnlich. Tabellenplatz 14 für den BVB, 17 für Hansa. Sieben Punkte bildeten den Unterschied. Vor dem 34. Spieltag waren es 22 Punkte, und das, obwohl Rostock eine ebenfalls vergleichsweise gute Rückrunde zu Papier brachte.

Ich blickte noch immer den Seemann an und sagte dann in einem leicht beschwipsten, aber überzeugten Ton: „Wir haben gerade noch mal so die Schlinge aus dem Kopf gezogen.”

Der ganze Waggon lachte. Es brauchte ein paar Sekunden, bevor ich begriff, dass ich den Mittelpunkt des allgemeinen Amüsements darstellte. Meine Freunde hatten Tränen in den Augen und klopften mir aufmunternd auf die Schulter. Ich stimmte mit ein ins allgemeine Gelächter. Vielleicht brachte ja genau dieser verkorkste Satz die letzten Monate waschecht auf den Punkt. Die Schlinge, die wir im Kopf hatten, gab es also nicht mehr.

Meine Rostocker Kollegen gesellten sich im Westfalenstadion zu mir. Ich hatte die Karten besorgt und uns geschickt neutral in der Nordwest-Ecke platziert. Im Nachhinein eine goldrichtige Entscheidung, denn der freie Blick auf die Süd war an diesem Tag Gold wert. „Am Ende der dunklen Gasse erstrahlt die gelbe Wand.” Gänsehaut pur. Beim Einlauf der Mannschaften präsentierte die gelbe Wand 4.000 Doppelhalter, die in aufwendiger und liebevoller Handarbeit von The Unity gefertigt worden waren. Ein eimaliger Anblick, den ich nie wieder vergessen werde. Ähnlich sahen das wohl auch meine HansaKollegen, die aus dem Staunen nicht herauskamen und fleißig Bilderchen knipsten. Vielleicht betrachteten sie diese Art der Choreografie ja auch als würdigen Abschiedsrahmen für den eigenen Klub von der Ostsee. So oder so. Das Intro des Spiels hatte es schon mal in sich. Das übliche Prozedere beim gemeinsamen Ausrufen der Mannschaftsaufstellung wich auch so ein wenig von der Norm ab. Zwar rief Norbert Dickel wie sonst auch die Vornamen der Spieler, doch antwortete das Westfalenstadion diesmal nicht wie gewöhnlich mit den Nachnamen. „Derbysieger” schallte es Nobby bei jedem Spielernamen von den Rängen entgegen. Dass er das nach kurzem Zögern erkannte und direkt ansprach – „Also los, dann jetzt alle auf Derbysieger” –, sorgte für zusätzliche Gänsehautatmosphäre.

So ein letzter Spieltag im heimischen Stadion ist bekanntlich immer auch die passende Bühne, um feststehende Abgänge aus den eigenen Reihen zu verabschieden. Für Otto Addo und Ersatzkeeper Guillaume Warmuz hagelte es Beifall von den Tribünen. Bergdölmö und Demel ernteten dagegen etwas weniger Applaus. Die Mannschaft sollte in der Sommerpause ein in Ansätzen neues Gesicht erhalten – vor allem durch junge und preiswerte Verstärkungen aus den eigenen Reihen. Dafür war es notwendig, Platz zu schaffen und ältere Spieler ziehen zu lassen. Otto Addo war der einzige von ihnen, der an diesem Nachmittag noch zu einem Abschiedseinsatz im BVB-Trikot kommen sollte. Denn Fußball wurde nach all diesem atemberaubenden Drumherum ja auch noch gespielt.

Nach wenigen Spielminuten brandete bereits der erste Jubel auf. Nicht weil der BVB ein schnelles Tor geschossen hätte, sondern weil Mönchengladbach in Leverkusen führte. Die direkte Quali für den UEFA-Cup lag in greifbarer Nähe. Boom. Und plötzlich führte Rostock. Dank ihrer stabilen Defensive konnten die Norddeutschen das Ergebnis in die Halbzeit nehmen. Seit acht Spielen ungeschlagen und jetzt sollte diese Serie ausgerechnet zu Hause gegen einen Absteiger enden? Jetzt, wo der nicht mehr möglich geglaubte, direkte internationale Startplatz winkte?

Die Rostocker hatten ihren Spaß. Sie wollten uns schön in die Suppe spucken und nebenbei ihr Team ein vorerst letztes Mal mit den ganz Großen konkurrieren sehen. Dieser Plan ging bis zur Halbzeit erschreckend deutlich auf.

„Wäre doch schade, wenn ihr das jetzt gegen einen Absteiger vergeigt, oder”, rief mir mein Kollege durch die tiefen Bässe der lauten Halbzeitmusik zu und grinste dabei schelmisch.

Ich wollte eigentlich zunächst genervt sarkastisch reagieren, atmete dann aber tief durch und sagte: „Im Endeffekt geht davon die Welt nicht unter. Da gibt es Schlimmeres.”

Draufhin verzog mein Kollege das Gesicht und warf mir einen bösen Blick zu. Er hatte den zweiten Satz offensichtlich als Spitze gegen ihn und den Abstieg seines Klubs gewertet. Doch so war es gar nicht gemeint. Nach Molsiris konnte und wollte ich ganz sicher nicht über andere Klubschicksale als das eigene urteilen. Dafür waren die eigenen Ängste und Befürchtungen noch zu präsent.

Für den zweiten Spielabschnitt hatte sich der BVB ganz offensichtlich etwas vorgenommen. Mit Wut im Bauch und den richtigen Ideen im Fuß kam die Mannschaft aus der Kabine und wollte diese Partie unbedingt noch drehen. Nachwuchshoffnung Kruska machte den Anfang. Das erste Bundesligator des 17-Jährigen sorgte für Erleichterung. Eine Viertelstunde später sprang ich erneut mit geballter Faust von meinem Sitz auf und ließ die Rostocker Kollegen einsam in ihren Sitzschalen zurück. Koller hatte auf 2:1 gestellt. Leider hatte Leverkusen die Partie gegen Mönchengladbach ebenso gedreht und führte zu diesem Zeitpunkt bereits mit 4:1. Das sollte aber die tolle Stimmung nicht schmälern. Das Westfalenstadion feierte sein Team, das in der Rückrunde Großartiges geleistet hatte. 37 Punkte in einer Halbserie bedeuteten bei Abpfiff der letzten Begegnung einen neuen Vereinsrekord. Und immerhin sprang als Tabellensiebter immerhin noch der UI-Cup raus. Der Strohhalm war da.

Das Team drehte nach dem Spiel noch ein paar Extrarunden und sog die positive Stimmung geradezu durstig auf. Ich blieb an diesem Nachmittag so lange wie möglich auf meinem Platz, bis schließlich ein Ordner kam und mich hinausbat. Ich wollte nicht gehen. Ich hatte überhaupt keine Lust auf Sommerpause. Vor allem nicht jetzt, wo es doch so super lief. Wenn man das Haar in der Suppe hätte suchen wollen, wäre das so eine Sache gewesen, auf die man stoßen konnte. In Krisenzeiten meint es der Spielplan selten gut mit uns Fans. Läuft es – fußballerisch vulgär ausgedrückt, sorry – beschissen, hat der Spielplan gleich noch einen und noch einen Kracher parat. Weitere Niederlagen und Frustmomente vorprogrammiert, versteht sich. Und dann, wie am Ende der Spielzeit 2004/05, wenn der Ball mal so richtig schön ins Rollen kommt, sorgt der 34. Spieltag für ein abruptes Ende. Das nervt manchmal so richtig, ist aber leider nicht zu ändern.

Standesgemäß übermüdet und leicht erkältet kam ich am Sonntagvormittag nach fast 14-stündiger Heimreise – gesegnet seien das Wochenendticket und die nächtlichen Betriebspausen im Regionalverkehr – am heimischen Bahnhof an. Mein Vater wartete schon am Bahnsteig. Ich stieg auf und hob kurz und schmerzlos die Hand zum Gruß. Als ich in Hörweite war, verkniff ich mir einen zynischen Spruch gegen Hertha BSC, das die Champions-League-Qualifikation mit einer müden Nullnummer daheim gegen Hannover verspielt hatte. Stattdessen sagte ich mit diplomatischer Fairness: „Wenigstens habt ihr es in den UEFA-Cup geschafft.”

Mein Vater nickte, sichtlich verärgert über die vertane Chance auf Champions-League-Partien im Olympiastadion. Dann sagte er: „Du kannst aber auch zufrieden sein. Auch wenn es nicht ganz gereicht hat. Die Rückrunde macht doch Bock auf mehr.”

Ich nickte ebenfalls. Genauso war es. Eine Veränderung, die nach der Hinrunde noch so weit entfernt schien, war schneller eingetreten als gedacht. Eine neue Philosophie – der Schulterschluss mit den Fans und der bedingungslose Einsatzwille für den Verein – begann nach dem Beinahe-Kollaps zu reifen und sich nachhaltig positiv in den Köpfen aller Borussen festzusetzen.

Das große Sommerloch tat sich vor mir auf. Es gab kein Entkommen. Mangels Alternative musste ich ihm gegenübertreten. Das Schlimmste daran war, dass die Sommerpause in der Bundesliga schon angebrochen war, die Sommerferien aber noch auf sich warten ließen. Jeden Tag zur Schule, ohne Ziel und Verstand. Erstaunlich war auch, wie schnell uns die Gesprächsthemen auf dem Schulhof ausgingen. Manchmal mussten wir uns tatsächlich mit den Mädchen unserer Klasse unterhalten, weil es keine hitzigen Diskussionen mehr über vermeintliche Elfmeter und Abseitsentscheidungen gab. Der letzte Sonnenschein vor der Einfahrt in einen langen, dunklen Tunnel war das legendäre Champions-League-Finale zwischen Milan und Liverpool, das die Reds nach grandioser Aufholjagd im Elfmeterschießen noch für sich entscheiden konnten. Champions League. Das war dieser Tage auch eher ein Term, um tolle Erinnerungen wieder aufleben zu lassen und Träume zu entfachen. Doch für den BVB schien dieser Wettbewerb Lichtjahre entfernt. Ich freute mich dennoch riesig für Liverpool.

Danach war endgültig Schluss mit der Saison. Das letzte Licht war erloschen, die Zeit der Dunkelheit brach über mich herein. Schon paradox, so im Sommer. Toll, dass ausgerechnet nach Beendigung der Saison auch noch die Abschlussprüfungen der zehnten Klasse zu absolvieren waren. Wenn man nichts hat, worauf man sich zumindest am Wochenende freuen kann, wie soll man denn dann ausreichend motiviert lernen. Ich mogelte mich irgendwie durch die Prüfungen. Danach konnte ich mich zumindest auf die Ferien freuen. Das große Licht am Ende des Tunnels war, dass der erste Spieltag der neuen Saison noch in den Sommerferien lag – und vorher gab es auch noch den UI-Cup. Das hieß also, dass ich wieder mal den Schulstress der ersten Wochen des neuen Schuljahres im Saisonstress der ersten Spieltage ersticken konnte. Bis dahin war allerdings ganz schön viel Zeit zu überbrücken.

„Bald ist doch auch Confed-Cup”, versuchte mich meine Mutter zu beschwichtigen.

„Ja. Nein. Danke.” Meine Antwort fiel sicherlich viel zu barsch aus. Doch ich konnte meiner Mutter in diesem Moment nichts anderes erwidern. Nationalmannschaftsfußball hatte bestimmt seinen Reiz. In diesem Alter war ich dafür sogar noch einigermaßen empfänglich gewesen. Aber nur, wenn es tatsächlich in den großen Spielen heiß herging. Doch selbst bei wichtigen Turnieren löste die Nationalelf auch nicht ansatzweise das BVB-Kribbeln aus. Und der Confed-Cup als Mini-Testversion der Weltmeisterschaft hatte ohnehin keinen Reiz für mich. Im Laufe der Jahre sollte meine persönliche Kluft zwischen Klubfußball und Nationalmannschaftsfußball immer größer werden. 2005 war aber noch ein Jahr, in dem ich es schon fast bedauerte, während des Sommers keine WM oder EM als Überbrückung nutzen zu können. Natürlich schaute ich mir im Endeffekt auch die Spiele des Confed-Cups an. Was blieb mir auch anderes übrig. Das Ganze war so spannend wie ein verregneter Vormittag im ZDF-Fernsehgarten. Scheiß Sommerpause!

Aus der Hölle ans Licht

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