Читать книгу Schwarzer Peter - Tim Herden - Страница 15
VIII
ОглавлениеObwohl die Steine noch recht kalt waren, saßen Damp und Rieder auf der Deichkrone. Der Wind hatte nachgelassen. Die Sonne brach zwischen den Wolken hervor und wärmte die Luft. Sie warteten auf die Spurensicherung aus Stralsund. Der Greifswalder Rechtsmediziner, Dr. Krüger, hatte mitgeteilt, dass er seine Vorlesungen an der Universität nicht verschieben könne. Wenn die Spurensicherung ihre Arbeit gemacht habe, solle ein Beerdigungsunternehmen von Rügen die Leiche ins Rechtsmedizinische Institut nach Greifswald bringen.
„Warum kommt Behm eigentlich nicht mit der Wasserschutzpolizei?“, fragte Rieder.
„Gebauers Boot ist in der Werft. Motorschaden“, antwortete Damp.
„Schon wieder?“ Rieder überlegte kurz. „Das ist doch das dritte Mal, seit ich hier bin.“ Und er war erst seit einem Jahr auf der Insel.
„Das ist eine alte Schabracke. Der Kahn war schon so gut wie ausgemustert, als er aus Kiel hierher verfrachtet wurde. Die Wessis haben uns doch nach der Wende den ganzen Schrott angedreht. Diese Fähre, die im Winter nicht fährt, und diese Polizeiboote, die im Frühjahr kaputt sind. In Dienst gestellt 1974. Da bin ich noch zur Schule gegangen.“
„Also, wir konnten uns nicht beschweren. Wir bekamen in Halle 1990 zwar alte Passat Kombi. Erdbraun. Aber hinten war so viel Platz, da konnte man bei Observationen mal ’ne Schicht Schlaf einlegen. Und da die Jungs immer noch dachten, wir seien mit Lada und Wartburg unterwegs wie Hauptmann Fuchs aus dem ‚Polizeiruf 110‘ und nicht mit einem alten Westschlitten, waren wir auch ganz schön erfolgreich …“
Damp wandte sich Rieder zu. „Sie kommen aus dem Osten?“
„Ja.“
„Das haben Sie nie erzählt.“
„Warum auch? Spielt das eine Rolle?“
„Aber Sie waren doch Leitender Ermittler einer Mordkommission in Westberlin.“
„Na und? Mein Partner kam aus dem Ruhrgebiet. Wir saßen in Charlottenburg. Westberlin gibt’s schon länger nicht mehr.“
„Für mich schon.“ Damp versank in Gedanken. „Ich dachte immer, Sie sind aus Berlin“, begann er wieder.
„Selbst wenn, hätte ich ja auch aus dem Osten Berlins kommen können.“
„Komisch, hätte ich nicht gedacht, dass Sie ein Ossi sind.“
„Dann haben wir das jetzt mal geklärt.“
„Ich fand es nicht gut, die Witt einfach gehen zu lassen“, wechselte Damp das Thema.
„Die wird schon nicht abhauen. Wo soll sie denn hin?“
„Trotzdem.“
Rieder hatte gewartet, bis sich Gudrun Witt beruhigt hatte und sie dann nach Hause geschickt. „Wir werden aber noch mal mit Ihnen reden müssen.“
Damp war zwar mit dieser Entscheidung nicht einverstanden, hatte aber nicht widersprochen. Gudrun Witt hatte ihr Rad genommen, war aufgestiegen und langsam auf dem Deich zurück nach Neuendorf gefahren.
„Und wenn sie doch abhaut?“, beharrte Damp.
„Sie haben ja Recht, dass mit Gudruns Geschichte was nicht stimmt. Aber können wir ihr das Gegenteil beweisen? Was nicht stimmt, kriegen wir hier auf der Insel nicht raus, wenn wir Gudrun Witt aufs Revier mitnehmen. Da haben wir gleich die Neuendorfer gegen uns. Die reden schon so nicht gern mit uns.“ Die Bewohner des südlichen Inseldorfes waren eine verschworene Gemeinschaft. Schon seit Jahrhunderten. Früher hatten sie in einer Fischerkommune, einer Art Genossenschaft miteinander gearbeitet und alles miteinander geteilt. Der Zusammenhalt war bis heute geblieben. Die Insulaner in Vitte und Kloster waren von einem anderen Schlag. Sie hatten sich immer als stolze freie Fischer gefühlt. Zwischen Neuendorf und Vitte schien eine unsichtbare Grenze quer über die Insel zu verlaufen. Oder wie sagte Malte Fittkau? „Neuendorf ist Ausland.“
Aber Malte spielte in Rieders Überlegungen eine wichtige Rolle. „Ich habe eine andere Idee. Wir müssen Gudrun Witt beobachten und sehen, was sie tut.“
„Na prima, wir sind ja auch auf der Insel so unsichtbar wie ein rosa Elefant“, entgegnete Damp und winkte ab.
„Ich dachte an eine Art Spion“, erklärte Rieder.
„Und wer soll das sein? Wollen Sie die Blohm von Rügen holen“, fragte Damp listig.
„Keinen Fremden. Der fällt doch hier nur auf. Ist doch noch keine Saison. Ich dachte an Malte.“
„Den Fittkau?!“, rief Damp aus. „Der quatscht doch alles aus.“
„Hat er im Winter auch nicht getan“, erwiderte Rieder und bereute sofort seine Antwort. Malte Fittkau war Rieder im Winter bei seinem Undercover-Einsatz auf der Insel, wenn auch durch Zufall, auf die Schliche gekommen, hatte ihn aber gegenüber Damp nicht verraten. Deshalb war er auch nicht gut auf Fittkau zu sprechen.
„Die suchen doch Leute, die den alten Fischerschuppen in Neuendorf entrümpeln. Da soll doch dieses neue Museum rein. Gleich da am Ortseingang und ganz in der Nähe vom Haus der Witts. Dafür könnte sich Malte doch melden und dabei ein Auge auf Gudrun werfen.“
Damp schwieg, aber Rieder konnte fühlen, wie es in seinem Kollegen arbeitete. „Sie glauben, die Neuendorfer lassen einen aus Vitte ihre alten Sachen rausräumen? Träumen Sie weiter.“
„Es kommt auf einen Versuch an.“
Da hörten sie das Brummen eines Hubschraubers in der Luft. „Na endlich!“
Holm Behm und sein Assistent Sascha buckelten die Koffer der Spurensicherung über den Deich. Der Polizeihubschrauber war weit hinter dem Deichende am kleinen Leuchtturm Gellen niedergegangen. Der Pilot hatte sich nicht getraut, in der Nähe des Boddenufers zu landen. Er fürchtete, beim Aufsetzen im moorigen Boden zu versinken. Doch auch am Leuchtfeuer war der Boden durch die Schneeschmelze weich und schlammig. Von dort bis zum Schwarzen Peter waren es einige hundert Meter. Die Hosen der beiden Beamten aus Stralsund waren übersät mit braunen sandigen Spritzern.
„Diese Plackerei“, stöhnte Behm, als er endlich am Tatort ankam. „Hätte ich das gewusst, wäre ich mit dem Auto gekommen. Die Fähre von Schaprode fährt doch wieder?“
Damp und Rieder nickten. „Wahrscheinlich wäre ich auch schneller gewesen. Erst mit dem ganzen Zeug raus zur Marineschule, dann mit dem Ding da hierher“, er deutete zum Hubschrauber, der gerade wieder abhob, „und nun noch die Schlepperei.“
Die beiden Inselpolizisten nickten wieder. Jetzt mit einem mitleidigen Blick.
„Und? Was haben wir hier?“
Rieder wies auf den Toten am Fuß des Deichs. „Alter Mann, wahrscheinlich erschlagen.“ Er schaute kurz auf die Uhr. „Jetzt so sechzehn Stunden tot. Der Inselarzt meinte, es könnte ein spitzer, kantiger Gegenstand gewesen sein.“
„Habt ihr die Tatwaffe schon gesucht oder gefunden?“
Damp und Rieder schüttelten die Köpfe.
„Warum nicht?“
„Du beschwerst dich doch immer, wenn alles zertrampelt ist.“
„Sollen wir beide jetzt hier rumsuchen …“
Wenig später waren Damp und Holms Assistent Sascha ausgeschwärmt und suchten das Gelände um den Deich und das Bollwerk nach der Tatwaffe ab. Man hatte sich auf einen spitzen massiven Stein geeinigt. Rieder war bei Behm geblieben. Zuerst hatte der Spurensicherer die Jackentaschen des Toten geleert. Ein paar Schlüssel und eine abgenutzte Brieftasche waren zum Vorschein gekommen. Er reichte die Sachen Rieder. Die Schlüssel verstaute Rieder gleich in einer durchsichtigen Asservatentüte, das Lederetui durchsuchte er nach Papieren. Einen Ausweis gab es nicht, aber dafür einen rosa DDR-Führerschein, Klasse B. Rieder klappte die Pappkarte auseinander. Ihm schaute ein jüngerer Kempe entgegen, doch Frisur und selbst die Falten im Gesicht ähnelten dem Toten. Das Ausstellungsdatum war 1985. Damals war Kempe um die fünfzig gewesen. Eine Adresse gab das Dokument nicht her. Sicher wusste Damp, wo der Tote gewohnt hatte. Behm untersuchte die Hände des Toten, gab es aber bald auf. „Der hat so viel Malerdreck unter den Fingernägeln. Da wird es schwierig werden, irgendwelche Fremd-DNA zu sichern, wenn es überhaupt welche gibt. Anzeichen für einen Kampf sind ja auch nicht zu sehen.“
Rieder schaute kurz hoch und beobachtete seinen Kollegen, wie er die Hände der Leiche vorsichtig in Plastiktüten verpackte und dann an den Unterarmen zuschnürte. Dann tastete er weiter die Kleidung des Toten ab. In einer Hosentasche fand Behm ein paar Münzen und ein Stofftaschentuch. Rieder hatte gehofft, er würde ein Funktelefon finden.
„Haste übrigens gehört, dass Bökemüller eine neue Truppe aufstellt?“
„Nö, woher?“
„Na, ich dachte, dass du mit dem Alten doch auf gutem Fuß stehst.“ Behm wandte sich den Schuhen zu, suchte zuvor mit einer Lupe noch die Kleidung nach Faserspuren ab.
„Ich habe Bökemüller zuletzt im Januar gesehen, kurz nach der Aktion hier auf der Insel. Was soll das denn für eine Truppe sein?“
„Soll sich SOKO Bäderpolizei nennen. Bökemüller hat mich gefragt, ob ich mitmachen würde.“
„Und?“
„Würde mich schon reizen. Einsatzgebiet soll vom Darß über Rügen bis nach Usedom reichen. Hauptstandort Stralsund. Das käme mir natürlich zupass. Da kannste meistens, wenn was passiert, abends auch noch nach Hause fahren.“
„Nach Hiddensee kann man weder von Stralsund noch von sonstwo hier oben abends nach Hause. Und dann immer in Hotels und Pensionen abhängen, na, ich weiß nicht.“
„Willst du denn auf der Insel bleiben?“
Rieder zuckte mit den Schultern. „Im Moment schon. Mir gefällt’s hier.“
„Und mit Damp?“
„Was soll mit Damp sein?“
„Kommt ihr miteinander klar nach der Nummer im Winter?“
„Schon“, um nach einer Pause noch anzufügen, „irgendwie eben.“
„Naja“, plauderte Behm weiter, „ich habe Bökemüller gesagt, du müsstest den Chef machen.“
„Was hast du ihm gesagt?“ Rieder war aufgebracht. Er mochte es nicht, wenn sich andere in seine Angelegenheiten einmischten oder glaubten, sein Anwalt sein zu müssen.
Behm schaute sich kurz um. „Nicht so laut. Die beiden müssen nicht hören, was läuft.“
Er trat näher an Rieder heran. „Mal im Ernst, wer sollte es sonst machen? Nichts gegen die Kollegen aus Stralsund, Bergen oder Greifswald. Aber die bösen Buben, die da anrücken, aus Berlin zum Beispiel, sind eher deine Kragenweite. Auch die Bandenkriminalität an der Grenze und so, das aufkommende Drogengeschäft, die Rotlichtcliquen, also beim besten Willen, das ist eine Nummer zu groß für einen von uns. Da muss ein Fachmann mit deiner Kompetenz ran. Immerhin warst du stellvertretender Leiter einer Mordkommission.“
Rieder schnaufte kurz. „Das nannte sich Abwesenheitsvertreter und war die bessere Umschreibung für Dienstplanverantwortlicher, weil es keiner machen wollte. Außerdem weißt du genau, warum ich hier hoch gekommen bin.“
Behm zog die Augenbrauen nach oben. „Irgendwann musst du deinen Kururlaub mal beenden. Ich kenne einen, der letzten Herbst losgetigert ist, kaum dass er wieder unter den Lebenden war, mit einem Verband um Arm und Schulter, und dann um die halbe Welt einen Mörder verfolgt hat …“
„Das war etwas anderes.“ unterbrach ihn Rieder und trat einen Schritt zurück. Über den Deich kam der schwarze Kombi des Beerdigungsinstituts.
„Was soll ich Bökemüller sagen?“, drang Behm noch einmal auf seinen Kollegen ein.
„Was du ihm sagen sollst?“, fragte Rieder unwirsch. „Bist du sein Bote?“ Er steckte die Hände in die Hosentaschen. „Wäre schon keine schlechte Kombination für ein Team, Ermittler und Spurensicherer“, bemerkte er nachdenklich. „Aber da steht sicher irgendeine Vorschrift oder der Tarifvertrag dagegen.“
Behm grinste. „Also hast du doch Lust …“
„Ich weiß nicht …“, blockte Rieder ab. Er wollte das Thema beenden. Aber in seinem Hirn hatten sich Behms Worte festgesetzt und begannen nun ein Eigenleben zu führen. Rieder versuchte sie zu verdrängen. „Jetzt kümmern wir erst mal um den Toten hier.“
Damp und Sascha kamen zurück. „Nichts gefunden“, erklärte Damp. „Kein Stein, keine Flasche, kein Brett, kein Werkzeug.“
„Dann liegt es vielleicht auf dem Grund des Boddens.“ Behm machte eine ausschweifende Handbewegung über das Wasser und drehte sich dabei zur Staffelei. „Wo ist eigentlich das Bild?“
„Das habe ich mich auch schon gefragt“, antwortete Rieder.