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II

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Rieder radelte über den Deich nach Kloster. Der frische Wind rauschte in seinen Ohren. Er kam von Südwest und brachte warme Frühlingsluft auf die Insel. Erst seit wenigen Tagen konnte man die Insel wieder ohne Probleme mit dem Rad befahren. Zuvor hatte es auf den Wegen immer noch hier und da Eisflächen oder scharfkantig gefrorene Schneereste gegeben. Auf den Sumpfwiesen weidete eine Schafherde. Sie war erst vor kurzem vom Winterquartier auf Rügen zurück nach Hiddensee gebracht worden. Um die Tümpel versammelten sich die ersten Zugvögel. Sie machten hier Station auf ihrer Rückreise nach Norden. Im Seglerhafen von Kloster waren erst wenige Liegeplätze belegt. Nur ein paar Motorboote der Einheimischen dümpelten vor sich hin. Wenn das Wetter so bliebe, würden wahrscheinlich zu Ostern die ersten Segler einen Törn nach Hiddensee wagen.

Rieder schloss sein Rad an der Außenstelle der Reederei Hiddensee im Hafen an. Malte hatte ihm empfohlen, von dort den schmalen Pfad hinauf zum Schwedenhagen zu nehmen. Rieder musste ein wenig suchen, ehe er im Gestrüpp den Trampelpfad entdeckte. Relativ steil verlief der schmale Weg. Oben angekommen, stand Rieder vor einem Feld mit frischer grüner Saat. Das war ungewöhnlich für Hiddensee. Außer dem Weiden von Kühen und Schafen wurde auf der Insel keine Landwirtschaft mehr betrieben. Am Feldrain standen ein paar alte LKW-Hänger, schon völlig von Buschwerk überwachsen. Rieder wandte sich nach rechts und lief zu dem kleinen Wäldchen neben dem Häuschen der Wasserversorgung. Dort stand der blaue Polizeiwagen von Damp. Im Dickicht der Bäume entdeckte er ein Haus. Das musste Gildes Villa sein. Ein Seil war zwischen zwei kniehohen Holzpfählen gespannt, kaum ein Hindernis für ungebetene Gäste. Rieder stieg darüber. Obwohl schon ein Jahr auf der Insel, war ihm dieses Haus noch nie aufgefallen. Auch das verlassene Institutsgebäude der Universität Greifswald nebenan hatte er noch nicht besucht.

Damp wartete schon auf ihn. „Gut, dass Sie da sind. Ich weiß mir echt nicht zu helfen.“

Rieder war verblüfft von Damps Aufzug. Seine Uniform war nagelneu. Bisher hatte sich sein Kollege nicht vom althergebrachten Polizeigrün trennen wollen. Nun aber trug er das neue Dunkelblau. Die Hose hatte ein scharfe Bügelfalte. Die Uniformjacke saß wie angegossen. Damp hatte in der letzten Zeit ziemlich an Gewicht verloren, brachte aber sicher immer noch einiges an Übergewicht auf die Waage. Seinen alten Sachen hatte man den Verlust angesehen. In diesem neuen Aufzug wirkte der Revierleiter mit seinen einsneunzig Körpergröße wie ein stattlicher Mann. Wie eine Autorität. Rieder kam sich dagegen ein wenig schäbig vor. Abgewetzte Jeans, Wanderschuhe, Fieldjacket und dazu ein ausgeblichenes rotes Basecap mit dem Logo der Insel. „Sie haben sich ganz schön in Schale geschmissen“, bemerkte Rieder.

Damp stutzte kurz, schaute unsicher an sich runter. „Ich brauchte eben neue Klamotten, aber das tut jetzt nichts zur Sache.“ Er war total nervös, drehte seine Mütze mit seinen Händen hin und her. „Da oben sitzen die Witwe und der Sohn des Toten. Die sind auf der Beerdigung völlig ausgetickt.“ Damp deutete mit dem Kopf an, dass sie etwas vom Haus weggehen sollten, um nicht gehört zu werden. „Erst ging alles gut. In der Kirche, der Pfarrer, noch ein paar Worte von irgend so einem Heini aus Stralsund über Gilde und seine Firma. Dann liefen alle zum Grab. Jedenfalls, als der Sohn dann Erde ins Grab werfen wollte, rastete die Frau völlig aus.“

Damp blickte sich kurz ängstlich um, bevor er weitersprach. „Was er sich trauen würde. Er hätte seinen Vater ins Grab gebracht und sei für seinen Tod verantwortlich. Der Sohn giftete zurück, sie hätte ihren Mann verrecken lassen, um endlich an sein Geld zu kommen.“ Damp zog Rieder noch ein wenig weiter vom Haus weg. „Wenn ich nicht dazwischengegangen wäre, hätten die sich in die Haare bekommen. Ich habe sie dann hierhergebracht.“ Damp atmete schwer. So sehr hatte ihn allein sein Bericht wieder erregt.

„Und die anderen Trauergäste?“, fragte Rieder nach.

„Um die kümmert sich Förster. Die sind wahrscheinlich noch beim Leichenschmaus im Hotel ‚Hitthim‘ in Kloster.“ Thomas Förster war der Bürgermeister von Hiddensee. Damp machte eine kurze Pause. „Die waren alle total geschockt.“

„Und nun?“

„Was, und nun?“, erwiderte Damp verblüfft.

„Was soll ich jetzt hier tun?“, fragte Rieder.

Nachdem sich Damp noch einmal umgeschaut hatte, meinte er: „Vielleicht reden Sie mal mit den beiden. Sie kennen sich doch bestimmt besser mit solchen Dingen aus.“

Rieders Begeisterung hielt sich in Grenzen. Wahrscheinlich war es nicht mehr als der übliche Knatsch zwischen den Erben. „Na gut. Gehen wir mal rein.“

Sie betraten die Eingangshalle. Rieder blieb mit offenem Mund stehen. Er konnte nicht fassen, was er erblickte. Alle vier Wände waren eng behängt mit Gemälden, Aquarellen und Zeichnungen. Alle Bilder hatten aber nur ein Thema: Hiddensee. Ein Gemälde zog ihn sofort in den Bann. Zwei junge Mädchen mit leicht geröteten Gesichtern und farbigen Kopftüchern standen am Strand. Sie schauten in die Ferne. Rieder kannte das Bild, aber nur als Postkarte. Er wusste auch, dass es von Elisabeth Büchsel stammte, der berühmtesten Inselmalerin. Um das Bild herum waren noch weitere Kinderporträts gruppiert. Ein kleines Mädchen lehnte an einer Hauswand und schien ganz verschüchtert zur Malerin zu schauen. Auf einem anderen Bild sah man einen kleinen Jungen mit Schiebermütze. Er hatte sich auf einer Wiese im Hochland ausgestreckt. Im Hintergrund weideten Schafe. Andere Bilder zeigten Hiddenseer Fischer bei der Arbeit und ihre Frauen wartend am Ufer. An der Wand daneben erkannte Rieder den Inselblick wieder, den kleinen Platz, oberhalb von Kloster auf halbem Wege zum Leuchtturm mit der wunderbaren Aussicht über ganz Hiddensee. Rieder liebte diese Stelle und setzte sich immer ein paar Minuten auf eine der Bänke, wenn er dort vorbeikam. Hier gab es nun Dutzende Gemälde genau mit diesem Motiv, und die Signaturen zeigten, dass sie alle von Elisabeth Büchsel gemalt worden waren. Dagegen mussten die Bilder an der Wand gegenüber von anderen Künstlern sein. Sie waren in ganz unterschiedlichen Malstilen angefertigt. Manches wirkte moderner. Anderes verträumter. Aber auch hier gab es nur ein einziges Thema: Die Insel Hiddensee und ihre Menschen.

Rieder drehte sich im Kreis. „Was ist das hier? Das Inselmuseum?“, fragte er Damp.

Sein Kollege schien nicht so beeindruckt. „Sind halt Bilder.“

„Aber das ist ja einmalig“, staunte Rieder weiter. Er trat an das eine oder andere Bild näher heran.

„Können wir jetzt endlich?“, meldete sich ungeduldig Damp. Rieder folgte ihm auf der Treppe nach oben. Dort führte eine Doppeltür in einen Salon. Auch hier waren die Wände mit Bildern dekoriert. Es handelte sich um Porträts wahrscheinlich wichtiger Persönlichkeiten der Vergangenheit. Sie schauten bedeutungsschwanger in den Raum. Dem Eingang gegenüber war eine große Glastür, und Rieder war fasziniert von dem weiten Blick über Insel, Bodden und Ostsee.

Als er sich davon losriss, nahm er die beiden Personen wahr. Eine junge Frau und ein grauhaariger Mann saßen sich auf zwei großen Sofas gegenüber. Er, schätzungsweise Mitte fünfzig, trug einen dunkelgrauen Doppelreiher. Der Anzug war sicher nicht von der Stange, aber auch nicht mehr der neueste Schick. Dazu Budapester Schuhe. Der strenge Ausdruck seines kantigen Gesichts wurde durch eine schwarz gerahmte Brille verstärkt. Die Frau war höchstens Mitte Dreißig. Das kurze schwarze Kleid passte eher in eine Bar als auf eine Beerdigung. Ihre schlanken Beine waren bestimmt nicht von der Frühlingssonne gebräunt. Die Füße steckten in hochhackigen schwarzen Pumps. Beide schauten gelangweilt aneinander vorbei. Der Mann musste wahrscheinlich Gildes Sohn sein und die Frau dessen Gattin, wie man es noch in solchen Kreisen nannte, dachte sich Rieder. Er verbeugte sich ein wenig vor der Frau, streckte ihr dann die Hand entgegen und sagte leise, „Herzliches Beileid zum Tod Ihres Schwiegervaters.“

Die Augen der Frau blitzten. Damp stieß ihn in die Seite und zischte ihm ins Ohr: „Das ist die Witwe!“ Rieder stutzte. Seine Hand schwebte immer noch in der Luft. Er zog sie zurück.

„Oh, Entschuldigung“, stammelte er, „ich wusste nicht …“ Hatte ihm Damp nicht erzählt, Gilde sei schon weit über neunzig gewesen?

„Schon gut“, antwortete die Frau angespannt. „Ich bin Martina Gilde, die Ehefrau von Werner Gilde. Und wer sind Sie?“

„Hauptkommissar Rieder.“ Er verzichtete darauf, seinen Dienstausweis zu zeigen. „Mein Kollege Damp hat mich hergebeten.“

Dann wandte er sich an den Mann gegenüber. „Dann sind Sie …“

„Ganz recht, Richard Schlick, der Sohn des Toten“, antwortete der Mann streng. Rieder stutzte wieder. Warum trug er nicht den Nachnamen des Vaters? Der alte Stiefsohn und die junge Stiefmutter. Damp hätte ihn ruhig auf diese Familienverhältnisse vorbereiten können. Offenbar hatte Schlick seine Verwunderung bemerkt. Er zog eine Visitenkarte aus seiner Brusttasche und reichte sie Rieder. „Ich bin der Adoptivsohn von Werner Gilde.“ Nach einer Kunstpause setzte er hinzu, „Und der Geschäftsführer der Gildemeister Nahrungsmittel GmbH.“

„Aber nicht mehr lange“, blaffte die junge Witwe.

Schlick gab keine Antwort, sondern schüttelte entnervt den Kopf.

„Mein Kollege hat mich hergebeten, um einen Sachverhalt zu klären …“

Weiter kam Rieder nicht. „Einen Sachverhalt!“, rief die Frau aus. „Einen Sachverhalt! Hör sich das einer an. Dieser Mann“, schrie sie hysterisch und richtete den ausgestreckten Zeigefinger auf ihr Gegenüber, „dieser Mann hat Werner getötet! Ermordet!“

„Schwachsinn“, erwiderte Schlick wütend. „Du hast ihn ins Grab gebracht. Mit deiner Gier!“

„Ich habe ihn gepflegt …“

„Gepflegt? Dass ich nicht lache.“ Er beugte sich vor und saß wie zum Sprung auf der Sofakante. „Gepflegt hast du vielleicht deine Fingernägel. Nichts hast du für ihn getan. Du hast ihm die notwendige medizinische Pflege verweigert, hast ihn verhungern und verdursten lassen. Dafür habe ich Beweise!“

Sie beugte sich ebenfalls vor und giftete zurück: „Die möchte ich sehen.“

„Das wirst du auch.“

„Moment!“, fuhr Rieder mit lauter Stimme dazwischen. Die beiden verstummten und starrten ihn an. „Könnten wir uns vielleicht alle ein wenig zurücknehmen.“ Sohn und Witwe lehnten sich zurück, verschränkten die Arme vor der Brust und starrten sich hasserfüllt an. Rieder sah sich um, holte sich einen Stuhl und setzte sich wie ein Schiedsrichter zwischen die beiden. Damp stellte sich hinter ihn. Schweißtropfen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Rieder holte aus der Brusttasche seiner Jacke einen Block und einen Stift. Er klickte die Miene des Kugelschreibers raus.

„Wenn ich meinen Kollegen Damp richtig verstanden habe, haben Sie beide“, Rieder schaute erst die Frau, dann den Mann an, „also, Sie haben beide Zweifel am natürlichen Tod von Werner Gilde. Ist das richtig?“

Martina Gilde und Richard Schlick nickten jeweils kurz.

„Gut.“ Rieder notierte sich etwas. Dann wandte er sich an die Witwe. „Wann ist denn Ihr Mann, Herr Gilde, gestorben?“

„Vor fünf Tagen. Und er ist schuld.“ Sie deutete mit einer heftigen Kopfbewegung auf Richard Schlick. „Er war am Samstagnachmittag bei ihm, und als ich wenig später bei Werner vorbeischaute, atmete er nicht mehr. Er war tot. Er hat ihn umgebracht!“ Sie zog ein Taschentuch aus der Ritze der Polster des Sofas und schnäuzte sich damit laut. Dann schien sie ein paar Tränen in ihren Augen zu trocknen und verwischte ihre Lidschatten.

„Wann genau haben Sie den Toten aufgefunden?“

„Wie gesagt, Samstag. So gegen sieben Uhr. Abends.“

„Wo waren Sie davor?“

„Was hat das mit dem Tod meines Mannes zu tun?“

„Wir müssen die Umstände des Todes Ihres Mannes genau rekonstruieren. Dazu gehört auch, wer sich wann wo aufgehalten hat“, erklärte Rieder betont gelassen. „Also?“

„Ich war auf der Insel unterwegs.“

Schlick lachte auf. „Du hast dich wahrscheinlich mit deinem Lover getroffen, während Werner hier verreckte.“

Rieder hob ein wenig seine rechte Hand. „Herr Schlick. Sie sind noch nicht dran. Vielleicht wäre es besser, wenn wir Sie getrennt voneinander vernehmen.“

„Ich will hören, was die Schl…“, Schlick verstummte, als er den strafenden Blick des Polizisten sah.

„Herr Damp, würden Sie bitte Herrn Schlick …“

Damp setzte seine Mütze auf und wollte schon Schlick bitten, aufzustehen. Da winkte Schlick ab. „Schon gut. Ich sage nichts mehr.“

Rieder wandte sich wieder an die Frau. „Können Sie mir vielleicht genauer sagen, wann Sie das Haus verlassen haben und wo Sie waren?“

Martina Gilde strich ihre Haare hinter das rechte Ohr. Ein Ohrsticker blitzte auf. Rieder hatte zwar keine Ahnung von Schmuck, aber der eingefasste Stein musste teuer gewesen sein. „Ich bin kurz vor zwei hier weg. Der Herr Sohn“, erklärte sie hämisch, „wollte mit der Fähre halb eins von Schaprode nach Kloster kommen. Ob dem so war, kann ich nicht sagen.“

„Und dann?“, hakte Rieder nach.

„Ich war in ein paar Geschäften in Vitte und Kloster. Viel hat ja noch nicht auf. Später war ich dann noch im Hochland spazieren. Ich musste mal raus. Außerdem wollte ich ihm nicht begegnen.“

„Ich war jeden Samstagnachmittag bei meinem Vater“, erklärte Richard Schlick. „Am Samstag fand ich Werner in einem bedauernswerten Zustand. Er hatte nichts zu trinken. Wahrscheinlich wollte sie ihn verdursten lassen …“

Martina Gilde stöhnte auf. „So ein Quatsch. Er konnte sich kaum noch bewegen, und mit seinem Tattrich hätte er jedes Glas umgekippt, oder es wäre ihm aus der Hand gefallen. Glauben Sie ihm nur nicht, was er behauptet, Herr Kommissar. Die Pflegeschwester oder ich haben ihn immer mit allem versorgt, was er brauchte.“

Richard Schlick schüttelte heftig den Kopf, sagte aber nichts.

„Also zurück zum Samstag“, versuchte Rieder die Befragung voranzubringen. „Sie kamen gegen sieben nach Hause und fanden Ihren Mann tot auf.“

„Ja, genau. Er hat ihn erstickt oder vergiftet“, brauste sie erneut auf. „Er will doch nur die Firma an sich raffen.“

„Zu möglichen Motiven kommen wir später. Und was haben Sie dann gemacht? Sie haben doch sicher einen Arzt verständigt, der den Tod bestätigt hat?“

„Ich habe die Pflegerin geholt. Sie hat sich um alles gekümmert.“

„Die Pflegerin? Und warum keinen Arzt?“

„Dass Werner tot war, habe ich selbst gesehen. Ich war so geschockt.“ Sie tupfte mit dem Taschentuch erneut ihre Wangen trocken. „Er war am Vormittag noch so lebendig gewesen.“

„So lebendig!“, mischte sich Schlick jetzt doch ein. „Er war schon halbtot, als ich kam. Ich habe ihm ein Glas Wasser geholt und ihm zu trinken gegeben. Da erwachten seine Lebensgeister wieder etwas. Die Pflegerin hatte mich schon ein paar Tage vorher ins Vertrauen gezogen und gebeten, etwas zu tun, ihn in ein Pflegeheim zu verlegen, weil sie dir nicht getraut hat und sich Sorgen gemacht hat.“

„Du spinnst doch.“

„Wer ist diese Pflegerin?“, ging Rieder dazwischen.

„Anna Rese“, antworteten beide zugleich.

Rieder drehte sich zu Damp um. „Hausärztlicher Pflegedienst“, klärte ihn sein Kollege auf.

„Hat die Pflegerin einen Arzt geholt? Es musste doch ein Totenschein ausgestellt werden.“

„Ja, hat sie.“

„Kann ich den Totenschein mal sehen?“

Martina Gilde stand auf und verschwand aus dem Zimmer. Als sie draußen war, beugte sich Schlick etwas vor. „Ich habe Beweise, dass sie dafür gesorgt hat, dass Werner sterben musste. Das ist Totschlag. Mindestens.“

Rieder beugte sich auch vor. „Vielleicht aber auch nur unterlassene Hilfeleistung. Kommt auf die Beweise an. Also, was haben Sie gegen Frau Gilde in der Hand?“

Statt zu antworten, legte Schlick den Finger auf den Mund. Martina Gilde kehrte ins Zimmer zurück. Sie reichte Rieder den Totenschein. Der Polizist überflog das Formular und gab es Damp. Am 30. März, 20.45 Uhr, hatte Dr. Möselbeck den Tod von Werner Gilde festgestellt. Todesursache: Herzversagen. Möselbeck war ein verantwortungsvoller Arzt. Mehrfach hatte Rieder erlebt, wie er bei ungeklärten Todesfällen auf der Insel das Ausstellen eines Totenscheins verweigert und stattdessen eine Autopsie durch die Rechtsmedizin in Greifswald angeordnet hatte. Meistens zu Recht.

„Um die Todesursache zu überprüfen, müsste eine Exhumierung mit anschließender Obduktion durch die Staatsanwaltschaft angeordnet werden“, klärte Rieder die Hinterbliebenen auf. „Dafür müssen aber triftige Gründe vorliegen. Ich kann sie aufgrund des Totenscheins nicht erkennen. Sie können natürlich Anzeige erstatten, und wir müssten dann Ermittlungen aufnehmen, die Ergebnisse der Staatsanwaltschaft übergeben, und die entscheiden dann …“

„Ich dachte, dazu sind Sie hier“, erwiderte die Witwe.

Rieder schaute zu Schlick. Der nickte. „Gut, dann werden wir jetzt Ihre Anzeigen aufnehmen.“ Er bat Damp, den Polizeilaptop aus dem Auto zu holen. Damp eilte hinaus.

Während Rieder mit Martina Gilde und Richard Schlick schweigend auf die Rückkehr Damps wartete, stand er auf und betrachtete näher die Bilder im Raum. Eines der Porträts zeigte einen jungen Mann. Er hatte einen runden, fast kahlen Kopf. Seine Augen blickten ernst. Zu seinem dunklen Anzug trug er eine Fliege. Rieder fielen besonders die Hände auf mit ungewöhnlich langen, feingliedrigen Fingern. Trotz des strengen Blicks wirkte der Mann gelangweilt. Auch dieses Bild war von Elisabeth Büchsel signiert. „Das ist mein Vater“, klärte Richard Schlick die Polizisten auf. „Das Bild ist in den frühen fünfziger Jahren entstanden, nachdem er die Firma übernommen hatte.“

Aus den Augenwinkeln versuchte Rieder Ähnlichkeiten des Vaters mit dem Sohn zu entdecken. Er fand allerdings keine. Im Hintergrund des Bildes war ein kleiner Schriftzug. „Erfolg haben ist Pflicht“, entzifferte er und sprach die Worte dabei leise vor sich hin.

„Der Leitspruch unseres Unternehmens“, meldete sich Richard Schlick, der offenbar Rieder gehört hatte.

„Und? Haben Sie Erfolg?“

„Wir können nicht klagen.“ Schlick setzte sich auf und warf sich wie ein Sänger in Pose. Er begann er einen Vortrag über den wirtschaftlichen Erfolg der Firma Gildemeister mit Backmischungen und Tütensuppen. Martina Gilde verdrehte immer wieder die Augen, wenn sie nicht ausgiebig die Qualität des Nagellacks auf ihren Fingernägeln betrachtete.

„Gildemeister ist im Osten der Marktführer in diesem Segment. Im Westen läuft es auch nicht schlecht. Immerhin muss man bedenken, dass wir 1990 noch einmal bei null angefangen haben …“

Damps Rückkehr beendete Schlicks Solo. Die Polizisten nahmen die gegenseitigen Anzeigen auf.

Am Ende bat Rieder darum, dass die Witwe und der Sohn am nächsten Tag ins Revier kämen, um die Formulare zu unterschreiben, damit sie an die Staatsanwaltschaft Stralsund weitergereicht werden konnten. Damp und er würden aber schon einige Vorermittlungen aufnehmen. „Deshalb möchte ich mir jetzt das Sterbezimmer ansehen. Aber vorher würde ich Herrn Schlick bitten, das Haus zu verlassen.“

Richard Schlick sah ihn entsetzt an. „Wie bitte?“

Um Rieders Anweisung zu unterstützen, hatte sich Damp erhoben. Trotz Gewichtsverlust machte seine Körpergröße immer noch ziemlichen Eindruck.

„Und diese Frau?“ Schlick deutete mit dem Kopf zu Martina Gilde.

Rieder zuckte mit den Schultern. „Was soll mit ihr sein? Sie kann hier bleiben. Es ist ihre Wohnung. Sie ist hier gemeldet.“

„Aber wenn sie anfängt, Dinge verschwinden zu lassen? Ich glaube nicht, dass Sie einschätzen können, was das für Werte sind, die sich in diesem Haus befinden?“

„Auch wenn wir beide in Ihren Augen nur Dorfpolizisten sind, Herr Schlick“, sagte Rieder völlig ruhig, „können Sie sich darauf verlassen, dass auch wir erkennen, dass es sich hier um eine sehr wertvolle Kunstsammlung handelt. Sicher gibt eine Inventarliste oder bei der Versicherung eine Aufstellung der Werke, so dass wir jederzeit überprüfen können, ob etwas fehlt. Wo finden wir Sie? Bleiben Sie auf der Insel?“

„Ihr Ton gefällt mir nicht …“

„Mir gefällt Ihr Ton auch nicht“, fiel ihm Rieder ins Wort. „Aber das tut auch nichts zur Sache. Also, wo finden wir Sie?“

„Im ‚Hitthim‘.“

„Danke.“ Rieder zeigte in Richtung Tür. Schlick stand wütend auf. Damp begleitete ihn hinaus.

Das Sterbezimmer lag im Erdgeschoss. Es war, bevor es zur Pflegestation wurde, Gildes Arbeitszimmer gewesen. Rieder trat in einen hellen Raum. Auch hier waren die Wände mit Bildern vollgehängt, allerdings war es ein ganz anderer Stil. Keine Landschaftsmalerei, sondern expressionistische Zeichnungen, zumeist von Kirchen. Sehr kantig, fast schroff im Ausdruck. Rieder wusste sofort, dass es Bilder von Lyonel Feininger sein mussten, einem bekannten Vertreter des Bauhauses.

„Das sind keine Originale? Oder?“, fragte er ungläubig die Hausherrin, die noch in der Tür stand.

„Doch, doch“, antwortete sie. „Alle Bilder hier im Haus sind Originale.“ Sie wollte Rieder in den Raum folgen, doch er bat sie, draußen zu bleiben, damit nicht Spuren verwischt werden.

„Allerdings, wenn ich mich hier so umsehe“, Rieder drehte sich einmal um die eigene Achse, „scheint hier jemand gründlich saubergemacht zu haben. Da ist es mit Spuren wohl eher Essig.“ Er deutete auf das Pflegebett in der Mitte des Zimmers. „Oder ist das Bett noch mit der Wäsche bezogen, in der ihr Mann zu Tode gekommen ist?“

Martina Gilde schüttelte den Kopf. „Anna Rese hat alles frisch bezogen.“

„Und wo sind die Laken und Bezüge, die davor drauf waren?“, fragte Rieder resigniert.

„Im Müll.“

„Im Müll“, wiederholte Rieder fatalistisch. „Die Sachen müssen wir für die Spurensicherung mitnehmen. Ebenso die Kleidung, die Ihr Mann bei seinem Tod trug.“

„Die ist auch im Müll. Und der Müll wurde schon abgeholt.“

Rieder konnte nur noch resigniert mit den Schultern zucken. „Tja, dann könnte es mit den Ermittlungen schwierig werden.“

Damp kam zurück. „Er ist weg“, meldete er.

Rieder schaute sich noch einmal um und wandte sich dann an die Witwe. „Sie haben doch sicher eine Inventarliste von diesen ganzen Kunstwerken?“

„Also ich weiß gar nicht, ob Werner so etwas …“

„Wir brauchen gar nicht lange zu reden“, erwiderte Rieder völlig gelassen. „Entweder Sie geben mir die Liste, oder Sie müssen auch das Haus verlassen.“

„Oberste rechte Schublade im Schreibtisch. Der Schlüssel liegt in dem Behälter für die Stifte.“

Rieder fand Schlüssel und Liste. Sie erschien ihm umfangreicher als erwartet. Er blätterte sie durch. Es mussten mehrere hundert Bilder aufgeführt sein. Die meisten Bilder waren von Elisabeth Büchsel, einige von Feininger. Von den anderen Künstlern kannte er nur noch Henni Lehmann dem Namen nach. Aber Katharina Bamberg, Elisabeth Andrae, Dorothea Strohschein, Clara Arnheim, Käthe Loewenthal und Julie Wolfthorn waren ihm völlig unbekannt.

Martina Gilde hatte Rieders Staunen bemerkt. „Mein Mann war Kunstsammler. Seit seiner frühen Jugend. Besonders hatten es ihm die Malerinnen des Hiddenseer Künstlerinnenbundes angetan. Wie Elisabeth Büchsel. Aber das haben Sie ja schon in der Halle und oben gesehen. Das hier“, dabei zeigte sie auf die Bilder in Gildes Arbeitszimmer, „war Werners Refugium und diese Bilder von Feininger sein ganz besonderer Schatz. Aus Feiningers Weimarer Zeit am Bauhaus. Unter diesen Bildern arbeitete Werner, wenn wir hier auf Hiddensee waren. Sie inspirierten ihn. Mit Blick auf die Bilder ist er auch gestorben.“ Sie wandte sich ab. Ihre Schultern zuckten. Mit der rechten Hand drückte sie über der Nasenwurzel auf ihre geschlossenen Augen. „Oder ermordet worden“, stieß sie noch hervor. Rieder gab Damp ein Zeichen. Er wollte endlich gehen.

Als sie beim Polizeiauto ankamen, lehnte sich Damp erschöpft an den Wagen. Er atmete tief aus. „Danke, dass Sie gekommen sind. Die beiden haben mich echt geschafft.“

Rieder ahnte, wie schwer Damp diese Worte gefallen waren. „Da nicht für. Ich denke, hier geht es nur ums Erben. Der Sohn hat Angst, dass die junge Stiefmutter alles erben könnte. Umgekehrt genauso. Die brauchen nicht uns, sondern Gildes Notar plus Testament.“ Er lehnte sich neben Damp ans Auto und schaute in den Himmel. „So ein Unternehmen wird schon seinen Wert haben, auch wenn es nur Backpulver und Tütensuppen herstellt. Und dann diese ganzen Bilder. Da kommt was bei rum.“ Dann schüttelte er kurz den Kopf. „Aber diese Anzeigen werden im Sande verlaufen.“

„Und was heißt das nun?“, fragte Damp.

Rieder rieb sich das Kinn. „Wir machen Dienst nach Vorschrift, besuchen zur Sicherheit Möselbeck und hören uns seine Version von Gildes Tod an, nehmen ein Protokoll auf und schicken danach den Kram nach Stralsund. Sollen die entscheiden, was passieren soll.“

Rieder öffnete die Beifahrertür des Streifenwagens, doch als er sich reinsetzen wollte, hielt er noch einmal inne. „Rufen Sie sicherheitshalber mal Bökemüller an. Wäre gut, wenn er nicht aus der Zeitung erfährt, was sich hier abgespielt hat.“

Damp hatte bei Rieders letzten Worten aufgehorcht. Er sollte den Polizeidirektor anrufen? Er wurde misstrauisch. Verbarg sich dahinter irgendein Trick von Rieder? Er lief um den Wagen und beugte sich zu Rieder herunter, der inzwischen eingestiegen war. „Sie haben doch eigentlich die besseren Beziehungen zu Bökemüller.“

„Wenn ich mich recht erinnere, sind Sie hier der Polizeichef auf der Insel.“ Er streckte sich auf seinem Sitz aus. „Abgesehen davon, dass ich heute meinen freien Tag habe, waren Sie auch Augenzeuge bei der Beerdigung und haben alles hier in der Villa mitbekommen. Sie können Bökemüller einen viel besseren Eindruck vermitteln.“

Sie schauten sich beide für ein paar Sekunden stumm an. Dann nickte Damp.

„War das eigentlich eine Feuer- oder Erdbestattung?“, fragte Rieder.

„Mit Sarg. Warum wollen Sie das wissen?“

„Falls wir den alten Herrn wieder ausbuddeln müssen.“

Schwarzer Peter

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