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Das Paradies

Das Paradies – gerettet von Herbert von Karajan und Jan Timmer

Mein erster Tag am 1. August 1986 bei Polydor als Junior Artist & Repertoire Manager begann damit, dass mir mein zukünftiger Chef mitteilte, heute sei sein letzter. Was für eine sprunghafte Branche, dachte ich, als ich ihm viel Glück auf seinen Wegen wünschte. Ich ging nicht zu Unrecht davon aus, nun ein bisschen unbeobachteter recherchieren zu können. Noch immer wollte ich die schmutzigen Geheimnisse des Musikbusiness aufdecken, indem ich als verdeckter Ermittler arbeitete. Wäre ich aufmerksam genug gewesen, hätte mir auffallen müssen, dass mir schon kurz darauf der Stoff für eine viel gewaltigere Story in den Schoß fiel: Die Geschichte vom Anfang des Endes der Musikindustrie, wie wir sie kannten. Und ich war live dabei.

Ein dicker Mann mit Halbglatze, der mich stark an den damaligen südafrikanischen Staatspräsidenten Piet Botha erinnerte, stand im Ostseebad Timmendorf auf der Bühne des Golf & Sporthotels. Mir und den meisten anderen Anwesenden ging es schlecht. Der Tag war noch jung und der Abend zuvor ein unglaubliches Kräftemessen mit Schnäpsen und Bier zwischen uns, den Produktmanagern, und dem Außendienst gewesen, welches Letzterer nach Punkten klar für sich entschieden hatte. Auf den nächsten Vertriebstagungen, das schwor ich mir, würde ich, was das Trinken angeht, besser vorbereitet sein. Jetzt sah ich nur Kreise. Sie hatten alle ein Loch in der Mitte und wurden per Overhead-Folien an die Leinwand projiziert. Der große, korpulente Herr, der sich als Jan Timmer, Weltchef der PolyGram, vorgestellt hatte, gab den Dingern Namen. Das eine war eine Daten-CD, die auf Computer-Bildschirmen lustige Bilder zeigen konnte: die spätere CD-ROM. Das andere war eine bespielbare CD, die Daten aufnehmen konnte – die spätere CD-R. Nicht nur der Kater ließ den Vortrag reichlich abstrakt erscheinen. Bei der ganzen Polydor stand ein einziger Computer und den durfte nur bedienen, wer dafür eine spezielle Ausbildung nachweisen konnte. Mein Ferienjob als Datentypist bei der Albingia Versicherung hatte mich jedenfalls noch nicht qualifiziert.

Bespielbar – das klang in der Tat nicht gut, wenn ich an unsere Rechte dachte. Aber die Kassette war genauso bespielbar und sie hatte die Branche schließlich auch nicht umgebracht. Ich erinnerte mich schmunzelnd an die hilflose »Hometaping is killing Music«-Kampagne der Industrie. Keiner sprach mehr davon, seit die CD ansetzte, das schwächelnde Vinyl zu ersetzen. Die hatte Timmer gegen den anfänglichen Widerstand der restlichen Musikwirtschaft durchgeboxt. Konnte er es dabei nicht bewenden lassen? Wir hatten Kopfschmerzen und wollten heute alles, nur eins nicht: den nächsten Formatwechsel. Denn endlich ging es der Branche wieder gut, der Schrecken von 1979, als der Markt erstmals deutlich einbrach, steckte ihr allerdings noch tief in den Knochen.

Bei PolyGram hatte man ein Jahr zuvor auf spektakuläre Weise die Korken knallen lassen. Saturday Night Fever und andere Platten der ausklingenden Discowelle bescherten 1978 traumhafte Gewinne. Das musste gefeiert werden. Bei der Jahrestagung in Florida ließ man den ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger als Gastredner antreten, per Firmenjet eingeflogene Flamingos staksten durch einen künstlichen, für diesen Abend angelegten See und man gönnte sich Kaviar satt. Ein Jahr später fehlten die Hits, die die Absatzschwäche des Formats Vinyl hätten überdecken können, es drohte die Pleite.

Ich war leider nicht dabei, kenne dieses Fest aber aus der eindringlichen Schilderung des ernst dreinblickenden Personalchefs auf einem Mitarbeiterseminar in Noordweik. Damals, 1990, schüttelten wir nur die Köpfe bei der Betrachtung dieser »Case Study«. Diese Idioten – das dachten und sagten wir. Jedes Kind, das ein Marketing-Proseminar von innen gesehen hat, weiß doch, dass es so etwas wie einen Produktlebenszyklus gibt. Erst kommt die Einführungsphase, dann die Wachstumsphase, die Reifephase, die Sättigungsphase und schlussendlich die Degenerationsphase. Dafür gibt es sogar mathematische Formeln, das ist vorhersehbar. Das Ende des Vinyls war also keine Überraschung, die Naivität unserer Vorgänger hingegen schon.

Jan Timmer und sein Vortrag kamen mir dabei nicht in den Sinn. Nichts anderes war damals schon seine Botschaft gewesen. Und diese galt eben genauso für die nächste Generation von Tonträgern, für die edle CD, die uns gerade ungeahnte Renditen deutlich über 20 Prozent bescherte. Er stellte uns noch keine Prototypen der CD-R vor, zeigte aber, was die logischen und technisch möglichen Schritte seien, an denen der CD-Patentinhaber, unsere holländische Mutterfirma Philips, selbstredend arbeiten würde. Der Tag würde kommen und somit der Anfang vom Ende der CD und des Geschäfts mit ihr, wie wir es kannten.

1990 übernahm Jan Timmer für sechs Jahre den obersten Chefposten des gesamten Philips-Konzerns. Und obwohl er bei dem schwer angeschlagenen holländischen Elektrogiganten ein hartes Sanierungsprogramm namens »Centurio« fuhr, dem mehr als 50.000 Kollegen aus der Hardware-Sparte zum Opfer fielen – das brachte Timmer den Beinamen »der Schlächter von Eindhoven« ein –, wurden die Interessen der Software immer gewahrt, solange er an der Spitze stand. Sein Interesse galt der Neuerfindung von Philips als Medienkonzern mit starker vertikaler Integration – ab einer bestimmten Größenordnung der Firma, der Territorien und der zu vermarktenden Themen ist es immer weniger sinnvoll, Profitmaximierung durch Kostenreduzierung zu suchen. Das geschieht vielmehr durch Absorption von Kosten im Konzern. Wenn eine Firma viele Phasen der Wertschöpfung kontrolliert, kehren viele Kosten als Einnahmen in anderen Bereichen zurück.

Das Zentrum von Timmers Strategie war das Musiksegment PolyGram; damit kannte er sich aus und er sah in Inhalten wie Musik die größten Entwicklungschancen. Sein Ziel: Content mit Hardware-Interessen zu verknüpfen und sich gegenseitig treiben zu lassen. Die Einführung der CD war ein perfektes Beispiel für diese Strategie.

Die Geschichte der CD begann 1969, als der holländische Physiker Klaas Compaan die Idee einer laserabgetasteten Platte hatte. Ein Jahr später arbeitete er zusammen mit seinem Kollegen Piet Kramer am Prototypen. Mitte der siebziger Jahre setzte sich dann das Kapital in Bewegung – Lou Ottens, damaliger Direktor von Philips, vertrat die Meinung, dass kompakte Abmessungen Grundbedingung für eine erfolgreiche Vermarktung seien. Er nannte das Projekt »Compact Disc« und wurde so zum Namensgeber. 1979 stellte Philips den Prototyp des CD-Players vor und ging mit Sony eine strategische Partnerschaft ein. Die Kooperation sollte sich als brillanter Doppelschlag herausstellen. Einerseits technologisch, denn Sonys Know-how bei der Digitalumwandlung ergänzte sich mit Philips CD-Entwicklung ideal. Andererseits besaß Sony bereits Anteile an CBS und konnte so dabei helfen, die ursprüngliche Ablehnung sämtlicher Plattenfirmen gegenüber dem neuen Format zumindest bei einem der großen Player zu durchbrechen. Philips hatte zu diesem Zeitpunkt bereits 60 Millionen US-Dollar in die Entwicklung der CD gesteckt und teilte das auf unmissverständliche Weise der Konzern-Tochter PolyGram mit – her mit dem Repertoire, hieß die Devise. Am 17. August 1982 präsentierte Philips dann gemeinsam mit PolyGram der Öffentlichkeit den ersten Player samt CD: Walzer von Frédéric Chopin, in einer Einspielung des Pianisten Claudio Arrau. Kurze Zeit später erschien das erste Popalbum: The Visitors von ABBA.

Die Entwicklung der CD und des dazugehörigen Players zeigt beispielhaft, wie entscheidend Bequemlichkeit und Emotionalität für den Konsumenten und damit für den Erfolg einer Markteinführung sind: Gerade weil sich in der einfachen äußeren Benutzbarkeit des CD-Systems die zugrunde liegende technische Komplexität nicht spiegelte, gelang die extrem schnelle Markteinführung mit gewaltigen Verkaufserfolgen. Im ersten Jahr produzierte PolyGram 376.000 CDs – dann explodierte die Nachfrage. 950 Millionen CD-Player und Milliarden bespielter CDs wurden bis heute verkauft.

Das Phänomen Digitalisierung erreichte durch die CD zum ersten Mal massiv den Massenmarkt; aber nicht als Furcht einflößender Datenmoloch, sondern als hörbarer, spürbarer Qualitätssprung für den Nutzer. Die CD war unempfindlicher als Vinyl, die Titel ließen sich einfach anwählen – eigentlich konnte man kaum noch etwas falsch machen. Die CD war zwar eine technische Innovation, eine »kalte« Entwicklung, eigentlich nur die Umwandlung von Musik in zahllose Nullen und Einsen, aber sie wurde »warm«, also emotional verkauft. Ihr Inhalt – Musik – war dabei entscheidend. Und die Künstler: Herbert von Karajan gab auf zweifache Weise den Standard vor. Bereits im Frühjahr 1981 hatte der Dirigent der Berliner Philharmoniker als erster Künstler eine CD-Demonstration erhalten. Er liebte das neue Format. Und er erzählte bereitwillig jedem von seiner jungen Liebe. »Eine technologische Errungenschaft«, schwärmte von Karajan, »vergleichbar dem Übergang von der Gaslampe zu elektrischem Licht.«

Gleichzeitig gab es zwischen Philips und Sony Diskussionen über die Größe der CD. Ursprünglich war der Disc-Durchmesser von Philips auf 115 Millimeter festgelegt worden – das entsprach einer Spielzeit von 66 Minuten. Doch auf Betreiben von Sony wurde er auf 120 Millimeter und 78 Minuten Maximalspielzeit nach oben korrigiert. Der Grund: Sony-Präsident Norio Ahga, ein ehemaliger Opernsänger und Klassikfanatiker, verlangte, dass Beethovens Neunte, seine Lieblingssymphonie, in der Einspielung von Karajan auf der CD Platz finden müsse. Und diese Einspielung dauerte nun mal 72 Minuten. Die Auswirkungen waren dramatisch: Sony-Mitarbeiter hatten bisher ihre Demo-CDs bei Vorführungen locker aus der Brusttasche gezogen, um die praktischen Ausmaße der neuen Schallplatte zu verdeutlichen. Die vergrößerte CD passte nun aber nicht mehr in normale Brusttaschen. Also erhielten alle Sony-Mitarbeiter Hemden mit größeren Brusttaschen. Und dieses neue Maß wurde dann wiederum als Herrenhemden-Standard in Japan eingeführt.

Nur die Plattenfirmen weigerten sich, die CD als neues Speichermedium für Musik zu akzeptieren und als Chance zu begreifen. Und das, obwohl ihnen bereits das Wasser bis zum Hals stand, weil die Umsätze mit Vinyl wegbrachen. PolyGram-Chef Jan Timmer reagierte, übernahm die Führung und kündigte ein 500-Tage-Programm an, innerhalb dessen er für sämtliche Territorien CD-Fabriken bauen ließ und damit den Markt vor sich hertrieb.

Gleichzeitig entwickelte der damalige Chef von Philips, Cor van der Klugt, gemeinsam mit Sony-Präsident Akio Morita eine bauernschlaue Verhandlungstaktik: Auf einem US-Meeting mit den Chefs der großen Musikfirmen, denen 3 US-Cent Lizenz pro CD zu hoch erschienen und die einen Boykott planten, sollte das weitere Vorgehen besprochen werden. Als alle Manager zusammensaßen, erklärte van der Klugt: »PolyGram hat zwei Anwälte mitgebracht. Jeder, der einen CD-Boykott zum Thema macht, erhält umgehend eine gerichtliche Vorladung und wird verhaftet, sobald er diesen Raum verlässt. Denn es ist in den USA illegal, einen Boykott auszusprechen.« Die Musikchefs waren überrumpelt, der Schachzug gelang, es kam nie zu einem Boykott.

Kurz darauf sah Philips davon ab, den Plattenfirmen Lizenzen für die Nutzung des CD-Patentes zu berechnen. Stattdessen wurden von allen Presswerken (die meist den Muttergesellschaften gehörten und diese Gebühr als Bestandteil der Fertigungspreise einfach aufschlugen) 3 US-Cent pro Disc eingeholt. Gleichzeitig pendelte sich der Preis für eine CD fast 100 Prozent über dem einer LP ein. Nun begann die Skepsis der Musikmanager zu weichen.

Während die CD rasend schnell vom Spielzeug für Klassik-Snobs zum Spielzeug für Rock-Snobs, also zum Musikalltag von Millionen wurde, begann die Musikindustrie mit wachsender Begeisterung, ihre zuvor ängstlich geschützten Master in digitaler Form ans Volk zu verteilen.

Das Paradies – erschaffen durch Emile Berliner und Fred Gaisberg

Ich kam gerade rechtzeitig zum 100. Geburtstag der Schallplatte in den PolyGram-Konzern. 1987 wurden Emil Berliner und seine Erfindung gefeiert. Wir bekamen einen Ersttagsbrief mit den Jubiläumsbriefmarken der Deutschen Bundespost und eine Festschrift geschenkt. In der konnten wir nachlesen, dass Emil mit 14 die Schule abgebrochen hatte, um dann mit 19 Jahren vor dem preußischen Wehrdienst nach Amerika zu fliehen. Die Lektüre eines physikalischen und meteorologischen Lehrbuchs des Freiburger Professors Johannes Müller brachte Emile – um amerikanischer zu erscheinen, hatte er mittlerweile ein »e« an seinen Vornamen gehängt – dazu, sich mit elektronischen und akustischen Phänomenen zu beschäftigen. Die Begeisterung dürfte durch Nachbarstochter Cora gesteigert worden sein. Berliner, der seine Brötchen eigentlich als Buchhalter verdiente, musste für seine akustischen Experimente nach Feierabend auch Strippen durch die Zimmer ihrer Familie ziehen. Die geduldigen Adlers von nebenan ließen ihn gewähren und schließlich ihre Tochter heiraten. Ergebnis der hormongetriebenen Forschung war die Erfindung des Telefonmikrofons. Das Patent verkaufte er Alexander Graham Bell und ermöglichte diesem die Massenproduktion des Telefonapparats. Seinen Brüdern Joseph und Jacob baute er daheim in Hannover eine eigene Fabrik. Mit Telekommunikation verdienten die Berliners 20.000 Mark Startkapital, um im Jahr 1892 die Grammophon Gesellschaft zu gründen.

Thomas Alva Edison hatte derweil den Phonographen erfunden, um Stimmen aufzuzeichnen. Einige Hundert Exemplare tourten ab 1877 über die amerikanischen Jahrmärkte und versetzten das Volk in Staunen. Edison selbst hatte längst das Interesse verloren und wendete sich der Erfindung der Glühbirne zu. Emil Berliner hingegen setzte statt auf das Büro und die Tonaufzeichnung fürs Diktat lieber auf den Hausgebrauch. Sein 1887 zum Patent angemeldetes Grammophon verwendete anstelle von Walzen leicht austauschbare Platten und war deutlich billiger zu produzieren.

Das »Vaterunser«, gesprochen vom Straßenhändler John O’Terrel, hieß der erste Bestseller. Dieser Hit war geplant, die Technik hingegen noch nicht ganz ausgereift und Berliners Kalkül, dass das Vaterunser jedermann mitsprechen könne und deshalb die Aussetzer auf der Platte nicht so sehr stören würden, ging auf. Die Software diente lediglich als Mittel zum Verkauf der Ware Grammophon. Das Niveau der ersten Schallplatten war deshalb eher niedrig und das Image der Hardware litt darunter. Im Volksmund hieß das Grammophon plötzlich »des Spießers Wunderhorn«. Um das zu ändern, brauchte es den ersten künstlerischen Leiter, also den Urvater aller späteren Artist & Repertoire Manager, den die junge Grammophone-Gesellschaft sich leistete.

Er hieß Fred Gaisberg und kam als 21-Jähriger von der Columbia Phonograph. Die Firma war von einem ehemaligen Gerichts- und Kongress-Stenographen gegründet worden. Das sagte viel darüber aus, worum es ihr bei der neuen Aufnahmetechnik eigentlich ging. Gaisberg versuchte sich als Pianist auf ersten, eher lustlos wirkenden Musikaufnahmen, stieß aber bei Columbia Phonograph auf wenig Interesse. So zog er es vor, fasziniert von den neuen Möglichkeiten des Grammophons, bei Emil Berliner erst einmal die Tontechnik zu erlernen. Der junge Musiker erlangte schnell dessen Vertrauen und wurde 1898 nach London geschickt, wo er die Grammophone Company Ltd. anmeldete und das erste Tonstudio aufbaute. Die räumliche Trennung hatte einen guten Grund. Berliner wusste, dass er auf dem europäischen Kontinent nicht auf Dauer ausschließlich mit amerikanischem Repertoire reüssieren konnte. Gaisberg hatte ihn sogar davon überzeugt, dass sie Aufnahmen von authentischen Künstlern aus allen Ländern bräuchten, in denen sie seine Erfindung auf den Markt bringen wollten. Musik, die von einer Scheibe wie der Schallplatte kam, war schon abstrakt genug – wenigstens die Interpreten und ihre Lieder sollten den ersten Konsumenten Vertrautes vermitteln. So zog Gaisberg von London aus quer über den europäischen Kontinent, durch Russland, Indien bis in den Fernen Osten. Er nahm Heurigenlieder in Wien, Fandangos in Madrid, Chansons in Paris, Tablas in Hyderabad, Pipamusik in Shanghai und Opernarien in Berlin und Leipzig auf.

Immer nach Talent und Repertoire suchend, kam er 1902 selbstverständlich auch in die legendäre Mailänder Scala. Dort war ein junger, bislang wenig bekannter Tenor namens Caruso in einer Inszenierung der Oper Germania zu sehen. Fred Gaisberg war hingerissen, eine solche Stimme war selbst ihm noch nicht untergekommen. Er bot dem jungen Mann nach seinem Auftritt hinter der Bühne enthusiastisch gleich mehrere Schallplattenaufnahmen an. Doch Enrico Caruso war ein selbstbewusster Künstler und schätzte, obwohl er erst am Anfang der Karriere stand, seinen Wert durchaus richtig ein. 100 englische Pfund für zehn kurze Arien forderte er. Eine unglaubliche Summe für die damalige Zeit und für ein Format, das sich noch in der Markteinführung befand. Gaisberg versuchte, sich im Mutterhaus rückzuversichern, bekam aber eine deutliche Abfuhr gekabelt. Wie viel Apparate man wohl mehr verkaufen würde, wenn dieser Caruso und nicht irgendein anderer italienischer Viehhirte oder Fischer in den Aufnahmetrichter singen würde ...

Fred Gaisberg war zu stolz und zu überzeugt, um sich auf diese Diskussion einzulassen. Kurz entschlossen bezahlte er Caruso aus eigener Tasche. In nur zwei Stunden sang dieser ihm alles ein. Besonders die Arie E lucevan le stelle aus Puccinis Tosca sorgte für Furore, und das nicht nur in Italien. Der Intendant der Metropolitan Opera in New York bekam eine Aufnahme in die Hand und engagierte Enrico Caruso vom Fleck weg. Die erste musikalische Weltkarriere begann und mit ihr setzte die Schallplatte zum Quantensprung an. Sie emanzipierte sich vom Abspielgerät, wurde plötzlich in den Zeitungen und den besseren Kreisen als Kulturträger entdeckt und geachtet. Zu verdanken hat sie das dem unbeirrbaren Glauben einer einzelnen Persönlichkeit, seinem Glauben an Regionalität und Qualität.

Joseph und Jacob Berliner, die für ihren Bruder die Platten in einem Kuhstall neben ihrer Telefonfabrik pressten, wussten gar nicht, wie ihnen geschah. Nach Caruso boomte der Markt. Ein neues Presswerk musste her, um den Bedarf an den aus England von Fred Gaisberg angelieferten Aufnahmen zu decken. 1907 wurden in Hannover bereits 36.000 Exemplare am Tag gepresst. Auch in Amerika zog mit etwas Verspätung der Markt an, aber dafür dann umso kräftiger. Die junge Schallplattenindustrie wurde in den frühen zwanziger Jahren der größte Player im amerikanischen Entertainment-Business. 1921 wurden bereits für 106 Millionen US-Dollar Tonträger umgesetzt. Der scheinbar so mächtige Film kam im Vergleich auf nur 93 Millionen.

Die Freude währte nicht lange. Ohne dass es die im Expansionstaumel befindliche Industrie gemerkt hätte, wurde in Amerika eine Technik entwickelt, die es dem Konsumenten ermöglichte, Musik zu konsumieren, ohne dafür zu bezahlen. Das Teufelsding hieß Radio. Es war, wie später das Internet, ursprünglich für militärische Zwecke entwickelt worden, und ab 1922 mit zwei großen Netzwerken, der Radio Corporation of America (RCA) und dem Columbia Broadcasting System (CBS) plötzlich in jedem Haushalt zu empfangen. CBS wurde von einem Künstlermanager und Konzertveranstalter, einem verkrachten, ehemaligen Violinisten namens Sarnoff Judson gegründet, weil er Angst hatte, dass durch Radiokonzerte das Livegeschäft leiden würde. Das tat es nicht, dafür aber umso mehr die Schallplattenindustrie, die nicht so entschlossen wie Judson handelte. Durch die Weltwirtschaftskrise geriet sie weiter unter Druck und ging in den frühen dreißiger Jahren in die Knie: Nur noch 6 Millionen US-Dollar – 5,7 Prozent von der Herrlichkeit zwölf Jahre zuvor – betrug der Umsatz mit Tonträgern in den USA im Jahr 1933.

Die Radiokonzerne RCA und Erzrivale CBS schluckten ab 1934 fast vollständig den traurigen Rest. Einerseits geschah das als strategisches Investment, andererseits weil die Schallplattenfirmen gerade so günstig zu haben waren. Irgendwoher mussten schließlich auch die Aufnahmen von den Künstlern kommen, die man senden wollte.

Lange blieb das Radio-Oligopol nicht allein. Mitten in die Krise hinein, der Logik des antizyklischen Handelns folgend, wurde in England die Firma Decca gegründet. Für ihren amerikanischen Ableger warb man A&R Jack Kapp ab, der es leid war, als geduldeter Subventionsempfänger der CBS seine Arbeit zu verrichten. Er holte nicht nur Künstler wie Guy Lombardo, Louis Armstrong und Bing Crosby peu à peu von seinem früheren Label Brunswick zu Decca hinüber, sondern entwickelte mit seinem englischen Chef Sir Ted Lewis eine Idee, die das Ende der Krise bringen sollte. Zur großen Verblüffung von RCA und CBS bot der kleine, neue Konkurrent seine Platten für nur 35, statt der üblichen 75 Cent an. Die radikale Politik, den Preis um mehr als die Hälfte abzusenken, bescherte Decca einen so gigantischen Erfolg, dass die beiden Riesen nachziehen mussten. Der Konsument belohnte das Entertainment-Angebot, das er sich wieder leisten konnte. Kurz vor dem Krieg hatte sich der amerikanische Markt mit 44 Millionen US-Dollar Umsatz mehr als versiebenfacht. Bis 1947 wuchsen die Umsätze in den USA auf 224 Millionen US-Dollar. Der Markt diversifizierte – neben RCA, CBS und Decca entstanden Capitol (spezialisiert auf Country und Rhythm & Blues), MGM (als Ableger der Filmgesellschaft Metro-Goldwyn-Mayer) und Mercury (als Tochterfirma eines Kunststoffherstellers, der sein Presswerk auslasten wollte) sowie viele kleine spezialisierte Labels. Der Musikmarkt stand stabil neben Film, Radio und dem noch neuen Medium Fernsehen. Während das Entertainment-Geschäft im Nachkriegseuropa zum Erliegen kam, entstand unter dem Dach der CBS die nächste technische Revolution: Schallplatten hatten damals alle einen Durchmesser von 30 Zentimetern, aber eine maximale Spielzeit von nur fünf Minuten pro Seite. Zudem war Schellack, das Material, aus dem sie bestanden, schwer und zerbrechlich. Besonders genervt zeigte sich davon ein gewisser Dr. Peter Goldmark. Der in die USA ausgewanderte Österreicher war ein glühender Klassikfan und sah nicht ein, weshalb er für eine vollständige Symphonie durchschnittlich 32-mal aufstehen sollte, um die Seite zu wechseln oder die nächste Platte aufzulegen. Er brauchte ein Material, das eine engere Rillenführung erlaubte und fand es 1948 im Kunststoff Vinylite. Als Chef der CBS-eigenen Labors entwickelte er einen Spezialmotor für geringere Abspielgeschwindigkeit, baute einen neuen Tonarm, optimierte die Nadel als Abnehmer und erfand gleich noch das Kondensatormikrophon, um die klangliche Qualität seiner neuen Vinylplatte auch ausreizen zu können. Quasi im Alleingang begründete Dr. Goldmark die High Fidelity. 45 Minuten Spieldauer pro Schallplatte und ein Frequenzumfang von 30 Hz bis 15.000 Hz boten dem Konsumenten ein völlig neues Klangerlebnis und bescherten der Schallplattenindustrie ihren zweiten Boom. Die Langspielplatte war geboren und mit ihr das für die Anbieter von Musikaufnahmen wunderbare Prinzip, dem Kunden zehn, zwölf Songs eines Interpreten verkaufen zu können, obwohl dieser vielleicht nur drei oder vier bestimmte Lieder haben wollte.

Die neue Technik machte das Geschäft mit der Musik auch für die Hardwarehersteller wieder attraktiv. Siemens hatte bereits während des Krieges die Deutsche Grammophon in Hannover erworben, Philips stieg 1950 mit der Phonogram ein, kaufte amerikanische Labels wie die Mercury hinzu und fusionierte dieses Bouquet zusammen mit der Siemens-Tochter Deutsche Grammophon und deren Pop-Label Polydor 1972 zur PolyGram, der größten Plattenfirma der Welt. Das war zuvor lange Zeit die Electric and Musical Industries Ltd., kurz EMI, gewesen, eine Vereinigung aus dem englischen, von Fred Gaisberg kontrollierten Arm der Grammophone und der Columbia Phonograph, seinem früheren Arbeitgeber. EMI verstand sich, wie ihr Name schon sagte, ursprünglich als Mischunternehmen, verkaufte aber 1954 zur Konsolidierung die Grammophon- und Radioproduktion an den Konsumartikel- und Waffenfabrikanten Thorn, der 25 Jahre später auch die restliche EMI erwarb. Die Decca, das Wunderkind der Rezession, fand bei Telefunken unter dem verkoppelten Namen Teldec eine neue Heimat.

Bei CBS dachte man vertikaler. Neben Fernsehen, Radio und Schallplatten gab es auch einen Musikinstrumente-Sektor (die Firma fertigte zum Beispiel die legendären Fender Gitarren und Steinway Flügel), HiFi-Geräte und eine eigene Handelskette. Mitte der sechziger Jahre war es kaum möglich, in den USA mehr als ein paar Dollar für Musik auszugeben, ohne dass CBS davon profitiert hätte. Damals machten die Schallplatten noch 15 Prozent des Konzernumsatzes aus, 1972 war es dann schon die Hälfte. Dieser maßgebliche Anteil relativierte sich wieder, nachdem CBS für 2 Milliarden US-Dollar von Sony geschluckt worden war. Sony war zuvor im Videobereich mit dem Beta-System und im Audio-Segment mit der DAT-Kassette am fehlenden Einfluss auf die Inhalte gescheitert – trotz überlegener Technik, aber eben ohne Mehrheit an einem Content-Unternehmen. Diese frustrierenden Erfahrungen sollten durch den Kauf von CBS in Zukunft ausgeschlossen werden.

Vertikale Integration scheint für die Musikindustrie eigentlich immer nur zu bedeuten, dass sie sich integrieren lässt, sobald eine technische Innovation durchzusetzen ist. Auch in Zeiten gewaltiger Umsätze und Renditen, ob in den zwanziger, sechziger, siebziger oder neunziger Jahren, unternahm sie selbst nie einen ernsthaften Anlauf, den Spieß umzudrehen, die Geräte und Kanäle offensiv an sich zu binden und somit Entwicklungen selbst moderieren zu können. Es scheint, als würde sich die Innovationskraft der Musikfirmen in der Konzentration auf den Inhalt erschöpfen. Als gesellschaftlicher Treiber agieren die Künstler und ihre Inhalte. Als Firmen werden sie weiterhin getrieben – von technologischen Neuerungen.

Aber selbst dort, wo das integrierte Denken leichter fällt, weil es auch um Inhalte geht, sind es meist Dritte, die agieren. Die Warner nimmt als Filmgesellschaft über ihren Musikarm ab 1958 zunächst die Nebenrechte selbst wahr und wächst dann mit dem Kauf von Atlantic und Elektra zur weltumspannenden WEA. Bei Bertelsmann erweitert man das Buchclubangebot 1956 konsequent um die Schallplatte, da diese – Vinyl sei Dank – nun endlich ohne Schäden versandt werden kann. Erst gründet man 1958 die Ariola, dann wird zwecks Internationalisierung erst Arista (1979) und schließlich die große RCA (1985) gekauft.

Das Paradies – beschützt von Ahmed und Nesuhi Ertegun

1986, als ich bei der Philips-Tochter PolyGram begann, war keine große Schallplattenfirma wirklich noch ihr eigener Herr. Aber dafür befand sie sich auch nicht direkt im Schussfeld von Anlegern oder Besitzern. Ihre Produkte stützten jeweils eine übergeordnete Firmenstrategie und leisteten insofern auch jenseits der direkt erwirtschafteten Rendite einen Beitrag.

Besorgniserregend war hingegen die zunehmende Konzentration. Mit nur fünf wirklich marktbestimmenden Anbietern (Teldec geht wenig später in der Warner Music auf) sind nach all den Fusionen und Aufkäufen über die Jahre ziemlich gewaltige, internationale Gebilde entstanden. Mit Tochterunternehmen in allen wichtigen Territorien, Tausenden Mitarbeitern, mit zig Unter-Labels und zahllosen Künstlerverträgen haben die Bertelsmann Music Group, EMI, Sony, PolyGram (später die Universal) und Warner Apparate geschaffen, die als Folge ihrer schieren Masse Kreativität eher zu erdrücken drohen als sie zu fördern. Nur starke Persönlichkeiten, die diesen Systemen Identität und Halt geben, können das abfedern und so strukturieren, dass weder Künstler noch Mitarbeiter Schaden nehmen. Zu ihnen zählen klassische Musikunternehmensführer wie Ahmed Ertegun, der Atlantic-Gründer, Clive Davis, der als CBS-Präsident, später als Arista-Chef zum Prototyp des Talent-Scouts und -Förderers wurde, und Siggi Loch, der Warner Deutschland aufgebaut hat.

Als Ahmed Ertegun 1947 vom New Yorker Ritz aus aufbrach, um die Welt der schwarzen Musik, der so genannten »race music« zu erkunden, war das ein ungeheuerliches Unterfangen. Seine Künstler hätten im Bus für ihn aufstehen und ihren Sitzplatz freigeben müssen, sonst wären sie festgenommen worden – so wie Rosa Parks acht Jahre später in Montgomery. Rassentrennung war seit dem Spruch »separate but equal« des Obersten Gerichtshofs von 1894 in den USA Gesetz, Martin Luther King zu diesem Zeitpunkt noch ein einfacher Priester und der friedliche Widerstand gegen die amerikanische Form der Apartheid begann gerade erst, als Idee in den Köpfen einiger weniger zu entstehen.

Der junge, verwöhnte Sohn des türkischen Botschafters ließ das beste Hotel der Stadt hinter sich und überschritt nördlich der 125sten Straße die Grenze zu einer für das weiße Amerika unbekannten Welt. Doch in Harlem gab es die aufregendsten Jazzclubs, hier feierte man den Rhythm & Blues (R&B). Hier hörte Ahmed Ertegun so viel heiße Musik wie nie zuvor. Er kam immer wieder und fasste den Entschluss, den Rest Amerikas nach Harlem mitzunehmen. Er wollte aufnehmen, was er hörte, es auf Platten pressen und der weißen Mittelschicht verkaufen. Harlem wäre dann plötzlich in jedermanns Wohnzimmer.

Ertegun war viersprachig aufgewachsen, hatte sich auf Privatschulen in der Schweiz, in Paris, London und Washington den letzten Schliff geholt, hatte Kierkegaard gelesen und die besten Weine getrunken – und er liebte den Jazz, seit ihn sein Bruder Nesuhi 1932 in ein Konzert von Duke Ellington und Cab Calloway ins London Palladium mitgeschleppt hatte. Gemeinsam waren sie stolze Besitzer einer üppigen Sammlung von 15.000 Schellack-78ern.

Wie er seinen Traum von einer Plattenfirma umsetzen sollte, davon hatte Ahmed Ertegun allerdings keinen Schimmer. Bis er in New York auf seinen alten Bekannten Herb Abramson stieß, der neben seiner Ausbildung zum Zahnarzt jede Menge Jazzkonzerte veranstaltete und in seiner Freizeit zudem Platten für National Records produzierte. Er führte Ertegun vom Konsumenten zum Produzenten, dafür infizierte ihn Ertegun mit der Idee eines eigenen Labels.

Atlantic Records hieß die Firma der beiden Freunde. Ihre Stärke war die innovative Produktionsarbeit, gekoppelt mit einer fairen Art, Künstler zu behandeln. Das bedeutete damals vor allem: Atlantic zahlte Lizenzen. Vertragsgemäß und pünktlich. Das war selbst bei großen Plattenfirmen wie Columbia oder RCA keineswegs üblich, und deshalb kamen die Künstler immer wieder zu Ertegun, unterschrieben langfristige Verträge und vertrauten ihm blind. »Sie lieben Ahmed«, erzählte der Produzent Phil Spector später im Rolling Stone: »Er sieht aus wie Lenin, trägt diesen Bart, ist smart und sensibel, hat die Sprache der Schwarzen gelernt, hängt in Harlem rum, raucht Shit und alle stehen auf ihn.« In einer Zeit, in der die meisten Amerikaner Schwarze bestenfalls als Bedienstete, aber nicht als ernst zu nehmende Künstler, geschweige denn als passendes soziales Umfeld für einen Diplomatensohn betrachteten, tauchte Ertegun in ihre Welt ein. Nicht als Voyeur, sondern als ein Teil davon. Gleichzeitig blieb er Geschäftsmann, er wurde zur Brücke zwischen den beiden Kulturen, lebte das Gegenteil von Rassentrennung und verdiente gutes Geld dabei. Seine Glaubwürdigkeit half ihm, Größen wie Ray Charles, Joe Turner oder Aretha Franklin zu einem neuen, moderneren und erfolgreicheren Stil zu verhelfen. Und Atlantic feierte schnell große Erfolge. Es gelang Ertegun, die fordernde, neuartige, schwarze Musik des Nachkriegsamerikas auch für Weiße interessant zu machen – nicht für die Upper Class, aber für Millionen Menschen in ganz Amerika, deren Erfahrungen, Gefühle und Träume der neue Sound besang. »Die meisten Leute im Musikbusiness wussten nicht, was der echte ›American taste‹ war«, erinnert sich Ahmed Ertegun. »Die großen Labels machten Musik für eine bourgeoise Gesellschaft. Sie verstanden nicht, dass der Hafenarbeiter in Seattle oder der Baumwollpflücker in Alabama unsere Musik hören wollte – egal ob er schwarz oder weiß war.«1

Das Gespür für den Crossover machte Ertegun aus – die Übergänge zwischen den Szenen, zwischen R&B und Pop interessierten ihn. Er war getrieben von der Vision, seiner geliebten schwarzen Musik einen Markt zu verschaffen. Atlantic wurde so zum Synonym für einen musikalischen und gesellschaftlichen Aufbruch. 1967 verkauften Ahmed Ertegun, sein Bruder Nesuhi und Partner Jerry Wexler Atlantic an Warner Music – für 17,5 Millionen US-Dollar plus wohldotierte Jobs an der Spitze der neuen Firma WEA (Warner Elektra Atlantic). Nach zwanzig Jahren als Independent ein wenig ermüdet, suchten sie Sicherheit, und das Geld war eine zusätzliche Honorierung. Ertegun verkaufte seine Firma, nicht aber die Verantwortung für seine Künstler. Er schaffte es, Atlantic als eigenständiges Label unter dem Dach des Konzerns zu erhalten. Er machte den Warner-Managern klar, dass man am stärksten sei, wenn sich der Konzern als Verbindung von verschiedenen, autarken, internen Kulturen verstünde. Man hörte auf den erfahrenen Musikmanager Ertegun und erlebte so mit der WEA in den Folgejahren einen ungeahnten Boom. Ertegun gelang es, dem Unternehmen Warner immer wieder neue inhaltliche Impulse zu geben und mit seinem kleinen Label den Riesenkonzern vor sich her zu treiben. Selbst heute, als 81-Jähriger, ist Ertegun bei Atlantic noch als Founding Chairman aktiv und mischt sich immer wieder in die Tagespolitik der Konzernmutter Warner Music ein.

Als die Branche in den sechziger und siebziger Jahren durch den Boom von Rock und Soul in Amerika erwachsen wurde, brauchte es Menschen, die sie anführten, ihr Charakter gaben. Menschen wie Clive Davis, der einer bitterarmen jüdischen Familie aus Brooklyn entstammt und seiner glamourösen Vision von Pop bis heute hinterherjagt, oder David Geffen, der als schwuler Manager in einer homophoben Gesellschaft auf seine Weise Erfolg haben wollte, und eben Typen wie Ahmed Ertegun. Leidenschaftliche Menschen, die nicht nur rational handelten und deshalb für Künstler so glaubwürdig waren. In der breiten Öffentlichkeit machte sie das jedoch angreifbar. Es gefiel bei Weitem nicht allen, dass eine Industrie, die für liberales Gedankengut stand, eng mit der Gegenkultur verbunden war und von Außenseitern geführt wurde, so viel wirtschaftliche Macht erlangte. US-Präsident Richard Nixon setzte sogar eine Untersuchungskommission ein, um der merkwürdigen Branche auf den Zahn zu fühlen. Er wusste wohl aus eigener Anschauung nur zu gut, dass Menschen mit einer Mission auch über das Ziel hinausschießen können. In Deutschland gab es nicht viele Menschen, die nach dem Krieg noch bereit waren, irgendeiner Mission zu folgen. Die meisten Impulsgeber und Innovatoren deutscher Kultur waren vor den Nazis geflüchtet oder von ihnen ermordet worden. Darüber hinaus war man nach diesem ungeheuren Verbrechen nicht in der Lage, auch nur ansatzweise über eine eigene popkulturelle Identität nachzudenken. Die braucht es aber, wenn man glaubwürdig agieren will. Zutiefst verunsichert und zugleich überrollt vom amerikanischen Nachkriegs-Entertainment machten die Deutschen stattdessen zweierlei: Sie suchten Unterhaltung und Trost in der Tradition des deutschen Schlagers, eines der wenigen authentischen Elemente unserer Kultur, das die Katastrophe überlebte, oder sie hörten importierten Besatzer-Pop aus den USA oder England. Und die großen, internationalen Plattenfirmen gaben ihnen, was sie wollten.

In Siggi Loch fanden die Brüder Ertegun einen der wenigen Macher mit anderen Zielen. Auch Loch liebte den Jazz. Als 15-Jähriger hatte er in Hannover ein Sidney-Bechet-Konzert besucht, war hingerissen und für die Banalitäten des Schlagers fortan verloren. Er brachte den Mut auf, nach einem eigenen Sound zu suchen. Er sollte seine Erfahrungen als Jugendlicher in Deutschland mit den musikalischen Einflüssen aus den USA verbinden.

Als Verkäufer für den Importdienst der EMI Electrola kam er in die Industrie und sammelte ab 1962 erste Erfahrungen als Produzent und Jazzlabel-Manager bei Philips. Mitte der Sechziger war er dann als Deutschlands jüngster Plattenfirmen-Chef in der Position, an der Entwicklung eigener, lokaler Musik und Künstler arbeiten zu können. Er entdeckte und förderte Amon Düül und CAN, produzierte die Debüt-Alben von Katja Ebstein, Sigi Schwaab und Jean-Luc Ponty. Immer an der Schwelle vom Jazz zum Pop, immer auf der Suche nach etwas Eigenem.

1970 entschied er sich nach vier Jahren an der Spitze von Liberty/United Artists zur Kündigung. Siggi Loch wollte sein eigenes Jazz-Label gründen. Doch dann sprach ihn Nesuhi Ertegun an, der internationale WEA-Chef: Er solle die Filiale in Deutschland aufbauen. Siggi Loch bewunderte die Erteguns schon lange für ihre Jazzproduktionen und die kluge Label-Politik mit Atlantic. »Es war eine Entscheidung für die Persönlichkeit Ertegun«, sagt Siggi Loch.2

Und er nutzte die Chance. WEA Deutschland entwickelte sich prächtig – nicht nur wegen des starken internationalen Repertoires, sondern gerade aufgrund der lokalen Erfolge: Mit Klaus Doldingers Passport, mit dem er zuvor schon als Produzent gearbeitet hatte, entstand die erfolgreichste deutsche Jazzband, mit Marius Müller-Westernhagen der erste deutsche Stadionstar, mit Alphaville wurde deutscher Synthie-Pop weltweit zum Begriff. 1980 wurde Siggi Loch zum Präsidenten von WEA Europe ernannt, um die europäische Ausdehnung des Konzerns zu steuern. Ein Deutscher in dieser Position war damals eine Sensation.

Siggi Loch ist von Kunst besessen, und wie jeder Besessene hat er sich auch Feinde geschaffen. Sein Verständnis für Menschen, die seine Leidenschaft nicht teilten, war als WEA-Chef durchaus begrenzt. In seiner Funktion war er auch für die Computerspiel-Tochter Atari zuständig und musste selbstverständlich deren Präsidenten Ray Kassar zum Essen ausführen, als dieser in Deutschland weilte. Nach der Vorspeise teilte Loch seinem amerikanischen Gast unverblümt mit, dass Computerspiele doch von erheblich geringerem Wert seien als gute Musik. Es fehle den Games der künstlerische Ausdruck. Kassar schäumte. Atari trennte sich im Jahr darauf von der Mutterfirma, um bereits zwölf Monate später die WEA an Umsatz und Rendite deutlich hinter sich zu lassen.

Dass Kunst sein Motiv, sein Antrieb ist, war nicht zu übersehen. Auch bei meinem ersten Besuch bei ihm zu Hause in Hamburg-Uhlenhorst. Das war 1988. Bevor ich die Marketingkampagne für den damaligen Pop-Sänger Wigald Boning präsentieren konnte, den Siggi Loch auf seinem Label ACT unter Vertrag genommen hatte, wurde ich mit den Bildern vertraut gemacht. Die Wände waren tapeziert mit geschmackvoll ausgewählter Kunst, die Erklärungen zu den Bildern auch für mich, der ich wenig beschlagen war in der Materie, einleuchtend und spannend.

Ich war nicht unvorbereitet gekommen. Mein Chef hatte einige Zeit unter Loch gearbeitet. Die Geschichten über die Industrielegende hatten bei mir eine Mischung aus Respekt und Angst erzeugt. Gefürchtet war Loch, wenn er wütend wurde. Wütend wurde er, wenn man mit Kunst in seinen Augen nicht richtig umging. Einige seiner Bilder hatte er der WEA geliehen. Sie waren nicht zufällig auf die Räume verteilt worden, sondern den jeweiligen Mitarbeitern bewusst zugeordnet. Leider hatte das mein damaliger Chef erst gemerkt, als Loch mit hochrotem Kopf in seinem Büro nach »der Blume« suchte. Auf diese reichlich abstrakte Blume hatte mein Boss einen Monat lang geguckt. Er hatte begonnen, sie zu hassen, und deshalb mit dem Bild seiner Assistentin getauscht. Loch fand das gar nicht komisch ...

Lachen konnte er hingegen über das Konzept, das ich mit Freunden für Wigald Boning ersonnen hatte. Auf Fotos sollte dieser einen aufgeschlitzten Lachs auf dem Kopf tragen, das Video seine zärtliche Beziehung zu dem Fisch thematisieren und Hunderte von Modellen dieses Tieres wollten wir in Schallplattenläden von den Decken hängen. Flankiert wurde diese Ode an den Meeresbewohner mit großen Textanzeigen wie »Wigald zeigt Madonna, wo der Fisch hängt«. Geld spielte keine Rolle. Den Vertrag für Lochs Label ACT hatte der damalige PolyGram-Präsident, ein früherer Mitarbeiter Lochs, etwas selbstherrlich und zu wahnsinnigen Konditionen ausgehandelt. Das ACT-Label schwamm in Marketingetats und Lizenzvorschüssen, doch das Management bei PolyGram schüttelte den Kopf und ließ Loch mitsamt seinen Künstlern gegen die Wand fahren. Der Präsident musste wegen des Vertrages gehen, der ungeliebte Deal wurde aufgelöst und Siggi Loch machte alleine weiter. Heute ist ACT ein kleines, feines, hoch geachtetes Jazz-Label.

Siggi Loch hatte sich über die Jahre einen »executive flair« zugelegt, der ihn zum Anführer der deutschen Musikmanager werden ließ. Als Gründer der Phonoakademie und Vorstand des Phonoverbandes war er der Chef eines Käfigs voller Narren: Die Geschäftsführer der großen Plattenfirmen waren damals noch keine Betriebswirte oder Anwälte, sondern Rocker, die zur Verhandlung eines Vertrags auch mal mit der Harley vorfuhren und, um ihre Künstler zu motivieren, auch mal spontan eine goldene Rolex auf den Deal drauflegten. Es gab Society-Löwen, die eigene Tennisturniere veranstalteten, um die Bussi-Bussi-Gesellschaft mit Rock und Pop vertraut zu machen, und es gab ehemalige Sänger an der Spitze der Konzerne, über deren hautenge Beziehungen zu ihren Künstlerinnen ausgiebig getratscht wurde. Alle hatten sie ihre Spleens und begründeten so den Mythos der Musikindustrie als halbseidene Glamour-Branche – aber sie waren echte Charaktere, die neben dem Wunsch, viel Geld zu verdienen, auch den festen Willen hatten, das zu verbreiten, was sie für gute Musik und spannende Künstler hielten. Später war das keine Selbstverständlichkeit mehr.

Das Paradies – beseelt von Chris Blackwell und Alfred Hilsberg

Während der globale Markt für Popkultur auf rasante Weise wuchs, entstand ein weiterer Typus des Musikunternehmers: der klassische Independent-Entrepreneur, der sich nicht jahrelang mühsam bis in den Chefsessel eines Major-Konzerns durchgeboxt hatte, sondern auf seiner Vision das eigene Unternehmen gründete.

Chris Blackwell, klassischer Tunichtgut aus einer wohlsituierten Commonwealth-Familie, die auf Jamaika größere Besitzungen ihr Eigen nannte, hatte im Jahr 1962 seine kleine Firma namens Island Records nach London verlegt. Bereits auf Jamaika trieb er sich – zum Leidwesen seiner Eltern – im Ghetto von Kingston herum. Er hatte dort begonnen, mit lokalen Musikern erste Platten zu produzieren, aber nach einiger Zeit festgestellt, dass er mehr Platten nach England verkaufte als auf Jamaika selbst. Die Zahl der jamaikanischen Immigranten wuchs Anfang der sechziger Jahre dramatisch – und sie liebten die Musik von Island Records, denn sie erinnerte an die Heimat.

Blackwell fuhr anfangs mit seinem Mini Cooper durch England, um den wichtigsten Plattenläden seine Produktionen eigenhändig zu verkaufen. Doch bald entwickelte sich das Geschäft sprunghaft: 1964 ließ er die 15-jährige jamaikanische Sängerin Millie Small den Rhythm & Blues-Song My Boy Lollipop covern. Der erste Ska-Welthit verkaufte sich 7 Millionen Mal und erreichte Platz 2 in den englischen und amerikanischen Charts. Erstmals hatte Musik aus der Dritten Welt einen Platz im Mainstream beansprucht und erhalten. Blackwell liebte es, mit seinen Künstlern auf Tour zu gehen, zog im Bandbus mit durchs Land und flog mit ihnen Economy, während sich auf seinem Konto bereits Millionen stapelten. Island fuhr mit Bands wie Traffic oder dem Singer/Songwriter Cat Stevens, mit Robert Palmer und Roxy Music seit den sechziger Jahren riesige Erfolge ein.

Anfang 1970 marschierte ein junger Musiker aus dem jamaikanischen Ghetto Trenchtown in Blackwells Büro. Er war mit seiner Tour-Band in England gestrandet, heiß auf einen guten Plattendeal und ein Rückflugticket. Blackwell kannte und mochte seine zornigen ersten Aufnahmen und sah im Rebellenimage eine Chance. Der Name des Sängers: Bob Marley. Blackwell schickte ihn samt Band und 7.000 Pfund zurück nach Jamaika, wo das erste Album Catch A Fire entstand. »Wir haben die fertigen Songs genommen und intensiv an ihnen gearbeitet«, erinnert sich Blackwell im Gespräch. »Wir kürzten sie hier, verlängerten dort, nahmen Gesang heraus, fügten Gitarren hinzu. Ich wusste, dass wir die Musik nur ein bisschen massieren mussten, um am Ende ein viel größeres Publikum zu erreichen.« Bob Marley verkaufte Millionen Platten, wurde zum Sprachrohr der Dritten Welt, seine Songs besangen das Ende des Kolonialismus.

Blackwell gab seinen Künstlern stets das Gefühl künstlerischer Freiheit, er schaffte es dennoch mit Beharrlichkeit und Fingerspitzengefühl, sie in die richtige Richtung zu lenken. Er übernahm Verantwortung, indem er sie nicht einfach gewähren ließ, sondern sie auf dem Weg zum Publikum an die Hand nahm und an seiner erfolgreichen Vision teilhaben ließ: erst Jamaika, dann die ganze Welt – aus der Szene in den Mainstream.

Der zweite britische Independent-Unternehmer begann 1966. Ausgestattet mit nichts als einer guten Idee, akquirierte Richard Branson von einem Schultelefon aus 6.000 Pfund und gründete das Magazin Student. Schon damals wusste Branson, dass man Künstler vor allem durch Enthusiasmus überzeugt; es gelingt ihm, Stars wie James Baldwin, Vanessa Redgrave, Alice Walker und Jean-Paul Sartre als Autoren oder für Interviews zu gewinnen. Zu diesem Zeitpunkt war Branson 16 Jahre alt. Der extrem kurzsichtige Legastheniker kämpfte gegen den Frust an der provinziellen Schule und im konservativen Elternhaus an.

Virgin Records entstand zunächst als Schallplatten-Mailorder innerhalb des Studentenmagazins. Branson sorgte penibel für die angesagte Repertoire-Auswahl: Zappa statt Cliff Richard. Dem naseweisen Entrepreneur wurde seine Welt rasch zu klein, er verließ Schule und Elternhaus, um in das aufregendere Londoner Leben einzutauchen. Branson war überaus geschäftstüchtig – er verstand die Regeln des Kapitalismus und hatte keine Probleme damit, sie auf seine jeweiligen Inhalte anzuwenden. 1971 gründete er seinen ersten Plattenladen in der Oxford Street. »Zwei langweilige, steife Anbieter, W.H. Smith und John Menzies, dominierten das Geschäft«, erinnert sich Branson.3 »Die Schallplattenabteilungen waren generell im Keller, und die Verkäufer Gestalten in traurigen braunen oder blauen Uniformen, die sich für Musik nicht wirklich interessierten.« 1972 baute er ein Aufnahmestudio in Oxfordshire, hauptsächlich um endlich Kontakt zu Künstlern aufzunehmen und um seinem Freund Mike Oldfield die Aufnahmen zum ersten Album zu ermöglichen. 1973 erschien schließlich Tubular Bells auf Virgin und verkaufte mehr als 5 Millionen Stück. Branson war 22 Jahre alt und endlich im Geschäft.

1978 nahm er die Sex Pistols unter Vertrag. EMI hatte sie bereits nach einer Single und diversen »Fuck Offs« in einer Fernsehsendung fallen lassen. Bei A&M Records erbrach sich der Schlagzeuger unmittelbar nach Vertragsunterzeichnung über dem Tisch des Präsidenten. Branson ließ sich nicht abschrecken. Er ahnte, dass sich etwas Neues zusammenbraute, und brauchte dringend einen Imagewechsel für Virgin, denn als Hippie-Label würde er auf Dauer nicht mitspielen können. »Wissen Sie überhaupt, auf was Sie sich da einlassen?«, fragte ihn Sex-Pistols-Manager Malcolm McLaren. »Ich glaube, ich weiß es schon«, sagte Branson und unterschrieb den Vertrag, »aber wissen Sie es?«.

McLarens Strategie, die Vorauszahlung einzustecken und dann die jeweilige Firma so zu beleidigen oder in solche Verlegenheiten zu bringen, dass er und die Band entlassen würden, ging bei Virgin nicht auf. »Ich war mein eigener Chef, hatte keine Shareholder, musste mich für nichts rechtfertigen«, erklärt Branson seine Geduld. Sie zahlte sich aus. Durch das Album Never Mind The Bollocks von den Sex Pistols war Virgin über Nacht repositioniert. Mit Bands wie Human League, XTC, Orchestral Manoeuvres in The Dark, Japan, Simple Minds, Heaven 17 und vielen anderen mehr wurde Virgin das Label der Stunde für die englische New Wave. Der Marke konnte man vertrauen.

1982 betrat ich erstmals den Vernon Yard hinter der Portobello Road in London. In einem Gebäude, das aussah wie eine Doppelgarage, befand sich Virgin. Im ersten Stock arbeitete Sue, die Pressefrau, die mir Karten für ein Konzert geben sollte. Der Raum hatte vielleicht 50 Quadratmeter, beherbergte aber mindestens 14 Schreibtische. An allen wurde telefoniert, Musik abgehört, gelacht, geschwatzt. Die Luft brannte. Ich rief gegen den Lärm an: »Sue!!« Ganz hinten rechts winkte jemand. Ich machte mich über Stapel von Plattenkartons hinweg auf den Weg. Virgin zog wenig später in eine Villa um, und auch das Programm wurde deutlich breiter. Durch Verträge mit Genesis, Bryan Ferry, Rolling Stones und Janet Jackson gab Branson seiner Firma langsam das Gesicht eines ganz normalen, erfolgreichen Labels. Seinen Hang zum Abenteuer lebte er nun anders aus. Er nahm mit seiner Fluggesellschaft Virgin Atlantic den Kampf gegen den gigantischen Konkurrenten British Airways auf.

Auch in Deutschland dachte man unabhängig – independent. Im zweiten Stock links im Hinterhof in der Hamburger Glashüttenstraße wurde der Aufstand gegen die Plattenindustrie geplant und begonnen. Hier wohnte der Journalist Alfred Hilsberg. In seinem Spiegel-Artikel »Rodenkirchen is burning« war 1978 das erste Mal die deutsche Punkbewegung für die breite Öffentlichkeit thematisiert worden. Die Zwischenüberschrift »Neue Deutsche Welle – Die Revolution ist vorbei – Wir haben gesiegt« in seiner dreiteiligen Serie »Aus grauer Städte Mauern« in der Musikzeitschrift Sounds verlieh der Bewegung einen Namen: Neue Deutsche Welle. Alfred wurde ihre Stimme, zumindest für mich während so mancher Mittagessen bei meinen Eltern zu Hause. Denn der mutige NDR-Redakteur Klaus Wellershaus lud sich Hilsberg häufig als Gast in seine Sendung Musik für junge Leute nach der Schule.

Mit ruhiger Stimme erzählte er von Bands wie Mittagspause, Deutsch Amerikanische Freundschaft, S.Y.P.H., Geisterfahrer, Vorsprung oder Abwärts. Ich ließ die Spaghetti mit Tomatensoße kalt werden und stürzte ins Kinderzimmer zu meinem Kassettenrecorder, um die Aufnahmetaste zu drücken. Früh hatte ich Gefallen an elektronischer Musik gefunden, Kraftwerks Trans Europa Express war mein erstes Album gewesen (natürlich ist das unerträglich politisch korrekt, aber leider wahr). Doch auch als abgeklärter 15-jähriger Bubi staunte ich über das, was ich von der Neuen Deutschen Welle hörte.

Der Punk war für meine neuen Helden eine Inspiration. Nicht mehr – aber auch nicht weniger. Deutliche, deutsche Texte trafen auf minimalistische Kompositionen, deren Refrains nicht selten leichte Schlageranleihen hatten. Lustig war das überhaupt nicht, lustig fand das nur die Musikindustrie, die wieder mal rein gar nichts verstanden hatte. Und darum machte man es einfach selbst. Allen voran Alfred Hilsberg, der mit Zick Zack das wohl wichtigste Independent-Label der Bewegung gründete. Das Büro war seine Wohnung, und vor der stand ich im Frühsommer 1980 mit schlotternden Knien. Gleich würde mir der Punk-Papst öffnen.

Der Mann an der Tür war alt, ungefähr Anfang dreißig, hatte schwarze, schulterlange Haare, die leicht ölig glänzten. Sein weit geschnittener Anzug war aus einem samtartigen Stoff und sah ein wenig abgewetzt aus. Zwei Wellensittiche flogen aufgeregt durch die beiden kleinen Räume, die sich hinter seinem Rücken auftaten. Alfred schloss deshalb schnell die Tür hinter mir und schlurfte zu seinem mit schwarzem Cord bezogenen Bett, auf das er sich sogleich fallen ließ. Außer dem Bett und dem darauf befindlichen roten Tastentelefon sah ich nur Plattenregale aus Sperrholz, die alle Wände und sogar noch den Platz über dem Bett bedeckten. Teilweise waren sie unter ihrer Last zusammengebrochen. Ich hatte weiß getünchte, spärlich eingerichtete Räume, Neonröhren, Punk-Graffitis und einen Mittzwanziger mit Irokesenschnitt erwartet. An diesem Nachmittag lernte ich, dass man nicht cool sein muss, um die coolste Bewegung aus der Taufe zu heben.

Ich nahm auf dem Bett Platz, wo vor mir schon die Einstürzenden Neubauten, Abwärts, Palais Schaumburg und viele andere gesessen hatten, um ihre Verträge zu verhandeln oder mit Alfred die nächste Produktion zu diskutieren. Immer wieder unterbrochen vom Telefonklingeln und den Sturzflugattacken der neurotischen Wellensittiche, diktierte mir Hilsberg seine Weltsicht für meine Sozialkunde-Arbeitsgruppe »Freizeit in unserer Stadt« aufs Band. Wer etwas verändern wolle, könne sich unmöglich etablierter Strukturen bedienen, sondern müsse selbst neue erschaffen. Der Gang durch die Institutionen sei ein tragischer Irrtum der 68er, der nur dazu führen würde, dass man am Ende selbst wie diese strukturiert sei.

Hilsbergs Konsequenz hieß Zick Zack, und dieses Ein-Mann-Label schien der Beweis dafür zu sein, wie viel besser es mit Independent-Idealismus statt innerhalb der etablierten Musikindustrie ging. Bereits die ersten Veröffentlichungen gerieten zur kleinen Sensation. Auch ohne Marketingapparat und großen Vertrieb wurden Platten wie Amok Koma von der Hamburger Gruppe Abwärts, von Palais Schaumburg oder Die Radierer aus Limburg zu Hits. Bereits 1981 machte Zick Zack 1,5 Millionen Mark Umsatz. Alfred Hilsberg rotierte auf seinem schwarzen Bettbezug und entdeckte eine aufregende, neue Gruppe nach der anderen. Doch wenn er den erfolgreichen Künstlern dann beim allabendlichen Wodka in der Punk-Kneipe Marktstube mit leuchtenden Augen von neuen Veröffentlichungen wie Knusperkeks erzählte, ihnen jedoch nicht so recht beantworten konnte, wann sie ihre Tantiemen für die verkauften Platten bekämen, hörte für viele der Spaß auf. Keiner hat jemals geglaubt, dass sich der Asket Hilsberg selbst bereichert hätte, aber auch kaum ein Künstler war bereit, mit seinen Einnahmen die vielen anderen Gruppen bei Zick Zack zu subventionieren.

Getreu des Zick-Zack-Firmenmottos »Lieber zu viel als zu wenig« veröffentlichte Hilsberg mehr als 100 verschiedene Platten in fünf Jahren. Anders als die internationalen Independent-Macher Branson oder Blackwell versuchte der ehemalige Linksaktivist, innerhalb des Kapitalismus ein Unternehmen jenseits jeglicher Regeln des Kapitals zu führen. Die Konsequenz war, dass seine erfolgreichsten Bands wie Wirtschaftswunder, Abwärts oder Palais Schaumburg nach und nach bei großen Firmen landeten, weil sie es nicht mehr einsahen, dauerhaft ein zuzahlender Bestandteil der Solidargemeinschaft Zick Zack zu sein. Doch auch in der Welt der sogenannten Majors, zu denen sie dann wechselten, sahen sie kaum mehr Geld – vor allem, nachdem ihre sicherlich beachtlichen ersten Vorschüsse auf Lizenzeinnahmen überwiesen waren. Sie litten unter ständig wechselnden Ansprechpartnern und dadurch unter Erfolglosigkeit, mit dem großen, fremden System schwand oft auch die Bandchemie. Alfred jedoch macht, verfolgt von Gläubigern, weiter bis zum heutigen Tag. Nur das Bett mit dem schwarzem Cordbezug gibt es nicht mehr.

Die Geschichte Zick Zacks wiederholte sich damals vielfach, die Labels hießen Pure Freude (S.Y.P.H.), Rondo (Mittagspause), Ata Tak (Der Plan, Andreas Dorau) oder No Fun (Hans-a-plast) und hatten alle eines gemein: den absoluten Willen zur Selbstausbeutung, einen guten, innovativen Geschmack, wenig Kapital und meist noch weniger Neigung zu einer funktionierenden Administration. Independent Labels, die von ehemaligen Banklehrlingen gegründet wurden, wie L’Age D’Or (Tocotronic) blieben bis heute die große Ausnahme.

Das Paradies – ermöglicht durch Fehlfarben und John Cale

Obwohl viele der Neue-Deutsche-Welle-Bands veritable Erfolge feierten, fanden sie damals in den etablierten Medien kaum Unterstützung. Denn am Drücker saß dort, wie auch in den großen Plattenfirmen, die Generation der Eltern und Lehrer. Sie verstanden gar nicht, was es mit der komischen neuen Welle auf sich hatte, die da unvermeidbar auf sie zuschwappte. Instinktiv griff man auf das zurück, was man kannte, was man verstand: Deutschrocker wie Extrabreit wurden in Streifenhosen gesteckt und als Punk verkauft, potenzielle Schlagersternchen wie Markus und Hubert Kah mit lustigen Textchen und Inszenierungen aus dem Kasperletheater versehen und als Neue Deutsche Welle unter die Leute gebracht. Der Minimalismus der Bewegung wurde als Chance zur Billigproduktion missverstanden, der Markt mit schlechten Kopien der Originale überschwemmt.

Kurzfristig verdienten die Konzerne damit viel Geld. Doch langfristig wurde die Chance vertan, die erste deutschsprachige Jugendbewegung als Aggregator vieler dauerhaft erfolgreicher, lokaler Stars und eines starken Katalogs zu nutzen. Stattdessen trieb man die Bewegung in den Kollaps. Meine Einstellung bei PolyGram war der freundliche, aber zaghafte Versuch, die Szene endlich innerhalb des eigenen Systems zu verankern. Doch dafür war es 1986 schon zu spät, der Patient Neue Deutsche Welle bereits tot.

Die Organisation, die ich vorfand, war auf dergleichen auch gar nicht eingestellt. Der Herkunftsort, nicht die Inhalte waren entscheidend. Gemäß der altbackenen Logik, der Deutsche macht Schlager, der Brite und der Amerikaner rocken, war die Firma in eine nationale und eine internationale Abteilung aufgeteilt. Doch diese Logik griff seit langem schon nicht mehr. Die nationale Fernseh-Promoterin, die begnadet auf der Klaviatur des Mainstreams spielte, durfte den britischen Schmalzgott Chris de Burgh oder die von ihr verehrten Bee Gees nicht bearbeiten und musste sich stattdessen am Independent-Neurotiker Phillip Boa die Zähne ausbeißen. Dessen sperriges Wesen und Inhalte waren ihr völlig fremd, und in die ZDF-Hitparade mit Dieter Thomas Heck, die sie mit ihrem Charme spielend besetzte, passte er partout nicht rein. Die internationale Presse-Promoterin hätte hingegen liebend gerne Chris de Burgh zum Teufel geschickt und Boa in die Underground-Presse gebracht, durfte aber nicht.

Meine neuen Kollegen hatten fast alle eine Leidenschaft und eine klare musikalische Identität, doch die Organisationsstruktur sah diese nicht vor. Hier führte keiner etwas Böses im Schilde, war kein Masterplan des Konzerns erkennbar. Man hatte lediglich nicht gemerkt, dass die Zeiten sich gewandelt hatten, dass Musiker ungeachtet ihrer nationalen Herkunft aus unterschiedlichen Szenen kamen. Vieles machte man wieder wett, weil alle sich darin einig waren, Musik zu lieben. Man freute sich sogar an den Erfolgen der anderen Plattenfirmen. Wenn dienstagabends die Charts über den Ticker kamen, saß der harte Kern nicht selten im großzügigen Zimmer des nationalen Abteilungsleiters (meines Chefs, der an meinem ersten Tag seinen Letzten hatte und für den einen Nachfolger zu finden eine Ewigkeit dauerte) zusammen und hörte sich in Ermangelung eigener Neueinsteiger die Hitlisten der Konkurrenz an. Auf Platten, die gefielen, wurde getrunken, und wenn es viele gute waren, floss Mumm-Sekt, bis der Morgen graute.

Die Musiker, die ich zu betreuen hatte, wirkten alle nicht glücklich. Viele waren mit Unsummen von der Konkurrenz weggekauft worden und nun in einer Welt gelandet, die sie nicht wirklich verstand. Das wurde durch mich auch nicht gerade besser. Ich hatte die so genannten progressiven Künstler zu vertreten, und das hieß, im Sinne der damaligen Polydor, Popper aus Hamburg, die wie Amerikaner klingen wollten, Buren aus Südafrika, die vorgaben, Briten zu sein, und viele Spätausläufer der Neuen Deutschen Welle. Nett fand ich sie eigentlich alle, die Südafrikaner halfen mir sogar beim Umzug, aber nach meiner Meinung zu ihrer Musik gefragt, konnte ich leider nicht lügen.

Überholt, nicht eigen, also eigentlich überflüssig. Ich hoffe, ich drückte das damals freundlicher aus, aber aus ihren Verträgen wollten sie trotzdem fast alle raus. Und das nicht erst, seitdem ich auf den Plan getreten war. Ich ließ es meist zu, und keiner stoppte mich dabei ...

Einen Musiker unter Vertrag zu nehmen, das versuchte ich später meinen Mitarbeitern immer einzubläuen, hat ein bisschen etwas von einem Adoptionsakt. Das darf man nicht leichtfertig machen, das hat Konsequenzen und bringt Verpflichtungen mit sich. Ein Kind würde man ja auch nicht aus einer Laune heraus unter seine Fittiche nehmen. Ähnlich hilflos steht der unerfahrene Künstler anfangs mit großen Kulleraugen der Maschine Musikindustrie gegenüber. Er braucht jemanden, der ihn und seine Mission versteht, sich damit in der Tiefe auseinandergesetzt hat, seine Anliegen und sein Werk in das System hinein übersetzt und dort auch der Anwalt seiner Interessen ist. Häufig bricht er für die vermeintliche Karriere, die durch den Vertrag am Horizont zu winken scheint, Studium oder Lehre ab. Manchmal schmeißt er deshalb sogar seinen Beruf hin. Der Vertrag ist für den Musiker Chance und Gefahr zugleich. Der Artist & Repertoire Manager muss sich dieser Verantwortung bewusst sein. Der Künstler braucht Kontinuität. Für ihn ist es fatal, wenn sein Ansprechpartner geht. Es ist keinesfalls gewährleistet, dass ihn der Nachfolger, welchem automatisch die Rolle der Stiefmutter zukommt, überhaupt versteht. Besonders nicht in Firmen, die sich nicht nach Genres, sondern nach Herkunftsregion organisieren. Die unterschiedlichen musikalischen Szenen und Gruppen haben eigene Codes, eigene Sprachen. Die mir übertragenen Künstler und ich redeten häufig aneinander vorbei, kamen künstlerisch aus zu unterschiedlichen Welten. Sie waren zudem zermürbt und misstrauisch wegen des ständigen Wechsels der Ansprechpartner. Viele meiner Vorgänger hatten sich schnell wieder aus dem Staub gemacht, als sie merkten, dass dieser Teil der Firma scheinbar den Misserfolg gepachtet hatte. Schützen kann man sich als Künstler vor diesem Problem nicht.

Die Festschreibung der Betreuung durch einzelne Mitarbeiter, die so genannte »Keyman Clause«, lässt keine große Plattenfirma mehr zu. Whitney Houston war wohl eine der Letzten, der es gelang, eine solche Klausel in ihren Vertrag hineinzuverhandeln. Nutznießer war Clive Davis, auf dessen Dienste die Diva bestand. Auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs – sie spielte damals fast die Hälfte des Jahresumsatzes der Arista ein – wies er seinen Arbeitgeber freundlich darauf hin, was passieren würde, sollte er den Wunsch verspüren, die Firma zu verlassen: Der Vertrag mit Whitney wäre ebenfalls sofort Geschichte. Seiner als Bitte getarnten Forderung, ab sofort an der Firma beteiligt zu sein und 15 Prozent seiner Arbeitszeit jenseits von Arista verbringen zu dürfen, konnte keiner mehr widersprechen. Gleichzeitig war dies das Ende einer jeden Chance auf die »Keyman Clause« in Künstlerverträgen, und das nicht nur bei Arista, der späteren BMG.

Bei den Indies war auch das anders. Zumeist nahm ja der Besitzer selbst den Künstler unter Vertrag und nicht einer dieser Konzern-Talentsucher auf ihren wackligen Stühlen. Dafür hatte man hier natürlich die Gefahr der Ablösung durch Konkurs oder Verkauf, die damals bei den Majors noch vergleichsweise gering war. Ein anderes schlagendes Independent-Argument war die künstlerische Freiheit.

Bei den Major-Labels hatte diese in der Tat keine große Tradition. Ihr Künstlerbild war in Deutschland noch häufig von den goldenen Jahren des Schlagers geprägt. Da wurde meist gesungen, was einem der Produzent im Studio vorlegte, und das eigene Album-Cover sah man oft erst nach Veröffentlichung der Platte. Spätestens seit dem Punk wollten die Künstler aber mitreden, ihre eigenen Songs schreiben, den Sound mitbestimmen, das Image und das Marketing mitsteuern. Und gerne strichen sie auch die Silbe »mit« aus dem vorigen Satz.

Bei der ersten Band, die ich unter Vertrag nehmen durfte, würde alles anders sein. Das war mit mir selbst abgemachte Sache. Wenn sich das System mit aller Macht dagegenstemmen würde – umso besser. Der Verleger meines Enthüllungsbuches würde sich sicher freuen. Aber welchen Künstler wollte ich eigentlich »signen«, wie sie es hier nannten, wen wollte ich verpflichten? Ich tastete mich ran, hatte aber selbst die Schere im Kopf. Ich wollte einerseits die coolsten Bands, die man damals nur finden konnte, aber andererseits irgendwie inhaltlich auch die Erwartungen des konservativen Systems erfüllen. Das Ergebnis ist immer halb-cool. Und halb-cool ist schlimmer als uncool. Das, was ich in die Meetings mitschleppte, war gewagt für die Polydor, aber immer auch ein wenig zu altbacken für die Welt, aus der ich kam. Meine Kollegen merkten zum Glück, dass ich nie wirklich selbst begeistert war, und vermieden durch geschicktes Nachfragen, dass ich den typischen Fehler eines jungen A&R-Managers machte: das zu signen, von dem ich glaubte, dass das System es will, und nicht das zu machen, von dem ich weiß, dass es richtig ist. Das System hat nämlich keine Ideologie. Es will nur Erfolg. Und der kommt am ehesten dann, wenn du weißt, dass du Recht hast. Dann bist du bereit zu kämpfen, dann leuchten deine Augen, dann reißt du andere mit.

Der Geschäftsführer der Polydor kam aus Berlin zurück und stürzte in mein winziges Zimmer, das er ob seiner Körperfülle fast komplett einnahm. Seine Augen leuchteten. Während des Fluges hatte er im Tagesspiegel eine begeisterte Konzertkritik gelesen. Vielleicht lag es nur daran, dass er die Fehlfarben mochte, eine Band, die mit ihrer Platte Monarchie und Alltag tatsächlich sechs Jahre zuvor einen echten Meilenstein deutscher Popmusik hingelegt hatte. »Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran«, diese Zeile aus einem ihrer Songs war quasi die Zwischenunterschrift der Neuen Deutschen Welle geworden. Und einer von diesen Jungs spielte bei der Band, die der Tagesspiegel-Journalist frenetisch gefeiert hatte. Den Bandnamen hatte mein Chef vergessen, und die Zeitung lag im Flugzeug. Nur eins, das wusste er noch, der Name war wahnsinnig negativ, eigentlich lebenverachtend.

Komisch, dass man vergisst, was einen begeistert, dachte ich, wollte den guten Mann aber auch nicht enttäuschen und recherchierte, wie ich es als Journalist gelernt hatte. Eine kleine Kieler Band namens No More hatte gerade einen Underground-Hit namens Suicide Commando, das passte perfekt ins Bild. Ich kontaktierte sie, weckte Hoffnungen, aber leider spielte keiner von den Fehlfarben mit. Deren neue Bands gaben an Negativem im Bandnamen nicht viel her, hießen Family 5, der Plan oder eben Element of Crime. Letztere hatten eine sehr passable Debut-LP herausgebracht und spielten demnächst wieder in Berlin an der Hochschule der bildenden Künste. Einen Versuch war es wert, schließlich arbeitete meine Freundin zu der Zeit auch in Berlin beim Radio, und eine Dienstreise zu ihr hatte ich auch noch nicht gehabt.

Element of Crime waren ein Treffer, die hatte der Geschäftsführer gemeint. Zumindest glaubte er sich daran zu erinnern. Mittlerweile bin ich fast sicher, dass er gar nicht so sehr von der Rezension begeistert war. Ich glaube, er freute sich, etwas über einen Musiker von Fehlfarben zu lesen, eine der wenigen Bands, von denen er wusste, dass ich sie auch mochte. Sie gaben ihm Anlass, mir einen Schubs zu geben, damit der unorthodoxe junge Mann, den er eingestellt hatte, endlich auf die Szene zuging, aus der er kam. Nun hatte ich also einen Freifahrtschein in der Hand. Und der führte mich nicht nur nach Berlin zu meiner Freundin, sondern auch auf Geheiß meines obersten Chefs zu Vertragsverhandlungen mit einer Band aus dem Underground. Ich wollte die Möglichkeit unbedingt nutzen. Ein Zufall und ein besorgter Chef gaben mir die Klarheit, die ich selbst zuvor nicht hatte.

Das Konzert von Element of Crime in der Aula war ein Fiasko. Ein Lichtmast stürzte ins Publikum. Zum Glück war er so klein wie damals die Band und erschlug deshalb keinen Zuschauer. Die Stimmung stieg dadurch aber auch nicht gerade ins Unermessliche. Genauso wenig wie durch den Hörsturz des Schlagzeugers, dem das Publikum und ich beiwohnen konnten. Er war ausgerechnet der Einzige in der Band, der von Fehlfarben kam. Auch das Klingelbrett in dem Kreuzberger Haus, wo man mich am nächsten Tag erwartete, wirkte nicht gerade einladend. Es war über und über mit Hundekot beschmiert. Ich überwand den Ekel mithilfe von Tempotaschentüchern. In der Wohnung des Bassisten angekommen, musste ich feststellen, dass die ARD-Sportschau bedeutend interessanter war als ich und dass der prominente Schlagzeuger eh mit dem Gedanken spielte auszusteigen.

Auf dem gemeinsamen Weg zur U-Bahn erwähnte ich wenigstens John Cale, den ich ein paar Monate zuvor interviewt hatte. Die Aussicht, die Legende Cale zu treffen, und der Sänger der Band, Sven Regener, dem man von dem Treffen mit mir erst gar nichts erzählt hatte, gaben den Ausschlag und führten dazu, dass Elemente of Crime als erste Band bei mir unterschrieben.

Bald darauf begannen die Plattenaufnahmen von Element of Crime in London mit John Cale als Produzent – und es wurde plötzlich ernst. Natürlich war jeder Schritt mit der Band genauestens abgestimmt. Keine leichte Sache, denn die Jungs waren sich oft selbst nicht einig. Der Sänger preschte in der Regel nach vorn, der Bassist stand auf der Bremse. Das Cover sollte ein befreundeter Stempelkünstler namens »Der Prinz von Kreuzberg« machen. Das schwarze Stück Pappe mit den vielen weißen Abdrücken war weder künstlerisch hochwertig, noch hatte es viel mit Element of Crime zu tun. Meine Polydor-Kollegen erkannten in den Stempeln kopulierende Heuschrecken. Die Band war zwar zufrieden – ich aber die Diskussion leid.

Handschriftlich wand ich mich an den »Prinzen« und erklärte ihm, dass sein Cover ganz klasse sei, aber die Polydor eine dieser üblen Major-Firmen aus der Musikbranche, von denen er sicher schon mal gehört habe, bei der man solche Kunstwerke unmöglich durchsetzen könne. Danach war Ruhe. Ich hatte ein schlechtes Gewissen und die Musikindustrie einen noch schlechteren Ruf.

Auch der nächste Anlauf ging schief. Diesmal war es der Gitarrist, der in einem Kalender ein passendes Motiv gefunden zu haben meinte. Zwei resolute Putzfrauen einer sozialistischen Reinigungsbrigade hatten ein riesiges Kruzifix auf die Stufen vor einer Dresdner Kirche gezerrt, um es dort mit einem Wasserschlauch abzuspritzen.

Das gefiel auch mir, passte zu Bandnamen und Albumtitel. Die Präsentation vor dem Vertrieb war ein Desaster. Wie man das denn in Oberammergau oder anderen erzkatholischen Gegenden platzieren solle, zeterte es mir entgegen. Doch statt festzustellen, dass Element of Crime dann vielleicht erst nach Oberammergau oder in andere erzkatholische Gegenden kommen sollten, wenn sie sich mit klaren Aussagen wie diesem Cover durchgesetzt hatten, zog ich den Schwanz ein, verbannte das Bild ins Innere der Verpackung und holte ein Bandfoto nach vorn.

Wem gegenüber war ich verantwortlich? Der Band, die provozieren wollte, dem Vertreter, der verkaufen musste? Die Antwort lautet natürlich: beiden. Damit der Vertreter verkaufen kann, muss die Ware eine Relevanz haben. Die bekommt sie aber nur, wenn ich als Co-Produzent darauf achte, dass ich sie in dem, was sie ausmacht, stärke. In diesem Sinne hätte ich beiden Seiten mit dem Kruzifix einen Gefallen getan, auch wenn es der Vertrieb vielleicht erst später gemerkt hätte. So ging die Platte umhüllt von einem schnell gestrickten Cover raus, das aussah wie eine schlechte Kopie von Dexy’s Midnight Runners Searching for the Young Soul Rebels. Es hatte etwas Billiges, Improvisiertes, aber das passte zu Try To Be Mensch immer noch besser als die vermeintlichen Heuschrecken des Kreuzberger Prinzen.

Zu Beginn war ich mit meiner Historie und Haltung noch ein ziemlicher Exot in dieser Industrie. Man ließ mich gewähren, denn was man suchte, waren Leute, die für das einstanden, was sie taten. Was das nun genau war, schien dem System ziemlich egal zu sein. »Machen Sie, was sie wollen, Herr Renner«, sagte mir später der Polydor-Geschäftsführer, als er mich zum Chef meiner eigenen Abteilung ernannte, »solange ich es weiterhin furchtbar finde, ist alles in Ordnung.« Man schaute sich meine Aktivitäten in Ruhe an, weil die Wege und die Inhalte ungewöhnlich, aber die Ziele verständlich waren. Das galt selbst für die Controller. Der holländische Kollege unterstützte mich und meine Bands, ohne dass ich es merkte. Er legte die Accounting-Richtlinien des Konzerns so flexibel aus, dass alle meine Künstler als »proven« galten. Die Tatsache, dass ich sie unter Vertrag genommen hatte, schien für ihn Begründung genug, das Investment als gesichert zu sehen. Der Vorschuss eines »Proven Artist« musste nicht als Kosten in die Bilanz, umgekehrt gehört er sofort abgeschrieben. Ich bemerkte seine Form der Unterstützung erst dann, als sein Nachfolger kam ...

Ungewöhnliche Wege wurden damals akzeptiert, das hatte aber nichts mit unverantwortbaren Wegen zu tun. Es ist kein Glaubensbekenntnis und auch kein mutiger Akt, wenn man gleich bei der ersten Produktion eines Künstlers Hunderttausende von Euros in die Aufnahme, das Marketing und in Videos investiert oder die Künstler mit Vorauszahlungen beglückt, von denen man im Grunde weiß, dass sie diese noch viele, viele Jahre abbezahlen werden. Je länger der Künstler oder die Band für ihre Entwicklung brauchen, desto unverantwortlicher und feiger ist es, so zu agieren. Feige, weil die meisten Künstler wirtschaftliche Zusammenhänge nicht wirklich durchschauen, aber das Maximum an Aufmerksamkeit wollen. Sie fordern nicht nur Zeit, sondern auch Geld als Zeichen der Wertschätzung. Und je weniger Zeit sie bekommen, desto größer wird der Ruf nach teuren Videos oder Budgetgräbern. Unverantwortbar ist es, weil eine Schallplattenfirma natürlich ein Wirtschaftsunternehmen ist und ergebnisorientiert arbeitet. Wer seine Künstler überschuldet, raubt ihnen die Zukunft.

Über die Jahre kamen rein generationsbedingt mehr und mehr Menschen in die Musikindustrie, die mit den Ideen von Punk und Independent-Labels groß geworden waren. Sie hatten in der Regel auch den Anspruch, eine andere Beziehung zwischen Künstler und Label zu etablieren. Häufig hieß dies aber, dass einfach nur der Konflikt vermieden und dadurch beiden Seiten kein Gefallen getan wurde. In den schlimmsten Fällen bekamen die Bands jeden Wunsch von den Lippen abgelesen, und der A&R-Manager genoss es, ihr Held zu sein, der dem System riesige Summen abgerungen hatte. Aber es war gar nicht schwer, die Summen zu bekommen. Man musste nur den entsprechenden Erfolg prognostizieren. Trat dieser nicht sofort ein, kam die Rechnung. Die Konsequenz hatte erst mal der Künstler zu tragen, sein Vertrag wurde angesichts der tiefroten Zahlen nicht verlängert. Der A&R beschwerte sich dann, dass heutzutage die Plattenfirmen den Musikern keine Zeit mehr für ihre Entwicklung geben würden.

Umgekehrt ist es richtig. Wer seine Künstler überschuldet, nimmt ihnen Zeit und Zukunft. Die Aufgabe eines A&R ist auch die Moderation. Er darf weder die Befindlichkeiten der einen noch der anderen Seite komplett zu seiner eigenen machen. Seine Verantwortung gegenüber dem Künstler bedeutet gerade, häufig auch Nein zu sagen. Nur weil die Kosten von Element of Crime so eisern kontrolliert wurden, war es möglich, mit ihnen fünf Platten aufzunehmen, bis der Durchbruch kam. Alle Veröffentlichungen davor hatten bereits mit geringen Verkaufszahlen eine schwarze Null oder nur einen winzigen Verlust generiert. Natürlich macht man sich mit einer solchen Politik nicht immer beliebt bei seinen Klienten, aber das ist auch nicht der Job. Man darf niemals die Mutter sein, die versucht, die beste Freundin ihrer Tochter zu werden. Irgendwann wird sie dich dafür hassen, und das mit Recht.

Das Paradies – beschallt von Klaus Wellershaus und mit Karol Wojtyla

»Der Bericht zur Lage der Nation« hallte es über den Äther. Aber das war nicht die Stimme des Bundestagspräsidenten, sondern meine, und sogleich würde auch nicht der Kanzler hinters Mikrofon treten, denn da saß ja schon ich. Der NDR-Redakteur Klaus Wellershaus hatte sich Festival der guten Taten besorgt, angehört und mir daraufhin meine erste Sendung gegeben. Auf der ersten Ausgabe dieser als Zeitung erscheinenden Musikkassette waren meine Interviews für das Sozialkundeprojekt zusammen mit einigen Rezensionen von Independent-Platten zu hören. Der einzige Redakteur war ich, die Tapedecks zum Kopieren der vielen MCs hatten mir meine Klassenkameraden geliehen. Vertrieben wurden sie bundesweit über einen Laden namens Rip Off. Die Auflage lag knapp unter 1.000, immer wieder hatte Rip Off angerufen und nachbestellt. Alle drei Monate gab es eine neue Ausgabe. Jedes Kassetten-Cover war mit der Hand ausgeschnitten, jede Kassette in realer Laufzeit überspielt. Wie viel leichter war es da, eine Radiosendung zu machen.

Es waren nur noch wenige Sekunden bis zur Sendung. »Ruhig bleiben«, empfahl der erfahrene Redakteur, »wir sind gleich live drauf. Da draußen warten jetzt 1,2 Millionen Menschen darauf, dass du ihnen etwas sagst, konzentrier dich auf sie.« Damals gab es im Norden ja nur drei Programme, und ein Schnitt von über einer Million Hörer war deshalb auf der Frequenz vom NDR die Regel. Gerade mal 16 Jahre alt geworden, hatte ich nie mehr Menschen gesehen als bei einem ausverkauften Heimspiel des HSV. Vor meinem geistigen Auge stapelte sich deshalb das vollbesetzte Hamburger Volksparkstadion zwanzigmal übereinander. Ich stand vor diesem merkwürdigen Gebilde aus wahnsinnig vielen Menschen auf einem kleinen Podium. Mein Hals schnürte sich zu, aber endlich krächzte ich »Guten Abend« ins Mikrofon.

Danach präsentierte ich eine Stunde lang die englischen Independent Charts, schaltete zu meinen Außenreportern Burkhard Seiler in Berlin und Christoph Schlingensief in München, um zu hören, was sich in den anderen Metropolen Neues tat. Dazwischen gab es Musik zu hören, die ich gerade wichtig und spannend fand. Von acht bis neun Uhr abends, einmal im Monat, immer am ersten Montag. Was ich spielte, war komplett mir überlassen. Wenn man mir sagen müsste, was ich auflegen sollte, meinte damals Wellershaus, bräuchte man mir keine Sendung zu geben.

»Nur was mich selbst überrascht, mute ich auch anderen zu«, lautete das Credo von Klaus Wellershaus. Auf diese Weise hat er damals eine ganze Generation von Pop- und Rockmusikkonsumenten von Flensburg bis nach Hildesheim und in der ganzen nördlichen DDR geprägt. Der ausgebildete Dirigent Wellershaus hatte mit wenigen Mitstreitern beim NDR ab 1965 ein Jugendprogramm durchgedrückt. »Es gab damals so genannte Abhörkonferenzen beim NDR«, erzählte er, »bei denen die neuen Platten daraufhin abgehört wurden, ob sie archiviert oder aussortiert werden sollten. Immer, wenn es ›schräg‹ wurde, guckten alle mich an – etwa bei den Beatles oder den Kinks. Die Platten bekamen dann den Vermerk: Nur für junge Leute!‹«4

Konsequenterweise entstand daraus die Sendung Musik für junge Leute nach der Schule, später kam im Abendprogramm des NDR 2 noch Der Club dazu. Als ich das erste Mal am Mikrofon saß, hatte Wellershaus bereits ein anderes Rollenverständnis. Er ermöglichte es nun den Nachwuchskräften, das zu machen, woran sie glaubten; er fungierte als Gastgeber und Mentor.

Das Vertrauen wurde mit spannenden Sendungen hoch engagierter Mitarbeiter belohnt. Das Programm war unberechenbar, aber gerade das machte es so aufregend und sorgte bei mir und vielen anderen für einen Grundstock musikalischer Bildung. Mal gab es Blues und Jazz – ein freundlicher Herr verkündete mit Grabesstimme, wer diese Woche wieder das Zeitliche gesegnet hatte und spielte dann deren Werke. Man merkte schnell, dass Jazz und Blues viel mehr zu bieten hatten als eine überaus hohe Letalitätsquote. Einmal kam eine Sendung für frisch erweckte Christen: Ein Mann mit schwerem, englischem Akzent namens Baskerville spielte mir so das erste Mal die damals noch bibelfesten U2 vor. Tags drauf öffnete Werner Voss sein Rock ’n’ Roll Museum, und auch Alfred Hilsberg bekam die Chance, Zuhörer wie mich mit seiner Neuen Deutschen Welle bekannt zu machen.

Immer wieder führte das Vertrauen und die Loyalität von Klaus Wellershaus zu seinem jungen Team aber auch zu Rüffeln des Rundfunkrats. Ich dachte mir nicht viel dabei, als ich fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Papst-Attentat eine Single von Der Favorit auflegte. Unterlegt von Gitarren und einem technoiden Beat war auf diesem Projekt des Abwärts-Bassisten Axel Dill der Papst zu hören. Auf Deutsch sprach Karol Wojtyla salbungsvolle Worte – nur unterbrochen von der einen oder anderen hineingemischten Maschinengewehr-Salve. Ich dachte an freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Kunst, der Rundfunkrat nach einigen Anrufen an die Verletzung religiöser Gefühle. Klaus Wellershaus steckte diese Rüge, die eigentlich mir galt (aber ich war ja noch minderjährig und zudem nur freier Mitarbeiter), mannhaft ein und ließ mich unbehelligt weitermachen. Ich durfte auch zukünftig unter dem Kopfschütteln von verbeamteten Cutterinnen meine Sendungen vorbereiten, in denen Jugendliche zum Geräusch aufeinander krachender Einkaufswagen Lyrik sangen oder Punks aus Eisenhüttenstadt auf Tapes, die in Seife herübergeschmuggelt wurden, das Ende der DDR herbeischrieen. Der Taxifahrer, der mich nach der Sendung nach Hause brachte, meinte einmal, ich hätte heute wieder ziemlich laute Musik gespielt ...

Einen Monat, bevor ich bei der Polydor meine Arbeit aufnahm, begann der NDR, leise zu werden. Seit dem Regierungswechsel 1982 hatte Helmut Kohl die Einführung des so genannten dualen Systems vorangetrieben. In seiner Heimat Ludwigshafen begann am 1. Januar 1984 der Testbetrieb, am 1. Juli 1986 um 11:55 Uhr startete vor den Toren Hamburgs mit Radio Schleswig-Holstein der erste Privatsender, der landesweit sendete. Der Programmdirektor von RSH, Hermann Stümpert, versprach in den ersten Sendeminuten »ein Programm, das den Machern und den Hörern Spaß macht«. Beim NDR war man darüber nicht sehr vergnügt. Im Vorfeld war schon Musik für junge Leute auf die bedeutend kleinere NDR 1 Hamburg Welle verschoben worden, der Einfluss der Redaktion Wellershaus auf Der Club schwand zusehends. Stattdessen wurden für ihn, fast jenseits der Wahrnehmbarkeit, Nischen im Programmumfeld des später gegründeten NDR 4 gesucht und gefunden. Mit dem Radiokonzert konnte Wellershaus schließlich noch eine echte Musiksendung im Abendprogramm der Servicewelle NDR 2 verankern, in der »eine Band länger als eine Single spielt«. Am 31. Januar 2002 ließ sich Klaus Wellershaus in den Vorruhestand versetzen.

Helmut Kohl träumte davon, dass die neuen Radiostationen den Bürgern abseits der öffentlich-rechtlichen Sender, die von seiner Partei gern als »Rotfunk« beschimpft wurden, »geistige Orientierung« bieten könnten. Ein Irrtum, wie auch bald seine Parteifreunde eingestehen mussten. Der von Stümpert und Kollegen angekündigte Spaß hatte mit geistiger Orientierung wenig gemein. Er bedeutete »die Hits der Sechziger und Siebziger und das Beste von heute« und führte bei Radio Schleswig Holstein dazu, dass schließlich nur noch 7,7 Prozent des Programms aus Neuheiten bestand, also aus Songs, die das Publikum nicht schon in- und auswendig kannte. Radio, das war plötzlich die Kunst, keinen mehr zu stören. Das Geschäftsmodell der privaten Sender war darauf abgestellt, mit einer homogenen Mischung aus mindestens 80 Prozent Musik und ein bisschen Moderation möglichst viel Werbung zu akquirieren.

Die öffentlich-rechtlichen Kanäle steckten in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite saß ihnen ein Verfassungsauftrag im Nacken, der sie zur Pluralität verpflichtete. Auf der anderen Seite gab es Druck von der Politik, die ihren Wählern nicht erklären wollte, wozu man einen gebührenfinanzierten Rundfunk braucht, wenn dieser deutlich weniger Hörer hat als der private. Man löste das Dilemma, indem man sich bei den populären öffentlich-rechtlichen Servicewellen bedingungslos dem Format und den Methoden der Privatradios anpasste und alles, was diesem eingeschränkten Schema nicht entsprach, zu nachtschlafender Zeit oder im Umfeld von Klassik- oder Infowellen sendete. Das Ergebnis: Aus der Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit verschwanden Hörfunk-Helden wie Klaus Wellershaus und die mutigen Töne dieser Welt.

Kohls Vorgänger, Bundeskanzler Helmut Schmidt, hatte im Zusammenhang mit der Diskussion um Verkabelung und mögliche private Anbietern bereits 1979 gewarnt: »Wir dürfen nicht in Gefahren hineintaumeln, die akuter und gefährlicher sind als die Kernenergie.« Aus der Sicht eines klassischen Radioredakteurs wahre Worte. Denn mit dem privaten Rundfunk kam auch die Musikplanungssoftware aus den USA, allen voran der Marktführer Selector. Sie veränderte das Berufsbild eines Radio-DJs radikal. Früher war er so gut, wie er die Dramaturgie seiner Sendung aufbauen konnte, mit Musik auf Situation und Stimmung spontan einging, durch die richtigen Übergänge einen einzigartigen Fluss schuf und zugleich durch die Auswahl sein Wissen und seinen Geschmack dokumentierte. In der neuen Zeit wurde die optimale Einstellung der Software und die Aufarbeitung von Daten zu seiner Kernkompetenz. Der Computer komponiert die tägliche Playlist, holt sich die Songs aus dem digitalen Archiv, wo sie vom Redakteur aufwändig kategorisiert wurden: nach Länge, Tempo, Künstlerbekanntheit, Genre, Sprache, bisheriger Rotation und verschiedenen weiteren Punkten.

Neben dem Computer samt Selector-Programm bekam der menschliche Programmmacher eine weitere Hilfe zur Verfügung gestellt: den Research-Spezialisten. Kein Ton geht über den Sender, den er nicht mit aufwändigen Tests überprüft und für gut befunden hat. Zunächst wird ein Sender musikstrategisch positioniert. Der Researcher stellt unterschiedliche Genreblöcke zusammen, die aus jeweils drei Hooks bestehen, das sind etwa 12 Sekunden lange Refrainmelodien alter wie neuer Hits. Diese Genreblöcke werden per Telefon einer repräsentativen Gruppe von 800 bis 1.000 Hörern vorgespielt. Das Ergebnis wird nach musikalischen Kompatibilitäten ausgewertet – welche Genres passen laut Hörergeschmack am besten zueinander: Modern Pop und achtziger Hits oder doch besser R&B und Techno? Dann wird das Klangbild eines Senders festgelegt. Anhand dieses ständig wechselnden Formates, das sich den Trendwünschen seines Publikums flexi- bel anpasst, werden sämtliche Musiktitel hinterfragt. Der Redakteur kontrolliert die Daten, vergleicht seine Playlist mit der des Wettbewerbers und stellt die »Musikuhr« ein. Sie schreibt fest, welches Profil der Sender zu welcher Tageszeit haben soll. Darf es also eher ein langsamer Oldie, oder ein internationaler Hit im Mid-Tempo sein, der die Mittagszeit einläutet? Es obliegt der Entscheidung des Redakteurs, in welche Rotation der jeweilige Titel kommt, wie häufig am Tag er also im Programm auftauchen darf. Aber auch diese Freiheit ist im Vergleich zu früheren Zeiten sehr begrenzt. Alle Songs, neue wie alte, werden vom Research etwa alle zwei Wochen auf ihre Beliebtheit beim Publikum getestet. In so genannten Callouts und Auditions werden Hörern die Titel vorgespielt. Je nach Finanzkraft des Senders sind das Gruppen von 70 bis 150 Personen, denen entweder am Telefon oder in einem großen Saal die Hooks jener Titel präsentiert werden, die auf dem Sender laufen. Ihre Reaktion auf die Musik wird in Abstufungen nach Begeisterung, Ablehnung, Burn Out, also dem Zustand zu hoher Rotation eines Titels, und Zuordnung zur Senderfarbe gemessen. Die Daten werden mit aufwändigen Algorithmen und Tabellenkalkulationen ausgewertet und der Redaktion samt programmlicher Empfehlungen präsentiert. Die Ergebnisse mögen den Status quo des Hörergeschmacks in Bezug auf den jeweiligen Sender präzise erfassen, die emotionale Wirkung von Musik geben sie nicht wieder. Die Kategorisierung versucht, Musik zu objektivieren, die Befragung bringt zwangsläufig den kleinsten gemeinsamen Nenner hervor. Außerdem nivellieren diese Tests zwangsläufig alle Ecken und Kanten von Titeln, die sich nicht bereits als Hit durchgesetzt haben. Um dem System gerecht zu werden, kann der Redakteur also nur mit Titeln arbeiten, die entweder so klingen, als würde man sie kennen, oder die schon im eigenen Sender oder von anderen »warm gespielt« wurden. Mit den Interessen von Künstlern und ihren Labels hat das nur noch wenig zu tun. Das Geschäftsmodell ist ein grundsätzlich anderes. Die einen wollen über das Radio Neuheiten kommunizieren, die auch mal anecken. Die anderen brauchen Musik, die auch dezent im Hintergrund funktioniert und sich dem ermittelten Hörergeschmack perfekt anpasst.

Vorzuwerfen ist das keinem, denn die Privaten arbeiten nach einer klaren Logik: Sie sind ein Sender- und kein Sendungsmedium. Sie müssen als Station mit einem möglichst klaren Profil jederzeit erkennbar bleiben, denn finanziert werden sie ausschließlich durch Werbung. Und die wird gemäß der Hörermenge pro Stunde berechnet. Gemessen wird diese aber nicht wie beim Fernsehen über kleine Geräte, die das Radioverhalten der Testpersonen dokumentieren, sondern durch Anrufe bei mindestens 50.000 Haushalten zweimal im Jahr. Zwischen Januar und Mai und zwischen September und Dezember lässt die Arbeitsgemeinschaft Media Analyse (AG MA) die Telefone klingeln. Die Nummern ermittelt ein Zufallsgenerator, aber natürlich macht nicht jeder mit. Wer Lust und Zeit hat, lässt sich nun Sendernamen samt jeweiligem Claim vorlesen, gibt Auskunft, wie häufig er diesen Sender in den letzten vier Wochen gehört hat, an wie vielen Tagen und wie lange. Mehr als dreimal pro Woche weist ihn als Stammhörer aus. Danach erfragt der Interviewer den Tagesablauf, um eine Hörerfrequenz pro Stunde ermitteln zu können. Immer geht es aber um den Sender und seine Erkennbarkeit. Es werden keine herausragenden Moderatoren oder besondere Radio-Highlights ermittelt; es geht um die jeweilige Station und wie viele Hörer sich ihr zuordnen lassen.

Das alles klingt relativ schwammig und wenig zuverlässig, entscheidet aber halbjährlich über Gedeih und Verderb ganzer Stationen, ihrer Programmchefs und Chefredakteure. Selbst die beeindruckende Summe von 50.000 Befragten relativiert sich, wenn man bedenkt, dass, in Relation gesetzt, die amtlichen Messergebnisse beispielsweise eines Senders aus dem Raum München auf weniger als 1.000 Anrufen basieren. Es erklärt aber, warum die Sender ihren Musiktests vertrauen. Denn es sind dieselben Menschen, die sich an Research und Media Analyse beteiligen: Leute, die sich freuen, mal mit einbezogen, mal gefragt zu werden. Alle anderen haben keine Zeit für die penetranten Anrufe aus dem Call-Center. Wenn aber Marktforschungsteilnehmer über den Erfolg oder Misserfolg eines Radioprogramms entscheiden, dann muss das Programm folgerichtig auch maßgeschneidert für Marktforschungteilnehmer sein. Und so sind die Verfahren von Media Analyse und Sender-Research konsequent aufeinander eingestellt.

Zu Anfang pilgerten fast alle Verantwortlichen der Sender zu Ad Roland, um von ihm zu lernen, wie das geht. Der in die Jahre gekommene DJ aus Holland war einer der wenigen, der sich schon lange mit den Modalitäten des Privatfunks auskannte. Noch unter dem Monopol des Staatsfunks hatten die so genannten Seesender von internationalen Hoheitsgewässern aus in Richtung England und Benelux ihre Programme ausgestrahlt. Ad Roland war mit Radio Mi Amigo dabei, so lange bis der Frachter Magdalene, der als Basis diente, 1979 strandete und von den niederländischen Behörden aufgebracht wurde. Als Radio-Consultant ging es ihm aber deutlich besser als auf hoher See. Er brachte privaten und auch öffentlich-rechtlichen Mitarbeitern bei, wie man die Musikarchive drastisch zusammenstreicht (teilweise auf bis zu 500 Titeln, also 5 Prozent dessen, was auf einen gewöhnlichen Apple iPod passt), um das Format des Senders klar herauszuarbeiten, wie man mit Jingles umgeht, damit der Claim des Senders einem jeden geläufig und die Station bei der nächsten Media Analyse bekannt genug ist, damit der Befragte meint, sie gehört zu haben. Er brachte den Moderatoren die ewig gute Laune bei und schulte sie darin, ein Tonstudio komplett selbstständig zu bedienen.

Letzteres war sicher ein Segen. Ich musste dereinst noch dem Tontechniker ein Zeichen geben, »abwinken«, bevor der nächste Titel kam. Beim letzten Satz hieß es: Arm hoch. Wenn einem dann doch noch etwas einfiel, saß man blöd hinter der Scheibe, mit ausgestrecktem Arm, der sich erst senken durfte, wenn das letzte Wort gesprochen war.

Derselbe Lehrer, dieselbe Zielgruppe, identische Erhebungstechniken – aus der medialen Vielfalt wurde in der Breite Einfalt. Die meisten Sender klangen einfach gleich und tun das bis heute. Der Radioberater und die Auswirkungen seiner Ratschläge auf das Programm war nicht allein ein deutsches Phänomen. In Amerika dankten es die Rapper von Public Enemy dieser Berufsgruppe 1992 mit dem Song How To Kill a Radio Consultant.

Das Paradies – Gefilmt von Peter Rüchel und Andreas Thiesmeyer

In den sechziger Jahren begann der lange Marsch des Fernsehens ins Herz der deutschen Familie. Während 1954 noch mickrige 88278 Fernseher angemeldet waren, gab es 1964 bereits 10 Millionen Geräte. Anfang der siebziger Jahre war das Fernsehen praktisch in jedem deutschen Haushalt präsent. Es hatte stillschweigend das Radio als Zentrum des Familienverbandes ersetzt – aus dem Prinzip Volksempfänger war das elektronische Lagerfeuer geworden. Die beiden öffentlich-rechtlichen Anstalten teilten sich den Kuchen auf: hier die föderal strukturierte ARD mit ihren unterschiedlich mächtigen Regionalsendern, dort das ZDF als zentralisierter Riesenapparat. Popmusik tröpfelte ganz langsam ins Programm. Einzelne streitbare Redakteure in den jeweiligen Funkhäusern erkämpften sich die Flächen.

»Nun ist es endlich so weit. In wenigen Sekunden beginnt die erste Show im Deutschen Fernsehen, die nur für Euch gemacht ist. Und Sie, meine Damen und Herren, die Sie Beatmusik nicht so mögen, bitten wir um Ihr Verständnis.« Mit diesen Worten kündigte der spätere Tagesschau-Sprecher Wilhelm Wieben den ersten Beat Club am 25. September 1965 an. Michael »Mike« Leckebusch hieß der ambitionierte Unterhaltungsredakteur bei Radio Bremen, der das neue Format bei den Senderverantwortlichen durchgesetzt hatte; Uschi Nerke war seine Moderatorin. Anfangs tastete man sich mit lokalen Stars wie den Rattles oder den Lords ans Publikum heran, später kamen dann Bands wie Steppenwolf, Jethro Tull oder Status Quo, aber auch die Beach Boys, The Doors oder Kraftwerk dazu. Die Auftritte waren selbstverständlich live, eine Hand voll überdrehter Studiogäste feierte jede Band. Die Jugendlichen waren begeistert, die Eltern empört, die Medien ratlos. Zum ersten Mal öffnete sich das deutsche Fernsehen für die musikalischen Innovatoren aus den USA und aus England.

Schnell sprach sich das TV-Ereignis herum und wurde für jeden halbwegs angesagten Jugendlichen unverzichtbar. Da es noch keinen eigenen Fernseher im Kinderzimmer gab, kam es am Samstagnachmittag in zahllosen Familien zum Generationenkonflikt. Die Eltern schimpften auf »Negermusik« und »langhaarige Gammler«, deren Darbietungen keinen schlechten Einfluss auf den Sohn oder die Tochter ausüben sollten. Die Kinder moderierten, übersetzten, erklärten – ständig darum bemüht, keine Sekunde der kostbaren Sendung zu verpassen. Von Empörung und Ablehnung bis zu Annäherung und gemeinsamer Begeisterung: Popmusik und Fernsehen waren die Grundlage eines großen Identitätsdiskurses im Wohnzimmer.

Bis 1972 produzierte Leckebusch 86 Sendungen vom Beat Club. »Zum Schluss hatte ich nur noch die Kiffer vor der Röhre«, klagte er, und tauschte das Auslaufmodell gegen ein neues Format aus – den Musikladen. Psychedelische Farbspielereien, poppige Überblendungen, Go-Go-Tänzerinnen ohne Hemd, aber noch mit Höschen, und kreischende Bildverfremdungen waren Zeichen einer neuen Zeit. Das bewährte Team wurde ab 1973 mit dem präpotenten Co-Moderator Manfred Sexauer aufgefrischt. Und wieder prägte Leckebusch die deutsche Pop-Geschichte: Ein Auftritt in seiner Sendung galt unter Künstlern und Plattenfirmen als Garant für den Einstieg in die Charts. Leckebusch war das Nadelöhr, sein Geschmack entschied, bei ihm standen die Promoter Schlange. Um einen Auftritt im Musikladen und im Nachfolger Musikladen Eurotops wurde mit allen Mitteln gekämpft. Leckebusch hatte beim Sender irgendwann durchgesetzt, dass die Sendung ohne störendes Publikum produziert werden konnte, und kurzerhand das Studio zu sich nach Hause verlegt. Etwas schaurig war die Anreise schon, denn sein Anwesen lag mitten im Wald, nah der Autobahn nach Bremerhaven. Im Stil typischer »Ich-hab-es-geschafft«-Architektur der siebziger Jahre wirkte es wie ein reichlich aufgepumptes Reihenhaus. Das Studio befand sich im Anbau – auf 50 Quadratmetern. Hierhin reisten also die Pop-Legenden, drängelten sich zwischen Kabeln und Kameras auf die Bühne und erfreuten sich an der clubartigen Atmosphäre und den ebenso freundlichen wie hübschen Praktikantinnen. Newcomer, von denen Leckebusch noch nicht völlig überzeugt war, konnten sich bei ihm für 10.000 Mark einen Blue-Screen-Auftritt für spätere Promotionzwecke erkaufen. Der wurde dann mit für den Musikladen typischen Psychedelic-Effekten hinterlegt. So entwickelte Leckebusch die frühe deutsche Variante des Musikvideos.

Ohne ihn lief gar nichts, er war Regisseur, Produzent und Redakteur in einer Person. In den siebziger Jahren galt er als mächtigster Mann der Branche. Und er nutzte diese Macht für höchst individuelle Entscheidungen – spielte Tina Turner, als niemand sonst das tat, boxte Roxy Music in die Charts und brachte Boney M. unglaubliche 15-mal, bis auch der letzte Zuschauer Rivers of Babylon mitsingen konnte. 1984 endete der Musikladen nach 90 Ausgaben mit Do They Know It’s Christmas Time.

Andere Musikformate waren dazugekommen und hatten Leckebuschs Sendung das Monopol streitig gemacht – die WDR Plattenküche mit Helga Feddersen und Frank Zander, Bananas und Känguruh mit Hape Kerkeling. Hier war Erfinder und Redakteur Rolf Spinnrads höchst individuell um die Musik bemüht. Was ihm gefiel, bekam volle Unterstützung. Und sei es die völlig unbekannte Deutschrockband Düsenberg, die so oft in seiner Plattenküche angekündigt wurde, ohne dort zu erscheinen, dass ihr allein der Auftritt in der letzten Folge den ersten und einzigen Hit einbrachte. Es gab Disco mit Ilja Richter und dem damals schon entscheidungsstarken, aber nicht immer geschmackssicheren Redakteur und späteren Musikmanager Thomas Stein. Es gab die Music Box im Kabel mit den Redakteuren Jörg Hoppe und Christoph Post, die später als Mitgründer von VIVA das deutsche Musikfernsehen erheblich prägen sollten.

Das Musikvideo wurde im deutschen Fernsehen von Formel Eins entdeckt. Andreas Thiesmeyer, ehemaliger Polydor-Außendienstmitarbeiter und späterer Produktmanager von James Last und der Kelly Family, überzeugte die ARD-Sendeverantwortlichen, ihm für das ungewöhnliche Konzept in den dritten Programmen eine Versuchsfläche einzuräumen. Internationale Künstler hatten 1983, als Formel Eins im April zu senden begann, in der Regel ein Video; bei lokalen Künstlern war es die absolute Ausnahme. Thiesmeyer löste das Problem, indem er einfach selbst Videos produzierte. Über seinen Geschmack mag man streiten, aber alle deutschen Bands, die in die Charts wollten, standen irgendwann auf dem Bavariagelände zwischen Oldtimer-Wracks und brennenden Mülltonnen vor den Kameras seines Teams. Ein unglaublicher Aufwand wurde betrieben. Mehr noch als zuvor im Musikladen konnte ein Auftritt in Formel Eins über die Karriere eines Künstlers entscheiden. Thiesmeyer war sich dessen bewusst, stellte sich zusammen mit Redakteur Roman Colm manch scharfer Diskussion mit Künstlern und Plattenfirmen. Der Erfolg wurde ab Januar 1988 mit einem Sendeplatz im ersten Programm am Samstag um 15 Uhr belohnt. Vorher lief Formel Eins am Abend. Mit der neuen Uhrzeit entfernte sich das Format von der Musik und seiner eigentlichen Zielgruppe – um 15 Uhr schauten Kinder oder Rentner zu, aber immer weniger Fans. Mit Reisereportagen versuchte man vergeblich, den Verfall der Sendung zu stoppen. Ab 1990 übernahm konsequenterweise der Disney Club.

Im Rockpalast konnte sich sogar der gehobene Fan wiederfinden. Peter Rüchel, der engagierte Chef des WDR-Jugendfernsehens hatte eine Sendung mit Livemusik durchgesetzt, die im hauseigenen Studio vor 80 Gästen aufgezeichnet wurde. Die Idee flog nicht, Versuchskaninchen wie die Band Procul Harum waren reichlich frustriert. Zum einen kann man Rockkonzerte nicht auf 30 Minuten begrenzen, zum anderen kam im kleinen Rahmen keine rechte Stimmung auf. Rüchel gab nicht auf, sondern dachte groß. Er brauchte eine richtige Halle, er brauchte eine ganze Nacht. Besessen von der Idee, aber ohne Beleg dafür, dass es klappen könnte, überzeugte er dennoch seine Vorgesetzten, ihm pro Rockpalast-Nacht fünf bis sechs Stunden Sendezeit einzuräumen. Und er gewann auch andere für seine Idee: Von Anfang an machten sieben Nationen von Italien bis Norwegen mit.

»Learning by doing – europaweit live! Denn im technischen Sinne hatten wir damals keine Ahnung«, erinnert sich Rüchel. »Als Produzent mittendrin stehend, habe ich gedacht: ›Die lassen uns nie wieder auf den Sender!‹ Die Umbaupause von Rory Gallagher auf Little Feat dauerte 45 Minuten, den Moderatoren ging der Stoff zum Moderieren aus – es war einfach ganz furchtbar.« Rüchel hat das Unmögliche gewagt und deshalb gewonnen. Die lange Nacht des Rockpalast wurde im ersten Programm zur Institution. Man traf sich bei Freunden, drehte den Ton des Fernsehers ab und das Radio aus Vaters Anlage auf volle Lautstärke (alle ARD-Radiostationen übertrugen das Ereignis parallel) und genoss am späten Samstagabend stundenlang die Crème der Rockmusik im HiFi-Stereosound: The Who, Van Morrison, The Police bis zu Einstürzende Neubauten, live und ungekürzt aus der Grugahalle in Essen oder der Philipshalle in Düsseldorf, unterbrochen von Interviews in den Umbaupausen und eingestimmt von Albrecht Metzger: »German Television prrroudly prrresents ...«

Es gab verschiedene Plattformen, die sich unterschiedlich definierten. Es ging um Schlager oder Rock, Single-Stars oder Album-Acts, Live oder Playback, und immer standen dahinter klare Entscheider. Es gab Fernsehpersönlichkeiten, die für ihre Inhalte kämpften und sich dann auch dafür verantwortlich fühlten. Niemand verschanzte sich hinter einer Redaktionskonferenz oder einer Abhör-Jury wie später die Videokanäle. Es gab den Redakteur, den man anrufen konnte, der für weibliche Überredungskünste anfällig war oder sich gerne mal zum Essen einladen ließ. Das war niemals gerecht oder objektiv, das konnte hoch korrupt sein, war aber in jedem Fall individuell und vom Ergebnis her emotional und spannend. In den öffentlich-rechtlichen Sendern gab es für aktive Redakteure Spielräume, Quotenangst spürte man dank fehlender Konkurrenz noch nicht. Dass Musik kein leichter Sendeinhalt ist, war bekannt: Zwischen den bundesdeutschen Wasserwerken und dem ZDF bestand die Absprache, die Wasserwerke vorzuwarnen, bevor in der Sendung Wetten, dass ..? die musikalischen Pausen kämen. Nur so hätten sie die Chance, für die Pinkelpause die Kapazitäten rechtzeitig hochzufahren ... Dass dies dem Harndrang von mindestens zwölf Millionen Menschen geschuldet war, wusste man schon damals.

Messungen von Reichweiten und Zuschauerzahlen wurden schon länger vorgenommen, doch wirklich wichtig waren die Analysen erst ab 1988, als sich die öffentlich-rechtlichen Sender mit den großen Privaten zur Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung zusammentaten und die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) mit der sekundengenauen Erschließung des Programms beauftragten.

Schritt für Schritt begannen die privaten Anbieter, ihre Logik der Quantität, der Reichweite, der Zielgruppenpräsenz auf die gesamte Fernsehlandschaft zu übertragen. Auf welche Weise die Zuschauer mit dem umgehen, was sie sehen, ob und wie Fernsehen sie bewegt hat, wird immer weniger wichtig – das Einzige, was in den Sendern zählt, wenn am Morgen nach der Ausstrahlung die Quoten herumgereicht werden, ist die schlichte Zahl. Und bei den Analysten in den Sendern ist Musik zunehmend verpönt, denn sie führt zu Dellen in der Quotenkurve, zu den verhassten »Umschaltern«. Der Grund ist einfach: Alles, was emotional ist, führt auch zu Ablehnung. Je emotionaler, umso heftiger. Je heftiger, umso schneller wird umgeschaltet. Da sich die Qualität von Musik und ihrer Darbietung aber nun mal danach bemisst, so emotional wie möglich zu sein, widerspricht das zutiefst einem Fernsehideal, das auf stabilen Quoten, auf purer Quantität beruht.

Parallel zum Start des Privatfernsehens und den diversen neuen Kanälen kam ein weiteres Phänomen hinzu: Die Zahl der Zweitgeräte wuchs. Ende der achtziger Jahre besaß bereits jeder dritte Haushalt eines. Meist stand es im Kinderzimmer. Resultat: Der Familienverbund vor dem Fernseher wurde gesprengt. Immer seltener kam es zu TV-Ereignissen, die generationsübergreifend erlebt wurden – samt Geschmackskollisionen und Identitätsreibung. Popmusik wurde zur Privatangelegenheit. Bald regierten die Musiksender MTV und VIVA im Kinderzimmer. Und die Eltern waren froh, in Ruhe den Tatort sehen zu können. Die dringend notwendige Erneuerung des Mainstreams, der Moment, da die Jüngeren den Älteren erklären, worum es der neuen Band geht, die gerade in der Abendshow spielt, blieb dadurch aus.

Das Paradies – Beschrieben von Frank Bielmeier und Andreas Banaski

Gegen Ende der siebziger Jahre schoss an fast jeder Ecke einer Studentenstadt oder eines Univiertels ein Copyshop aus dem Boden. Die Firma Xerox hatte den Fotokopierer zwar schon 1949 erfunden, aber erst jetzt war das Gerät so günstig geworden, dass man eine Kopie für 10 Pfennige anbieten konnte. Keine Schriftsetzer, keine Filme, keine Druckkosten, eine ungeahnte Freiheit für jeden, der etwas mitteilen wollte und es sich zuvor nicht leisten konnte. Es wurde wie im Rausch kopiert, und das nicht nur vom AStA, den Atomkraftgegnern und studentischen Dritte-Welt-Gruppen, auch die Punks standen hinter den modernen Maschinen. In so genannten »Fanzines« (kurz für Fan-Magazines) schrieben sie über ihre eigene Bewegung, emanzipierten sich von der bürgerlichen Presse, die sie nicht verstand und von der sie nicht verstanden werden wollten.

Die ersten Fanzines tauchten 1976 in London auf, hießen Sniffin’ Glue, Ripped and Torn oder London Outrage. Die Bilder klebten krumm und schief, die Texte waren mit mechanischen Schreibmaschinen oder gar mit der Hand geschrieben, Korrekturen blieben einfach im Text stehen, Grammatik und Orthografie interessierten nicht und die Überschriften klebte man aus einzelnen ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben zusammen. Sie sahen aus wie Erpresserbriefe. Der Wille zum eigenen Medium schaffte einen eigenen Stil, der sich radikal von allen Hochglanzmagazinen abhob. Man war schneller, günstiger, direkter und dreckiger als sie. Die Auflagen waren meist gering, überschritten kaum 100 Exemplare und wurden im Bekanntenkreis oder über den örtlichen Schallplattenladen vertrieben. Meist kamen sie über ihre Region nicht hinaus. Da man Fanzines weiterreichte, ein Exemplar viele Leser hatte, schafften sie ein dichtes lokales Informationsnetz. Die Punks hatten ein steinzeitliches Internet aus Papier erfunden.

Jeder war plötzlich Journalist, und alle schrieben es so auf, wie sie es erlebten. Sie hatten es nicht anders gelernt, und es entsprach genau dem eigenen Anspruch an Wahrhaftigkeit. Thema waren die eigenen Bands oder die von nebenan. Das System sah in Deutschland nicht anders aus als anderswo. Sein Epizentrum befand sich 1977 noch rund um Düsseldorf, wo auch unweit, in Grevenbroich, The Ostrich von Frank Bielmeier erschien. Bezeichnenderweise lag in Neuss, auf halber Strecke zwischen beiden Städten, die Zentrale des Kopiererherstellers Xerox. In der ersten Ausgabe des selbst kopierten Hefts heißt es vom Herausgeber: »Suche Typen, die Lust haben, eine Punk-Band zu machen! Brauche Bassist und Schlagzeuger.« In der zweiten Ausgabe fragt er schon: »Wer interessiert sich für Kassetten von Charley’s Girls???«

Gemeldet hatte sich ein gewisser Peter Hein. Man nahm ihn in die Gruppe auf, sie wurde zur Keimzelle für Mittagspause, aus denen wiederum mit Fehlfarben die wohl wichtigste Band der Neuen Deutschen Welle hervorging. Deren Sänger Peter Hein stand zu der Zeit bei Xerox in Lohn und Brot: »Innerhalb kürzester Zeit begann ein Spiel mit Formen und Inhalten, es wurde Kunst der zwanziger Jahre, Propaganda und Pop-Art in die Gestaltung der Zeitung und der Zettel eingebracht, geschrieben, wie man gerade las, hardboiled, surreal, Stream-of-consciousness, was man will«, begeistert Hein sich noch heute. »Und wer beim Kopierhersteller arbeitet, wird ja unfreiwillig bestens gesponsert, so konnten herrliche, endlos vergrößerte Detailausschnitte und Mehrfachbelichtungen zu unerkennbaren Konzertankündigungen und Plattencovern werden.«5

Weil die Szene bewusst und spielerisch auf eine neue Technik zuging, verschaffte sie sich einen gewaltigen Vorsprung. Die Medienindustrie beschäftigte sich noch mit den Auswirkungen der epidemieartig auftauchenden Kopierer auf das Urheberrecht, stritt um den Kopiergroschen, während die Maschinen längst ein Fanzine nach dem anderen ausspuckten. Auch die Leerkassetten, vor denen die Musikwirtschaft so viel Angst hatte, trugen zur Freiheit der Punks bei. Eine Mark-II-Kassette aus Taiwan, die ich auch für mein Fanzine Festival der guten Taten verwendete, kostete nur noch 90 Pfennig im Handel. Der kleine HiFi-Händler ums Eck in Hamburg-Poppenbüttel wunderte sich, dass ich und andere merkwürdige Gestalten sie immer gleich kistenweise kauften.

Die Musik wurde über kleine Kassettenlabels zum Selbstkostenpreis ausgetauscht. Nur scheinbar eroberte die Neue Deutsche Welle die Republik später im Sturm. Als die Massenmedien entdeckten, dass Punk und die Neue Welle weit mehr waren als der Mut zur Hässlichkeit (»Schocken ist schick« schrieb die Cosmopolitan Ende der Siebziger), hat sich jenseits des Mainstreams schon längst eine unabhängige, gefestigte Kultur entwickelt. Das Medienestablishment hatte unterschätzt, wie selbstständig der Underground mithilfe von neuer Technik werden konnte. Ratlose Artdirektoren saßen Anfang der achtziger Jahre über Fanzines wie Willkürakt, Bauernblatt oder Arschtritt und versuchten, deren ästhetische Codes, die plötzlich so gefragt waren, zu entschlüsseln. Die Anzeigen von Musikkonzernen sahen nun wie die von Independents aus. Die Bertelsmann-Tochter Ariola verteilte quietschgelbe Buttons, die wie Badges der Punks wirken sollten, auf denen in roten, zusammengewürfelten Buchstaben »Keine Angst vor den Achtzigern« stand, während dem Management die Knie schlotterten, weil sie glaubten, den Trend verschlafen zu haben. Auch in der Bravo waren auf einmal die Schriften schief und krumm. »Wir dachten schon, das ist der Sieg«, sangen Peter Hein und die Fehlfarben.

Wenn mein Nachbar eine Zeitung machen kann, wieso soll ich dann einem Journalisten glauben, den ich doch gar nicht kenne? Eine berechtigte Frage. Die klassische Musikpresse kam durch die Fanzines enorm unter Druck. Man versuchte, Musik zu objektivieren, schrieb seitenlang über Keyboardflächen, Gitarrenarbeit und Live-Qualität eines Sängers oder versuchte, jeden Ton in einen gesellschaftspolitischen Kontext zu zwängen. Über den Schreiber erfuhren die Leser in der Regel nichts. Das Private im Politischen gab es nicht. Das Feuilleton schrieb über Emotionen, doch die eigenen blieben außen vor? Unglaubwürdig.

Als Erstes ließen die Mitarbeiter des Sounds die Maske fallen und wurden dadurch zum Zentralorgan der Neuen Deutschen Welle. Allen voran Andreas Banaski alias Kid P. Seine Artikel handelten fast ausschließlich von seinen Befindlichkeiten, die Musik wurde so beschrieben, wie sie in seinem Leben vorkam. Der Leser tauchte in Banaskis Tagesablauf ein, begann zu verstehen, warum dieser das eine mochte und das andere strikt ablehnte, ohne mit ihm einer Meinung sein zu müssen. Journalisten waren plötzlich angehalten, ihr Innerstes nach außen zu kehren. In ihrer Subjektivität wurden sie so angreifbar wie die Musik, die sie rezensierten. Objektivität war natürlich einfacher, aber nicht ehrlicher und schon gar nicht fairer.

Offenheit wird belohnt. Ich erfuhr das durch einen Artikel über Tears For Fears, den ich unter Tränen schrieb. Der fünf Jahre ältere Bob hatte alles, was man braucht, um Erfolg bei den Frauen zu haben: reiche Eltern, gutes Aussehen, einen Honda Civic und jede Menge Charme. Aber er war furchtbar schüchtern. Mit einer Mitschülerin, die ich ihm vorgestellt hatte, war es schon wieder vorbei. Er bat abermals um meine Hilfe als Kuppler. Im Visier hatte er diesmal Ute, ein 23-jähriges Mädchen aus der Independent-Szene, auf deren Freundschaft ich als 17-Jähriger mächtig stolz war. Bob mit der extrem coolen Ute zu verkuppeln war nicht leicht, und es nervte mich sowieso, ständig für ihn die Mädchen klarzumachen. Ich verlangte für den Erfolgsfall 1.000 Mark Honorar. Kein Problem für Bob.

Also spannte ich beide in die Dreharbeiten meines Abschlussfilms für den Kunstkurs meiner Schule ein. Film und Beziehung waren fast im Kasten, als wir alle am Abend des 30. April 1982 in Bobs Auto saßen; ich hinten, Ute fuhr. An einer Kreuzung wurde der Wagen von links mit voller Wucht gerammt. Jemand hatte die rote Ampel übersehen. Ich sprang nach vorne und riss Ute aus dem Wrack. Aufgeregt führte ich die Sanitäter, die kurz darauf eintrafen, zur geschockten Fahrerin. Ihr und Bob ging es gut, nur aus meinem Bein floß reichlich Blut.

Auf dem Weg ins Krankenhaus begriff ich es endlich: Ich hatte mich schon lange in Ute verliebt. Sechs Jahre Altersunterschied, aus meiner damaligen Perspektive eine gewaltige Spanne, waren plötzlich egal. Ich hatte mich vorher nur nicht getraut, mir diese Liebe einzugestehen. Ich kratzte so lange in meinem Pass herum, bis 1964, mein Geburtsjahr, wie 1954 ausah. Ich hätte noch viel mehr getan, um mit Ute zusammen zu sein.

Als ich wieder entlassen wurde, war die Sache mit ihr und Bob längst gelaufen, die beiden waren ein Paar. Voller Bitternis und Hass auf mich selbst verlangte ich von ihm die vereinbarten 1.000 Mark. Ich wollte Ute damit zu einer Reise nach Paris einladen, aber Bob verwehrte mir den üblen Lohn. Ich fuhr sofort zu ihr, gestand meine Liebe, erzählte alles. Zu spät. Es war früher Nachmittag, und sie tröstete mich auf dem Balkon ihrer kleinen Wohnung mit viel Aufmerksamkeit und noch mehr Wein.

Irgendwann dämmerte mir, dass ich noch einen Termin hatte: Tears For Fears, ein New-Wave-Pop-Duo aus England, gaben in der Hamburger Markthalle ihr erstes Deutschlandkonzert. Im Club wurde ich aufgefangen von einem warmen Synthie-Sound und einer traurigen Stimme, die mir aus der Seele sprach: »You don’t give me love. You gave me pale shelter!« Das Konzert war eine Offenbarung, die ich mir unter Tränen anguckte. Wie vereinbart, aber betrunken und verheult, torkelte ich danach zum Interview hinter die Bühne. Das Gespräch hatte ich nicht vorbereitet. Es blieb mir gar nichts anderes übrig, als mit Roland Orzabal und Curt Smith über meine Geschichte mit Bob und Ute zu reden und was das mit der Musik von Tears For Fears zu tun hat.

Genau davon, wie ich meine große Liebe versehentlich verkaufte, handelte auch der Artikel über die Band, den ich bei der Zeitschrift Scritti ablieferte. Ihn zu schreiben war für mich liebeskranken Teenager wie eine Therapie. Die Reaktionen waren überwältigend: jede Menge Zuschriften, vornehmlich von Mädchen, die mich trösten wollten oder selbst Trost suchten. Dazu noch einige Jobangebote. Der Ton der Zeit war gnadenlos subjektiv, da fand selbst Teenage-Romantik ihren Platz. Dafür hatten die Fanzines gesorgt. Kid P., der in einem seiner letzten Artikel für Sounds öffentlich der Redaktionsassistentin Tina seine Liebe gestand (die das angeblich erst beim Korrekturlesen erfuhr, ihn aber verschmähte), hatte das zur Kunstform veredelt. Leute, die es beherrschten, über die eigene Geschichte zu den Themen der Zeit zu führen, wurden damals händeringend gesucht.

Überall entstanden neue Zeitungen, die großen Verlage bekamen vielfältige Konkurrenz, und das nicht nur von der Musikpresse. Auch der Markt der Stadtzeitungen boomte. Es gab jede Menge Neugründungen, und die alten Titel erhielten ein völlig neues Gesicht. Ausgestattet mit einem Selbstverständnis als studentische Kampfpresse, der von den Fanzines erlernten Subjektivität und dem Glamour des Pop, den The Face und andere britische Post-Punk-Magazine vormachten, legten sie los und gelangten Mitte der Achtziger zu ungeahnter Blüte. Deutlich über eine Million Exemplare wurden in Westdeutschland verkauft – diese Zahl kam durch die Addition kleiner, unabhängiger Titel zustande. Starke Regionalität, große Glaubwürdigkeit, maximale Unabhängigkeit, das waren die Stärken der Stadtmagazine.

Die großen Häuser, allen voran der Jahreszeiten Verlag aus Hamburg, wollten mitspielen. Die Brüder Edmund und Werner Marcinowski machten es möglich. Mit dem Geld des Großverlages im Rücken kauften sie ab 1988 eine Stadtzeitung nach der anderen auf und fassten sie unter dem Namen ihrer eigenen Ruhrpost-Postille Prinz zusammen. Im Sinne der Kostenoptimierung wurden Redaktionen zusammengelegt, das Big Business hatte man stets im Auge. Die Szene hatte ihre Unschuld verloren und damit erstaunlich schnell ihre Relevanz als Trendsetter. Im Jahreszeiten Verlag behinderten sich das innovative Magazin Tempo und die Stadtzeitungskette Prinz gegenseitig, sie kämpften als so genannte »Zeitgeist-Presse« um die Gunst eines identischen Publikums.

Diedrich Diederichsen, Lothar Gorris, Wolfgang Höbel, Thomas Hüetlin, Christian Kracht, Andrian Kreye, Hans Nieswandt, Kester Schlenz, die Gebrüder Seidel, Helge Timmerberg, Moritz von Uslar und viele andere mehr, die heute in den großen Wochenmagazinen und Tageszeitungen schreiben oder über die dort geschrieben wird, sind in der Welt des Sounds der Stadtzeitungen und Fanzines groß geworden. Und sie versuchen noch immer, ihrer Art von Journalismus treu zu bleiben. Vielleicht gibt es deshalb in der Presse mehr Freiräume: Sie steht am ehesten noch für Haltung, Inhalt, Verantwortung und den Mut, gegen den Strom zu schwimmen.

Das entspricht auch der Historie großer, traditionsreicher Titel wie Spiegel, Stern und mancher Objekte aus dem Hause Axel Springer. Die Gründer wollten mit ihren Medien gestalten, sie stellten aber, geprägt durch die Erfahrungen des Dritten Reichs und der damit einhergehenden Gleichschaltung der Massenmedien, ihre gesellschaftliche Verantwortung all ihrem Tun voran. Man mag politisch nicht auf einer Linie gewesen sein, aber ihre Publikationen verbreiteten immer eine klare Meinung, eine klare Haltung war stets erkennbar. Sie richtete sich nicht nach den jeweiligen vermeintlichen Mehrheiten in der Bevölkerung. Über diese Haltung definierten sich die Werte der Verlagshäuser, so entstand Identität. Sie wurden gepflegt, auch wenn das richtig teuer wurde und bedeutete, dass man all seine Mitarbeiter am Unternehmen beteiligte, wie es Rudolph Augstein tat, oder ein einzigartiges, millionenschweres Sozialprogramm für sie auflegte wie Axel Cäsar Springer.

Der Konsument dankte es ihnen, über mangelndes wirtschaftliches Wachstum ihrer Häuser konnten Henri Nannen, Rudolph Augstein und Axel Cäsar Springer in ihrer aktiven Laufbahn nicht klagen. Die Krise der Presse begann erst, als Manager die Unternehmer ersetzten und der Glanz der alten Herren verblasste. So schwärmte selbst die taz über die großen drei Presse-Mogule: »Diese Männer waren nicht pc. Aber sie wussten, was sie wollten. Sie hatten eine Vision und sie hatten Charisma. Sie waren Persönlichkeiten. Keine Etat verwaltenden Knödelpupser, die über die Lage jammern, statt ihre Ideenlosigkeit als Ausgang des Niedergangs zu begreifen. Vielleicht ist die Lösung der medialen Krise ganz einfach: Vielleicht sollten die Magazine und Zeitungen dieses Landes mal wieder von Leuten gemacht werden, die etwas zu sagen haben. Von Menschen, die bereit sind, für die Wahrheit ins Gefängnis zu gehen, oder so naiv sind, anzunehmen, die Welt würde ein Stück fairer werden, wenn sie selbst mal ein Staatsoberhaupt aufsuchen.«

Das Paradies – das Fazit

Ja, es war ein Paradies. Ein Paradies der klaren Verantwortlichkeiten. Menschen wie der erste A&R-Manager Fred Gaisberg setzten im Zweifel ihr eigenes Geld ein und gingen in Führung. Radioredakteur Klaus Wellershaus riskierte Kopf und Kragen, aber er sah seine Verantwortung darin, neuen Ideen Flächen zu schaffen und stand für sie ein. Auch bei der Polydor erlebte ich Verantwortung. Meine Chefs ließen mich machen. Und nahmen mich damit schlauerweise umso mehr in die Verantwortung.

Große Systeme an sich sind nicht das Problem, solange sie die Verantwortung in geschlossenen Blöcken verteilen. Der Einzelne darf sich nicht als Rad im Getriebe fühlen, der nur einen Auftrag für »die da oben« ausführt und nicht begreift, in welchem Gesamtzusammenhang sein Tun steht. Am Satz »Dafür bin ich nicht zuständig« kann ein ganzes Projekt, eine ganze Karriere scheitern. Gefährlich wird es immer dann, wenn die Organisationsform sich nicht am Prinzip Verantwortung orientiert. Segmentierte Arbeitsabläufe sind grausam gegenüber dem Künstler. Er wird durch die Firma gereicht: vom Artist & Repertoire Manager, mit dem er sich verbunden fühlt und wegen dem er eigentlich unterschrieben hat, zur Marketingabteilung und dann rüber zur Promotion. Keiner ist und fühlt sich wirklich verantwortlich, denn jeder kann immer die andere Abteilung beschuldigen. Den Künstler kann aber nicht interessieren, wer denn eigentlich schuld ist, ihn muss interessieren, dass sein Vertragspartner funktioniert.

Je arbeitsteiliger, je abstrakter eine Firma ihre Arbeit organisiert, desto schwieriger wird für den Einzelnen die Identifikation. Die Plattenfirma WEA Deutschland teilte ihre Künstler Ende der achtziger Jahre in der Presseabteilung nach Alphabet auf. Als Mitarbeiter war man also angehalten, sich beispielsweise nur mit Künstlern von A bis K zu identifizieren und nur sie vertreten. Ist nicht wahrscheinlicher, dass man sich für seine Arbeit begeistert, wenn einem die Inhalte wichtig sind – und zwar von A bis Z? Braucht man deshalb nicht gerade innerhalb großer Firmen viele kleine Einheiten, die ihre Künstler von vorne bis hinten betreuen, sie verstehen, ihnen Heimat geben und voll verantwortlich sind? Nicht mehr wegen des Künstleregos, auch wegen der Erfolgswahrscheinlichkeit.

Es ist schwer zu verstehen für Manager, die keinen oder einen überholten Kunstbegriff haben, dass man dem Firmenziel schaden kann, wenn man auf technische Spezialisierung setzt. Ihnen ist es wichtiger, dass eine Platte mit einem vernünftigen Marketingplan in exakt dem richtigen Timing auf den Markt kommt, als zunächst einmal auf die Exzellenz des Werkes zu pochen.

Verantwortung endet nicht dort, wo produziert oder vermarktet wird – sie liegt auch bei dem, der kommuniziert. Wenn man Menschen immer nur das erzählt, was sie sowieso schon wissen, wird Kommunikation selbst irgendwann überflüssig. Aber genau das fragen Radiosender in ihren Research-Call-outs ab: Was klingt bekannt, worauf könnt ihr euch alle einigen? Aus den modernen Hörfunk- oder Fernsehchefs drohen reine Demoskopen zu werden. Ihre Aufgabe liegt aber nicht darin, stur die Meinungen anderer zu erforschen, sie sollten selbst eine haben und für diese einstehen. Durch Marktforschung wird es keine Innovation geben, sie zementiert immer nur den Status quo. Wenn das Medium sich aber nicht mehr bewegt, verliert es auf Dauer seine Existenzberechtigung, es setzt keine Impulse mehr und verliert an Wert.

Wir müssen damit aufhören, uns hinter einem vermeintlichen Plebiszit oder Effizienzanalysen zu verschanzen, die wir für enorm viel Geld von Beraterfirmen einkaufen. Die Wirtschaft braucht Entscheider, die den Mut haben, auch mal Fehler zu machen, und die Konsequenzen aus diesen ziehen. Wir brauchen keine Managementtechnokraten, die das verfügbare Kapital in Gefälligkeitsgutachten und Status-quo-Analysen investieren, sondern Persönlichkeiten, die ihr Geschäft verstehen und Werte produzieren – statt Entschuldigungen und Erklärungen.

Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!

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