Читать книгу Volkseigentum trifft Marktwirtschaft, aus Liebe? - Timea Hiller - Страница 5
ОглавлениеDDR 1984, Cottbus
Tina feiert Geburtstag
„Ihr glaubt nicht, was passiert ist, Jens kommt nie wieder! Es ist schrecklich. Ihr müsst mal in Ostberlin an der Mauer entlang laufen, das heißt, dort wo es erlaubt ist. Da liegt euch der Westen praktisch zu Füßen, was bedeutet, Westberlin ist nur einen Katzensprung entfernt“, stieß Sylvie atemlos hervor. In ihrem Ton lag Entschlossenheit und auch tiefe Bestürzung, ihre Stimme klang gepresst und unnatürlich, wodurch sie die gespannte Aufmerksamkeit der Freunde auf sich zog. Mit kurzen abgehackten Sätzen machte das aufgeregte Mädchen weiter: „Wenn es dunkel ist, muss man von weiter oben schauen und dann sieht man die Leute im Westen hinter den hell erleuchteten Fenstern! Alles ist ganz dicht dran, stellt euch das mal vor. Wirklich, diese hässliche Mauer geht mitten durch die Stadt. Ostberlin ist nur ein klitzekleiner Teil. Berlin muss vor dem Mauerbau eine riesige Metropole gewesen sein.“
Was war bloß los mit Sylvie? Was mochte es gewesen sein, das ihr so die Sprache zerhackte?
Es war zweifellos ein besonderer Anlass, der die in der DDR lebenden Freunde an diesem Tag im Jahr 1984 zusammenführte, zu einer Zeit, als Deutschland noch aus zwei ungleichen Teilen bestand: bevölkerungs- und flächenmäßig sowie gesellschaftspolitisch, hier Sozialismus, da Kapitalismus.
Eigentlich gab es etwas zu feiern.
Ungeduldig und kein bisschen in Feierlaune scharrte die Erzählerin mit den Füßen unter dem Tisch. „Jens sagte doch, dass er gerade auf einer Baustelle in Berlin arbeitet, ein paar Tage lang hat er das auch gemacht und jetzt kommt’s! Sein Arbeitsplatz lag ganz nah am Grenzübergang. Nach Worten suchend stockte sie wiederum und schluckte. „Bestimmt hatte er wahnsinnige Angst, erschossen zu werden.“ Endgültig waren alle Gespräche verstummt und niemand wagte mehr, sich zu rühren um ja nichts zu verpassen, unterdessen knisterte förmlich die Spannung.
Was wurde da erzählt, fragte sich Tina, die mittlerweile ernsthaft ein sehr ungutes Gefühl beschlich, weswegen sie Sylvie forschend anblickte. Moment mal, warum hatte Jens Angst, erschossen zu werden? „Jetzt sag schon, was los ist und erzähle doch bitte alles der Reihe nach, ich verstehe nur Bahnhof. Was ist denn um Gottes Willen passiert?“
Sylvies Augenbrauen zogen sich immer tiefer in die Mitte ihrer Stirn, während ihr Körper zusammensackte und sich den wissbegierigen Zuhörern ein kläglicher Anblick auf ihren gesenkten Kopf und die glanzlosen Augen bot, die früher doch so zuversichtlich in die Welt schauten. Auch in dem noch so kleinsten zu erkennenden Winkel ihrer Miene lagen so viel Traurigkeit und Wut, deren Anblick unheimlich weh tat. Während sich das Mädchen zu konzentrieren versuchte, ahnten die Freunde schon wie tief die Wunden waren, die seine Tat ihrer sonst so fröhlichen Seele zugefügt hatte. Immer wieder fragte sich die Arme bestürzt, warum ausgerechnet er das machte und wieso er nie etwas davon erwähnt hatte.
„Jens und seine Kollegen arbeiteten auf dieser Baustelle ganz nah am scharf bewachten Grenzübergang nach Westberlin. Am Straßenbelag sollte etwas repariert werden und er nutzte eine Gelegenheit, um sich von den anderen zu entfernen“, gab ihre zitternde Stimme von sich, der anzumerken war wie schwer es ihr fiel, weiter zu sprechen.
Angestrengt und angstvoll marschierte sie in Gedanken jeden seiner Schritte mit. „Eigentlich war das ein ganz normaler Tag, an dem Jens wie immer gearbeitet hat oder zumindest so tat, denn er hat er die Sicherungsposten an der Grenze ganz genau beobachtet, um den richtigen Moment abzupassen! Dann lief er plötzlich los, ab nach Westberlin!“
Die Ärmste holte sehr tief Luft, weil ihr dieser Satz wohl am schwersten gefallen war. „Er rannte wie der Teufel um sein Leben. Doch nur so konnte er vermutlich das Überraschungsmoment nutzen, mit dem die Posten nicht gerechnet hatten und schaffte es unverletzt bis zur Westberliner Polizei. So ist er abgehauen! Er hat die DDR für immer verlassen.“
Da ihr langsam die Lautstärke ausging, fügte sie wispernd hinzu: „Ob ihm klar war, dass er sein Leben aufs Spiel setzte?“ Immer wieder zerbrach sie sich den Kopf über seine Gedanken.
Minutenlanges Schweigen herrschte am Tisch, das von der Unfassbarkeit dieser Episode zeugte und auch in Tinas Kopf wollte sich keine Klarheit einstellen.
Jens ist abgehauen, er ist weg für immer, dröhnte es laut in ihren Ohren. Das war wirklich die schlimmste Geschichte, die sie bis dahin gehört hatte. Schleppend versuchte sie sich in die Situation hineinzufinden. Jens, ein Deserteur, was für ein Wort, sagt man es so? Ist es echt so schlimm, in der DDR zu leben? Es schien ihr, als käme sie aus einer anderen Welt, in der solche Dinge passieren, schwerfällig wieder in die Wirklichkeit zurück.
Aber, Moment Mal, das war ihre Geburtstagsparty, heute und hier, denn sie wurde achtzehn Jahre alt und einzig deswegen waren alle hier versammelt. Das war ein wirklich wichtiger Ehrentag in ihrem Leben, auf den sie sich so lange gefreut hatte. Statt hier betroffen herumzusitzen, sollten doch alle tanzen, Spaß haben und lustige Geschichten erzählen – und dann passiert so was.
Dabei hatte bis jetzt alles planmäßig geklappt, so dass ihre Besorgtheit um die bevorstehende Feier allmählich von ihr abfiel und die Aufregung sich legte, als es losging. Eine Party zu Hause mit den Eltern, das war anders als sonst, wo die Clique unter sich war!
Pünktlich um 18.00 Uhr hatte die Familie Schmied heute im Wohnzimmer gesessen. Tinas Gesicht strahlte beim Gedanken an den festlichen Rahmen, selbst passend dazu eine weiße Bluse tragend und ihre geliebten dunkelblauen Jeans, die ihre schlanke Figur betonten. Ihre schulterlangen dunkelbraunen Haare umrahmten frisch frisiert ihr hübsches Gesicht. Für seine Tochter hatte Herbert Schmied eine feine Krawatte umgebunden, die perfekt zu seinem hellblauen Hemd passte und sogar Jan, der zwei Jahre ältere Bruder, glänzte in seinem schwarzen Hemd. Vor ihm und den anderen schimmerte das gute Porzellan auf der weißen Tischdecke heller als sonst und ein Strauß bunter Astern zierte kontrastreich die Mitte des Tisches.
Daneben, auf dem kleinen Beistelltischchen thronte die große Glasschale mit der Pfirsichbowle. Charlotte, ihre Mutter, hatte zwei Dosen eingelegte Pfirsiche spendiert, die es doch so schwer zu kaufen gab.
Selbstverständlich hatte sich die Mama genauso viele Gedanken um den Geburtstag ihrer Tochter gemacht. Ein besonderer Anlass erfordert eben solche Maßnahmen, erst recht, wenn es darum ging, dass ihre Tina nun erwachsen sein sollte, zumindest auf dem Kalender. Sie hatte Tina bei den Vorbereitungen für ihre Feier geholfen, wo sie nur konnte, natürlich auch so einfühlsam, wie möglich, denn schließlich sollte Tina nicht das Gefühl haben, dass sie sich zu sehr einmischte. Man sah ihr an, dass sie sehr stolz war auf ihre Kinder, denn auch der fast zwei Jahre ältere Jan zeigte sich an diesem Abend von seiner nettesten Seite.
Bevor die Familie im Wohnzimmer Platz genommen hatte, checkte Tina das Buffet, anerkennend mit dem Kopf nickend, fand sie, dass es klasse aussähe. Ja, es konnte sich sehen lassen: Kleine Käsehäppchen auf bunten Plastikspießchen, Würstchen stapelten sich auf einem Teller, es gab fein mit Petersilie garnierten Kartoffelsalat. Cross gebratene Bouletten versteckten sich zwischen belegten Broten, verschiedene Salate boten einen knackigen Anblick und weil die Mischung so einen appetitlichen Geruch verströmte, hätte sie am liebsten sofort etwas genommen.
Doch die Klingel hielt das heißhungrige Mädchen im letzten Moment mit ihrem, „Rrrrrrrt“ davon ab, weshalb es zur Tür stürmte, um kurz darauf fröhlich: „Heidi“ in das Treppenhaus zu jubeln.
Von allen Freundinnen erschien ihre beste zuerst, für die Tinas Wohnung und ihre Familie bereits ein zweites Zuhause geworden war und was umgekehrt ebenso galt, wenn sie sich bei Heidi aufhielten. Beide wohnten schon genauso lange in dem Viertel und mittlerweile hatte Heidi ihren auffälligen Leipziger Dialekt abgelegt, aber oft lachten sie noch ausgelassen darüber und niemand konnte zum Beispiel so ausdrucksstark sagen wie sie: „Mir gommen aus Leibsch“, was bedeutete: Wir kommen aus Leipzig.
Herbert Schmied und Heidis Vater kannten sich ebenfalls, denn die Männer saßen manchmal zusammen im gleichen Zug und fuhren gemeinsam zur Arbeit. Das gehörte zum neuen Luxus der Zeit. Ein Zug, der eigens dazu eingesetzt war, die Frauen und Männer 1 von ihrer Wohn- zur Arbeitsstätte, dem Braunkohlen-Tagebau zu bringen oder in das Kraftwerk, nach Jänschwalde, wo die Braunkohle in Energie umgewandelt wurde. Nicht nur Heidi war damals aus einer anderen Stadt hierher gezogen. Aus allen Richtungen zogen Mitte der 70er-Jahre Leute hierher, an den Rand der Lausitz. Cottbus wuchs zu dieser Zeit in alle Himmelsrichtungen. Zur Bezirkshauptstadt 2 gekrönt, boomte die Stadt aufgrund der Kohlegewinnung im Tagebau und Energieerzeugung im Kraftwerk. Die Braunkohle, das schwarze Gold der Lausitz, ließ sie expandieren und so kamen Arbeitskräfte in die Region und allerlei Dialekte, mittlerweile waren die Fremden heimisch geworden, viele davon zu Bekannten und Freunden.
Merkwürdig, was ihr heute so durch den Kopf ging, während sie Heidi umarmte? Heidi legte ihre Jacke ab und lief hinter Tina ins Wohnzimmer, wo sie jedem die Hand reichte und nach der persönlichen Begrüßung charmant tönte: „Hallo miteinander, danke für die Einladung“. Nach einem prüfenden Blick auf die freien Stühle setzte sie sich sogleich neben ihren heimlichen Schwarm Jan. Diesen sanft mit dem Ellbogen anstupsend, lachte sie: „Na endlich, Tina ist erwachsen geworden oder sollte ich sagen achtzehn?“
Freudestrahlend bohrten sich die Grübchen auf ihren Wangen tief ins Gesicht, scheinbar nur, um ihr nettes Wesen zu unterstreichen. Alle Anwesenden wussten, dass sie selbst gerade erst vor ein paar Wochen diesen Geburtstag gefeiert hatte. Die Schmieds mochten die hübsche Heidi mit den schulterlangen braunen Haaren und ebenso dunklen Augen. Mit ihren 1,64 m war sie exakt einen Zentimeter kleiner als Tina.
Kurz darauf erschienen auch die anderen Freunde: Sylvie und Sabine, Thomas, Steffen, Anke und Andrea standen gleichzeitig mit leuchtenden Augen vor der Tür. Nur Sylvie machte einen etwas bedrückten Eindruck, den Tina in ihrer Freude und Aufregung jedoch gar nicht sofort wahrnahm. Warum aber war Jens nicht mitgekommen?
Doch da alle durcheinander redeten und sich ein munteres Stimmengewirr im Haus erhob, blieb Tina keine Zeit darüber nachzudenken, schließlich konnte es tausend Gründe dafür geben, dass er nicht in dieser Sekunde mit den anderen hier auftauchte. Während die Garderobe sich mit allerlei Jacken, Tüchern und Tüten füllte, schwirrten viele gutgemeinte Sprüche durch die Wohnung, wie: „Alles Gute“, bleib gesund,“ „mach weiter so, altes Haus,“ die von herzlichen Umarmungen begleitet wurden und dafür sorgten, dass sich die gute Laune im Nu verbreitete.
Während Tina die aufgekratzte Meute mit einem Seufzer der Art: „Ach, das ist schön, euch alle zu sehen“, ins Wohnzimmer bat, wunderte sie sich wiederum, dass Jens nicht zu entdecken war und fragte sich nun, ob das ein Anlass zur Sorge sei. Aber als gute Gastgeberin sprach sie stattdessen freundlich: „Nehmt Platz, setzt euch bitte hin“, womit Sylvie ihr Stichwort erhielt, die ansetzte, seine Geschichte zu erzählen. Woher sollte Tina auch wissen, dass sie schon den ganzen Nachmittag nervös war und nur auf die Gelegenheit wartete, endlich mit den anderen reden zu können. Wie aus einer Pistole schoss dann auch der Vorfall aus ihr heraus, dass ihr Jens in den Westen abgehauen wäre.
Autsch, ihr Bericht hatte wirklich gesessen. Ihre detaillierte Schilderung endete mit der dauerhaften Abwesenheit des davongelaufenen Freundes. Die Nachricht war so brisant für alle, die in diesem Zimmer versammelt waren, dass auch Tina nur mit größter Mühe aus ihren Gedanken an den Tisch zurück kehren konnte, zu ihrer Feier. Unter den Lebensumständen der hier feiernden Menschen 1984 in der DDR waren die verdutzten, ungläubigen Gesichter nach dieser Ankündigung gar nicht verwunderlich. Die Geschichte von Jens’ Flucht explodierte wie Dynamit in ihrer Mitte und als ob sich nach und nach der Rauch verzöge, fanden die Menschen nur zögernd zurück zu dem Anlass, aus dem sie gekommen waren und die Neuigkeit wollte erst noch verdaut werden.
Sabine war die erste, die ihre Sprache wiederfand. „Jens, ist echt in den Westen gegangen?“ „Das ist doch Quatsch“ mutmaßte Thomas. „Woher willst du das denn wissen?“. „Ausgerechnet Jens! Wer hätte das gedacht? Ich glaub’ das alles nicht“, redeten auf einmal alle durcheinander. Sollte er tatsächlich niemandem etwas erzählt haben, nicht einem der hier versammelten besten Freunde?
„Also Leute, lasst uns erst mal was essen; ich freue mich schon den ganzen Abend auf das Buffet.“ Nachdem sie noch eine Weile zugehört hatte, versuchte Tina jetzt mit lauter Stimme von Jens abzulenken und wie erhofft, standen die Feiernden auf und liefen nacheinander zur Küche. Das abwechslungsreiche Essen tat seine Wirkung, es half ein wenig, um den ersten Schock zu verwinden. Das schätzte auch Sylvie, die als Erste zugriff, um noch genüsslich kauend die Speisen zu loben und die Hausherrin hochleben zu lassen.
Nachdem dann auch die Bowle bis zur Hälfte geleert war und die Gäste alle Gerichte, Vorspeisen und Desserts ausgiebig lautstark gewürdigt hatten, gingen sie in Tinas Zimmer, denn es war an der Zeit gemütlich unter sich zu sein, ohne elterliche Aufsicht. Während Sylvie und Sabine auf dem Fußboden Platz nahmen, ließen sich Thomas, Anke und Andrea auf das niedrige Bett fallen, so wie das Geburtstagskind selbst.
Die bequeme Atmosphäre nutzend zog Thomas seine Anke kurzerhand an sich und stemmte spielerisch ihre Hüften in die Höhe, um zu tanzen. Anke, die sich nur zu gern auffordern ließ, zog den Freund an sich und gleich darauf wippten ihre Körper eng umschlungen zu „Born in the USA“ von Bruce Springsteen. Ihre Drehungen ließen seine gut trainierten Oberarme sehen und Hände, die tänzelnd über ihren Rücken wanderten, derweil die Tanzpartnerin das sichtlich genoss und ihren Kopf an seiner Brust rieb. Sehnsüchtig beobachtete Tina das schöne Paar, das so harmonisch der Welt in seinem Tanz entrückte, wie beneidenswert!
Doch ihre Laune sollte auf keinen Fall durch trübe Gedanken an ihr eigenes Liebesleben verdorben werden. Immerhin hatte sie es gerade erst geschafft, nicht mehr jeden Tag an ihre große Liebe Heiko denken zu müssen. Wenn der wüsste, wie sie gelitten hatte! Dieser Feigling hatte sich nicht mal getraut, ihr ins Gesicht zu sagen, dass er eine andere hatte. Wer weiß, wie lange das so gegangen wäre, wenn die ehrliche Andrea ihn nicht gesehen und ihr das berichtet hätte! Andrea hatte Heiko nämlich Arm in Arm mit einem Mädchen erspäht und ihr direkt davon erzählt!
Oh Gott, wie gemein und enttäuschend das alles war. Die Gute versuchte damals, ihr das irgendwie schonend beizubringen, aber es hatte nichts genützt. Die verletzte und voller Liebeskummer steckende Tina brauchte viele Wochen, um ein wenig über ihn hinwegzukommen. Ständig sah die Niedergeschlagene sein Gesicht vor sich und meinte, ihn am helllichten Tag zu erkennen, sie träumte überall von dem davongelaufenen Freund, in der Schule, in der Straßenbahn, beim Einkaufen. Weil das nie wieder passieren durfte, beschloss sie vor vier Monaten – denn so lange war das ungefähr her – lieber alleine zu bleiben. Doch der Entschluss half ihr nicht so wie angenommen, denn nur ganz schleppend tat es weniger weh. Aber heute erlaubte sie sich keine Wehmut und freute sich lieber mit den anderen.
„Tschschsch“ der Rekorder schaltete ab, weil die Kassette am Ende angelangt war, die eifrige Anke kramte aber schon eine neue hervor, um diese gleich einzuwerfen. Tina guckte sicherheitshalber ganz genau hin, weil ihr Jan den Recorder geliehen hatte, denn ihr alter war heruntergefallen. Klack, krach, wumm, da lag er auf dem Boden, leider gab es nichts mehr zu reparieren und das Ganze passierte nur fünf Tage vor ihrem Geburtstag!
Nun da war es mal wieder gut, einen großen Bruder zu haben, der ab und zu richtig nett sein konnte. Auch der großzügige Jan blickte jetzt wachsam in Richtung Musik.
Obwohl die Musik wieder anlief wollte nach dem kurzen Stopp niemand mehr tanzen, so dass es an der Zeit war, den selbstgemachten Apfelwein zu probieren, der schon ein paar Monate in einem riesigen bauchigen Glasballon in der Ecke zwischen Schrank und Fenster eigens für dieses Ereignis reifte.
Heidi und Jan übertrumpften sich dazu gegenseitig in ihren Kommentaren: „Man sieht der gut aus und diese intensive Farbe“, witzelte sie, mit Blick auf die blässlich gelbe Flüssigkeit, die so ganz das Gegenteil von intensiv darstellte. Jan nahm das Stichwort gerne auf und grinste: „Wirklich toll, die Idee mit dem Selbermachen, das zeigt richtige Frauenpower.“ Worauf Heidi einstieg: „Ja du hast Recht, das schmeckt man sicher auch.“ Bald tönten alle lautstark im Chor: „Aufmachen, aufmachen“, bis die Gastgeberin schließlich den Verschluss öffnete. „OK, aber wartet noch, ich hole frische Gläser.“ Nur einen Moment später stellte sie ein Tablett mit sauberen Gläsern ab, begann einzuschenken und befand sich in einem Hochgefühl der Begeisterung von dem sie sich wünschte, dass es ewig andauern würde. Nachdem alle Partyfreunde ein Getränk in der Hand hielten, war es für einen kurzen Moment still geworden, den jeder Einzelne zu genießen schien.
Doch als hätte sie genau darauf gewartet und ihre Chance darin gewittert, ließ sich Sylvie, ihr Glas hochreckend, vernehmen: „Auf Jens!“
Vielleicht war es die Ruhe, die ihre Worte hart und laut klingen ließen und es sah aus, als wäre sie über ihren Ton doch selbst erschrocken, jedoch war die sich zuspitzende Situation jetzt nicht mehr aufzuhalten.
Thomas schüttelte entrüstet den Kopf: „Ich fasse es nicht.“ Seine Stimme stand der von Sylvie an Entschlossenheit nichts nach und zugleich sprach sein strenger Blick Bände: „Ich trinke nicht mehr auf Jens und zwar nie wieder, der hat doch nicht alle Tassen im Schrank, so etwas zu machen!“ Peng, der Satz klang nicht weniger drastisch als der Spruch von Sylvie, während seine Augen fast bösartig in ihre Richtung funkelten. Thomas hielt also auch absolut gar nichts von Jens’ Flucht, stellte Tina fest, ihm innerlich zustimmend, zögerte dabei allerdings noch, sich einzumischen.
Ganz im Gegensatz zu Heidi, die heftig aufbrausend einwarf: „Er hätte ruhig irgendwann andeuten können, warum er uns so im Stich lassen will. Mal unter uns, vielleicht hat er Verwandtschaft im Westen, die ihm fehlt und wenn er brav einen Ausreiseantrag gestellt hätte, wer weiß, vielleicht hätte ihn die Staatssicherheit in den Jugendvollzug gesteckt, das ist doch alles schon dagewesen.“
Das schien Steffens Stichwort zu sein, der aufgebracht den Kopf zu ihr drehte und sich ereiferte: „Bist du verrückt, wenn Jens den Mund vorher aufgemacht hätte, wärst du jetzt dran, als Fluchthelfer oder Mitwisser jedenfalls. Was meinst du, welche Konsequenzen das hat, du könntest dafür in den Knast gehen oder man steckt dich ins Heim! Nee, im Grunde hat er uns geschützt, indem er nichts gesagt hat.“
Wollte sich Steffen jetzt für Jens einsetzen? Wer das eben noch dachte, unterlag einem tiefen Irrtum, denn im Nu verhärteten sich die Fronten, als der Freund unbeirrt hinzu fügte: „Dass er überhaupt gegangen ist, es ist nicht zu fassen!“
„Na was denn“, meinte Heidi, die sich von ihm nicht so schnell beeindrucken ließ: „Die Welt möchte ich mir auch mal ansehen und solange ich in unserer Deutschen Demokratischen Republik lebe, geht das einfach nicht.“ Tina beobachtete ein zustimmendes Nicken von Andrea, es war ihr bekannt, dass ihre Familie selbst Freunde im Westen hatte und im Kreise der Lieben manchmal über die DDR-Politik gemeckert wurde.
Als ob die eben noch so heitere Stimmung der Jugendlichen gar nicht dagewesen wäre, entstand von einer Minute auf die andere zwischen ihnen ein tiefer Graben, in den die einen scheinbar hineinspringen wollten, die anderen das aber gänzlich ablehnten. Auf betretenen erhitzten Gesichtern spiegelte sich der süßlich und scheußlich schmeckende Apfelwein passend zur Stimmung und Unschlüssigkeit über den weiteren Verlauf des Abends machte sich breit.
Das Geburtstagskind fasste sich und erhob sein Glas: „Lasst uns auf die Freundschaft trinken“. Tina lag noch etwas auf der Zunge, doch sie schluckte es runter und dachte nur für sich wie schön es wäre, unbeschwert auf Reisen gehen zu können wohin man wollte. Gleichzeitig war sie sich sehr sicher, dass es keine Lösung wäre, dafür abzuhauen.
Natürlich konnte ihr netter Versuch mit dem Trinkspruch die Jugendlichen nicht aufhalten, ihre Meinung zu sagen.
„Wer weiß, was für Gründe er wirklich hatte,“ mischte sich Andrea in die Diskussion: „Es gibt hier im Land Leute, die Berufsverbot haben, weil sie irgendwas zu laut kritisierten oder keine Karriere machen, denn sie sind nicht in der Partei oder noch schlimmer, die Menschen werden eingesperrt, nachdem sie offen etwas beanstandeten, was nicht den Leitlinien der Partei entspricht.“
„Ganz genau!“ stimmte Sylvie zu und erinnerte noch einmal daran, dass er viel Glück hatte, weil er lebendig die Grenze passiert, nicht auf der Flucht erschossen wurde oder auf dem Mauerstreifen verblutete wie in den schlimmsten Fällen von DDR-Flucht geschehen. Doch seine Lebendigkeit half ihr nicht die Leere zu füllen, die er hinterlassen hatte. Darüber hinaus brachte man ihr offensichtlich zu wenig Anteilnahme an Jens’ Geschick entgegen. Der eine Satz von Andrea und das bisschen, was Heike über Reisefreiheit erzählt hatte reichten der entnervten Sylvie überhaupt nicht: „Trinkt doch, auf wen ihr wollt, aber ohne mich“, ließ sie feindselig ihre Bemerkung fallen und drehte sich mit feuerrotem Gesicht zur Tür, um nach draußen zu stürzen. Noch rasch ihre Jacke schnappend, stürmte die Wütende aus dem Haus, ohne auf Wiedersehen zu sagen.
„Wumm“, die Wohnungstür knallte zu, als ob diese Sylvies Empörung unterstreichen wollte.
Systeme im Kopf
Das Schweigen nach Sylvies theatralischem Abgang, die Erstauntheit in den Gesichtern der vorher durch den Streit erhitzten Gemüter und der kurze Moment, in dem die Tür ins Schloss fiel, das war das erste woran Tina heute Morgen dachte. Ein gähnendes Geschöpf räkelte sich da in dem Bett, während es seine Gedanken zu ordnen versuchte, die Sonne noch gar nicht wahrnehmend, die an diesem Septembermorgen des Jahres 1984 durch das Fenster in das kleine Zimmer strahlte.
Das Sonnenlicht schien in das Zimmer eines Plattenbaus, ein fünfgeschossiger schmutzig beigefarbener Häuserblock mit vielen Aufgängen. Wie der zweite Schenkel eines U, grenzte das Haus im rechten Winkel an die anderen Wohnblöcke dieses Neubauviertels der Stadt. Es gab gleich mehrerer solcher Viertel in Cottbus, der Stadt, in der sie seit vielen Jahren lebte.3
Der Wecker auf der Ablage über ihrem Bett zeigte bereits 11.10 Uhr, doch das registrierte sie gerade nicht. Die Geburtstagsfeier gestern war ja nicht irgendeine Feier, sondern eine ganz besondere, ihr achtzehnter Geburtstag! Wie lange hatte sie sich auf diesen Tag gefreut. Die Menschen, die in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielten, waren fast alle zu ihr gekommen, bis auf Jens, der vorher auch zu den wichtigen Leuten zählte. Doch das war einmal, es war aus und vorbei, denn jetzt ist er weg. Weil er abhauen musste, weglaufen aus dem Osten, mitten hinein in den Westen, würde er für sie unsichtbar bleiben bis in alle Ewigkeit.
Sylvie hatte nicht nur sie echt mit der Story überrascht, sondern auch ihre Freunde, die sich natürlich alle fragten, woher ihre Information überhaupt stammte. Auch das war eine kleine Sensation. Er verfasste einen Brief und schickte diesen an Bekannte nach Ungarn, von wo aus die Leute den Brief wiederum weiterleiteten. Obwohl das fast unglaublich schien, hatte es funktioniert! Denn „normale“ Post aus dem Westen wurde kontrolliert, das wussten sie. Die Freunde waren sich sehr sicher, dass ein Brief, in dem jemand seinen Fluchtweg von Ostberlin nach Westberlin beschreibt, seinen Empfänger garantiert nicht erreicht hätte, denn dafür sorgte die Staatssicherheit.
Umso toller war es, dass Sylvie ihn bekommen hatte, die ansonsten vielleicht immer noch keine nähere Kenntnis von seinem Verschwinden hätte, denn Jens hatte wirklich überhaupt niemanden in seinen Plan eingeweiht, auch nicht seine Sylvie. Obwohl die beiden so oft zusammen waren, dass alle dachten, sie wären ein unzertrennliches Liebespaar, welches einfach alles miteinander teilt, erst recht große Sorgen.
Andrea war es gestern gelungen, den Rest der Feier zu retten: „Jetzt lasst doch erst mal.“ Leise, aber nachdrücklich redend, hielt sie Tina fest, die hinterherlaufen wollte und beendete ihre kleine Predigt mit den Worten: „Die fängt sich schon wieder,“ wobei sie ihr Glas erhob: „Komm, wir trinken auf dich und deine achtzehn Lenze und auf dass wir uns unsere Freundschaft erhalten, das ist doch klar,“ woraufhin sich alle zuprosteten.
Während Heidi die Musik lauter drehte, reichte auch Tina ihr Glas herüber, einsehend, dass sie Recht hat und wie so oft ein echtes Gespür für die Situation. Das musste man ihr lassen. Niemand wollte danach noch über Jens oder Sylvie reden, zumindest nicht an diesem Abend, und eigentlich war sich der Rest doch einig darin, es nicht gut zu finden, Jens was da gemacht hatte, oder sah sie das falsch? Zugegeben, sie wusste gar nicht richtig, wie Sylvie zu der ganzen Angelegenheit stand, abgesehen davon, dass ihre Eitelkeit verletzt war. Wie fand die Freundin die Sache an sich und was war mit den anderen genau?
Weil pausenlos Gedankenblitze durch ihren Kopf schwirrten, fühlte sich die enttäuschte Tina wie von einer eiskalten Dusche getroffen. Da hatten die jungen Leute so viele Dinge gemeinsam unternommen, bedeutete das gar nichts? Wo blieb denn die Gemeinschaft und von wegen, die Clique stünde fest zusammen, das war doch alles reines „bla, bla“, wenn sich einer auf diese Art und Weise abseilte und davon stahl. War ihnen Jens so wenig bekannt? Wurde nicht immer alles erzählt? Warum ausgerechnet er, was gab es an seinem Leben auszusetzen?
Tina kannte aus vielen Diskussionen die Kritik der Menschen an der Politik der Regierung der DDR. Erst vor kurzem hatte sie gemeinsam mit ihren Klassenkameradinnen festgestellt, wie mies es war, dass Erich Honecker, der Vorsitzende des Staatsrates und Oberhaupt der DDR, einen geplanten Besuch in der Bundesrepublik Deutschland abgesagt hatte. Statt miteinander zu reden!
Die Unzufriedenheit der Bürger in der DDR insgesamt nahm scheinbar zu, was nicht in Zahlen auszudrücken war. Vielleicht empfand Tina es unbewusst, denn aus ihrer Art zu leben ging kein gesellschaftlicher Protest hervor. Sie glaubte, dass sich viele Dinge einfach ändern werden, jetzt oder später und dass man mit legalen Mitteln kämpfen könnte!
Denn im Großen und Ganzen lebte das Mädchen gerne hier in seiner Heimat, der DDR. Niemand musste hungern, obwohl manche Menschen im Westen genau das zu denken schienen. Hatte nicht auch Anne, die Klassenkameradin, erzählt, dass ihre „Westverwandtschaft“ neben den abgetragenen Klamotten ihrer Cousine auch immer wieder Schokolade schickte und die gute Salami?
Oder war Jens etwa doch zu beneiden, der sich traute abzuhauen? Mal richtig was erleben, wie wäre das? Sie könnte ebenfalls nach Westdeutschland fliehen und gerade weil sie erwachsen war, dürfte ihrer Familie nichts passieren, oder? Würden ihre Eltern dafür ins Gefängnis müssen? Nein, das schien ihr nicht glaubhaft, aber Sicherheit gab es keine. Ihr ostdeutsches Herz klopfte bereits bis zum Hals vor Aufregung, obwohl sie nur an diese Sachen dachte und ihr waren durchaus Geschichten von geglückten Fluchtversuchen zu Ohren gekommen. Nein, nein, das kam für ihr eigenes Leben nicht in Frage.
Außerdem, wen kennt sie denn schon, dort? Naja, Jens immerhin jetzt und natürlich Tante Martha, aber das waren nur ganze zwei Leute! Trotzdem, wie herrlich wäre es, alles kaufen zu können, sagte sie sich, dabei an Südfrüchte denkend, nicht an Brot oder Wurst, was ja immer preiswert vorhanden war. Es musste ein himmelweiter Unterschied sein, zwischen dem Einkaufserlebnis in der DDR und dem im Westen, soviel war ihr klar, auch wenn sie als achtzehnjährige im Sozialismus lebend noch keine Ahnung von Marketing und Werbung hatte. Ihr Kaufverhalten war davon wenig beeinflusst, denn wo hätte solch ein Einfluss auch herkommen sollen.
In ihrer Welt waren bestimmte Artikel rationiert, zum Beispiel Apfelsinen oder Wassermelonen. Wenn es dergleichen überhaupt gab, musste man immer anstehen oder, was noch schlimmer war, ab und zu nach Berlin fahren, um dort zwar ebenfalls lange Warteschlangen über sich ergehen zu lassen, aber immerhin größere Chancen auf die begehrten Artikel zu haben. Denn Ostberlin wurde als Hauptstadt der DDR und Aushängeschild für Touristen immer noch besser beliefert als andere Orte.
Natürlich entstand aus solchem Geschehen der Traum von einer Welt, in welcher der tägliche Konsum zum paradiesischen Erlebnis mutiert. Tina geriet ins Schwärmen und stellte sich vor, nach Lust und Laune alles zu bekommen, was das Herz einer Achtzehnjährigen begehrte.
Ein kurzer Blick auf ihren Schrank reichte, um an tolle Klamotten zu denken. Ach was, nein mit ihren Sachen wollte sich die junge Dame nicht verstecken müssen. Woran haperte es denn, was versäumte oder vermisste sie und war der ganze Kram wirklich so wichtig, die fehlende Produkte und Stoffe?
Musik-Kassetten, ja und Schallplatten waren ebenfalls echte Raritäten, es gab ihrer Meinung nach nur den üblichen zensierten Ramsch. In einer westdeutschen Disko war der Sound sicher echt und authentisch, was ihr wirklich gut gefallen würde. Bestimmt könnte der DJ das auflegen, was er wollte und musste nicht eine beknackte Quote einhalten. Nein, er war nicht gezwungen, so und so viel Lieder aus dem eigenen Land aufzulegen, so wie das in ihrer Heimat vorgeschrieben wurde.
Sie schmiegte sich noch mal an ihr Kopfkissen und zog die Bettdecke hoch, doch nicht um sich unter ihr zu verkriechen, sondern um alles was mit ihr passierte, woran sie dachte und was sie erlebte, festzuhalten. Ach wie herrlich war es, so gemütlich liegend vor sich hin zu träumen und zu wissen, dass mit Achtzehn alles vorstellbar ist, tausend Dinge passieren können und alle Schwärmereien in Erfüllung gehen. Gab es eigentlich noch etwas, das ihr besonders fehlte? Verreisen, ja das müsste sein, am liebsten um die ganze Welt, einmal rundherum um den Globus, was entzückend und überaus erfreulich wäre, gleichwohl blieb es leider ein nur ein Traum in diesem Moment.
War es denn so eine Vorstellung, mit der sie leben konnte, ein Reiseziel, ein Fernweh, das vielleicht irgendwann gestillt werden könnte und wenn nicht, wäre das eine Katastrophe? Was zählte im Leben wirklich? Sind es nicht die vertrauten Freunde und die guten Bekannten, die wichtig sind, weil man sich auf diese im entscheidenden Moment verlassen kann? Alle lebten hier, in ihrer Heimat, ihre Schule wartete und wollte beendet werden, eine sichere Arbeitsstelle sollte folgen.
Im Westen dagegen herrschte unfairer Kapitalismus, denn immer wieder war zu hören, dass dort längst nicht jeder Mensch eine Arbeit fand. Die Regierung ließ aufrüsten und die wenigen Kapitalisten beherrschten die Wirtschaft durch Ausbeutung der restlichen Masse der Bevölkerung.
In der Bundesrepublik Deutschland waltete ein sehr ungerechtes, menschenfeindliches System, davon war sie felsenfest überzeugt. Es war das Bild, welches Tina von Westdeutschland hatte und auch vom Rest der kapitalistischen Welt. Es wurde ihr in der Schule vermittelt und durch zensierte Medien, so hatte sie es gelernt, gehört, gelesen und ihre bescheidenen Schlüsse daraus gezogen. Tatsächlich kannte die Abiturientin diese andere Welt nicht.
In ihren Augen war das System des Sozialismus richtig, in dem Menschlichkeit und Frieden großgeschrieben wurden.
All das müsste nur richtig gelebt werden, dann könnte es auch besser laufen, wobei es nicht nur um die fehlenden Reisemöglichkeiten ging. Warum gab es zum Beispiel manche Dinge nicht in den eigenen Läden zu kaufen, obwohl man diese in der DDR herstellte? Die Regierung ließ die Produkte in den Westen verkaufen! Wer sollte das verstehen? Deshalb gingen die Leute auf die Barrikaden! Aber waren das Gründe wegzulaufen? Nein! Sie fühlte sich so sehr von Jens verraten und im Stich gelassen, dass sie wünschte er solle doch bleiben, wo der Pfeffer wächst.
All diese Gedanken irritierten Tina aber mehr, als diese sich eingestehen wollte und so versuchte sie sich mit einem klugen Spruch ihres Vaters zu beruhigen: „Denk nach vorn“, das hatte er ihr schon so oft gesagt oder: „Du wirst noch sehen, wozu es gut war.“
Wie jedes Kind hatte sie sich immer vorgestellt, irgendwann erwachsen zu sein und dann vieles anders zu machen und jetzt sollte es endlich losgehen. Doch womit genau wollte Tina anfangen, was erhoffte sich diese Persönlichkeit von ihrer Zukunft, in welche Richtung sollte ihr Traumschiff denn steuern? Erstens würde das Abi erfolgreich beendet, damit gab es kein Problem, aber was sollte danach studiert werden? Was wäre mit einer eigenen Familie, wie könnte ihr Leben aussehen und wo sollte es stattfinden?
Weil sie mit dem heutigen Lebensgefühl Berge versetzen konnte, streckte sich die junge Dame, um gleich darauf aufzuspringen und die letzte Müdigkeit zu verscheuchen, mitsamt allen Fragen, auf die sie im Moment keine Antworten wusste.
Das nächtliche Feiern, noch dazu auf der eigenen Party und wenig Schlaf machten einer Achtzehnjährigen gar nichts aus. Eine starke Person stand da vor dem Kleiderschrank und massierte sich ihre Schläfen, die ein wenig pochten und einen klitzekleinen Kopfschmerz verursachten, der heute aber keine Beachtung fand. Mit einer kecken Bewegung strich sie sich ihre braunen Locken aus der Stirn. Ein herrlicher Tag war dieser Sonntagmorgen, der den Sonnenschein durch das Fenster ein goldenes Band auf ihr Bett malen ließ.
Logischerweise konnte auch ein achtzehnter Ehrentag eine Jugendliche nicht von heute auf morgen erwachsen werden lassen. Trotzdem murmelte die Gute vor sich hin: „Ich bin erwachsen, erwachsen, erwachsen und versuchte, dem Hall ihrer Stimme zu lauschen. Wie hörte sich das an? Ihre Kleidungsstücke kritisch beäugend hörte sie ein Klopfen an der Tür: „Bist du wach, junge Frau?“, fragte Charlotte ihre Tochter scherzhaft durch die halbgeöffnete Tür.
Dass diese gerade noch so mittelschweren Gedanken über das Leben, über das geteilte Deutschland und ihre Zukunft nachhing, davon ahnte die Mutter nichts, die das nicht einmal verwunderlich gefunden hätte. Die Schmieds waren eine sehr aufgeschlossene Familie, in der viel diskutiert wurde, auch kontrovers natürlich. Charlotte und ihr Mann waren beruflich sehr stark engagiert, wozu selbstverständlich das Interesse für die Politik in ihrem Lande gehörte.
Nur ein wenig Wehmut spürte Charlotte, in diesem Moment die Tochter betrachtend, die sich gewiss nicht schlüssig war, welche Kleidung sich für heute eignete. Ihre Tina, die doch gerade noch so klein gewesen war, sollte bereits so alt sein? Es schien ihr, als wäre die Familie erst vor Kurzem hier eingezogen. Tina kam zu dieser Zeit in die siebente und ihr Jan in die neunte Klasse. Die beiden hatten in den verbleibenden Ferientagen kaum Zeit gehabt, sich an das neue Leben zu gewöhnen, als vor ihnen der erste Schultag lag in der neu erbauten Schule, die den Namen Wladimir Iljitsch Lenin trug. Wie quirlig die Geschwister an diesem Morgen im Flur hin und her trippelten! Charlotte sah sie faktisch vor sich, als wäre es gestern gewesen.
Sie, die ihren Kindern an dem Tag sogar Brote für die Schule machte, obwohl die Sprösslinge das längst selbst konnten, war mindestens ebenso aufgeregt. Bei ihr hatte sich nichts geändert; die Mutter arbeitete trotz Umzugs weiterhin an ihrer alten Schule. Natürlich fieberte die Pädagogin heute mit ihren Sprösslingen mit und versuchte, das Ereignis kleiner zu reden, um ihnen Mut zu machen: „Kinder, denkt daran, diesmal ist es für alle Schüler ein Neuanfang, demzufolge gibt es noch keine „alten“ Klassen, weswegen euch nichts Besseres passieren kann.“ Ihre Stimme ließ keinen Zweifel an der felsenfesten Überzeugung, dass ihre Kinder es auch diesmal schafften und dass sich der Nachwuchs darum überhaupt keine Sorgen machte wurde ihr in diesem Moment klar.
Das Frühstück überreichend umarmte sie liebevoll zuerst Tina, die gerade herummäkelte, weil Jan so lange auf sich warten ließ. „Mann ja, geh doch schon vor“, tönte es aus dem Flur zurück. Jan schnürte sich umständlich und extra langsam die Bänder seiner neuen Salamander-Schuhe zu, die Charlotte und Herbert ihm für diesen Anlass spendiert hatten.
Jan war schon ein junger Mann, der sich sorgfältig seine ersten Bartstoppeln rasierte und der es gerade noch ertrug, dass seine Mutter ihm als Liebesbeweis auf die Schultern klopfte. Dementsprechend erschien es ihm reichlich albern, den Aufpasser für seine kleine Schwester zu spielen. Er hoffte inständig, dass recht viele Kinder zur Schule unterwegs wären und es in der Masse nicht auffallen würde, dass seine Schwester nebenher lief. Nicht, dass er diese nicht mochte, nein, aber seinem Alter entsprechend fühlte er sich gerade nicht zum Kindermädchen berufen. Was Charlotte ebenfalls nicht wusste war, dass er sich fragte, ob die hübsche, schwarzhaarige Karin auch schon unterwegs sei.
„Wo ist nur die Zeit geblieben“, seufzte die Mama ihren Gedankenausflug abschließend, halb trübsinnig, halb freudestrahlend weil ihr klar war, dass Tina in Bezug auf die Schule ein pflegeleichtes Kind gewesen ist, welches kaum Schwierigkeiten gemacht hatte.
Erst gestern sagte sie etwas Ähnliches zu ihrem Mann, der seine Frau daraufhin in seiner warmen Art umarmte und bestätigend nickte: „Ja, du hast Recht, schließlich ist sie unsere Tochter!“ Jetzt machte das große Mädchen schon Abitur und musste schon lange nicht mehr von ihr geweckt werden.
„Komm heraus aus deiner Höhle“, rief Charlotte, die bereits wieder auf dem Weg in die Küche war, ihrer Tochter dennoch laut zu: „Gerade erst erwachsen geworden und schon so ein Langschläfer.“ Indessen lag da kein Vorwurf in der Stimme der Mutter, es war dieses Gemisch aus mütterlicher Fürsorge und einer kleinen gewohnheitsmäßigen Strenge. Die Tochter hatte ein Anrecht darauf, länger zu schlafen, heute sowieso und Charlotte Schmied gönnte ihr das sehr wohl.
Tina, die sich währenddessen für ein sportliches Outfit entschied, versuchte sich den gestrigen Abend genau in Erinnerung zu rufen. Es war ihr äußerst wichtig, die Feier für die Zukunft in ihrem Gedächtnis zu konservieren und kein einziges Detail zu übersehen oder zu vergessen. Eilig lief sie in die Küche, denn der erste Tag, an dem man erwachsen war, musste ohne Zweifel ein ganz herausragender Tag werden.
Entschlossen, einen Weg zu finden und etwas verändern zu können, gerade weil sie im Osten lebte, wusste die Abiturientin, dass ihr dazu nur noch eins fehlte: Der richtige Studienplatz musste her. Entscheide dich für ein Studienfach, Tina!
Doch so sehr sie sich jetzt darauf konzentrierte, war es nicht zu schaffen, ihre Gefühle abzuschalten.
Tief in ihrem Herzen sehnte sich die Einsame nach einem Freund, einem echten jungen Mann, mit dem sie ihr Leben teilen könnte, ihre Gedanken und Gefühle, einer, der ähnliche Interessen hätte und ihr treu bleiben würde.
Geschenk aus dem Westen
Da ratterte die Klingel an der Wohnungstür. „Ich gehe schon“, rief das Mädchen aufgeregt in die Wohnung und schloss im Laufen noch den Reißverschluss seiner Hose. Neugierig öffnend freute es sich sogleich riesig, obwohl kein Traumprinz vor der Tür stand.
„Oma“ erschallte ein Jubelschrei: „Komm doch bitte rein!“ Die herzensgute alte Dame hatte angekündigt, die jungen Leute nicht beim Feiern stören zu wollen und besuchte Tina deswegen erst heute Mittag.
Zum Jubiläum ihrer Enkelin hatte die Oma namens Else sich extra schick gemacht und war dafür heute sehr früh aufgestanden. So schaffte sie es, zum Frisör zu gehen und mit ihrem roten Kleid mit dem schwarzen schmalen Gürtel pünktlich einzutreffen. Ihre Füße steckten in ihren geliebten bequemen weißen Turnschuhen, die sie zuverlässig nach einer dreißigminütigen Straßenbahnfahrt zu ihrer Enkelin getragen hatten. Derart prächtig für diesen Anlass ausgestattet, sah man der Oma ihre sechsundsechzig Jahre nicht gleich an.
Else, die immer ein wenig zu streng nach ihrem Tosca-Parfüm roch, hatte sich ihrerseits sehr auf die Begegnung mit ihrer Enkeltochter gefreut, weswegen die Begrüßung der restlichen Familienmitglieder nur kurz ausfiel und die von Tina dafür umso länger dauerte, denn das Herzen und Küssen nahm gar kein Ende.
„Meine Liebe“, hörte die Enkelin nun die elegante Oma nach einer langen Umarmung mit etwas zittriger Stimme sagen: „Ich weiß noch, wie ich mit dir Schule spielen musste!“ Es blieb zu befürchten, dass jetzt eine längere Rede über irgendwelche alten Kamellen käme, aber das tat ihr die Oma doch nicht an. „Jetzt bist du schon so groß, erwachsen, ach Gott. Jaja, aber damals warst du noch ein Kind!“ Dann lachte und weinte Else zugleich ein bisschen, um dabei aus ihrer alten, schon etwas abgewetzten braunen Handtasche einen Umschlag hervor zu kramen, der Tina überreicht wurde, deren sehnlichsten Wunsch kennend. Ein neuer Kassettenrecorder sollte her. Die Beschenkte war gerührt und fühlte, dass auch ihre Augen feucht wurden, eine Träne kullerte langsam übers Gesicht und schmeckte salzig auf ihren Lippen. Mit etwas Glück sollten alle überreichten Umschläge zusammen den benötigten Betrag erbringen. Ob das Geld reichen würde? Heute Abend sollte nachgezählt werden.
Mit geheimnisvoller Miene überreichte die Oma ihr später noch ein kleines Päckchen. „Mit den besten Grüßen von Tante Martha“, sagte sie augenzwinkernd. Während das Geschenk gespannt ausgewickelt wurde, fühlte Tina ganz genau den Stich in ihrem Herzen, wie immer, wenn es um die besagte Tante ging. Unter dem glänzenden Silberpapier kam eine Musikkassette zum Vorschein: „Wirklich schade, dass Tante Martha nicht hier sein kann“, entfuhr es ihr bei aller Freude über das Geschenk. Es war einmal mehr unerträglich, dass die Tante noch nicht einmal an einem so wichtigen Geburtstag persönlich da sein konnte, bei ihr, so wie die Freunde und die Familie!
„Wow“, sie blickte entzückt auf die kleine Box, welche nun in ihren Händen lag: „Von Smokie, das ist definitiv Spitze.“ Spontan drückte sie die Oma anstelle der abwesenden Tante: „Damit kann ich richtig punkten!“ Die anderen werden Augen machen, jubelte sie innerlich, gleichzeitig wieder dieses Grummeln in ihrem Magen verspürend, so ein merkwürdiges nicht loslassendes Gefühl, welches sie immer mit der Tante verband. Ein tolles Geschenk, ja, aber gleichzeitig tat es so weh. Die Tante bereitete ihr wirklich großen Kummer, mit dem die Arme schlecht umzugehen wusste. Vielleicht wäre ein „brennendes Herz“ der richtige Ausdruck dafür, denn so schön das Präsent war, ebenso so viel Qualen bereitete es ihr im selben Moment.
Zum Glück kam Ablenkung aus der Küche, denn es duftete in der Zwischenzeit intensiv nach einem knusprigen braunen Kasslerbraten. So setzte sich das Mädchen in Bewegung, um ihrer Mutter beim Tischdecken zu helfen und um die schweren Gedanken an die Tante zu verscheuchen.
Im Wohnzimmer angelangt blieb ihr nur festzustellen, wie tief sie wohl doch vor sich hin geträumt hatte, denn der Tisch war bereits gedeckt und Charlotte verteilte das Fleisch. Tina langte hungrig zu und schickte sich an, ihrerseits mit einem großen Löffel das dampfende Sauerkraut anzubieten. „Herrlich“, lobte Herbert das Essen und fand, wie so oft, dass seine Charlotte die beste Köchin der Welt wäre. Voller Zustimmung nickend und in herzlicher Atmosphäre ließ es sich die Familie schmecken.
Während sich die Oma nach dem köstlichen Essen mit anschließendem Kaffeetrinken ihrem wohlverdienten Mittagsschlaf widmete und bevor es ihr zu Hause langweilig werden sollte, nahm sich Tina ihre Jacke von der Garderobe, um bei der Clique vorbeizuschauen. Mit einem „Tschüss Mutti, ich geh dann mal,“ schlürfte die junge Erwachsene nach draußen.
Ach wie herrlich schien es ihr da, wie frisch doch die Luft war, die man in tiefen Atemzügen einatmen musste. Der Herbst stand vor der Tür und die ersten Blätter fielen bereits von den Bäumen. Scheinbar trug der leichte Wind auch für diesen Moment all die Bedenken wegen Tante Martha fort und verschaffte ihr eine dringend benötigte Ablenkung, die sie dankbar noch an diesem Abend im Badezimmer verspürte, sich für die Nacht fertigmachend. Sowohl ihr Körper als auch ihr Geist verlangten spürbar eine Atempause und während sich alle Aufregung von dem Wochenende ganz langsam legte, kam die behagliche Empfindung zurück, dass doch eigentlich alles läuft!
Einen Teil ihrer dreijährigen Berufsausbildung mit Abitur hatte die fleißige Schülerin bereits mit guten Noten hinter sich gebracht. Der Rest schien nur noch ein kleiner Klacks zu sein.
Dass sie diesen Abi-Platz bekommen hatte, das war schon toll. Charlotte und Herbert waren, wie es normal ist für mitfühlende Eltern, damals sehr stolz auf ihre Leistung. Nur ganze drei Schüler ihrer Klasse hatten es wegen ihrer guten Noten geschafft, nach der 10. Klasse einen Abiturplatz zu erhalten.
Eine Ausbildung mit Abitur zu haben ist gut und praktisch, fand sie, weil ihr das ermöglichen würde, arbeiten zu können, falls es mit einem Studium nicht klappen sollte.
Derart zufrieden für heute, verließ ein bettfertiges Mädchen das Bad mit frisch geputzten Zähnen, um ihrer Familie eine gute Nacht zu wünschen sowie anschließend in ihr Zimmer zu gehen, in dem immer noch ein bisschen Chaos herrschte. Aber was waren schon ein wenig Geschenkband, Papier und herumliegende Sachen gegen ihr bequemes Bett. Die erschöpfte Tina legte sich hinein und dachte noch, dass es Wahnsinn wäre, wenn ausgerechnet sie, als Kind des Sozialismus, jetzt alles hinschmeißen und womöglich in den Westen ausreisen würde, aber wegen der Tante müsste sich doch mal was unternehmen lassen?
1 In der DDR sprach man von „den Werktätigen“
2 Die DDR war territorial in 14 Bezirke aufgeteilt, mit je einer Bezirkshauptstadt, Kreisen, Städten und Gemeinden
3 Ihr Wohnviertel trug die Bezeichnung WK13 (für Wohnkomplex)