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2. TAG: PASAIA BIS SAN SEBASTIÁN

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Das Dreiuhr- und das Vieruhrklingeln sind mir entgangen. Ansonsten war die Kirchenglocke über den Dächern von Pasaia mein treuer Begleiter während der gesamten Nacht. Ich liebe Kirchen. Das kann auch diese Kirche mit ihrem Gebimmel nicht ändern.

Vor jedem Abenteuer suche ich am Aufbruchsort eine Kirche auf, setze mich in die dritte Reihe (ich habe am 03.03. Geburtstag), schließe die Augen und warte auf Worte oder Gedanken, die in mir aufsteigen. Meist breitet sich Friede in mir aus, häufig kommt Dankbarkeit für das Leben auf, das ich führen darf, und irgendwann entsteht ein Impuls, der sagt: »Jetzt kannst du gehen.« Dann verlasse ich die Kirche und bedanke mich bei ihr oder meinem Glauben, der keineswegs religiös ist.

In dieser ersten Nacht meines neuen Abenteuers hat mich diese verfluchte Kirchenglocke sicherlich zehnmal geweckt. Schon auf meiner Reise auf der Donau habe ich mich gefragt, was sich die christliche Kirche eigentlich einbildet, einen solchen Lärm zu veranstalten? Lieben wir nicht die Stille der Gotteshäuser? Die Heimeligkeit? Heiligkeit? Die Geborgenheit? Warum also dieser Lärm? Für wen hält sich diese Institution, dass sie jedes Dorf der christianisierten Welt beschallen muss? Noch dazu, um die Uhrzeit zu verkünden. Und das in einer Welt, die vor Hektik langsam verrücktspielt und sich längst von der Kirche abgewendet hat. Trotzdem bleibe ich bei meinem Ritual und danke dem Universum, das es mich in eine Welt mit einer gemäßigten Religion hineingeboren hat, in der ich öffentlich über diese schimpfen darf. Natürlich fragte ich mich in dieser Nacht, was ich hier eigentlich mache. Bin ich nicht langsam zu alt für solche Abenteuer? Doch ich wusste, dass zu einer solchen Tour auch Zweifel gehören. Sie sind wie ein Tunnel, den ich irgendwie durchqueren muss, ohne zu wissen, wie lang er ist und was mich auf der anderen Seite erwartet. Jedes Abenteuer ist ein Sprung ins Leere, in eine unbekannte Welt. Das Seltsame an mir und meinem Charakter ist, dass ich mich stets auf das Unbekannte freue.

Als die Entscheidung fiel, diese Pilgerreise wirklich zu machen, gab es kein Zurück mehr. Ich habe diese Entscheidung nicht anderen oder äußeren Umständen überlassen, sondern selbst getroffen. Alleine für mich – und erst viel später an die Konsequenzen gedacht. Nur so kann ich meine Abenteuer angehen: ich folge meinem Traum; und nicht den Träumen der anderen. Dann würde ich nämlich zu Hause bleiben. Neben dem Geläut hielt mich prasselnder Regen vom Schlafen ab. Keine unserer vielen Wetter-Apps hatte den angekündigt. Spaniens Wetter scheint nicht vorhersagbar zu sein – was mir für die zukünftigen Etappen Sorgen bereitet.

Diese ersten Stunden haben nichts mit einem kleinen, gemütlichen Paddelausflug zu tun. Vom Zelt kann ich die Biskaya sehen – sie sieht nach wie vor schwabbelig-kabbelig aus, und die Schaumkronen wirken von Weitem noch höher als gestern. (BILD 9) Das Wetter ist ebenfalls entgegen allen Vorhersagen katastrophal für unsere Paddeltour Richtung Westen. Heute warten bis zu 19 Knoten aus West auf uns – 35 km/h. Der Tag auf dem Wasser könnte noch schlimmer werden als der gestrige. Ein Abenteuer darf gern zwischendurch eine schreckliche Schinderei sein – aber doch nicht ausschließlich! Ich liege daher in meinem Zelt und weiß nicht weiter. Tausend Fragen steigen auf: Soll ich die Tour abbrechen? Gibt es vielleicht gute Gründe, dass noch nie jemand nach Santiago geSUPt ist? Wie komme ich aus dieser Situation heraus? Der Verlag wartet bis Ende August auf ein fertiges Manuskript. Eine Medienagentur wurde extra eingeschaltet, um die Tour und das im Oktober erscheinende Buch professionell zu promoten. Und ich trage mich mit dem Gedanken aufzuhören? Eine Nachricht meiner Freundin baut mich auf: harte Zeiten gehören dazu. Es kommen auch wunderbare Zeiten. Denk an dein Motto: Wünsche dir da zu sein, wo du bist. (BILD 10)

Ich schlafe noch einmal ein und wache vom prasselnden Regen auf meinem Zelt auf. Er scheint das schrille Kirchengeläut abzumildern. Ich weiß, dass irgendwann der Impuls kommen wird, der mir sagt, was zu tun ist. Gegen zehn weiß ich, dass das Meer wartet – egal wie es sich gebärdet. Ich wollte ein Abenteuer – jetzt habe ich mein Abenteuer.

Zum Frühstücken gehen wir runter ins Dorf. Die Sachen lassen wir im Zelt liegen, da sich bei diesem Wetter sowieso niemand auf unseren Hügel verirrt. In einem Café bemerke ich, dass der Plastikstuhl seltsame Hubbel hat – wer lässt sich so ein Design einfallen? Als ich nachschaue, sehe ich, dass der Stuhl vollkommen glatt ist und keinerlei Unebenheiten aufweist. Ich befühle meinen Hintern und stelle fest, dass meine Sitzbeinhöcker vom stundenlangen Sit-down-Paddeln geschwollen sind und sich unförmig anfühlen. Dann sehe ich Turtles Zehen unter dem Tisch hervorstehen: Vor allem die beiden zweiten und dritten Zehen sehen schlimm aus, denn dort hat sich eine weißliche Kruste auf den Wunden gebildet. Aufgrund des Salzwassers auf unserer Haut gibt es kaum eine Möglichkeit, dass Wunden vernünftig abheilen, da die Kruste immer wieder aufweicht. Wenn sich seine Zehen jedoch entzünden, dann ist unsere Tour definitiv beendet.

Auf dem Weg zum Hafen kommen wir an einem Souvenirladen vorbei, der die berühmten Jakobsmuscheln an langen Tampen hängend verkauft. Ich suche uns die zwei schönsten aus, und die Verkäuferin erklärt mir in perfektem Englisch, warum auf den Muscheln ein Kreuzritterzeichen aufgemalt ist. (BILD 12) »In der Zeit der Kreuzzüge war der Weg nach Jerusalem so unsicher geworden, dass sich Santiago zum wichtigsten Pilgerort der Christenheit entwickelte. Und um die Pilger zu beschützen, gründete sich der Santiagoorden, dessen rotes Kreuz bis heute neben der Jakobsmuschel das wichtigste Symbol des Camino ist.«

Bevor wir uns raus in das bekannte Inferno trauen, müssen wir Turtle unbedingt ein Kajakpaddel besorgen. Denn eine weitere Schicht auf Knien wäre sein Ende. Auf dem gegenüberliegenden Ufer befindet sich eine Kanuschule, die wir direkt ansteuern. Als Turtle fünf Minuten später jubelnd ein Paddel über dem Kopf schwenkt, ist klar, dass wir für weitere Etappen auch bei starkem Gegenwind gut gerüstet sind. Ein Kajaklehrer hat ihm das Paddel einfach geschenkt. Es würde seit Jahren nur rumliegen, und niemand wisse, wem es gehöre. Wäre ich gläubig, würde ich sagen, dass uns der Herrgott das Paddel geschenkt hat.

Um zwölf Uhr sind wir startklar und kämpfen gegen den Wind, der wie eine Düse durch die Bucht peitscht, raus auf die Biskaya. (BILD 11) Die See gebärdet sich wie eine betrogene Diva – sie tobt, spuckt, beißt und kratzt. Sie vermöbelt uns, drängt uns gegen die Wand, wirbelt uns durcheinander und scheint schier außer sich zu sein. Dieser Furie möchte ich nicht im Traum begegnen. Die See hat ihre eigene Sprache; eine ganz spezielle Intelligenz. Und nun tobt sie um mein Brett herum und scheint zu sagen, dass ich mich verpissen soll. Die Ansage ist so deutlich, dass ich mich entschließe, umzudrehen. Auf diese See gehört kein SUP. Ich schaue zu Turtle herüber – er paddelt etwa zehn Meter schräg hinter mir, lächelt ruhig und zufrieden, als freue er sich auf die heutige Etappe. Also sage ich lieber nichts und paddele stumpf im Schneidersitz weiter raus aufs Meer. Manchmal hasse ich meinen Stolz. In diesem Fall rettet er uns die Tour.

Zwischendurch kommen die Wellen günstig, und ich kann durch sie hindurchpaddeln wie beim Skilaufen auf einer Buckelpiste.

Dann habe ich das Gefühl, durch einen Wildwasserfluss ohne Strömung zu brettern, und wundere mich, dass ich nicht vom Brett fliege. Die Dünung ist heute mehr als zwei Meter hoch. Ich tröste mich damit, dass ich in den Wellentälern wenigstens keinen Gegenwind spüre. Nach einer halben Stunde habe ich mich langsam an dieses blubbernde Gequirle gewöhnt und Hoffnung keimt auf, diese Etappe doch noch zu schaffen. Allein wäre ich längst umgekehrt. Doch zu zweit ist das völlig anders: Wenn etwas passiert, ist immer noch jemand zur Rettung da. Wenn es nicht mehr weitergeht, ist immer noch Unterstützung da. Wenn Ängste aufsteigen, ist immer noch jemand zur Beruhigung da.

Turtle ist meine Rettung. Wir kennen uns seit mehr als 20 Jahren. Damals haben wir uns bei einem Dreh für SAT.1 kennengelernt. Er arbeitete als Kameramann für alle möglichen Actionformate weltweit und war einer dieser Typen, deren Coolness ich schon immer bewunderte. Ihn brachte nichts aus der Ruhe, er blieb auch in den stressigsten Momenten gelassen und freundlich und hatte immer ein Auge für die Menschen um ihn herum. Das hat sich nie geändert – vielleicht hat er diese Eigenschaften seitdem sogar noch kultiviert. Ihn in dieser See an meiner Seite zu haben, ist wie ein Geschenk. Vielleicht macht er mich sogar zu einem besseren Menschen.

Die Vorzeichen dieser Reise standen schlecht: Vor einer Woche sagte mir ein Freund ab, der mich mit seinem Wohnmobil auf dem Landweg begleiten wollte. Ihm sind die Auswirkungen seines überaus spirituellen Lebens in die Quere gekommen, denn er deutete auf den angerissenen Zahnriemen seines Pkw, finanzielle Engpässe und Beziehungsthemen als Zeichen des Universums, mich nicht zu begleiten. Ich frage mich, wo die Grenze zwischen Spiritualität und Aberglaube verläuft. Als mich sein Anruf erreichte, spürte ich eine drastische Veränderung meines Innenlebens – als schaltete mein Unterbewusstsein einen Gang höher. Ich war plötzlich wacher, nahm die Reise sehr viel ernster, beschäftigte mich intensiver mit den Wetterverhältnissen auf der Biskaya und plante meine Vorbereitungen mit einer Zuverlässigkeit, die mir sonst nicht zu eigen ist.

Körperlich wollte ich mich auf dieses Abenteuer durch SUP-Surfen in Frankreich vorbereiten. Zwischenzeitlich waren wir 17 norddeutsche Freundinnen und Freunde an einem Strand mit grandiosen Wellen in der Nähe von Biarritz und versuchten, mit den Kräften des Meeres zu spielen und auf den Brechern zu reiten. Ein besseres Training gibt es für mich nicht, denn das Wellenreiten auf einem SUP gleicht einer Fullpower-Ganzkörper-Trainingseinheit, die auch noch Spaß macht. Mir wuchsen Schwielen an den Händen, mein Körper gewöhnte sich an die harte Belastung im Salzwasser, mein Gleichgewichtsgefühl steigerte sich und meine Seele konnte sich langsam darauf einstellen, demnächst mehrere Wochen in diesem brausenden Element zu verbringen.

Eines Morgens paddelte Turtle dann zu mir ins Line-up. »Weißt du eigentlich, dass du mir schlaflose Nächte bereitest?« »Ich?«, fragte ich unschuldig und hatte Angst, er würde mir irgendetwas unterstellen oder vorwerfen – auch wenn dies überhaupt nicht seine Art ist. »Ja. Du.« Dann lachte er. »Ich überlege ernsthaft, dich auf deiner Tour zu begleiten.« Jetzt musste ich auch lachen. Natürlich hatte ich daran gedacht, ihn zu fragen. Aber ich wollte ihn nicht in Versuchung bringen. Er hat Frau und zwei Kinder, eine Eventagentur, ein Haus, Freunde, Hobbys. Es ist schwer, ihn loszueisen, denn er ist dazu noch bodenständig.

Vor Jahren wollte ich ihn überreden, mit mir über den Atlantik zu segeln. Aber er war damals zu eingebunden und bereut bis heute, dieses Abenteuer versäumt zu haben. Wäre er mitgekommen, hätte ich allerdings die Geschichte mit dem kotzenden nordkoreanischen Soldaten nicht erlebt. »Es wäre für mich das Größte, wenn du mitkämst«, sagte ich zu ihm, und einen Tag später sagte er zu. Er bekam mein Ersatzbrett, und das weitere Equipment kauften wir für 200 Euro bei Decathlon.

Nach drei Stunden sehen wir die Bucht von San Sebastián deutlich vor uns. Der Hexenmeister hat noch mal ein paar Kohlen ins Feuer geworfen und den Kessel richtig zum Blubbern gebracht. Die letzte Stunde bis in die hintere Bucht von San Sebastián kostet mehr Kraft als drei Stunden SUPen bei ruhigen Bedingungen. (BILD 14)

In der Bucht kommt uns ein Ruderer entgegen. Mir käme es fast unwürdig vor, rückwärts auf einem viel zu kleinen Schlitten zu sitzen, vor und zurück zu rutschen und sich wie Sklaven einer Galeere in die falsche Richtung zu bewegen. Für mich ist das SUPen ein natürlicher, evolutionärer Schritt der Fortbewegung auf dem Wasser. Endlich stehen wir aufrecht auf einem schwimmenden Gegenstand und können in der natürlichen Position des Homo sapiens vorwärtskommen. Es ist tatsächlich wie Gehen auf dem Wasser; nicht mit der Kraft der Beine, sondern der Arme. Ich kann mich im Stehen besser orientieren, weiter schauen und fühle mich in meiner Haltung natürlicher und fast ein bisschen erhaben. Kajakfahren und Rudern sind für mich somit überholte Sportarten – auch wenn sie schneller unterwegs sind als ich. Aber in einer postmodernen Welt kann es nicht mehr um Geschwindigkeit gehen. Es geht darum, aufrecht zu sein – in allen Lebenslagen.

In einem historischen Hafen am östlichen Ende von San Sebastián steuern wir auf eine Rampe zu, betreten die weltberühmte Stadt vom Wasser aus und werden gleich von einem Kajakfahrer begrüßt. Edu war früher Profi, hatte sich fast im Wildwasserkajak für Olympia qualifiziert, ist 3.500 Kilometer um die gesamte Iberische Halbinsel herumgepaddelt und erklärt sich sofort bereit, unsere Bretter über Nacht im Lager des örtlichen Clubs zu verstauen. Für diese Begegnung gehe ich auf Abenteuertour. Solche Typen lerne ich nur unterwegs kennen. Spannende, weltoffene Menschen, die sich über Erlebnisse freuen, hilfsbereit sind und den größten Teil ihres Tages lächelnd verbringen und fast immer in der Natur sind.

Es beruhigt mich sehr, dass Edu unsere Tour für machbar hält. Mutig, weil wir es gegen den Wind versuchen. Aber eine Pilgerreise geht nun mal in Richtung Pilgerort und nicht umgekehrt. Außerdem könnten wir im August Glück haben. Die Chance auf Ostwind liege bei 50 Prozent. In mir steigt die Hoffnung, dass wir diese Tour tatsächlich schaffen können. Wir sind viel zu kaputt, um uns San Sebastián anzuschauen. Dabei soll die Stadt eine der schönsten Hafenstädte Europas sein. Aber wir haben einfach keine Kraft mehr.

Später liegen Turtle und ich in einer kleinen Pension in der Altstadt von San Sebastián. Und schon nach zwei Tagen dieser Tour weiß ich die Vorzüge unserer zivilisierten Welt wieder zu schätzen. Eine warme Dusche, ein frisch bezogenes, weiches Bett, unzählige Restaurants vor der Haustür, Spanisch sprechende fröhliche Menschen auf der Straße, fremde Düfte, T-Shirt-Wetter abends um zehn und das Gefühl, irgendwo weit weg und doch ganz bei mir zu sein. Und gleichzeitig weiß ich, dass diese voll befriedigte Welt das Begehren zunichtemacht. Wer immer nur das Wasser aus dem Hahn trinkt, weiß nicht, dass das Wasser aus dem Brunnen ein paar 100 Meter entfernt besser schmeckt.

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