Читать книгу Pilgern mit Paddel - Timm Kruse - Страница 11
3. TAG: SAN SEBASTIÁN BIS GETARIA
ОглавлениеIn Spanien geht die Angst vor einer neuen Coronawelle um. Auch von Zuhause warnen mich Freunde und Familie. Seit heute müssen wir hier immer und überall Maske tragen. (BILD 14) Schon gestern wunderten wir uns, dass unsere Bretter desinfiziert wurden, bevor wir sie in den Schuppen des Ruderklubs legen durften. In Zarautz, einem möglichen Ziel für heute, wurde ein Campingplatz unter Quarantäne gestellt. Es könnte insgesamt ungemütlich für uns werden – auch an Land.
Während ich die heutige Strecke auf Google Maps checke, entdecke ich den Orio, einen Fluss, der südlich von San Sebastián nach Westen führt. Er mündet bei Oria, nur eine Bucht vor unserem heutigen Etappenziel. »Wenn das klappt, küss ich dir die Stirn«, sagt Turtle, als ich ihm von der Flussidee erzähle. Wir können uns heute beide nicht vorstellen, wieder in dieser tosenden Suppe da draußen zu paddeln. Die Frage ist nur: Wie kommen wir zu dem Fluss?
Da Turtle wegen seiner Rückenprobleme morgens immer Yoga macht, entscheide ich mich, die Bretter aus dem Kanuschuppen zu holen und schon mal für den Transport Richtung Fluss vorzubereiten. Auf dem Weg komme ich an einer dieser wunderschönen uralten Kathedralen vorbei, wie sie in jeder größeren Stadt Spaniens zu stehen scheinen. Zufällig verlässt gerade eine Putzfrau die Kirche, und ich frage sie, ob ich kurz rein dürfe. Als sie verneint, mache ich ihr ein Zeichen, dass ich schnell beten müsse. »Una minuta«, probiere ich. Sie willigt ein, und ich habe die Kirche für mich.
Innen herrschen eine so heilige Stille und andächtige Atmosphäre, dass ich fast auf die Knie fallen möchte. Ich setze mich wie immer in die dritte Reihe, sage zur Abwechslung das Vaterunser auf – ich will die Frau nicht belogen haben – und warte auf die innere Ruhe oder auf irgendetwas, das in mir aufsteigen möchte. Plötzlich kommt ein Impuls aus dem Nichts, ich öffne die Augen, sehe Jesus am Kreuz über dem Altar hängen und weiß, dass der heutige Tag gesegnet ist. Vielleicht ist sogar die ganze Tour gesegnet – so fühlt es sich jedenfalls in diesem Moment an. Von mir aus mag das kitschig klingen und nur den Gespinsten meines Hirns entstammen. Das Gefühl aber ist da, tief in mir, und es zeigt mir deutlich, dass ich auf dem richtigen Weg bin.
Beweisen lässt sich das natürlich nicht. Und trotzdem glaube ich fest daran, dass manche Ereignisse, Projekte oder Unternehmungen unter einem guten Stern stehen. Bei dieser Reise spüre ich seit heute genau das – vielleicht will ich es aber auch einfach nur spüren. Meine Seele – ich glaube auch an dieses Konzept mit ganzem Herzen – fühlt sich manchmal so leicht an, dass sie davonschweben möchte und mich bittet, ihr zu folgen und nicht zum hundertsten Mal Widerstand zu leisten und meinen Dickkopf durchzusetzen oder meinen Ängsten nachzugeben. Diese Reise, diese Pilgertour soll geschehen. Sie soll genau so stattfinden, wie sie es gerade tut. Und wenn dies alles stimmt, werden wir in vier Wochen in Santiago sein, ich werde dieses Manuskript eine Woche später abgeben und das Buch erscheint pünktlich zur Frankfurter Buchmesse im Oktober.
Bis dahin muss ich mir selbst aber noch ein paar Fragen beantworten: Was ist eigentlich meine Triebfeder, immer wieder über die Grenze hinauszugehen, das Äußerste auszuloten, Schmerzen, Hunger oder Einsamkeit zu ertragen? Warum muss ich immer wieder das Vertraute und Erreichte hinter mir lassen? Was machen diese Erfahrungen mit mir? Und warum muss ich sie ständig wiederholen? Was fasziniert mich auf dem vergeblichen Weg, hinter den Horizont zu schauen? Auf mich warten vier Wochen auf dem berühmtesten Pilgerweg der Welt. Die Antworten werden kommen.
Ich habe einen kleinen Ziehwagen dabei, der mir schon bei der Donau und ihren mehr als 200 Wehren und Schleusen die Reise gerettet hat. Ich spanne unsere Bretter und alles Gepäck auf das kleine Ding, hole Turtle ab, und gemeinsam ziehen wir das wenige Gut, das wir im Moment brauchen, über die Promenade von San Sebastián zum nächsten Taxistand. (BILD 15)
Der Taxifahrer schlägt zunächst die Hände über dem Kopf zusammen. Doch als er versteht, dass wir die Luft aus unseren Brettern lassen können, ist er begeistert und fährt uns direkt an den Oria zu einer perfekten Einstiegsstelle. Wir pumpen unsere Bretter wieder auf, sortieren unser Gepäck neu und fahren zum ersten Mal auf dieser Reise über ruhiges Gewässer, auf dem wir nicht nur stehen, sondern uns von Wind und Strömung in Richtung unseres Ziels treiben lassen können, ohne etwas tun zu müssen. Zum ersten Mal ist die Reise kein Kampf, sondern reines Vergnügen.
Wie ruhig der Fluss ist. Welches Glück er hat, dass er nicht das Meer ist und ständig tosen, brausen, steigen und sinken, Wellen schlagen, Boote schlucken und Küsten fressen muss. Wie muss es sich anfühlen, ein Fluss zu sein? Wie entspannt er uns auf sich treiben lässt. Wie freundlich von ihm, dass er uns einfach so aufnimmt. In aller Ruhe und Stille gleiten Berge und Dörfer vorbei, wir schauen Fischen beim Spielen zu, winken Bauern, wünschen Fischern viel Glück, bestaunen wilde Seegräser und kreisende Adler hoch oben über unseren Köpfen und speichern Hügelketten in ihrer sich verschiebenden Dreidimensionalität für immer in unseren Gehirnen ab. Diese Stunden auf dem Oria sind ein Segen für unsere Seelen. Wir gönnen uns einen Tag Pause vom Meer. Es ist, als würde ein Schalter umgelegt. (BILDER 16 & 17)
Überall fließen solche Flüsse durch Spanien. Wenn die See, die launische Diva, uns nicht will, dann nehmen wir ihre vielen Onkel und Tanten und schaffen es auf diesem Weg nach Santiago. Denn dieses Ziel werden wir nie aus den Augen verlieren.
Auf solchen Reisen scheint sich die Zeit zu dehnen. Gestern ist schon ewig lange her. Unsere Abfahrt in Frankreich erfolgte in einem anderen Zeitalter. Und dieser Fluss hat überhaupt keine Ahnung davon, was Zeit eigentlich ist. Er ist immer neu, fließt nie nicht, floss schon immer und wird immer fließen. Zumindest länger, als es uns Menschen geben wird. Wer sind wir schon, dass wir uns so viele Gedanken über die Zeit machen? Auf solchen Reisen scheint sich die Zeit zu dehnen – vielleicht, weil wir so viel Raum aufnehmen. Wir beschäftigen uns so viel mit den Weiten dieser Reise, den Landschaften und der Tierwelt, den Wäldern und dem Wasser, dem Licht und den Wolken. Wir gehen nie achtlos mit der Zeit um, die uns auf dieser Reise zur Verfügung steht.
Nach Stunden – wie viele es sind, wissen wir nicht – erreichen wir beseelt Orio. Hier mündet der Oria und ergießt sich für immer in das unendliche Meer, das sich heute überraschend ruhig zeigt. So ruhig, wie wir es auf dieser Reise noch nie gesehen haben. Wir essen schnell eine Pizza an einem Strandrestaurant, schicken Nachrichten über unser Wohlbefinden in die Welt und entschließen uns, am coronageplagten Zarautz vorbei nach Getaria zu paddeln. Denn dort gibt es einen Hafen. Häfen garantieren uns, dass wir auch bei hohem Wellengang am nächsten Tag raus aufs Meer können. Denn von einem Strand aus würden wir die Bretter mit Gepäck nicht gegen das Weißwasser der brechenden Wellen zurück aufs Meer bewegen können.
Ich bin ständig hellwach. Ich weiß nie, was hinter dem nächsten Kap lauert, wie der Wind in der nächsten Stunde bläst, wo sich ein vernünftiger Schlafplatz findet, ob es in der nächsten Bucht einen Supermarkt gibt. Jede Sekunde auf dem Meer zwingt mich in die Gegenwart. Meine Gedanken schweifen fast nie ab. Ich bin ständig präsent und nie entspannt. Das ist der große Unterschied zur Komfortzone, in der sich jeder auskennt, in der man keinen Eventualitäten begegnet. Der Gegensatz zu der Welt, in der alles durchgeplant ist.
Das Problem ist nur, dass wir unser westliches Leben auf räuberische Weise ausgebaut haben. Wir fahren riesige Autos, leben in überteuerten Angeberwohnungen, besitzen Kühlschränke so groß wie Kleiderschränke und kaufen mehr Klamotten im Jahr als Menschen vor 100 Jahren in ihrem ganzen Leben. Wir verschicken täglich mehr Nachrichten als unsere Ahnen in drei Generationen. Wir leben freiwillig in einem riesigen Menschenzoo, weil es uns in der freien Wildbahn zu gefährlich geworden ist. Und wenn jemand mal den Zoo verlässt, bekommt er von seiner Familie Mails voller Sorge, von seinem Arbeitsumfeld ein Kopfschütteln und von den meisten Menschen die Ferndiagnose »verrückt«. Wir sind schon so lange Käfiginsassen, dass unsere Spezies völlig vergessen hat, dass sich das wahre Leben außerhalb des Käfigs abspielt.
In den ersten beiden Tagen haben wir noch versucht, das ganze Plastik, das uns im Meer begegnet, in Müllsäcken zu sammeln. Wir lassen diesen hehren Umweltschutzversuch jetzt bleiben und geben auf. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Je näher wir den Städten kommen, desto verheerender ist die Plastikflut vor der Küste. Wir könnten dutzende 100-Liter-Beutel füllen und an Land bringen. Doch wer weiß, was mit dem Müll an Land geschieht. Es sind nicht wir Menschen, die so verdorben sind. Es ist ein System, das die Verdorbenheit erlaubt. Obwohl dem Meer so lange so viel Schaden zugefügt wurde, regeneriert es sich immer wieder. Vor allem die paar Monate des Lockdowns während der Corona-Epidemie waren für das Meer die beste Erholung seit 100 Jahren. Wir führen Krieg gegen die Tierwelt – und für ein paar Wochen herrschte Waffenstillstand. Zumindest teilweise.
Nach noch nicht einmal zwei Stunden erreichen wir den Hafen. Wir haben fast 5 km/h gemacht und sehen an diesem Tag zum ersten Mal, dass unser Ziel tatsächlich zu erreichen ist. Nördlich des Hafens verläuft ein steiler Weg zu einer Halbinsel. Turtle meint instinktiv, dass wir schauen sollten, ob es dort einen guten Zeltplatz gebe. Nach den ersten zwei Kurven wollen wir schon aufgeben, als ich den Impuls bekomme, noch eine Biegung weiterzugehen. Plötzlich sehen wir auf der linken Seite eine eingemauerte Empore mit Blick über die gesamte spanische Küste bis nach Frankreich. Wir haben den perfekten Zeltplatz gefunden, rollen Bretter und Gepäck nach oben und können unser Glück an diesem Tag überhaupt nicht fassen.
Wir schauen uns an, umarmen uns und Turtle gibt mir tatsächlich den versprochenen Kuss auf die Stirn. Mir wird in diesem Moment klar, dass dieses Abenteuer nicht nur eine Pilgerreise ist, sondern auch eine Geschichte über Freundschaft.