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1 Einleitung
ОглавлениеÜber die Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse ist immer wieder und meist heftig gestritten worden bzw. ist sie ihr gar gänzlich abgesprochen worden. Von dieser Debatte sind verschiedene Bereiche berührt, nicht zuletzt die Frage der Wirksamkeitsnachweise oder die Struktur der psychoanalytischen Theorie. Ich möchte einleitend einen Aspekt herausgreifen, den ich für grundlegend halte und auf dem die meisten anderen Fragen nach Wissenschaftlichkeit und Wirksamkeit aufbauen, nämlich die Frage danach, was ein psychoanalytisches Konzept auszeichnet.
Wissenschaftliche Konzepte lassen sich in allgemeiner Hinsicht derart beschreiben, dass in ihnen abstrakt auf den Begriff gebracht wird, wie sich Phänomene der Erfahrung (einschließlich der »inneren« Erfahrung, also etwa das Gefühlserleben) verstehen und begreifen lassen. Das trifft beispielsweise für physikalische Konzepte (Variablen, Konstanten und deren Verknüpfung in gesetzesförmigen Aussagen) zu: Das Konzept »Schwerkraft« hilft dabei, sich einen Reim darauf zu machen, weshalb die Dinge in der Regel zu Boden fallen. Dabei, und das ist konzeptuell entscheidend, lässt sich »die« Schwerkraft nicht beobachten, sondern es lassen sich bestimmte Vorkommnisse beobachten und beschreiben, die auf das Wirken von etwas, das wir als Schwerkraft konzeptualisieren, zurückgeführt werden. Das erlaubt kausale Erklärungen, Vorhersagen und eine experimentelle Untersuchung in Form von »manipulierter« Erfahrung. In Teilen lässt sich dies auch für Konzepte in der Psychoanalyse sagen. Auch hier sollen Phänomene der Erfahrung (oder »Empirie« im eigentlichen, weit gefassten Wortsinn) begreiflich gemacht werden, indem Konzepte entwickelt werden. Auch hier sind Konzepte Abstrakta, auch »das Über-Ich« oder »die Verdrängung« lassen sich nicht beobachten, denn sie sollen ein Modell dafür bereitstellen, Phänomene auf den Begriff zu bringen, etwa besonders starke innere Vorwürfe oder rigide Forderungen, mit denen jemand sich selbst bedenkt, oder das Nicht-Erinnern-Können gerade von emotional bedeutsamen Erlebnisinhalten.
Wissenschaftliche Konzepte werden entlang eines methodisch geleiteten Zugangs zur Welt der Phänomene gebildet, ob nun im Experiment oder in der Feldforschung. Konzepte werden methodisch gewonnen, sie sind methodenabhängig und diese Methoden wiederum beruhen auf Vorannahmen oder bestehendem Wissen. Ferner sind Konzepte Teil konzeptueller Zusammenhänge, aus denen ich einzelne nicht schlicht herauslösen und in einen anderen Kontext setzen kann, ohne sie diesem – metatheoretisch – vermittelt zu haben. Schließlich sollten Konzepte »sparsam« genug formuliert sein, sie sollen unter Zuhilfenahme möglichst weniger und möglichst einfach formulierter weiterer konzeptueller Annahmen gebildet werden und die Erfahrung begreiflich machen.
Das Spezifische der psychoanalytischen Konzepte liegt – neben dem Hinweis darauf, dass sie einer philosophischen Theorie näherstehen als einer psychologischen – darin, dass ihr Schritt in die Verallgemeinerung (den jedes Konzept geht) nicht in die Vorhersagbarkeit führt (wie im physikalischen Experiment, das ja letztlich Aussagen darüber möglich machen soll, was gesetzesmäßig in allen ausreichend ähnlichen Fällen auch zukünftig geschehen wird), sondern in der Konzeptbildung selbst liegt. Die Konzepte dienen nicht der Prognose, sondern sie sollen Erfahrung zugänglich machen. Anknüpfend an Zepf (2006b, S. 263) kann man sagen, dass psychoanalytische Konzepte nicht etwas darüber sagen sollen, wie Subjekte allgemein sind (wie etwa die Hirnforschung oft Aussagen über das »durchschnittliche Gehirn« machen möchte), sondern allgemein etwas darüber, wie Subjekte im Besonderen sind. Sie sollen den verstehenden und begreifenden Zugang zum Einzelfall (einschließlich des Einzelfalls einer analytischen Beziehung oder eines Prozesses) eröffnen.
Psychoanalytische Konzepte nehmen ihren Ausgang von der »Empirie« der klinischen Phänomene, das lässt sich bei Freud im Hinblick auf die unbewusste Fantasie oder die Übertragung zeigen, aber auch im Zuge der Weiterentwicklung psychoanalytischer Konzepte. Die enge Anbindung an den klinischen Einzelfall ist nicht nur ein Merkmal der historischen Konzeptbildung (derart, dass man zu Beginn der Psychoanalyse eben noch nicht so viel Konzeptuelles zur Verfügung hatte), sondern durchzieht psychoanalytisches Denken bis heute (der Einzelfall dient der Erweiterung oder Modifikation der Konzepte). Damit soll keineswegs gesagt sein, dass die Psychoanalyse einer quantitativen, messenden, naturwissenschaftlichen Zugangsweise verschlossen bleiben muss. Aber eine solche würde immer schon ein interdisziplinäres Unterfangen bedeuten. Auch psychoanalytische Konzepte können und sollten operationalisiert werden, es bedeutet aber deren Erweiterung in methodischer Hinsicht, bei der es in Kauf genommen werden muss, dass eine Zuspitzung ihres Gegenstands erfolgt.
Vor dem Hintergrund eines solchen Konzeptverständnisses ist es im Rahmen der vorliegenden Buchreihe zunächst um das Triebkonzept gegangen (Storck, 2018a). Dabei habe ich eine Lesart des Konzepts vorgeschlagen, die es entlang von Bemerkungen Freuds dazu, dass es sich beim Trieb um einen Grenzbegriff zwischen Soma und Psyche handele (Freud, 1915c, S. 214), erlaubt, von »Trieb« als der konzeptuellen Beschreibung einer Vermittlungsfunktion zu sprechen, die physiologische Erregung in psychisches Erleben vermittelt. In dieser Hinsicht ist es ein psychosomatisches, leibliches Konzept, ebenfalls mit Freud gesprochen bezieht es sich darauf, dass körperliche Vorgänge dem Erleben ein »Maß an Arbeitsaufforderung« (Freud, 1915c, S. 214) auferlegen – anders gesagt: »Trieb« beschreibt konzeptuell, weshalb wir konkret in die psychische Repräsentation hineingetrieben werden. So kann man von der psychoanalytischen Triebtheorie als einer Theorie der allgemeinen Motivation des Psychischen sprechen, in ihr ist gefasst, wie Psychisches als solches motiviert ist. Neben diesem »psychosomatischen« Kernaspekt ist das Triebkonzept auch ein sozialisatorisches, insofern diejenigen Empfindungen, die, konzeptuell gesprochen, das Triebgeschehen in Gang setzen, sich zwischen Selbst und anderem, auf einer »zwischenleiblichen« (Merleau-Ponty, 1964) Ebene zeigen. »Triebhafte« Erregung wird angesichts des anderen in der körperbezogenen Interaktion hervorgerufen.
Während sich die Triebtheorie also als eine Theorie der allgemeinen Motivation des Psychischen begreifen lässt, findet sich die psychoanalytische Theorie der speziellen Motivation in der Konzeption des (unbewussten) Konflikts (Storck, 2018b). Dazu ist als Hintergrund das psychoanalytische, erweiterte Verständnis von Sexualität heranzuziehen, in welchem damit das Erleben von Lust (und Unlust) im Kontext körperlicher Berührungen/Empfindungen verstanden wird. In dieser Betrachtung spricht die Psychoanalyse von einer »infantilen« Psychosexualität und dann wird plausibel, in welcher Weise von Lust und Unlust als wichtigen Elementen der psychischen Entwicklung gesprochen wird. So lassen sich im Hinblick auf die psychoanalytische Theorie der psychosexuellen Entwicklung eine »körpernahe« und eine »thematische« Lesart des Oralen, Analen oder Phallisch-Ödipalen formulieren. Die Phasen gründen in den, natürlich auch körperlich mitbestimmten, Entwicklungsaufgaben und altersspezifischen Interaktionen (Nahrungsaufnahme, Sauberkeitserziehung, Auseinandersetzung mit Geschlecht und Geschlechtsunterschieden), im weiteren Verlauf treten stärker »Themen« in den Mittelpunkt, so die Versorgung (Oralität), Kontrolle (Analität) oder das Wirkvermögen (Phallizität). Auch in heutiger Betrachtung kann von ödipalen Konflikten als einem leitenden Strukturierungsprinzip des Psychischen ausgegangen werden, wenn man darunter die Auseinandersetzung mit Generationen- und Geschlechtsunterschieden sowie mit der unausweichlichen Möglichkeit versteht, aus Beziehungen passager und relativ ausgeschlossen sein zu können. Anders gesagt: Ödipale Konflikte drehen sich darum, dass diejenigen, zu denen man in Beziehung steht, prinzipiell auch zueinander in Beziehung stehen, d. h. eine eigenständige Beziehung zueinander haben. So findet man in der Welt ein Geflecht von Beziehungen statt nur diejenigen, die vom Selbst als einzigem Planeten im Universum »wegstrahlen«. Das bringt eine spezifische Dynamik aus Begrenzung und Öffnung mit sich: Das Anerkennen der Möglichkeit von Begrenzung (psychoanalytisch oft beschrieben als Anerkennung der symbolischen Kastration, also dem »Beschnittensein« in der eigenen »Potenz«) ermöglicht es, in der Welt Beziehungen zu finden bzw. sich zu Beziehungen in Beziehung zu setzen. Psychoanalytisch tritt hier das Konzept der Triangulierung auf den Plan, ebenso wie Konzeptionen der Symbolisierung, verbunden mit psychischen Vermögen der Differenzierung, Integration und Regulierung.
Das Konfliktverständnis in der Psychoanalyse betrifft die Auseinandersetzung mit widerstreitenden Motiven bzw. zwischen Wunsch und Abwehr. Konflikte (sexueller, narzisstischer, aggressiver Färbungen) selbst sind dabei kein Anzeichen von Pathologie, das ist erst dann der Fall, wenn die Bewältigungsformen dysfunktional sind, d. h. das Erleben und/oder Handeln einschränken. Beispiele für die grundlegende menschliche Konflikthaftigkeit wären das Ineinander von Beruhigung und Stimulierung in der frühen Versorgung (zum Beispiel im Stillvorgang) oder die zu erarbeitende Ambivalenztoleranz für Liebe und Hass bzw. Verbindendes und Trennendes in derselben Beziehung.
Entscheidend für die Konzeption des Konflikts in der Psychoanalyse ist dessen Unbewusstheit. Das psychoanalytische Konzept des Unbewussten (Storck, 2019a) gehört zu den zentralen Aspekten dessen, was Freud seine Metapsychologie nennt, gleichsam eine »Psychologie mit Unbewusstem« (also eine Konzeption, in der etwas psychisch, nicht naturhaft unbewusst sein kann). Das spezifisch psychoanalytische Unbewusste ist nicht bloß in einem deskriptiven Sinn nicht bewusst, sondern in einem dynamischen, das heißt, es gibt konfliktbedingte Gründe dafür, dass etwas funktional vom Bewusstsein ferngehalten wird, nämlich damit verbundene unlustvolle Empfindungen (Angst, Scham, Schuldgefühle). Da es sich dabei allerdings um etwas handelt, das zugleich auch mit lustvollen Empfindungen verbunden ist, gibt es ein Zusammenwirken von »drängenden« und verdrängenden Kräften. Das Unbewusste ist dabei nicht in einem örtlichen oder anderweitig reifizierenden Sinn zu verstehen, es befindet sich nicht irgendwo anders, sondern weist den Charakter einer Veränderung des Bewussten auf, eine Auslassung, Überdeterminierung, Unterbrechung oder Hemmung. Unbewusstes zeigt sich »am« Bewussten; dabei wurde der Vorschlag gemacht, vom (dynamisch) Unbewussten als etwas auszugehen, das sich im Verhältnis der Vorstellungen und Affekte zueinander zeigt. Konflikte werden von Freud in seiner sogenannten ersten Topik als solche zwischen psychischen Systemen (Bewusst, Vorbewusst, Unbewusst) beschrieben und in der zweiten Topik als solche zwischen psychischen Instanzen (Ich, Es, Über-Ich). Zu beachten ist, dass auch in der Psychoanalyse verschiedene Auffassungen des Unbewussten bestehen bzw. sich der Begriff des Unbewussten auf verschiedene Formen (zum Beispiel auf implizite Aspekte der Beziehungsgestaltung und des Beziehungserlebens) bezieht.
Im Anschluss daran ist es um die psychoanalytische Auffassung zu Objektrepräsentanzen gegangen (Storck, 2019b). Das Konzept des Objekts als Bezeichnung der psychischen Repräsentation des Anderen erwächst terminologisch aus der Triebtheorie, in der das Trieb-Objekt als der Gegenstand psychischer Besetzung verstanden wird. »Objekt« ist also mitnichten etwas Objektives oder Objekthaftes im physikalischen Sinn, sondern Vorstellungsobjekt, erwachsen aus Beziehungserfahrungen. Als grundlegendes Modell kann genommen werden, dass sich Interaktionen mit anderen psychisch in Beziehungsvorstellungen (Selbst und Objekt, verbunden über einen Affekt) niedergeschlagen und dass diese Beziehungsvorstellungen weitere Interaktionen und deren Erleben färben. Aus Beziehungsvorstellungen werden sukzessive Vorstellungen vom Selbst sowie dem personalen Anderen herausgelöst, also Selbst- bzw. Objektrepräsentanzen. Damit ist psychoanalytisch die Fähigkeit zur Symbolisierung berührt, also basal die Möglichkeit, die Welt der Wahrnehmungen durch die Welt der Vorstellungen anreichern zu können, das heißt vor allem: sich Abwesendes vorstellen zu können. Erst dann gibt es eine Objektrepräsentanz im eigentlichen Sinn beziehungsweise wird es möglich, sich das eigene Erleben reflexiv vor Augen zu führen und nicht zuletzt Erinnerung, Erwartung, Fantasie etc. Dabei spielen auch Fragen nach der »Ganzheit« bzw. Integration der Selbst- und Objektrepräsentanzen eine Rolle. In vielen psychoanalytischen Ansätzen gibt es Konzeptionen fragmentierter Objektvorstellungen, das heißt einer Teilung beziehungsweise Spaltung zwischen den als »gut« und den als »schlecht« empfundenen Anteilen, die zum Beispiel als Schutz des Guten vor dem Schlechten getrennt gehalten werden. Daraus erwächst die Entwicklungsaufgabe einer Integration, die differenzierte Bilder vom Selbst und vom Anderen möglich macht. Hier taucht die Idee repräsentationaler statt allein motivationaler Konflikte auf: Teil-Selbst- oder Teil-Objektvorstellungen können mit anderen in Konflikt stehen.
Beziehungsvorstellungen können als »Bausteine« des Psychischen gelten. Aus dem Gedanken, dass das Resultat der Internalisierungen von Interaktion (samt der Anreicherung durch Fantasien) in Form von Beziehungsvorstellungen das weitere Erleben von anderen Interaktionen färbt und leitet, erwächst das psychoanalytische Konzept der Übertragung (Storck, 2020). Im Freud’schen Denken lassen sich zwei konzeptuelle Fassungen der Übertragung unterscheiden: zum einen eine erste, etwas frühere, in der damit gemeint ist, dass die »Besetzungsintensität« einer Vorstellung auf eine andere übertragen wird. Dadurch wird etwas in entstellter Form bewusst, die Übertragung schafft so Bewusstsein, wenn auch um den Preis einer Entstellung. Zum anderen wird wenig später »Übertragung« konkreter beziehungshaft verstanden, also als Ersetzen einer Objektvorstellung durch eine andere, an die sich Affekte und Fantasien heften. Besonders in dieser zweiten Form wird die Übertragung in behandlungstechnischer Hinsicht gebraucht, nämlich derart, dass sich angesichts dessen, wie die Analytikerin1 erlebt wird, Aspekte der internalisierten Objektbeziehungen, besonders aus der Kindheit, zeigen. Aber auch in der ersten, früheren Form ist das Konzept der Übertragung relevant, denn sie erlaubt ein Nachdenken darüber, wie das Bereitstellen der analytischen Beziehung eine Form des Erlebbaren schafft. Das Angebot einer Übertragung bietet zuvor unbewussten Erlebnisaspekten eine Art Bühne oder Kostümierung.
Die Vertiefung von Übertragungsprozessen ist ein Ziel analytischer Behandlungen und dadurch begründen sich auch bestimmte Elemente des Behandlungssettings, das dann nämlich der Regressionsförderung dienen soll, also der »Rückkehr« zu stärker affektgeleiteten, »unvernünftigen« Erlebnisweisen. Es ist davon die Rede, das Herstellen einer »Übertragungsneurose« zu fördern, das meint eine Zentrierung der (neurotischen) Symptome auf die analytische Beziehung, damit sie dort sichtbar, verstehbar und veränderbar werden. Das ist nicht nur für neurotische Symptome der Fall, sondern auch Symptome anderer psychischer Störungen zeigen sich im Erleben und Gestalten von Beziehung und können zum Gegenstand analytischen Arbeitens genommen werden. Veränderung, so die Annahme, beruht in unterschiedlichen (Teil-)Modellen darauf, dass im Rahmen einer emotional bedeutsamen und »korrigierenden« Beziehungserfahrung Einsicht in (unbewusste) Bedeutungen genommen bzw. eine Form für das eigene Erleben gefunden wird. Dabei stellt sich die Frage, wie auf »valide« Weise interveniert wird, so dass dies möglich wird. Die Psychoanalyse folgt methodisch dem szenischen Verstehen, also dem Verstehen derjenigen Szenen, die sich zwischen Analytikerin und Analysandin zeigen – und dies im Hinblick auf ein wiederkehrendes Gerüst oder Muster des Erlebens und Gestaltens von Beziehungen. Diese können dann deutend zugänglich gemacht werden – wie genau, wird im Weiteren diskutiert werden.
In einem weiteren Schritt ist es um die Bedeutung von Abwehr und Widerstand gegangen (Storck, 2021a). Die psychoanalytische Konflikttheorie steht mit dem Gedanken in Verbindung, dass eine psychische Abwehr dann einsetzt, wenn eine (bewusste) Vorstellung mehr Unlust als Lust nach sich ziehen würde. Sie dient also der Vermeidung unlustvoller Empfindungen und muss dazu ihrerseits unbewusst wirken. Im Rahmen der Freud’schen Werkentwicklung seiner Vorstellungen vom psychischen Apparat ist das ein besonderer Punkt, denn er führt ihn dazu, von unbewussten Anteilen der Ich-Instanz (die prinzipiell dem Realitätsprinzip folgt) auszugehen, also einerseits funktionalen und in irgendeiner Art gerichteten Prozessen (die etwas abwehren sollen), die andererseits aber unbewusst ablaufen, andernfalls wäre ja auch ihr Gegenstand dem bewussten Erleben zugänglich. Deshalb nimmt Freud an, dass ein Teil des Ichs unbewusst ist und konzipiert präziser als zuvor eine internalisierte Instanz von Gewissen, Moral, Geboten und Verboten: das Über-Ich.
Dabei werden umgrenzte Abwehrmechanismen beschrieben (etwa die Verdrängung, die insofern eine besondere Bedeutung hat, als sich in den meisten Fällen ein zweiter Abwehrmechanismus zur Umarbeitung des Verdrängten daran anschließt), aber auch Abwehrformationen, also Strukturen, die stärker die Persönlichkeit und/oder strukturelle Fähigkeiten betreffen, gleichsam stärker in die psychische Struktur eingefasste Abwehrweisen, die insofern globaler sind, als sie sich nicht auf konkrete Vorstellungen oder Handlungen beschränken.
Als Widerstand wird das Auftreten von Abwehrmechanismen und -formationen in der analytischen Arbeit beschrieben, im Wesentlichen als ein Widerstand gegen die Veränderung und das Aufgeben einmal gefasster, dysfunktionaler, aber sinnhafter Abwehr. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Übertragungs-, aber auch dem Gegenübertragungswiderstand zu. In einer zeitgenössischen und potenziell auch schulenvergleichenden Perspektive wird außerdem die Bedeutung von Beziehungskrisen bzw. Brüchen in der Arbeitsbeziehung und deren Reparatur diskutiert.
Ferner ist es in einem nächsten Schritt (Storck, 2022a) um die Konzeptionen des Ich und des Selbst gegangen. Meist wird das Ich in der Psychoanalyse als eine Bezeichnung der Summe der Ich-Funktionen verwendet, was sich in Auffassungen zur psychischen Struktur (als Vermögen der Regulierung, Differenzierung und Integration in Form unterschiedlicher struktureller Fähigkeiten) fortsetzt. Bei Freud kommt dem Ich als Instanz die Aufgabe zu, zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen von Es, Über-Ich oder Außenwelt zu vermitteln. Daraus entwickelt sich die psychoanalytische Strömung der Ich-Psychologie mit zentralen Themen wie der Frage nach einer »Autonomie« des Ichs von den Trieben. Das Selbst wird psychoanalytisch meist im Sinne der Selbstrepräsentanz verstanden, es steht in einem engen Zusammenhang mit Narzissmustheorien. Im Freud’schen Verständnis, in dem gleichwohl die Begriffe »Ich« und »Selbst« verschwimmen, kann man sagen, dass sich die Selbstrepräsentanz in engem Zusammenspiel mit der Repräsentation des eigenen Körpers und seiner Grenzen vollzieht. Die gesonderte Richtung der psychoanalytischen Selbstpsychologie konzipiert den Narzissmus als gegenüber der Triebtheorie eigene Entwicklungslinie, in der es vor allem um die Möglichkeiten der Idealisierung und der Entidealisierung geht. Von besonderer Relevanz sind Ansätze, in denen »Ich« und »Selbst« im Sinne »dynamischer Strukturen«, so etwa bei Fairbairn (1944), verstanden werden, das heißt, dass psychische Funktionen und Repräsentanzen nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können.
Zugleich sind bei der bisherigen Auseinandersetzung einige Fragen offengeblieben, in erster Linie solche, die die Behandlungstechnik und die Theorie der Veränderung in der Psychoanalyse betreffen. Wie kann es gelingen, dass für Konflikte andere Lösungen gefunden werden? Wie wird (dynamisch) Unbewusstes erreicht, wie werden Abwehrstrukturen verändert? Wie können strukturelle Veränderungen auf den Weg gebracht werden? Wieviel muss geredet werden und worüber und wie lange? Welche Unterschiede gibt es dabei bei unterschiedlichen Patientinnen? Im Umfeld des psychoanalytischen Konzepts der Deutung wird dem im vorliegenden Rahmen nachgegangen.
Dazu wird es zunächst ( Kap. 2) um die Konzeption der Deutung bei Freud gehen, bevor im dritten Kapitel psychoanalytische Bedeutungstheorien diskutiert werden, um darauf blicken zu können, wieviel Einsicht in unbewusste Bedeutungen die psychoanalytischen Interventionen möglich machen sollen ( Kap. 3). Danach wird es unter der Bezeichnung »diverse Deutungen« ( Kap. 4) um Fragen dazu gehen, wie in der Psychoanalyse, der oft genug der Vorwurf gemacht wird, nur für eine bestimmte Gruppe von Menschen entwickelt und/oder geeignet zu sein, Aspekte der Vielfalt im Hinblick auf Geschlecht, Kultur u. a. Berücksichtigung finden und in welcher Weise die Behandlungstechnik und die Behandlungsziele sich im jeweiligen besonderen Fall unterscheiden. Im Anschluss daran wird es um eine Darstellung des Wandels in der psychoanalytischen Auffassung von Veränderung durch klinische Arbeit gehen ( Kap. 5). Beschlossen wird der Band mit Überlegungen zur Stellung der psychischen Veränderung in Relation zu anderen psychologischen Konzepten und insbesondere dem Verhältnis der Deutung zu Interventionen in anderen psychotherapeutischen Verfahren ( Kap. 6). Eine Zusammenfassung beschließt den Band ( Kap. 7).
1 Im vorliegenden Band wechsle ich kapitelweise zwischen einer sprachlichen Verwendung des generischen Femininums und des generischen Maskulinums. Soweit nicht konkrete Personen gemeint sind, sind damit jeweils alle anderen Geschlechter mit gemeint.