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Teil II – Bewusstwerdung und Verantwortung

3. Demaskierung

„Moralisch gesehen besteht kein Unterschied, ob eine Person im Krieg getötet wird oder zum Verhungern verurteilt wird durch die Gleichgültigkeit der anderen.“

- Willy Brandt

„Freiheit bedeutet Verantwortlichkeit; das ist der Grund, warum sich die meisten Menschen vor ihr fürchten.“

- George Bernard Shaw

Es gibt viele Gründe, sich nicht aktiv mit den gesellschaftlichen und politischen Problemen unserer Gegenwart auseinanderzusetzen: Die Umstände im eigenen Leben machen es unmöglich, über den persönlichen Tellerrand hinaus aktiv zu werden. Egal ob Krankheit, unsichere Arbeitsverhältnisse oder die problematische familiäre Situation, es bleiben schlicht keine Kapazitäten, sich anderen, abstrakteren Problemen zu widmen als denen, mit denen man sich unmittelbar konfrontiert sieht. Dies herunterzuspielen wäre anmaßend und schlicht ungerecht. Und es mag weitere Ursachen für den fehlenden Antrieb Einzelner geben, sich mit den mittel- und unmittelbaren Problemfeldern unserer Zeit auseinanderzusetzen: Auf psychologischer Ebene wird gerne mit Verdrängungsmechanismen argumentiert, oder mit der Schwierigkeit, abstrakte Probleme, die über den eigenen Wahrnehmungshorizont hinausgehen – wie beispielsweise den Klimawandel –, als bedrohlich wahrzunehmen, selbst wenn die Nachrichten voll sind mit entsprechenden Katastrophenmeldungen. Nur eine Begründung kann in einer Informationsgesellschaft, wie sie sich in den entwickelten Ländern des globalen Nordens etabliert hat, nicht gelten: man habe „von all dem nichts gewusst“. In einer Zeit, in der die wirtschaftlichen und ökologischen Zusammenhänge zwar immer komplexer, aber auch immer offensichtlicher werden, können wir Erwachsene, wir Berufstätige nicht ernsthaft behaupten, wir wüssten nichts von den Konsequenzen unserer heutigen Lebensweise. Und selbst wenn nicht alle Zusammenhänge zwischen Wirtschaftsbzw. Konsumweise bei uns und Umweltzerstörung und gewaltsamer Ausbeutung in den abhängigen Ländern offen liegen, so sollten wir doch zumindest in unserem persönlichen Umfeld über die wesentlichen Aspekte einer dem Allgemeinwohl dienenden Lebensweise Bescheid wissen, über die wesentlichen Unterschiede zwischen der Fixierung auf die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse und verantwortungsvollem Handeln, das den Bedürfnissen der Mitmenschen einen ähnlich hohen Stellenwert einräumt. Anschließend ist es nur ein kleiner Schritt, aus diesen Erkenntnissen Rückschlüsse zu ziehen, was unser meist kritikloses, unreflektiertes Konsumverhalten und die gesellschaftlichen und ökologischen Verwerfungen in den ärmeren Ländern des Globus betrifft.

Ja, auch alle, denen die entsprechenden Informationen bislang fehlten, die mit Fug und Recht behaupten können, die wechselwirksamen Komplexe von Massenkonsum und Massenarmut oder stetigem Wirtschaftswachstum und fortschreitender Umweltzerstörung seien ihnen nicht geläufig, sie alle dürften im Alltag gelegentlich schon ein diffuses Gefühl verspürt haben, dass „etwas nicht in Ordnung“ ist. Das Bewusstsein, dass die Verhältnisse in vielen Bereichen nicht mehr stimmen: der Flug in den Urlaub billiger als die Zugfahrt zum Flughafen. Der Grammpreis für Tiefkühlhackfleisch günstiger als der der meisten regionalen Obst- und Gemüsesorten. T-Shirts sind bei einschlägigen Ketten zum Preis einer Pizza Margerita zu haben. Ein Terroranschlag im Nachbarland dominiert tagelang die Schlagzeilen, während die vor kurzem irgendwo erwähnte Kriegs- und Hungerkatastrophe in einem arabischen Land nirgends mehr genannt wird. Die Läden in den Innenstädten schließen, während die in der Regel skandalös unterbezahlten Paketboten vor der Haustüre mit Bergen von Kartons jonglieren. Ein unbefristetes Arbeitsverhältnis wird zunehmend zur Ausnahme, immer mehr Menschen arbeiten in einem oder mehreren Billigjobs, während zugleich die Kosten für Wohnraum explodieren. Der Eindruck, dass vieles aus den Fugen geraten ist, täuscht nicht. Es fehlt manchen wahrscheinlich nur die logische Schlussfolgerung: Wir alle sind Teil des Problems.

Das erste Ziel, das wir Bürgerinnen und Bürger einer reichen Industrienation uns daher auf die Fahnen schreiben müssen, ist schonungslose Ehrlichkeit. Runter mit den Masken! Weg mit der Heuchelei, mit den aufschiebenden Entschuldigungen, die uns von einem Tag zum nächsten helfen und das Gewissen beruhigen sollen. Wir sind es, die mit dem Konsum von Millionen von Produktionsgütern den großen globalen Betrieb am Laufen halten, unter dessen Räder viele Menschen außerhalb unseres Sichtfeldes geraten.7 Wir sind es, die über Jahrzehnte hinweg mit schmutzigen Energieträgern unser wirtschaftliches Wachstum angetrieben und zahlreiche natürliche Lebensräume unwiederbringlich zerstört haben. Wir sind es, die ihr Geld einer Finanzbranche anvertrauen, die in weiten Teilen vor allem der Selbstbereicherung Weniger dient und durch „pragmatische“ Investitionen in volkswirtschaftlich sinnlose Unternehmensrestrukturierungen, fossile und nukleare Energieträger, Rüstungsunternehmen oder durch Spekulationen mit Nahrungsmitteln das Leben vieler Menschen zur Hölle macht. Wir sind es, die, obwohl die Zusammenhänge zwischen Fleischproduktion und Klimawandel regelmäßig in den Nachrichten nachzulesen sind, einfach nicht auf das günstige Steak aus dem Supermarkt verzichten wollen, wir, die der Abhängigkeit vom Erdöl einfach nicht entkommen können, egal ob es um Plastikverpackungen, Sprit fürs Auto oder den Flug in den nächsten Kurzurlaub geht. Wir sind eingebunden in Strukturen der Ungerechtigkeit und der Umweltzerstörung – doch sind wir ihnen wirklich ausgeliefert, hilflos, ohne Alternativen?

Zur schonungslosen Ehrlichkeit gehört eine Einsicht, die so simpel ist, dass jedes Kind sie versteht: Nichts ist umsonst, und alles hat Konsequenzen. Für die günstige Kleidung bei Primark zahlt in der Wertschöpfungskette irgendjemand drauf, und zwar höchstwahrscheinlich die unter miesen Bedingungen schuftende Näherin in einem Land des globalen Südens – sowie die Natur ihrer Heimat, die mit den chemischen Produktionsausstößen belastet wird, weil die laxen Umweltschutzvorschriften dort eine viel günstigere Produktion ermöglichen als bei uns.8 Für das günstige Stück Schweinefleisch zahlt das bei vollem Bewusstsein kastrierte und in elender Massenhaltung vegetierende Tier sowie die mit überschüssigem Tierdünger durchtränkten Felder unseres Landes (und aufgrund des so belasteten Grundwassers wir selbst), für das billige Rindersteak das Weltklima (und damit auch wir), wenn für die Massenproduktion der für den CO2-Abbau unersetzliche Regenwald Südamerikas gerodet wird und die riesigen Herden die Atmosphäre mit Methan verseuchen. Für eine maximale Rendite unserer Kapitalanlage zahlen wir selbst die Zeche: wenn wir unser Geld ohne kritische Prüfung einem Großinvestor anvertrauen, der in dem Aktienunternehmen, dem wir unsere Arbeitskraft verkaufen, die Bedingungen für uns Arbeitnehmer verschlechtert um mehr Profit abschöpfen zu können, oder der unser Geld in große Immobiliengesellschaften investiert, die aus der Wohneinheit, in der wir leben, noch den letzten Cent herausquetschen will, durch Mietsteigerungen und Investitionsstopp. Und wenn unsere Altersvorsorge auf Fonds fußt, die ein breit gestreutes Portfolio nutzen, haben wir selbst finanziell Anteil an Firmen, die Waffen produzieren und diese auch in Bürgerkriegsländer wie den Jemen liefern, wo abertausende Kinder hungern und getötet und verstümmelt werden. Ja, es kann einem zunächst schwindelig werden, die Konsequenzen zu bedenken, die jede unserer Konsumentscheidungen mit sich bringt. Aber es ist unumgänglich, die Masken der Ahnungslosigkeit und Gleichgültigkeit abzulegen und sich den teilweise harten Realitäten zu stellen, die mit unserer komfortablen Lebensweise einhergehen. Manch einer mag sich beklagen, für diese Zusammenhänge ja nichts zu können, sich das Leben in unserer heutigen, so komplex verflochtenen Gesellschaft nicht ausgesucht zu haben. Was bleibt da anderes als zu antworten: Verglichen mit der Lage, in die ein Großteil der Weltbevölkerung hineingeboren wird, also all jener, die in den ärmeren Ländern des globalen Südens unter den negativen Auswirkungen des alles umfassenden kapitalistischen Systems leiden müssen, ist diese unsere Bürde ja doch vergleichsweise gering.

Was folgen muss, ist klar: wachsende Bewusstheit und wachsendes Verantwortungsbewusstsein. Niemandem ist mit moralischer Selbstgeißelung gedient, ebenso wenig wie mit unreflektiertem Reaktionismus (verantwortungsbewusst zu konsumieren ist effektvoller als radikale Entsagung, doch dazu später mehr). Wir sollten uns ja nicht nur der zunächst deprimierenden Einsicht öffnen, dass viele unserer Handlungen im täglichen Leben einen negativen Effekt auf die Natur und das Leben anderer haben. Wir sollten uns auch bewusst werden, welche Macht letztlich jeder von uns Angehörigen einer reichen Konsumgesellschaft besitzt. Dieser Einfluss geht weit über den engen Rahmen unseres Familienkreises hinaus: Wir sind politisch und wirtschaftlich gefragt, sonst würden die großen Unternehmen nicht solch einen immensen Aufwand betreiben, uns durch Werbung in ihrem Sinne zu Entscheidungen zu bewegen; sonst würde die Politik nicht immer wieder so dreist versuchen, Entscheidungen von großer Tragweite für die Allgemeinheit in Hinterzimmern zu besprechen und zu beschließen, um der Wählerschaft keine Angriffsfläche zu bieten.9 Im Gegensatz zu offen autoritär geführten Ländern haben wir noch genügend Freiheiten und Einfluss, um Unternehmen und Parteien zu Handlungen im Sinne des Allgemeinwohls anzutreiben, zu einer Handlungsweise, die nicht nur kurzfristigen Profit als Ziel hat, sondern unsere einzigartige Natur erhält und möglichst vielen Menschen ein würdiges, freies, friedliches Leben ermöglicht.

Wir müssen uns offen eingestehen, dass eben dieses menschenwürdige Leben bei weitem nicht allen Erdbewohnerinnen und Bewohnern möglich ist, dass wir in Teilen die Verantwortung für diesen Missstand tragen, aber zugleich auch die Macht haben, etwas daran zu ändern. Und wen das Schicksal weit entfernter Völker nicht interessiert, der sollte so ehrlich mit sich selbst sein zuzugeben, dass unsere kapitalistische Wirtschaftsweise auch bei uns zu Verwerfungen führt, die den gesellschaftlichen Frieden in unseren Ländern gefährden, durch Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse, durch stetig zunehmende Kinder- und Altersarmut und durch den wachsenden Zustrom von Kriegs- und Elendsflüchtlingen. Die Staaten Südeuropas, allen voran Griechenland, können ein bitteres Lied von den Auswirkungen der starr auf Haushaltsdisziplin getrimmten EU-Politik singen – Sozialleistungen, Renten, Gesundheitswesen, öffentliche Infrastruktur, überall wurde die durchschnittliche Bevölkerung geschröpft, um dem Diktat der Troika nachzukommen, während die großen Kapitaleigner ungeschoren davon kamen.10

Wir müssen uns so schnell es nur geht an den Gedanken gewöhnen, dass dauerhaftes Wachstum und stetig zunehmender Reichtum nicht nur nicht möglich, sondern größtenteils widernatürlich und gefährlich sind, allen Hoffnungen auf anstehende technologische Quantensprünge und allen wohlklingenden Konzepten eines „Green New Deals“ zum Trotz. Wir müssen selbstkritisch sein und alte Gewohnheiten in Frage stellen.11 Wie gesagt: Nichts ist umsonst – irgendwer muss am Ende die Zeche zahlen.

Um die Demaskierung aber auch konstruktiv und ermutigend anzutreiben, möchte ich die Behauptung, alles habe seinen Preis, noch einmal anders formulieren: Alles zählt! Auch wenn uns unser Einfluss global gesehen verschwindend vorkommen mag: er ist es nicht, und jede unserer Handlungen hat Konsequenzen, negative wie auch positive! Dazu ein unverfängliches Beispiel: Man stelle sich vor, einem langjährigen Kettenraucher gelingt es, von seiner Sucht loszukommen. Mit den Schachteln, die er im ersten Jahr nach seiner letzten Zigarette gespart hat, könnte er ein ganzes Zimmer seiner Wohnung tapezieren, mit dem Geld einen neuen Laptop oder ein neues Fahrrad kaufen. Tausende Zigarettenkippen weniger belasten das Grundwasser und verschandeln das Stadtbild. Tausende von Euro weniger fließen in ein Unternehmen, das mit der Sucht und Krankheit von Millionen von Menschen seinen Profit macht und die Gesundheitsbudgets weltweit belastet. Tausende von Euro, angesichts des Milliardenumsatzes der Tabakindustrie ein Witz, oder? Aber unser Nichtraucher wird womöglich anderen Rauchern zum Vorbild; der Sieg über seine Sucht findet im Bekanntenkreis Nachahmer, womöglich hält er eines Tages Seminare für Menschen, die sich das Rauchen ebenfalls abgewöhnen wollen – und wird er nicht seinen eigenen Kindern ein gutes Vorbild sein? Außerdem bleiben die unsichtbaren Folgen seines Verzichtes wie bei jeder präventiven Maßnahme zwar verborgen, ohne jedoch weniger wertvoll zu sein: Die Schäden seiner Umwelt durchs Passivrauchen und die Möglichkeit, als Raucher selbst an Krebs zu erkranken, sinken. Je weniger Menschen mit einer Kippe in der Raucherecke stehen, desto unattraktiver wird diese Situation für alle noch verbliebenen Raucherinnen und Raucher. Kurz gesagt: Jede positive Veränderung geht über den veränderten Umstand selbst hinaus, zieht Kreise, schlägt Wellen, und summiert sich im Laufe der Zeit zu einem immer gewichtigeren Baustein in einem großen Mosaik auf. Und vor allem kann sie Signalwirkung haben. Um tiefgreifende Veränderungen zu erreichen, braucht es nach dem Sozialpsychologen Prof. Harald Welzer drei bis fünf Prozent einer Gesellschaft, die vorangehen und die erforderliche Vorbildfunktion einnehmen.[4] Drei bis fünf Prozent: In dieser Rechnung erhalten die Auswirkungen unserer individuellen Handlungen sofort eine andere Gewichtung.

Die Grenzen zwischen Privatem und Allgemeinheit sind fließend. Die erste Familie in einer europäischen Kleinstadt, die begann, Solarzellen auf ihrem Hausdach zu installieren, regte vermutlich den einen oder anderen Nachbarn an, es ihr gleichzutun. Mit einem Mal sparte das Stadtviertel monatlich mehrere Tonnen CO2 ein und machte sich ein Stück weit frei von den börsennotierten Energieriesen, die es mit Umweltpolitik erst dann genauer nehmen, wenn ihnen politisch die Pistole auf die Brust gesetzt wird. Der Verzicht Einzelner auf exzessiven Fleischkonsum oder der Erwerb fleischloser Alternativen regt andere Mitmenschen womöglich zum Nachdenken an. Und spätestens, wenn sich Menschen in Initiativen und Organisationen zusammentun, um etwas fürs Allgemeinwohl zu tun, vervielfacht sich die Macht der Einzelnen. Es mag oft unsexy erscheinen, sich für Umweltschutz oder soziale Gerechtigkeit zu engagieren, aber niemand kann behaupten, dass die Auswirkungen dieses Engagements nicht wünschenswert seien – oder vermisst etwa irgendwer FCKW, das für die Zerstörung der schützenden Ozonschicht in unserer Atmosphäre verantwortlich war, und das ohne den hartnäckigen Einsatz von Umweltschutzorganisationen womöglich heute noch im Einsatz wäre? Oder missgönnen wir den zahlreichen Angestellten in Billiglohnverhältnissen in unserem Land die Einführung eines Mindesteinkommens? Es behaupte niemand, Einzelne könnten nichts bewirken. Alles zählt! Jede Entscheidung, auch jeder zaghafte Versuch, kann Auswirkungen haben, womöglich Konsequenzen nach sich ziehen, die nur auf den ersten Blick nicht offensichtlich sind. Viele Einzelne haben schon ihre Vereine, ihre Kirchengemeinden, ja manchmal sogar ihre Firma verändert, weil sie die Leitenden überzeugen konnten, mit etwas Aufwand große Verbesserungen für die Allgemeinheit erreichen zu können. Und als Konsumenten müssen wir uns zunächst nur der verwirrenden Vielfalt an Alternativen zu den marktbeherrschenden Unternehmen stellen. Das ist vielleicht unbequem, aber es ist mit Sicherheit nicht unmöglich.

Fakt ist natürlich, dies geht nur auf Kosten unserer Zeit. Was im Umkehrschluss heißt: Ja, in erster Linie aus Zeitgründen bestellen wir alles bei jenem großen Onlinelieferanten, der leider auch für Lohndumping und die skandalöse Praxis, neuwertige Retourware teilweise aus Kostengründen zu vernichten, bekannt ist. Nähmen sich nur genug Menschen die Zeit für die entsprechende Recherche nach Alternativen, oder vielleicht auch einfach für den Einkauf im nächstgelegenen Fachgeschäft, wäre besagter Großhändler vielleicht bald nicht mehr der Monopolist, zu dem wir ihn gemacht haben. Aber dies nur am Rande.

Alles zählt, auch der eine oder andere Euro mehr, den wir bereit sind, in Produkte zu investieren, über deren Hintergründe wir Bescheid wissen: Möbelstücke aus zertifiziertem Holz, Kleidungsstücke aus kontrollierter Fertigung, Finanzprodukte, die ethisch vertretbar angelegt werden, Lebensmittel aus der Region, in der wir leben. Wer oder was hindert uns noch daran, eine konsequente, umfassende Umkehr in Angriff zu nehmen?

7 Der Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes, einer Nähfabrik in Dhaka, Bangladesch, der über 1000 Menschenleben forderte, gilt als Paradebeispiel für die ausbeuterischen Verhältnisse, für die westliche Firmen und Konsumenten in der Dritten Welt verantwortlich sind. Seit der Katastrophe im Jahr 2013 wurde allerdings viel verbessert: Gerade in Bangladesch wurden die Arbeitnehmerrechte und Schutzstandards deutlich angehoben, die Gehälter gesteigert, sogar wirksame Umweltschutzstandards erlassen. Nicht übersehen werden darf dabei allerdings, dass neben den weiterhin problematischen Bereichen in den klassischen Produktionsländern der Textilindustrie (Korruption bei der Überwachung der angehobenen Standards, zahlreiche kleinere, mitunter gar nicht kontrollierte Betriebe, …) selbige nun einfach auf andere Länder (beispielsweise Äthiopien) ausweicht, die noch nicht im Blick der kritischen Weltöffentlichkeit stehen und wo Arbeitnehmervertretungen schwach ausgeprägt sind.[1]

8 Viele exklusive Modelabels lassen übrigens unter ebenso unmenschlichen Arbeitsbedingungen produzieren wie die Billiganbieter, von denen manche den Premium-Marken in Sachen Ethik- und Nachhaltigkeitsstandards mittlerweile sogar einige Schritte voraus sind.

9 Die Kritik an den verschiedenen Freihandelsabkommen, welche die EU mit unterschiedlichen Nationen bzw. Wirtschaftsräumen seit Jahren vorantreibt, ist zuletzt wieder in den Hintergrund getreten – an Aktualität hat sie allerdings nichts verloren: Supranationale Schiedsgerichte, die gigantische Klagen gegen Staaten zwecks „Investitionsschutz“ von Unternehmen ermöglichen, Aushöhlung von Gesundheits- und Arbeitnehmerstandards, geheim verhandelt oder mit diplomatischen Winkelzügen an der Nationalparlamenten vorbei auf den Weg gebracht. Zudem werden die Eckwerte oftmals stark einseitig diktiert; gerade afrikanische Nationen können den von den Europäern geforderten Bedingungen wenig entgegensetzen. Freihandel im eigentlichen Sinne des Wortes sähe anders aus. Am Ende zahlen die Steuerzahler in den Industrienationen und die Arbeiter in den „Juniorpartner-Ländern“ die Zeche.[2]

10 Erwiesenermaßen hat die von Deutschland angeführte Sparpolitik die Wirtschaftskrise im Süden Europas verschärft. Leidtragend ist vor allem die einfache Bevölkerung in Ländern wie Griechenland: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist auf über 70% gestiegen, bei etwa 25% Gesamtarbeitslosigkeit; in der Zeit seit Ausbruch der Krise sind die Renten bereits 13 (!) mal gekürzt worden; die öffentlichen Ausgaben im Gesundheitssektor zwischen 2009 und 2016 wurden halbiert, 54 der 137 Krankenhäuser geschlossen. Saniert wurden stattdessen die Banken – auf Kosten der Staatshaushalte.[3]

11 Wenn beispielsweise ein deutscher Verkehrsminister behauptet, ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen sei „gegen jede Vernunft“, dann disqualifiziert sich dieser Minister mit seiner Aussage als Erfüllungsgehilfe eines Industriezweiges, der die Politik im Sinne seiner Profite zu beeinflussen sucht – insbesondere dann, wenn die Kosten für diese Profite die Allgemeinheit zu zahlen hat. Denn noch bevor geklärt ist, ob ein Tempolimit signifikant der Reduktion von Abgasen und der Verringerung von Unfallzahlen dient oder nicht, erfordert es doch gerade die Vernunft, sich entsprechende Fragen zu stellen, und gegebenenfalls die eigenen egoistischen Bedürfnisse zum Wohle der Allgemeinheit zurückzustellen, sofern die genannten Effekte tatsächlich eintreten sollten – wozu im Falle des Tempolimits wirklich keine wissenschaftlichen Studien nötig sein sollten.

Befreiung - Von der Notwendigkeit und den Möglichkeiten einer umfassenden Umkehr

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