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Kapitel 2
Der Insider und die Ausgegrenzte

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In den Geschichten vom Insider und von der Ausgegrenzten werden wir eine konkrete Frage stellen: „Was ist verkehrt mit der Welt, so wie sie ist?“ Denn wir können nicht einfach dazu übergehen, uns zu fragen, was wir tun sollten, um die Welt zu verbessern, bevor wir nicht verstehen, was mit ihr eigentlich nicht stimmt. Die Diagnose kommt vor der Therapie. Und ich glaube, wir werden hier ein gutes Bündel an Antworten finden.

Im dritten Kapitel des Johannesevangeliums begegnet Jesus einem hochanständigen Insider, der eine Führungsrolle im zivilen und religiösen Establishment einnimmt. Im folgenden Kapitel trifft er einen sozialen, moralischen und religiösen Outsider – einen Ausgestoßenen – und das ist zufällig eine Frau. Beide Geschichten sind den meisten Christen wohlbekannt, denn sie zeichnen ihre Figuren einigermaßen detailliert und enthalten eindrucksvolle Dialoge. Interessant ist nun aber, wenn diese Texte ausgelegt werden, dann steht immer nur einer davon im Mittelpunkt, niemals beide zusammen. Ich halte das für einen Fehler, denn ich glaube, es gibt einen Grund dafür, warum diese beiden Begegnungen unmittelbar nacheinander berichtet werden. Der Autor möchte, dass wir sie miteinander betrachten. Diese beiden Personen erscheinen auf den ersten Blick so verschieden, ihre Lebensumstände so unterschiedlich, dass es den Anschein hat, sie können unmöglich miteinander zu tun gehabt haben. Aber der Verfasser des Evangeliums stößt uns darauf, dass wir fragen: So verschieden, wie sie sind, der Insider und die Ausgegrenzte, was verbindet sie? Denn wenn diese beiden Menschen etwas gemeinsam haben, dann haben wir alle etwas gemeinsam. Diese beiden Begegnungen gemeinsam anzuschauen wird uns helfen zu erkennen, was Johannes hier sagt – über den Zustand der Welt und die Rolle, die wir alle dabei spielen, die Welt zu dem zu machen, was sie heute ist.

Es ist unmöglich, über diese Begegnungen zu sprechen, ohne dabei auf das Thema Sünde zu sprechen zu kommen. Ich weiß, Worte wie „Sünde“ und „Sünder“ tragen jede Menge kulturellen Ballast mit sich, und ich kann verstehen, warum Menschen zusammenzucken, wenn sie hören, dass jemand sie gebraucht. Man hat diese Wörter leider dazu missbraucht, Nichtchristen zu marginalisieren. Es ist leicht zu sagen: „Du bist nicht nur jemand, der anderer Meinung ist als ich; du bist ein Sünder.“ Es ist ein Wort, das dazu verwendet wurde, sich auf ein künstliches moralisches Podest zu schwingen und ein Urteil über die zu fällen, die darunterstanden. Wenn du ein Sünder bist (aber, ergänzt man, ich keiner bin), dann hat man statt eines wirklichen Gesprächs, in dem man sich selbst ehrlich den Fragen des anderen aussetzt, den anderen marginalisiert.

Ich glaube, es ist offensichtlich, dass dieses Verständnis von Sünde falsch ist. Das umfassende biblische Verständnis von Sünde ist viel radikaler und weitreichender. Der Begriff kann niemals als Waffe verwendet werden, denn er wird auf jeden zurückfallen, der das versucht. Biblisch gesehen entkommt niemand dem Verdikt, ein Sünder zu sein. Und darum geht es in diesen zwei Geschichten.

Beginnen wir mit der Begegnung der ausgegrenzten Frau mit Jesus, denn hier begegnen wir einem Bild von Sünde, das den meisten Menschen vertraut sein dürfte. Diese Begegnung zwischen Jesus und einer Frau an einem Brunnen findet sich in Johannes 4. Jesus wandert mit seinen Jüngern durch Samaria, das außerhalb von Judäa liegt. Als er in die Nähe einer Stadt kommt, machen seine Jünger sich auf, um dort etwas zu essen zu besorgen. Jesus ist sehr müde und durstig. Und zur sechsten Stunde, also mittags, in der größten Hitze, geht er zu einem Brunnen. Aber er kann kein Wasser daraus schöpfen, denn er hat kein Gefäß. Aber dann kommt eine Frau allein zum Brunnen, und er sagt:

„Gib mir etwas zu trinken.“

Die Frau war überrascht, denn normalerweise wollten die Juden nichts mit den Samaritern zu tun haben. Sie sagte: „Du bist doch ein Jude! Wieso bittest du mich um Wasser? Schließlich bin ich eine samaritische Frau!“

Jesus antwortete ihr: „Wenn du wüsstest, was Gott dir geben will und wer dich hier um Wasser bittet, würdest du mich um das Wasser bitten, das du wirklich zum Leben brauchst. Und ich würde es dir geben.“

„Aber Herr“, meinte da die Frau, „du hast doch gar nichts, womit du Wasser schöpfen kannst, und der Brunnen ist tief! Wo willst du denn das Wasser für mich hernehmen? Kannst du etwa mehr als Jakob, unser Stammvater, der diesen Brunnen gegraben hat? Er selbst, seine Kinder und sein Vieh haben schon daraus getrunken.“

Jesus erwiderte: „Wer dieses Wasser trinkt, wird bald wieder durstig sein. Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, der wird nie wieder Durst bekommen. Dieses Wasser wird in ihm zu einer Quelle, die bis ins ewige Leben hineinfließt.“

„Dann gib mir dieses Wasser, Herr“, bat die Frau, „damit ich nie mehr durstig bin und nicht immer wieder herkommen und Wasser holen muss!“

Jesus entgegnete: „Geh und ruf deinen Mann. Dann kommt beide hierher!“

„Ich bin nicht verheiratet“, wandte die Frau ein.

„Das stimmt“, erwiderte Jesus, „verheiratet bist du nicht. Fünf Männer hast du gehabt, und der, mit dem du jetzt zusammenlebst, ist nicht dein Mann. Da hast du die Wahrheit gesagt.“

Erstaunt sagte die Frau: „Ich sehe, Herr, du bist ein Prophet!“

(Joh 4, 7-19)

Was zuerst an der Geschichte auffällt, ist der radikale Schritt, den Jesus macht, indem er dieses Gespräch beginnt. Uns erscheint es vielleicht nicht ungewöhnlich, diese beiden miteinander reden zu sehen, das war es aber. Die Frau selbst ist ganz erschrocken, dass er sie anspricht, denn Juden und Samariter waren erbitterte Feinde. Jahrhunderte zuvor waren die meisten Bewohner des Nordreiches Israel von ihren Eroberern, den Assyrern, ins Exil verschleppt worden (das Südreich Juda wurde gut 130 Jahre später nach Babylon ins Exil geführt). Im Gegenzug siedelten die Assyrer dort Deportierte aus anderen Völkern an. Einige von den Israeliten, die im Land geblieben waren, hatten sich mit den Zugezogenen verheiratet und es entstand schließlich ein neuer Stamm, die Samariter. Aus der israelitischen Religion und Elementen der verschiedenen importierten Kulte formten sie eine synkretistische Religion. Deswegen betrachteten Juden (die aus der Babylonischen Gefangenschaft zurückgekehrt waren) die Samariter als rassisch minderwertig und als Ketzer. Schon aus diesem Grund ist die Frau überrascht, dass er mit ihr spricht. Dazu kam aber noch, dass es als Skandal galt, wenn ein jüdischer Mann in der Öffentlichkeit eine fremde Frau ansprach.

Noch wichtiger ist, dass sie mittags zum Brunnen gekommen war. Viele Ausleger haben darauf hingewiesen, dass das nicht die Zeit ist, in der Frauen normalerweise Wasser holten. Sie kamen früh am Morgen, wenn es noch nicht heiß war, und holten Wasser für alle Arbeiten, die am Tag im Haus zu erledigen waren. Warum also war sie nun hier, mitten am Tag und allein? Die Antwort ist: Sie war eine Ausgestoßene, eine komplette Außenseiterin – sogar in ihrem eigenen selbst schon marginalisierten Teil der Gesellschaft.

Als Jesus das Gespräch mit ihr beginnt, überwindet er damit bewusst fast jede bedeutsame Barriere, die Menschen zwischen sich aufrichten können. In diesem Fall sind es eine rassische Barriere, eine kulturelle Barriere, eine Geschlechterbarriere und eine moralische Barriere – und alle Verhaltensregeln der Zeit sagten, dass er, ein religiöser jüdischer Mann, auf keinen Fall irgendetwas mit ihr zu tun haben dürfe. Aber das kümmert ihn nicht. Sehen Sie, wie radikal das ist? Er streckt die Hand über alle menschlichen Grenzen hinweg aus, um mit ihr in Kontakt zu kommen. Sie ist verwundert, und wir sollten es auch sein.

Der zweite bemerkenswerte Zug an dieser Begegnung liegt darin, dass er ihr zwar offen und warmherzig begegnet, sie aber dennoch konfrontiert. Aber das geschieht freundlich und sehr einfühlsam. Er beginnt, indem er sagt: „Wenn du wüsstest, wer ich bin, würdest du mich um das Wasser bitten, das du wirklich zum Leben brauchst; und wenn du davon trinkst, wirst du nie wieder Durst bekommen.“

Wovon um alles in der Welt redet Jesus? Er spricht metaphorisch, erwähnt „lebendiges Wasser“ (so wörtlich), und nennt es „ewiges Leben“. Das Bild ist für uns nicht gleich eingängig. Fast überall in den westlichen Ländern verfügt man heute ganz einfach über fließendes Wasser. Die meisten von uns kennen keinen wirklichen Durst, ganz im Gegensatz zu Menschen, die in Wüstengebieten mit trockenem Klima leben. Weil unser Körper zu einem so großen Teil aus Wasser besteht, ist echter Durst eine Qual. Und Wasser zu trinken, wenn man wirklich durstig gewesen ist, ist so etwa das Befriedigendste, das man sich vorstellen kann.

Was also sagt Jesus zu dieser Outsiderin? Er sagt Folgendes: „Ich habe etwas für dich, das in spiritueller Hinsicht so grundlegend und notwendig für dich ist, wie Wasser es in physischer Hinsicht ist. Etwas, ohne das du absolut verloren bist.“

Aber das Bild vom „lebendigen Wasser“ bedeutet noch mehr. Jesus sagt uns hier nicht nur, dass das, was er anzubieten hat, ergiebig, erfüllend und lebensrettend ist – er macht auch deutlich, dass es von innen zufriedenstellt. Er sagt: „Wer von dem Wasser trinkt, das ich gebe, der wird nie wieder Durst bekommen. Dieses Wasser wird in ihm zu einer Quelle, die bis ins ewige Leben hineinfließt.“ Er redet von der tiefen Zufriedenheit der Seele, von einem unglaublichen Seelenfrieden und einer Gelassenheit, die nicht davon abhängig ist, was um uns her passiert. Wenn ich Sie also frage: „Was würde Sie glücklich machen? Was würde Ihnen wirklich ein erfülltes Leben geben?“ – Fast immer denken wir da an etwas außerhalb von uns. Manche setzen ihre Hoffnung auf die große Liebe, manche auf die Karriere, manche auf die Politik oder ein soziales Engagement und manche auf Geld und das, was es uns ermöglicht. Aber was immer es auch ist, von dem Sie sagen: „Wenn ich das habe, wenn ich das erreiche, dann werde ich wissen, dass ich wichtig bin, bedeutend, dann werde ich wissen, dass ich Sicherheit erreicht habe“ – sehr wahrscheinlich ist es etwas außerhalb Ihrer selbst.

Aber Jesus sagt, es gibt nichts Äußeres, das wirklich den Durst stillen kann, der tief in uns spürbar ist. Um das Bild noch ein wenig auszuweiten: Wir brauchen kein Wasser, das wir uns ins Gesicht spritzen; wir brauchen Wasser, das aus tieferen Quellen kommt als selbst unser innerer Durst. Und Jesus sagt: „Ich kann es dir geben. Ich kann dir absolute, abgrundtiefe Zufriedenheit in deinem tiefsten Innern geben, egal, was außen geschieht oder wie die Umstände sind.“

Irgendetwas verhindert, dass wir hören, wovon Jesus hier spricht, und ich glaube, es ist die Tatsache, dass die meisten von uns nicht in der Lage sind, den Durst ihrer Seele als das zu erkennen, was er ist. Solange wir glauben, dass die Chancen nicht schlecht stehen, einige unserer Träume zu verwirklichen, solange wir glauben, dass wir unseren Teil vom Erfolg abkriegen werden, erleben wir unsere innere Leere als „Antrieb“ und unsere Angst als „Hoffnung“. Und so können wir nahezu komplett ahnungslos bleiben im Blick darauf, wie tief unser Durst tatsächlich ist. Die meisten von uns sagen sich, dass wir nur deshalb unzufrieden sind, weil wir schlicht nicht in der Lage waren, unsere Ziele zu erreichen. Und so können wir fast unser ganzes Leben verbringen, ohne uns selbst einzugestehen, wie tief unser spiritueller Durst ist.

Und das ist der Grund dafür, dass die wenigen tatsächlich existierenden Leute, die tatsächlich das Ziel ihrer Träume erreichen oder sogar übertreffen, schockiert sind, wenn sie feststellen, dass diese heiß ersehnten Umstände sie nicht zufriedenstellen. Ja, sie können die innere Leere sogar noch vergrößern. Der große Tennisstar Boris Becker sagte vor Jahren: „Ich hatte zweimal als jüngster Spieler Wimbledon gewonnen. Ich war reich. … Ich hatte alles, was ich brauchte … Es ist das alte Lied von Filmstars oder Popstars, die sich das Leben nehmen. Sie haben alles, und sie sind doch unglücklich. Aber ich hatte keinen inneren Frieden.“1 Vielleicht sagen wir: „Die Probleme möchte ich haben.“ Aber der Punkt ist, dass er genau die gleichen Probleme hat wie wir und dass er wie wir gedacht hatte, Geld, Sex, Erfolg und Ruhm würden sie lösen. Der Unterschied ist nur: Er hat all diese Dinge bekommen, und sie haben seinen Durst nicht im Mindesten gelöscht. Es gibt ein berühmtes Interview mit Sophia Loren, in dem sie sagt, sie habe alles – Filmpreise, Ehe –, aber „in meinem Leben gibt es eine Leere, die sich einfach nicht füllen lässt.“2

Jeder muss für irgendetwas leben; aber Jesus sagt hier, wenn dieses Irgendetwas nicht er ist, wird es uns enttäuschen. Erstens wird es uns versklaven. Was immer dieses Irgendetwas ist, wir werden uns sagen, dass wir es haben müssen oder es gibt keine Zukunft. Wenn es bedroht ist, werden wir übermäßig erschreckt sein; wenn sich ihm etwas in den Weg stellt, werden wir übermäßig zornig sein; wenn wir es nicht erreichen, werden wir uns das selbst nie verzeihen können. Zweitens aber, wenn wir es schließlich erreichen, wird es nicht die Erfüllung mit sich bringen, die wir erwartet haben.

Lassen Sie mich Ihnen eine wortgewandte heutige Fassung dessen geben, was Jesus hier sagt. Niemand hat es besser formuliert als der postmoderne amerikanische Schriftsteller und Intellektuelle David Foster Wallace. Er gehörte zu den Besten seiner Profession. Er gewann Literaturpreise, schrieb Bestseller und war in der ganzen Welt bekannt für seinen leidenschaftlichen und grenzüberschreitenden Erzählstil. Er schrieb einmal einen Satz, der mehr als tausend Wörter lang war. Und tragischerweise nahm er sich das Leben. Aber ein paar Jahre vorher hielt er eine inzwischen berühmte Rede vor der Graduiertenklasse von Kenyon College:

Jeder betet etwas an. Wir haben nur die Wahl, was wir anbeten. Und der zwingende Grund, sich vielleicht dafür zu entscheiden, irgendeinen Gott anzubeten … ist der, das so ziemlich alles andere, das Sie anbeten, Sie bei lebendigem Leib verschlingt. Beten Sie Geld oder Besitz an und erwarten von ihnen echten Sinn im Leben und Sie werden nie genug davon bekommen, nie das Gefühl haben, genug zu haben. Es ist die Wahrheit. Beten Sie Ihren Körper an, Ihre Schönheit und sexuelle Anziehungskraft, und Sie werden sich immer hässlich fühlen. Und wenn die Zeit und das Alter ihre Spuren hinterlassen, werden Sie tausend Tode sterben, noch bevor Ihre Lieben Sie schließlich begraben …

Beten Sie die Macht an und Sie werden sich zuletzt schwach und ängstlich fühlen und immer noch mehr Macht über andere brauchen, um die eigene Furcht zu betäuben. Beten Sie Ihren Intellekt an, dass man Sie für smart hält, und Sie werden sich am Ende albern vorkommen, wie ein Schwindler, der in ständiger Angst davor lebt, dass man ihm auf die Schliche kommt. Sehen Sie, das Heimtückische an all diesen Formen der Anbetung ist nicht, dass sie in sich schlecht oder sündhaft wären; es liegt darin, dass sie uns unbewusst sind. Es sind Grundeinstellungen.3

Wallace selbst war keineswegs religiös, aber er verstand, dass jeder etwas anbetet, jeder sein Heil von irgendetwas erwartet, jeder sein Leben auf etwas gründet, das Glauben erfordert. Wenige Jahre nach dieser Rede tötete Wallace sich selbst. Und die Abschiedsworte dieses alles andere als religiösen Menschen an uns sind ziemlich erschreckend: „Etwas wird Sie bei lebendigem Leib verschlingen.“ Denn auch wenn wir es niemals Anbetung nennen würden, können wir absolut sicher sein, dass wir etwas anbeten, dass wir auf der Suche sind. Und Jesus sagt: „Wenn ihr nicht mich anbetet, wenn nicht ich im Zentrum eures Lebens stehe, wenn ihr euren spirituellen Durst nicht von mir löschen lasst, sondern von all dem anderen, wenn ihr nicht erkennt, dass die Lösung von innen kommen muss, nicht von außen – dann wird, was immer ihr anbetet, euch am Ende im Stich lassen.“

Ich habe gesagt, dass wir oft vergessen, wie durstig wir sind, weil wir glauben, dass wir uns unsere Träume erfüllen werden. Und wenn das geschieht, ist es einfach, Jesus zu übersehen. Aber diese Frau am Brunnen hat keine solchen Illusionen mehr, und so schnappt sie nach dem Köder. Sofort sagt sie zu Jesus: „Dann gib mir dieses Wasser!“ Und nun dreht Jesus den Spieß um: „Geh und ruf deinen Mann.“

„Ich bin nicht verheiratet“, antwortet sie.

„Das stimmt“, erwiderte Jesus, „verheiratet bist du nicht. Fünf Männer hast du gehabt, und der, mit dem du jetzt zusammenlebst, ist nicht dein Mann.“

Was tut Jesus da? Diese Frau mit ihrer langen und erbärmlichen sexuellen Geschichte ist ganz sicher jemand, auf den das traditionelle Bild eines „Sünders“ passt. Will er sie demütigen? Nein. Wäre das der Fall, hätte er sich niemals über die sozialen Schranken des Anstands hinweggesetzt und ein Gespräch mit ihr begonnen, schon gar nicht auf diese einfühlsame Art.

Warum wechselt Jesus also plötzlich das Thema und kommt von der Suche nach lebendigem Wasser auf ihre Männergeschichten? Die Antwort ist: Er wechselt das Thema gar nicht. Er gibt ihr einen kleinen Stupser, indem er sagt: „Wenn du verstehen willst, was es mit diesem lebendigen Wasser auf sich hat, musst du zuerst verstehen, wie du in deinem Leben bisher danach gesucht hast. Du hast es in Männergeschichten gesucht, und das funktioniert nicht, stimmt’s? Deine Sehnsucht nach Männern verzehrt dich bei lebendigem Leib, und das wird nie enden.“

Die Frau, schockiert darüber, was er über ihr Leben weiß und über seinen Tiefblick, antwortet: „Ich sehe, Herr, du bist ein Prophet.“ Und dann stellt sie ihm eine der großen theologischen Streitfragen ihrer Zeit: „Wir beten Gott auf diesem Berg dort an und die Juden beten ihn im Tempel in Jerusalem an. Wer hat recht?“ Die Antwort, die Jesus in Vers 21-24 gibt, könnte man so umschreiben: „Es kommt eine Zeit, in der man keinen Tempel mehr brauchen wird, um zu Gott zu gelangen.“

Sie ist überwältigt und erwidert: „Wenn der Messias kommt, wird er uns schon alles erklären.“ Jetzt spielt Jesus seinen Trumpf aus: „Du sprichst mit ihm. Ich bin der Messias“ (Johannes 4,26).

Wenden wir uns jetzt der Begegnung zu, die diesem Gespräch mit einer Außenseiterin vorausging. In Johannes 3 trifft Jesus sich mit einem sehr bedeutenden Mann, einem Pharisäer, einer religiösen und bürgerlichen Führungsfigur.

Einer von den Männern des Hohen Rates war der Pharisäer Nikodemus. Mitten in der Nacht kam er heimlich zu Jesus: „Meister“, sagte er, „wir wissen, dass Gott dich als Lehrer zu uns gesandt hat. Denn niemand kann die Wunder tun, die du vollbringst, wenn Gott ihn nicht dazu befähigt.“

Darauf erwiderte Jesus: „Ich will dir etwas sagen, Nikodemus: Wer nicht neu geboren wird, kann nicht in Gottes neue Welt kommen.“

Verständnislos fragte der Pharisäer: „Wie kann ein Erwachsener neu geboren werden? Er kann doch nicht wieder in den Mutterleib zurück und noch einmal auf die Welt kommen!“

„Ich sage dir die Wahrheit!“, entgegnete Jesus. „Nur wer durch Wasser und durch Gottes Geist neu geboren wird, kann in Gottes neue Welt kommen! Ein Mensch kann immer nur menschliches Leben zur Welt bringen. Wer aber durch Gottes Geist geboren wird, bekommt neues Leben. Wundere dich deshalb nicht, wenn ich dir gesagt habe: Ihr müsst neu geboren werden.“ (Johannes 3,1-7)

Ist es Ihnen aufgefallen? Dies hier ist das genaue Gegenteil von Jesu Verhalten gegenüber der Frau am Brunnen. Mit ihr begann er das Gespräch freundlich, überraschte sie durch seine Offenheit, und konfrontierte sie dann langsam mit ihrer eigenen spirituellen Sehnsucht. Aber in seiner Begegnung mit einem Insider ist Jesus zupackender und direkter. Nikodemus beginnt verbindlich: „Ach, Rabbi, ich höre große Dinge über dich. Es heißt, Gott hat dir unvergleichliche Weisheit verliehen.“ Aber Jesus konfrontiert Nikodemus schroff: „Du musst neu geboren werden.“ Ich vermute, Nikodemus, ein Mann, dessen Lebensinhalt es war, Gott nach rechter jüdischer Tradition zu verehren, war von dieser seltsamen Verlautbarung ein wenig vor den Kopf gestoßen.

Neu geboren, „wiedergeboren“ – hier kommt dieser inzwischen überfrachtete Begriff also her. Wer ist ein „wiedergeborener“ Christ? Heute ist der Glaube verbreitet, dass Menschen, die es nötig haben, „wiedergeboren zu sein“, anders sind als die meisten anderen – emotionaler oder kaputter, vielleicht drogensüchtig oder psychisch labil – und dass sie eine dramatische Kehrtwende brauchen, um auf den richtigen Weg zu gelangen. Sie haben etwas so Schlimmes getan oder sind so schwach, dass nur eine dramatische Lebensveränderung ihnen helfen kann. Heute also würden die meisten im Glauben, sie seien tolerant, wohl sagen, wiedergeboren zu sein sei etwas für solche, die mehr Schwächen haben als der Rest der Menschheit und die daher eine seelische Reinigung brauchen. Vielleicht ist es etwas für Leute, die Autorität und Struktur im Leben brauchen und sich deshalb streng reglementierten, autoritären religiösen Bewegungen anschließen. Mit anderen Worten: „Wiedergeboren zu sein“ ist etwas für einen bestimmten Typ Mensch. Und wenn jemand eine solche Erfahrung braucht – bitte schön.

Das Problem bei dieser Auffassung ist: Aufgrund der biblischen Geschichte ist sie unhaltbar. Nikodemus ist eine Respektsperson, Mitglied des Sanhedrins, des obersten Gerichtshofs in Israel. Er ist wohlhabend. Er ist ein frommer und aufrechter Pharisäer; niemand konnte in religiöser Hinsicht einen besseren Ruf haben. Er ist ganz und gar kein überemotionaler oder gescheiterter Typ. Und wenn Nikodemus Jesus – einen jungen Mann ohne nennenswerte Ausbildung – mit „Rabbi“ anredet, zeigt das, dass er vorurteilsfreier und bescheidener ist als die meisten seines Rangs. In Nikodemus haben wir also einen durch und durch exzellenten Menschen vor uns: zielstrebig, erfolgreich, diszipliniert, moralisch untadelig, religiös und doch ohne Vorurteile.

Und was sagt Jesus zu ihm? Hier verwendet er ein anderes Bild als in seinem Gespräch mit der Frau am Brunnen. Er bedrängt ihn nicht mit dem Thema der inneren Unzufriedenheit („Ich kann dir lebendiges Wasser geben“), dafür aber mit einem Hinweis auf seine selbstgerechte Selbstgefälligkeit. („Du musst neu geboren werden.“) „Was“, fragt Jesus, „hast du schon dazu getan, dass du geboren wurdest? Hast du dich abgemüht, um das Privileg zu verdienen, geboren zu werden? Ist das geschehen, weil du dich so angestrengt, alles so gut geplant hast? Wohl kaum. Du hast weder mitgewirkt noch es dir verdient, geboren zu werden. Es ist ein freies Geschenk des Lebens. Und genauso ist es mit der neuen Geburt. Das Heil gibt es aus Gnade – keine moralische Anstrengung kann es verdienen oder beanspruchen. Du musst neu geboren werden.“

Einem Mann wie Nikodemus so etwas zu sagen, ist schon erstaunlich. Jesus sagt damit, dass die Zuhälter und Prostituierten draußen auf den Straßen geistlich gesehen in derselben Position sind wie Nikodemus. Hier haben wir Nikodemus, voller moralischer und spiritueller Pflichterfüllung, und da draußen ist ein obdachloser Trinker, und aus Gottes Perspektive sind sie beide in gleichem Maß verloren. Sie müssen beide noch einmal von vorn beginnen. Sie müssen beide neu geboren werden. Sie brauchen beide ewiges geistliches Leben oder irgendetwas wird sie bei lebendigem Leib verschlingen. Und dieses Leben muss ein Geschenk sein – umsonst.

Wie kann Jesus so etwas sagen?

Er kann es, weil er ein tieferes Verständnis von Sünde entwickelt, als es die meisten Leute haben. Kommen wir also auf dieses Wort mit seinem ganzen kulturellen Ballast zurück. Da ist die Frau am Brunnen. Die meisten Leute verstehen wahrscheinlich, warum Jesus in ihr eine Sünderin sieht, die Erlösung braucht. Aber die meisten Leute verstehen nicht, warum Jesus Nikodemus, den Insider, genauso behandelt. Warum sollte man ihn als einen erlösungsbedürftigen Sünder sehen? Warum sollte Jesus diesem guten Menschen sagen, dass er absolut nichts dazu getan hat, einen Platz im Himmel zu verdienen?

Hier ist die überraschende Antwort: Sünde bedeutet, sein Heil von etwas anderem zu erwarten als von Gott. Sünde bedeutet, sich selbst an Gottes Stelle zu setzen, sein eigener Erlöser und sein eigener Herr zu sein, sozusagen. Das ist die biblische Definition von Sünde im ersten der Zehn Gebote. Eine Weise, in Sünde zu leben, besteht darin, auf der Suche nach Vergnügen und Glück alle moralischen Regeln zu brechen, wie die Frau am Brunnen es tat. Man sucht sein Heil dann in Geld, Sex oder Macht. Aber es gibt auch eine sehr religiöse Weise, sein eigener Erlöser und Herr zu sein. Sie besteht darin, so zu handeln, als würde das eigene gute Leben und die moralische Vollkommenheit Gott am Ende dazu verpflichten, einen zu segnen und die eigenen Gebete zu erhören. In diesem Fall erwartet man von den eigenen moralischen Bemühungen die Bedeutung und Sicherheit , die sich weniger religiöse Leute von Sex, Geld und Macht erhoffen.

Das Heimtückische dabei ist, dass religiöse Leute ständig davon reden, dass sie auf Gott vertrauen – aber wenn sie glauben, die eigene Perfektion verdiene ihnen das Heil, sind sie ihr eigener Erlöser. Diese Menschen vertrauen auf sich selbst. In diesem Fall begehen sie vielleicht keinen Ehebruch und rauben auch keine Leute aus, aber ihr Herz wird sich immer mehr mit Stolz, Selbstgerechtigkeit, Unsicherheit, Neid und Verachtung füllen, sodass sie den Menschen in ihrem Umfeld die Freude an der Welt vermiesen.

Wir sehen also: Nikodemus und die Frau am Brunnen sind in gleicher Weise erlösungsbedürftige Sünder. Wie wir alle. Immer geht es darum, sein eigener Erlöser und Herr zu sein. Es geht um den Versuch, Gott auf die eigenen Leitungen zu verpflichten oder zumindest die Unberechenbarkeit des Universums ein wenig zu den eigenen Gunsten zu verschieben. In jedem Fall nennt Jesus es Sünde. Er sagt: „Du brauchst lebendiges Wasser und du musst neu geboren werden. Du musst umkehren, die eigene Bedürftigkeit eingestehen, Gott bitten, dich um Jesu willen zu empfangen, und verwandelt werden.“

Vielleicht sagen Sie: „Aber ich bin weder das eine noch das andere – ich bin ein moralisch anständiger Mensch, und ich bin nicht religiös. Vielleicht gibt es einen Gott, das kann man nicht wissen. Aber in jedem Fall bin ich ein guter Mensch, und das ist alles, was zählt.“

Wirklich? Alles, was zählt? Stellen wir uns eine Witwe vor, die ihren Sohn großzieht und auf gute Schulen schickt und durchs Studium bringt – unter erheblichen Opfern, denn sie hat nur sehr bescheidene Mittel. Und sie sagt ihrem Sohn: „Ich möchte, dass du ein gutes Leben führst. Ich möchte, dass du immer die Wahrheit sagst, hart arbeitest und für die Armen sorgst.“ Der junge Mann beendet sein Studium und startet seine Karriere, beginnt ein eigenes Leben – und er redet nicht mehr mit seiner Mutter, hat nie Zeit für sie. Vielleicht schreibt er ihr noch zum Geburtstag, aber er ruft sie nie an, besucht sie nie. Angenommen, man fragt ihn nach seiner Beziehung zu seiner Mutter, und er antwortet: „Nein, persönlich habe ich mit ihr nichts zu tun. Aber ich sage stets die Wahrheit, arbeite hart und sorge für die Armen. Ich lebe ein gutes Leben, und das ist schließlich alles, was zählt, oder?“

Ich bezweifle, dass diese Antwort Ihnen gefallen würde. Es ist nicht genug, dass dieser Mann ein moralisches Leben führt, wie seine Mutter es sich gewünscht hatte, wenn er keine Beziehung mehr zu ihr hat. Sein Verhalten ist verwerflich, denn sie war es, die ihm alles gegeben hat, was er besitzt. Mehr als einen moralischen Lebenswandel schuldet er ihr seine Liebe und Unterstützung.

Wenn es einen Gott gibt, verdanken wir ihm buchstäblich alles. Wenn es einen Gott gibt, schulden wir ihm weit mehr als ein anständiges Leben. Er verdient es, der Mittelpunkt unseres Lebens zu sein. Man mag ein noch so guter Mensch sein – wenn man Gott nicht für sich persönlich Gott sein lässt, ist man ein ebensolcher Sünder wie Nikodemus und die Samariterin. Man ist dann sein eigener Erlöser und Herr.

Was ist die Lösung? Wir müssen aufhören, uns nach falschen Formen von Erlösung umzusehen, nach Pseudo-Rettern. Wenn Sie Ihr Leben auf Ihre Karriere bauen, auf Ihren Ehepartner, Ihr Geld oder Ihre Moral, und das dann schiefgeht, bleibt Ihnen keine Hoffnung mehr. Wissen Sie, warum? Weil jeder andere Retter außer Jesus Christus kein Retter ist. Wenn Ihre Karriere zerbricht, kann sie Ihnen nicht vergeben. Sie kann sie nur mit Scham und Selbstverachtung bestrafen. Jesus ist der einzige Retter, der Sie zufriedenstellen wird, wenn Sie ihn gewinnen, und der Ihnen vergeben wird, wenn Sie ihn enttäuschen. Ihre Karriere und Ihr moralisches Leben können nicht für Ihre Sünden sterben.

Wenn wir im vierten Kapitel bei Johannes weiterlesen, werden wir sehen, dass die Samariterin ihren Freunden von dem lebendigen Wasser, das sie gefunden hat, weitererzählt. Sie bezeugt, dass sie dem Messias begegnet sei, und lädt alle ein, ihn ebenfalls zu treffen. Warum hat sie das Heil gefunden? Die Antwort lautet: weil Jesus Durst hatte. Sonst wäre er nicht zum Brunnen gegangen, und sie hätte das lebendige Wasser nicht gefunden.

Aber warum war Jesus durstig? Weil der Gottessohn, der Schöpfer von Himmel und Erde, auf seine Herrlichkeit verzichtet hatte und als verwundbarer Sterblicher in die Welt gekommen war, ein Mensch, der müde und durstig werden konnte. Mit anderen Worten: Sie fand das lebendige Wasser, weil Jesus Christus sagte: „Ich habe Durst.“ Dies ist nicht das letzte Mal im Johannesevangelium, dass Jesus sagt: „Ich habe Durst.“ Er sagt es noch einmal am Kreuz, kurz vor seinem Tod, und er meint mehr als nur physischen Durst. Dort durchlebte Jesus den Abbruch der Beziehung zu seinem Vater, weil er die Strafe auf sich nahm, die unsere Sünden verdient hatten. Dort war er abgeschnitten vom Vater, der Quelle lebendigen Wassers. Er verspürte den äußersten, quälenden, tödlichen, ewigen Durst, auf den der schlimmste Tod durch Verdursten nur ein schwacher Hinweis ist. Das ist paradox und unfassbar zugleich. Weil Jesus Christus am Kreuz einen kosmischen Durst durchlitt, kann unser, mein und Ihr spiritueller Durst gestillt werden. Weil er starb, können wir neu geboren werden.

Und er tat es gern. Wenn wir sehen, was er tat und warum, dann wird sich unser Herz von den Dingen, die uns versklaven, abwenden und sich voller Ehrfurcht und anbetend ihm zuwenden. Das ist das Evangelium, und es gilt für Zweifler, Glaubende, Insider, Outcasts und jeden anderen Typ von Mensch.

Der zugewandte Jesus

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