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VORWORT
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EIN ZUG IST EIN ZUG IST EIN ZUG, nicht wahr? Parallele Gleise quer durch die Landschaft, auf Stahl laufende Räder, Kraft und Fliehkraft der schweren Lok, die ihre Wagenschlange durch ein Gewirr von Weichen führt, in Tunnel hinein und wieder hinaus, während der Reisende knapp einen Meter über dem Erdboden sitzt und unbehelligt vom Wetter von einer Stadt zur nächsten rast, dabei ein Buch liest, mit Freunden plaudert oder einfach ein bisschen döst, jeder Verantwortung für Tempo oder Lenkung enthoben und von der Verpflichtung befreit, der Welt, durch die er sich bewegt, die sonst nötige Aufmerksamkeit zu schenken. So oder so ähnlich werden Bahnreisen wohl überall erlebt.
Nur in Indien ist es jedoch möglich, an der offenen Wagentür zu stehen, während der Zug ratternd und schwankend durch die sandige Ebene von Rajasthan fährt. Die elegante Melancholie des Hauptbahnhofs von Buenos Aires, von britischen Architekten in französischem Stil entworfen, mit Stahlbögen, die aus dem fernen Liverpool angeliefert wurden, erzählt viel über das heutige und das damalige Argentinien. Und mit Sicherheit lassen sich die Geschichte und der Zeitgeist von Thatchers und danach Blairs England weitgehend aus dem gegenwärtig chaotischen Zustand des überteuerten, ungeschickt privatisierten und insgesamt äußerst unglückseligen Eisenbahnsystems des Landes ablesen. Amerikas mangelnde Investitionen in sein Bahnsystem künden von einem Land, das gerne seine Rechtschaffenheit betont, aber eine krankhafte Abneigung dagegen hat, Auto und Flugzeug zugunsten einer ökologisch gesünderen und gemeinschaftsbewussteren Form der Mobilität aufzugeben.
Nach Italien kam die Eisenbahn im Jahre 1839, zunächst in Gestalt einer sieben Kilometer langen Schienenstrecke im Schatten des Vesuvs von Neapel bis Portici, gefolgt von vierzehneinhalb Kilometern von Mailand bis Monza im Jahre 1840. In Anlehnung an das englische railways prägten die Italiener den Begriff ferrovie, »Eisenwege«. Anders als die Engländer besaßen sie jedoch kaum Eisen für die Schienen, so gut wie keine Kohle, um die Züge anzutreiben, und nur einen Bruchteil der Nachfrage nach Fracht- und Personentransport, den in England die industrielle Revolution erzeugt hatte. Es war schwierig, die Züge zu füllen, und noch schwieriger, sie profitabel zu betreiben. Aber wenn das Geschäft schlecht lief, gab es ja noch die Politik. Der Prozess des Risorgimento, der das Ziel verfolgte, die separaten, oft fremd regierten Staaten der Halbinsel zu einer einzigen Nation zu vereinen, war in vollem Gange; alle beteiligten Parteien hatten verstanden, dass schnelle Kommunikationswege die Einigung fördern und später untermauern würden. Hinzu kamen militärische Erwägungen. Was war besser geeignet, um einen großen Trupp Männer von A nach B zu bringen als Lastwagen auf Schienen?
Der Bau von Bahnstrecken war also fast immer politisch motiviert, was wiederum die kommerzielle Seite des Unternehmens belastete. Nach der Einigung boten Debatten über den Verlauf strategisch wichtiger Strecken ein neues Schlachtfeld für den uralten campanilismo, den Kirchturmblick und ewigen Geist der Rivalität, der jede italienische Stadt glauben lässt, die Nachbarorte hätten sich gegen sie verschworen. Bei allem Idealismus und allen Streitereien hatten sich die Eisenbahngewerkschaften am Ende des 19. Jahrhunderts zu den größten und militantesten im ganzen Land entwickelt und sollten noch eine wichtige Rolle im Kampf zwischen Sozialismus und Faschismus spielen; nach dem Zweiten Weltkrieg standen sie im Mittelpunkt der Politik einer Regierung, die ihre Wähler zufriedenstellen wollte, indem sie nicht existente Stellen schaffte und großzügige Gehälter und Pensionen bezahlte. Mehr als einmal schon ist behauptet worden, dass man die gesamte Geschichte der Entwicklung des italienischen Nationalstaats anhand der Eisenbahnlinien erzählen könnte.
Doch dieses Buch ist weder ein Geschichtsbuch noch ein Reisebericht, obwohl es darin auch um die Geschichte und um das Reisen geht. Ich habe es auch nicht auf die gleiche Weise geplant und in Angriff genommen wie meine anderen Bücher über Italien. Ein paar erklärende Worte für den Reisenden, der soeben sein Ticket erstanden hat und zugestiegen ist, sind also angebracht.
Mein erster Blick auf Italien fiel durch ein Zugfenster. Das war in der Morgendämmerung eines Sommertags im Jahr 1974. Ich hatte auf der Fahrt durch Frankreich gedöst und wachte in der Nähe von Ventimiglia auf, als an der Côte d’Azur gerade der Morgen graute, während wir über Viadukte hinwegflogen und durch Tunnel rasten. Es war nicht das erste Mal, dass ich Palmen sah, aber eines der ersten Male. Ich war neunzehn und reiste allein mit einem Interrail-Ticket. Ich hatte zwei nette Mädchen aus Lancashire kennengelernt, die sich unbedingt die byzantinischen Mosaiken in Ravenna ansehen wollten, und schloss mich ihnen an, ohne mir darüber im Klaren zu sein, dass eine solche Reise quer durchs Land der italienischen Topografie und dem Verkehrsfluss komplett zuwiderlief; nur ein Masochist würde versuchen, mit dem Zug von Ventimiglia nach Ravenna zu gelangen.
Ein paar Tage später kaufte ich auf dem Bahnsteig von Santa Maria Novella in Florenz mit zwei deutschen Jungs eine Flasche Chianti von der Sorte, die in bauchigen Flaschen mit Bastmantel verkauft werden, fiel nach gerade mal zwei kräftigen Schlucken in Ohnmacht und wachte drei Stunden später im Gang eines Abend-Expresszugs nach Rom in einer Lache von Erbrochenem wieder auf. Es war die – gottlob längst vergangene – Zeit, als billiger Fusel mit allem Möglichen verschnitten wurde. Die folgende Nacht verbrachte ich mit dreißig bis vierzig anderen Reisenden im Schlafsack auf einem Stück Rasen vor dem Bahnhof Roma Termini, und während ich schlief, wurde mir mithilfe einer Rasierklinge mein Brustbeutel, den ich um den Hals trug, abgenommen; als ich aufwachte, waren meine Schuhe, mein Reiseführer und mein Pass weg, aber nicht meine Brieftasche, denn die hatte ich mir in die Unterhose gesteckt. An diesem Vormittag verbrannte ich mir auf dem heißen Asphalt die nackten Füße, während ich mich auf die erste von vielen bürokratischen Odysseen in diesem Land begab, das Jahre später mein Zuhause werden sollte. Von der Sprache kannte ich kein Wort. Das alles waren Initiationsriten; ich war mit dem Zug in meine italienische Zukunft katapultiert worden.
Inzwischen lebe ich seit dreißig Jahren in Italien. Es gibt Hochebenen und plötzliche Talfahrten; man biegt um eine Ecke und sieht unvermittelt das Land und die eigenen Erfahrungen mit ihm in einem völlig neuen Licht. Man kann es sich wie ein vierdimensionales Puzzle vorstellen; die üblichen drei Dimensionen plus die Zeit: Man wird niemals alle Teile zusammenfügen können, und sei es nur, weil ständig neue Tage hinzukommen, aber trotzdem erscheint das Bild von Jahr zu Jahr vollständiger und vor allem dichter und plausibler. Man wird nie ganz zum Einheimischen, aber man ist auch kein Fremder mehr. Genau wie ich meine Kenntnis der italienischen Literatur langsam von den Romanen Natalia Ginzburgs und Alberto Moravias, die ich las, um die Sprache zu lernen, indem ich jedes neue Wort unterstrich, auf die Meisterwerke von Svevo und Verga, Manzoni und Leopardi und weiter zurück in die Vergangenheit ausdehnte, bis ich schließlich bereit war für Dante und Boccaccio, so ist auch meine Kenntnis von le ferrovie italiane im Laufe der Zeit breiter, tiefer und intensiver geworden; es ist keine Frage des Mögens oder Nichtmögens mehr; diese Eisenbahnen sind wie Verwandte.
Zu Anfang war das Bahnreisen nichts als eine lästige Pflicht. 1992 gab ich meine Stelle als Sprachlehrer an der Universität von Verona auf, um einen karriereträchtigen Job an einer Universität in Mailand anzutreten. Da wir mit kleinen Kindern nicht in die Großstadt ziehen wollten, war ich dazu verdammt, zwei bis drei Mal wöchentlich zu pendeln. Damals hatte ich keine Ahnung, dass die italienische Eisenbahn zu der Zeit einen absoluten Tiefpunkt erreicht hatte, und erst recht keine Vorstellung, warum das so war. Ich litt einfach, und natürlich lachte ich auch darüber, denn Lachen ist besser als Weinen und viel aufbauender. Aber oft genug genoss ich die Fahrten auch: denn mit dem Zug durch eine wunderschöne Landschaft zu rollen ist immer ein Vergnügen, und es fördert auf seltsame Weise das Lesen, das einen wesentlichen Teil meines Lebens ausmacht. Hinzu kam noch: Je tiefer man in ein Land eintaucht, desto mehr empfindet man jede neue Information, jedes Ereignis und jede Entdeckung als faszinierende Bestätigung oder als Herausforderung. Man fragt sich, wie passt diese merkwürdige Sache, die eben passiert ist, zu dem, was ich bereits über dieses Land weiß? Was einem im ersten Jahr trivial oder einfach ärgerlich vorkam, bereichert und verändert auf einmal das Gesamtbild.
Ich fing an, mir Notizen zu machen. Ich fing an zu glauben, dass jemand, der Italien verstehen möchte, damit anfangen könnte, das Fahrkartensystem der Bahn zu verstehen oder die Ansagen auf den Bahnsteigen in Venezia Santa Lucia und Roma Termini, die seltsame Betonung bestimmter Namen und die vollkommen unlogische Reihenfolge, in der die Informationen gegeben werden. 2005 bat mich die Zeitschrift Granta um einen Reisebericht, und mit ein bisschen Mogelei konnte ich meine Notizen verwenden, obwohl es sich dabei streng genommen nicht um Reiseberichterstattung handelte. Untypischerweise schrieb ich vier Mal so viel, wie verlangt wurde, 120 Seiten, viel zu viel für einen Zeitschriftenartikel, aber nicht ganz genug für ein Buch: Doch damals habe ich auch nicht an ein Buch gedacht; es machte mir einfach Spaß, viel mehr Spaß als erwartet, über die Eisenbahn und die Art, wie die Italiener sie betreiben, zu schreiben. Granta veröffentlichte ein Fragment meines Textes.
Sieben Jahre später haben sich die italienischen Züge stark verändert, Italien hat sich verändert, und ebenso Europa und die Welt. Vom Autor ganz zu schweigen. Letztes Jahr wandte ich mich dem Buch, das nicht ganz ein Buch war, wieder zu. Waren diese Seiten ganz einfach veraltet? Oder ließ sich der Unterschied zwischen dem, wie es damals war, und dem, wie es heute ist, benutzen, um etwas aufzuzeigen, das mich schon immer interessiert hat: dass sich der Nationalcharakter gerade dann am deutlichsten offenbart, wenn die Dinge, von denen man glaubte, sie würden sich nie ändern, sich schließlich doch ändern? Schaut man sich an, wie die Hochgeschwindigkeitszüge in Italien Einzug gehalten haben, während die Regionalbahnen stagnieren, oder mit welcher Selbstverständlichkeit in den Business-Class-Abteilen eines Frecciarossa von Mailand nach Rom Handys benutzt werden, oder wie das Fahrkartensystem auf Computer umgestellt wurde und wie die Furcht einflößenden alten Schaffner damit umgehen, oder reist man an der Südküste von Kalabrien und Apulien entlang und sieht, in welchem Ausmaß Geldmittel der Europäischen Union immer wieder, sinniger- oder unsinnigerweise, in die verlassenen Bahnstrecken gesteckt werden, dann offenbart sich ganz unbestreitbar die italienische Art, die Dinge zu handhaben.
Und genau die habe ich in diesem Buch einzufangen versucht.