Читать книгу Italien in vollen Zügen - Tim Parks - Страница 9

Erstes Kapitel VERONA – MAILAND

Оглавление

_______________

DIE ITALIENER PENDELN. Jedes Jahr im September erhalte ich von der Verwaltung der Mailänder Universität, an der ich unterrichte, einen Brief, in dem man mich daran erinnert, dass ich, da ich nicht in dieser Stadt wohne, für das kommende Jahr ein nullaosta beantragen muss. Dieses Papier, das vom Universitätsrektor persönlich unterzeichnet wird, besagt, dass mich nulla ostacola … nichts daran hindert, in Mailand zu arbeiten, obwohl ich im hundertsechzig Kilometer entfernten Verona wohne.

Was in aller Welt könnte mich daran hindern?

Nur Trenitalia, die Eisenbahn.

Wie so oft in Italien gibt es kein offizielles Formular zum Ausfüllen; man muss den Antrag selbst formulieren. Das kann beängstigend sein, wenn man kein Muttersprachler ist und die womöglich speziellen Floskeln und Anredeformen nicht kennt. Als Universitätsdozent will man schließlich nicht unbeholfen wirken.

»Und wenn ich das einfach ignoriere?«, habe ich mal einen Kollegen gefragt. »Es ist ja nur eine Formalität.«

Das war vor vielen Jahren, in den Neunzigern. Damals war ich noch naiv. Mir wurde erklärt, dass eine Formalität in Italien so etwas wie ein schlafender Vulkan ist. Jahrelang erscheint er harmlos, bis er einem plötzlich um die Ohren fliegt. Wenn ich also eines Tages im Unterricht einen Fehler mache oder bei einer heiß umstrittenen Fachbereichswahl den falschen Kandidaten unterstütze, könnte der Rektor plötzlich zu dem Schluss kommen, dass Trenitalia nicht so zuverlässig ist, als dass man in Verona wohnen und in Mailand arbeiten könnte. Genau wie in Italien manche Gesetze zur Buchführung oder zum Umgang mit Parteispenden urplötzlich rigoros durchgesetzt werden, aus Gründen, die nur wenig mit dem illegalen Verhalten einer bestimmten Person zu tun haben. Sage also nie nur eine Formalität.

Entmutigenderweise schlug mir derselbe Kollege, der mir mit der Analogie vom schlafenden Vulkan die Augen geöffnet hatte, zu einem späteren Zeitpunkt vor, mich auf eine freie Dozentenstelle in Lecce zu bewerben. Verstört wies ich darauf hin, dass Mailand zwar hundertsechzig Kilometer von Verona entfernt liegt, Lecce jedoch neunhundertsechzig. In dem Fall wäre das nullaosta mit Sicherheit keine reine Formalität mehr. »Es gibt einen Nachtzug von Verona nach Lecce«, wurde mir beschieden. »Kein Problem. Sie könnten zweimal in der Woche fahren. Oder die Woche über dort bleiben und am Wochenende nach Hause fahren.«

Es war ein ernst gemeinter Vorschlag. Hunderttausende Italiener machen es so. In Mailand habe ich Kollegen, die in Rom, Palermo oder Florenz leben. Ich habe Studenten, die jedes Wochenende heim nach Neapel oder Udine fahren. Tausende und Abertausende Reisekilometer werden so zurückgelegt. Die Italiener wohnen gern dort, wo sie wohnen – das heißt dort, wo sie geboren wurden –, bei Mamma und Papà. Von dort aus pendeln sie. Selbst wenn es dort keine Arbeit gibt, ist die Heimatstadt immer die beste aller Städte; ein dickes Netz aus Familienbanden und Bürokratie hält einen dort fest. Trenitalia verbindet diese Stadtstaaten. Das Unternehmen macht die Nation erst möglich und erlaubt ihr, zerstückelt zu bleiben, erlaubt den Menschen, ein Doppelleben zu führen. Nicht umsonst heißt die Holding-Gesellschaft Le Ferrovie dello Stato. Staatseisenbahn. Nulla ostacola.

WENN ICH RECHTZEITIG UM NEUN UHR morgens bei einem Seminar oder einer Prüfungskommissionssitzung in Mailand sein will, muss ich den Interregionale um 6.40 Uhr von Verona Porta Nuova nach Genova Piazza Principe erwischen. Das ist der Zug der lebenden Toten. Aber wenigstens blinken um sechs Uhr früh noch die meisten Ampeln der Stadt nur in Gelb. Man kommt voran. Man kann sogar anhalten und parken.

Veronas Hauptbahnhof wurde ebenso wie die Straßen drum herum und das nahe gelegene Stadion zur Fußballweltmeisterschaft im Jahr 1990 umgebaut. Die Meisterschaft fand statt, ehe die Straßen fertig waren, und damit ging die Dringlichkeit, wenn nicht gar jegliches Interesse an der Fertigstellung verloren. Die großen Mannschaften von damals kamen nicht nach Verona. Ich erinnere mich vage, dass Belgien Uruguay schlug. An die Namen der anderen Mannschaften erinnere ich mich nicht. Ist irgendjemand hingegangen und hat zugeschaut? In all den Jahren, in denen ich später eine Dauerkarte fürs Stadion innehatte, hat nie jemand diese Spiele erwähnt. Aber das seinerzeit hastig entworfene Straßennetz wird uns noch Jahrzehnte erhalten bleiben, auch eine Unterführung in einer engen Kurve, die schon Dutzende das Leben gekostet hat, und ebenso der ansprechende Steinfußboden im Bahnhof Verona Porta Nuova. Er besteht aus kleinen dunklen, metamorphen Fliesen, bei denen sich eine auf Hochglanz polierte, fast spiegelnde Oberfläche mit grobkörnigen marmorierten Brauntönen abwechselt. Ausgesprochen stilvoll. Als in den frühen Neunzigerjahren der Tangentopoli-Skandal zur verschärften Bekämpfung politischer Korruption führte, wurde behauptet, der Bürgermeister und seine Kumpanen hätten im Zuge der Baumaßnahmen für die Fußballweltmeisterschaft in Verona einen Großteil der Aufträge an Freunde und Verwandte vergeben. Niemand ging dafür länger als ein paar Tage ins Gefängnis. Niemand fand, dass das ein besonders schlimmes Vergehen war.

Leider gibt es selbst morgens um Viertel nach sechs am Fahrkartenschalter eine unsäglich lange Schlange. Der ernsthafte Pendler braucht eine Dauerkarte. Aber welche Dauerkarte soll er nehmen? In England gibt es inzwischen unterschiedliche Karten für unterschiedliche Züge, die von unterschiedlichen Gesellschaften betrieben werden. Es herrschen der Wirrwarr und der Trubel der freien Marktwirtschaft, und um Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht zu bringen, sind die Karten zu verkehrsstarken und verkehrsschwachen Reisezeiten unterschiedlich teuer. Das ist ärgerlich, aber verständlich, und sehr angelsächsisch. In Italien sind die Komplikationen anders gelagert. Wer hier den wirklichen Durchblick haben will, müsste über die gesamte italienische Regierungs- und Sozialpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg im Bilde sein.

Zuallererst gilt, dass Zugfahrkarten billig sein müssen, und zwar offensichtlich billig. Dahinter steckt das Bedürfnis der Menschen, in der einen Stadt zu leben und in einer anderen zu arbeiten, verbunden mit der Tatsache, dass die italienischen Löhne und Gehälter zu den niedrigsten in Europa gehören. Ein Student muss es sich leisten können, jedes oder zumindest jedes zweite Wochenende nach Hause zu fahren. Die Freunde aus der Grundschule bleiben Freunde fürs Leben. Ohne sie kann man nicht sein. Und wer soll die Wäsche waschen, wenn nicht die geliebte Mutter? In Italien gibt es kaum Waschsalons. Die Fahrt von Verona nach Mailand – 148 Kilometer, sagt mir meine Fahrkarte – kostet also nur 6,82 Euro, egal zu welcher Tageszeit, ob werktags oder am Wochenende. Das ist billig.

Zugleich wird die Eisenbahn traditionell dazu benutzt, überschüssige Arbeitskraft aufzunehmen und die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten. »Beamte in Massen!«, schrieb D.H. Lawrence 1920 über den Bahnhof von Messina auf Sizilien. »Man erkennt sie an den Mützen. Elegante, forsche, kleine Beamte mit Schuhen aus Wildleder oder Lackleder, mit goldbetressten Mützen, einige mit schmalen, langen Nasen mit noch mehr Gold an den Mützen spazieren durch die Himmelspforten hinein oder heraus, kommen und gehen durch die vielen Türen.«

Seit Trenitalia in den letzten zwanzig Jahren hunderttausend Stellen abgebaut hat, ist das Unternehmen nicht mehr ganz so überbesetzt, beschäftigt aber immer noch weit mehr Personal pro Reisekilometer als seine Pendants in Frankreich, Deutschland oder England. Zehntausend der neunundneunzigtausend Bahnbediensteten gelten als überflüssig. Und die Mitarbeiter tragen immer noch schicke Mützen mit Goldlitze und glänzende Knöpfe an den dunklen Uniformjacken.

Eines Abends, als ich aus Venedig zurückkam und in dem kleinen Bahnhof Verona Porta Vescovo aussteigen wollte, gingen die Türen nicht auf. Im Interregionale gibt es einen roten Griff, den man hochzieht, sobald der Zug zum Stehen gekommen ist. Dann sollten die Türen sich seitlich öffnen. Ein Reisender nach dem anderen ruckelte und zerrte. Flüche und Verwünschungen. Da sich auf beiden Seiten des Zuges ein Bahnsteig befand, wurde auf beiden Seiten gezerrt und geruckelt. Gerade als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, flog eine Tür auf und eine Handvoll Reisender stieg eilig aus.

Woraufhin wir, während wir uns noch zu unserem knappen Entkommen gratulierten, von einem Mann mit einer wunderbar spitzen Mütze, die weit größer, gebauschter und vor allem röter war, als nötig schien, angebrüllt wurden. Es handelte sich um die Mütze des capostazione, des Bahnhofsvorstehers. Jemand erklärte, warum wir erst ausgestiegen waren, als der Zug schon wieder angefahren war, was natürlich streng verboten ist. »Non esiste!«, protestierte der wichtige Mann. Es konnte unmöglich sein, dass die Türen nicht aufgingen. Wir mussten etwas falsch gemacht haben. Etliche Fahrgäste bestätigten die Geschichte. »Non esiste!«, beharrte er. Das kann nicht sein. Wenn man bei Trenitalia arbeitet, ist es vielleicht manchmal nötig, die Augen vor der Realität zu verschließen.

Zum Beispiel ist klar, dass bei niedrigen (weniger als die Hälfte der bei der Deutschen Bahn und weniger als ein Drittel der bei den britischen Eisenbahngesellschaften üblichen) Preisen und hohen Personalkosten der Bahnbetrieb eine kostspielige Angelegenheit ist. Wie soll ein Land mit einer laufenden Staatsverschuldung von über 100 Prozent des Bruttosozialprodukts mit so etwas fertig werden? Eine Antwort lautet: il supplemento.

Kostet die Fahrt nach Mailand mit dem Interregionale 6,82 Euro, dann kostet die Fahrt mit dem schnelleren Intercity 11,05 Euro, oder vielmehr das Basisticket von 6,82 Euro zuzüglich eines Zuschlags, des supplemento, von 4,23 Euro; der noch (etwas) schnellere Eurostar kostet weitere 50 Cent mehr. Früher machte der Zuschlag nur einen geringen Prozentsatz des Ticketpreises aus, aber da bei der Berechnung der landesweiten Inflationsrate die Basispreise für Bahnfahrten herangezogen werden, die Preise für Intercityfahrten jedoch nicht, jedenfalls bis vor Kurzem nicht, sind die Zuschläge im Verhältnis zum Basistarif tendenziell stärker gestiegen. Durch solche Tricks lässt sich ein Großteil der Inflation verstecken. Aber was bekommt man für dieses Extrageld? Der Interregionale braucht vierzehn Minuten länger als der Intercity und vierundzwanzig Minuten länger als der Eurostar. Sind vierzehn Minuten meiner Zeit mir 4,23 Euro wert?

Aber so einfach ist es nicht.

Um die Leute zum Kauf der teureren Tickets zu motivieren, verschwinden die Interregionali zu bestimmten Tageszeiten vom Fahrplan, besonders auf längeren Strecken. Auf der anderen Seite jedoch, und das läuft der Logik von Angebot und Nachfrage komplett zuwider, gibt es für die, die mit den lebenden Toten reisen, wie ich es oft gezwungen bin zu tun, nur Interregionali, um die ärmeren Pendler zu versorgen, die Verdammten, diejenigen, die sich nicht jeden Tag die höheren Fahrpreise leisten könnten; all das verdankt sich dem ziemlich frommen, aber immer begrüßenswerten italienischen Engagement für eine bestimmte Art des volksnahen Sozialismus (mit dem der Katholizismus und der Faschismus natürlich eng verwandt sind). Je größer also die Nachfrage, desto niedriger der Preis.

Wir haben also den Interregionale Mailand–Genua um 6.40 Uhr morgens und den fürchterlichen Interregionale Mailand– Venedig um 18.15 Uhr abends. Seltsamerweise sind diese hoffnungslos überfüllten Pendlerzüge, die zu niedrigen Preisen zu den Stoßzeiten verkehren, die verlässlichsten und pünktlichsten überhaupt. Da sie mit Lok und Waggons, die 180 Stundenkilometer fahren können, in zwei Stunden nur eine Strecke von 160 Kilometern bewältigen müssen, haben sie viel zeitlichen Spielraum.

Am ersten Tag jedes neuen akademischen Jahres kaufe ich mir also meine Dauerkarte nach Mailand. Dafür gibt es keinen Extraschalter. Man stellt sich mit allen anderen gemeinsam an. Vier Schalter sind besetzt, sechs unbesetzt. Zum Glück wurde vor Kurzem im Bahnhof Verona Porta Nuova das Einschlangensystem eingeführt – eine lange, gewundene Schlange zwischen Seilabsperrungen, um die Frustrationen zu vermeiden, zu denen es immer wieder kommt, wenn man den falschen Schalter wählt und stundenlang anstehen muss. Wir alle haben dieses Zeichen des Fortschritts und der Zivilisation sehr begrüßt. Die Seile sind in schickem Rot-Weiß gehalten und hängen zwischen glänzenden Chrompfosten; aber beim Aufbau der Absperrung wurde nicht darauf geachtet, denen, die sich nicht hinten angestellt haben, den Zugang zu den Schaltern zu verwehren, sodass man auch durch den vorgesehenen Ausgang eintreten kann.

Ein Mann lehnt Kaugummi kauend an einer Säule, beobachtet die Schalter, wartet und geht dann, genau als ein Schalter frei wird, mit schnellen Schritten darauf zu und drängelt sich vor. Die Kartenverkäuferin weiß, was passiert ist, protestiert aber nicht. Die Leute in der Schlange grummeln, greifen aber nicht ein. Das hat mich in Italien immer erstaunt, dieses allgemeine Schulterzucken angesichts eines furbo, eines Schlitzohrs. Es lohnt sich in diesem Land immer, es zu versuchen. Sollte es doch einmal unangenehm werden, kann man immer noch behaupten, man hätte nicht Bescheid gewusst.

Ein Schild weist darauf hin, dass man am Fahrkartenschalter keine Auskünfte einholen soll, nur sein Ticket kaufen und basta, aber die Leute fragen trotzdem ganz ungeniert nach den detailliertesten Sachen. »Wie viel würde es kosten, im Nachtzug nach Lecce bei vier Reisenden von der zweiten zur ersten Klasse zu wechseln, wenn man die Familienermäßigung und den Preisnachlass für die über siebzigjährige Großmutter berücksichtigt?«

Die Verkäufer sind geduldig. Sie müssen keinen Zug erwischen. Vielleicht erteilen sie gern Auskünfte, stellen gern ihr Wissen und ihre Fachkundigkeit zur Schau. An der Stelle, wo die offizielle Schlange aus der Seilführung hinaustritt, kurz bevor man an der Reihe ist, stellt sich heraus, dass man den Schalter ganz links nicht sehen kann, weil er von einer Säule verdeckt wird, die (wegen der Weltmeisterschaft) mit einer glänzenden, schokoladenbraunen Marmorverkleidung umgeben ist. Dieser versteckte Schalter ist, wie ich bemerkt habe, fast immer offen, während die dem Ausgang der Warteschlange direkt gegenüberliegenden und deshalb gut sichtbaren Schalter meistens geschlossen sind. Wenn man nicht weiß, dass es den Schalter hinter der Säule gibt, geht man dort auch nicht hin. Und der dort sitzende Kartenverkäufer ruft einen nicht auf. Er hat keinen Knopf, den er drücken könnte, keine Lampe, um die Kunden auf sich aufmerksam zu machen. Trenitalia will uns schließlich nicht verwöhnen.

Am Schalter rechts von mir fragt jemand nach einer komplizierten Verbindung in eine Stadt in Ligurien. Die Leute in der Schlange ärgern sich. »Und in welchen Zügen kann ich mein Fahrrad mitnehmen?«, fragt der Mann. Ein zweiter furbo drängelt sich dreist vor, als der Schalter am Ausgang ganz kurz frei wird. Diesmal protestiert der Verkäufer, aber nur halbherzig. »Geht schnell bei mir«, sagt il furbo. »Ich verpasse sonst meinen Zug.«

Niemand brüllt los. Es entsteht nur ein leises, unterschwelliges Gegrummel, so als empfänden die, die sich ordnungsgemäß verhalten haben, eine grimmige Freude angesichts dieses erneuten Beweises, dass gutes Benehmen sich nicht auszahlt, dass man als braver Bürger zwangsläufig zum Märtyrer wird. Dies ist eine wichtige italienische Gefühlslage: Ich benehme mich gut, und deshalb muss ich leiden. Ich bin ein Märtyrer. Mi sto sacrificando. Dieses Grundgefühl kann zu gegebener Zeit auch einmal schlechtes Benehmen rechtfertigen.

Müssen diese Leute wirklich am Fahrkartenschalter so viele Auskünfte einholen? Nein. Überall hängen plakatgroße Fahrpläne, die alle Abfahrten von diesem Bahnhof auflisten. Darin sind die Italiener gut. Es gibt billige, umfassende und halbwegs verständliche landesweite Fahrpläne im Zeitungsladen des Bahnhofs. Darin stehen alle Züge, die in Norditalien in den nächsten sechs Monaten verkehren. Es gibt auch ein Informationszentrum. Aus irgendeinem Grund befindet sich das Informationszentrum am anderen Ende des Bahnhofs, etwa hundert Meter von den Fahrkartenschaltern entfernt – man muss einen langen, elegant gefliesten Flur entlanglaufen –, und die Fahrpläne hängen auch nicht in der Nähe der Fahrkartenschlange. Das scheint in allen Bahnhöfen Italiens so zu sein. Es ist seltsam. Man kann sich nicht über die Abfahrtszeiten informieren, während man am Schalter ansteht, obwohl das oft genau der Moment ist, in dem man sich gern darüber informieren würde. Natürlich eilt man zum Schalter, ohne vorher den Fahrplan zu studieren, denn man fürchtet, sonst noch länger warten zu müssen und seinen Zug zu verpassen, aber dann muss man sich am Schalter nach den Fahrzeiten erkundigen. An einem Schalter fängt die Fahrkartenverkäuferin gerade geduldig an, die Vor- und Nachteile eines komplizierten Werbeangebots zu erläutern. Über die Lautsprecheranlage werden die nächsten Zugabfahrten angesagt.

UM DIESER STRESSIGEN SITUATION zu begegnen, hat Trenitalia den SportelloVeloce, oder FastTicket-Schalter eingeführt. (Man könnte ganze Abhandlungen verfassen über diese Angewohnheit, eine Übersetzung anzubieten, die nicht wirklich eine Übersetzung, sondern vielmehr eine italienische Fantasievorstellung der Funktionsweise der englischen Sprache darstellt und sich, sozusagen als Werbemaßnahme, eher an ein italienisches Publikum richtet als an Englisch sprechende Durchreisende.) Es handelt sich dabei um einen Schalter, den man nur benutzen darf, wenn der Zug, den man nehmen möchte, innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten abfährt. Vernünftigerweise wurde der SportelloVeloce an der Stelle eingerichtet, wo die Leute sich üblicherweise vordrängeln, um die Hauptschlange zwischen den rot-weißen Seilen und verchromten Pfosten zu umgehen.

Aber was ist, wenn mein Zug in einer halben Stunde fährt? Ich warte fünfzehn Minuten in der Schlange und stelle fest, dass es eng wird. Soll ich dann zum Schnellschalter wechseln, wo bereits vier Leute anstehen? Und wenn einer von ihnen Auskünfte einholen will? Oder wenn plötzlich alle beschließen, erst fünfzehn Minuten vor Abfahrt ihres Zuges einzutreffen und den Schnellschalter zu nutzen? Das wäre ein Problem, denn während von den regulären Schaltern immer mindestens zwei geöffnet sind, ist der Schnellschalter häufig geschlossen.

Oder was ist, wenn ich mich fünfundzwanzig Minuten vor Abfahrt meines Zuges am Schnellschalter anstelle, aber achtzehn Minuten vor Abfahrt an der Reihe bin? Wird der Verkäufer mich dann trotzdem bedienen? Vermutlich schon, aber er hätte das Recht, es nicht zu tun. Vor allem Immigranten werden oft genug abgewiesen. Nicht-Weiße, meine ich. Und manchmal auch Touristen. Ausländische Touristen. Muss ich mich dann wieder hinten anstellen? Kann ich mich drei Minuten lang mit ihm streiten, sodass er mir schließlich doch einen Fahrschein verkaufen muss? Es sei denn, für meinen Zug wird plötzlich eine halbstündige Verspätung durchgesagt. Was auch nicht gerade selten vorkommt. Oder, da eine normale Bahnfahrkarte zwei Monate gültig ist, was wäre, wenn ich behaupte, den Intercity nach Bozen nehmen zu wollen, der in fünf Minuten abfährt, obwohl ich ihn in Wirklichkeit erst in zwei Wochen nehmen will? Wird jemand überprüfen, ob ich tatsächlich heute in den Zug einsteige? Lauter offene Fragen. FastTicket hat den Fahrkartenkauf also nicht wirklich einfacher gemacht. Das sieht jedes Kind. Warum wurde der Schalter also eingeführt? Es wird Zeit, über das Image zu reden.

Die Verwendung des Englischen ist immer aufschlussreich. Die Leser werden schon bemerkt haben, dass heute nur noch die langsamen Züge italienische Namen tragen, der Interregionale, und der noch langsamere Regionale, der träge von einem Wasserloch zum nächsten kriecht. Diese Züge brauchen der Außenwelt, dem auswärtigen Geschäftsmann oder dem Touristen mit Kreditkarte, nicht angepriesen zu werden. Sie fahren mit alten, ratternden Waggons. Im Sommer wird man darin gebraten, im Winter friert man. Die Sitze sind schmal und hart, die Sauberkeit … nun, wenn man an der Toilette vorbeigeht, hält man am besten die Luft an. Aber sobald man anfängt, Zuschläge zu zahlen, befindet man sich im Bereich des Englischen, oder zumindest der internationalen Sprache. Die stolzen alten Kategorien Espresso, Rapido und Super-Rapido sind weitgehend verschwunden. Heute haben wir den Intercity, den Eurocity und den Eurostar.

Wir haben es hier mit einem ewigen italienischen Dilemma zu tun. Sind wir ein »Teil von Europa« oder nicht? Sind wir ein Teil der modernen Welt? Sind wir fortschrittlich, oder hinken wir hinterher? Und vor allem, meinen wir es ernst? Es wird allgemein angenommen, dass man in Italien die Dinge, vor allem die des öffentlichen Lebens, schludrig und schleppend handhabt und sich von Eigeninteresse und politischen Überlegungen leiten lässt; folglich ist eine enorme Anstrengung nötig, dem südländischen Temperament entgegenzuwirken und an die teutonische Pünktlichkeit und die anglo-französischen Hightech-Standards heranzukommen.

Dieses Unbehagen reicht bis zur Gründung des italienischen Staates zurück. Es scheint schon durch im berühmten Ausspruch des Patrioten d’Azeglio: »Wir haben Italien erschaffen, jetzt müssen wir die Italiener erschaffen.« Es scheint durch in Mussolinis Überzeugung, dass »die Art, wie wir essen, uns kleiden, arbeiten und schlafen, der ganze Komplex unserer Alltagsgewohnheiten, reformiert werden muss«. Pünktliche Züge würden beweisen, dass der Faschismus das erreicht hat, dass tatsächlich eine grundlegende Veränderung in der nationalen Psyche stattgefunden hat. »Abbasso la vita comoda!«, lautete ein faschistischer Slogan. Nieder mit dem bequemen Leben! Man kann verstehen, warum die Wahlen kaum frei und fair sein konnten, wenn die größte politische Partei derartige Slogans verbreitete.

Aber auf einer anderen Ebene haben die Italiener verständlicherweise überhaupt nicht das Bedürfnis, sich zu ändern. Sie mögen das bequeme Leben. Sie fühlen sich den rohen, verdrießlichen Völkern überlegen, die Pünktlichkeit wichtiger finden als Stil und eine geruhsame Verdauung. Der Kompromiss wird im Image gesucht. Man wird dafür sorgen, dass Italien schnell und modern wirkt. Man führt Schnellschalter ein, obwohl sie den Fahrkartenkauf komplizierter und stressiger machen. Im Mailänder Hauptbahnhof wird seit Neuestem ein Bahnmitarbeiter dafür eingesetzt, die Fahrgäste, die sich am SportelloVeloce angestellt haben, zu überprüfen. »Welchen Zug möchten Sie nehmen, mein Herr? Wann fährt er ab?« Aber wie soll man sichergehen, dass die Antwort, die ein Fahrgast diesem Bediensteten gibt, mit seiner Bestellung am Schalter übereinstimmt? Das Problem der Überbesetzung ist kleiner geworden, eine neue Stelle wurde geschaffen, aber die Lücke für den furbo bleibt weiterhin offen.

PLÖTZLICH WIRD MIR KLAR, dass hinter der Scheibe eines der fünf bisher geschlossenen Schalter jemand sitzt. Ein Mann in Uniform. Ich bin inzwischen Zweiter in der Schlange. Der Mann sitzt ruhig und unauffällig da. Seine Schicht hat soeben angefangen. Er betrachtet die Schlange stehenden Menschen, die ihre ungeduldigen Blicke auf die besetzten Schalter heften. Er kratzt sich den unrasierten Nacken und blättert in den rosa Seiten seiner Gazzetta dello Sport. Er drückt sich nicht vor der Arbeit, aber er reißt sich auch nicht darum. Er hat ja was zu lesen.

Ich stupse den Mann vor mir an: »Der Schalter da drüben ist frei.« Er schaut mich misstrauisch an, als wolle ich ihn nur loswerden, um selbst an den nächsten frei werdenden Schalter zu gehen. »Haben Sie auf?«, ruft er, ehe er sich festlegt. Der Mann hebt die Augenbrauen und weist auf das elektronische Display über seinem Schalterfenster. »Steht doch da, oder?« Das führt dazu, das ich selber ein paar Minuten später zu dem hinter der Säule versteckten Schalter gehe, an dem, wie ich feststelle, mein früherer Nachbar Beppe Dienst tut.

Vor fünfzehn Jahren hat Beppe sein vielversprechendes und einträgliches Leben als selbstständiger Elektriker aufgegeben, um dafür die langweilige Stelle eines Fahrkartenverkäufers im Bahnhof Verona Porta Nuova anzutreten. Er hatte sich einige Jahre zuvor während einer vorübergehenden Arbeitslosigkeit um den Job beworben; er überstand ein langes, kompliziertes Aufnahmeverfahren und die angemessene Zeit auf einer Warteliste mit einer Menge anderer Männer und Frauen. Als ihn Jahre später endlich der Ruf ereilte, hätten seine Frau und seine Eltern ihm niemals erlaubt, diese Chance auszuschlagen: ein gesichertes Auskommen auf Lebenszeit. So wird ein Job bei der Eisenbahn betrachtet. Er wird ordentlich bezahlt und ist so unwiderruflich wie ein Platz im Paradies. In den 1960er-Jahren grassierte sogar mal der Vorschlag, die Bahnjobs vererbbar zu machen, eine Rückkehr zum ständischen System des Mittelalters. Das mag lachhaft erscheinen, aber da die meisten Italiener in gehobenen Stellungen die Kinder von Leuten in ähnlichen Stellungen zu sein scheinen, da die überwiegende Anzahl kleiner Familienunternehmen, die den dynamischsten Teil der italienischen Wirtschaft ausmachen, vom Vater an den Sohn, oder im Notfall auch an die Tochter, weitergegeben wird, versteht man schon, warum die Gewerkschaften der Meinung waren, ein solches Modell ließe sich für eine Elitegruppe wie die der Eisenbahnmitarbeiter durchaus einführen.

Ein anderer Freund von mir, ein junger Mann, der sich früher auf die Herstellung von handgearbeiteten Harfen spezialisiert hatte, gab seine kleine Werkstatt auf, um als Tischler bei der Bahn mutwillig zerstörte Personenwageneinrichtungen zu reparieren. Der Gruppendruck, der zu solch traurigen Entschlüssen führt, ist erheblich. Ein sicherer Arbeitsplatz rangiert hier vor allen anderen Überlegungen. Beppe, das weiß ich, findet seinen Job am Fahrkartenschalter furchtbar öde, aber er versucht stumpfsinnig, sich bei Laune zu halten. »Die Zeiten sind schlecht«, sagt er, obwohl es heutzutage mit zum Schwierigsten gehört, schnell einen Elektriker zu bekommen. Handgemachte Harfen sind auch nicht gerade überall zu haben.

»Eine Jahreskarte nach Mailand«, sage ich zu ihm.

»Interregionale, Intercity oder Eurostar?«, fragt Beppe.

Ich erläutere, dass ich mit dem Interregionale hinfahre, zurück aber häufig den Intercity nehme.

Mein ehemaliger Nachbar schüttelt den Kopf und reibt sich mit einer Hand übers Kinn. »Schwierig.«

Anfang der 1990er-Jahre wurden die Ferrovie dello stato (FS) in dem Versuch, die Eisenbahn rank und schlank zu machen, oder zumindest weniger üppig und verschwenderisch, offiziell aus der staatlichen Kontrolle herausgenommen und verpflichtet, wenn schon keinen Profit, dann doch auf jeden Fall weniger Verluste zu machen. Da allerdings die Regierung weiterhin mehr als die Hälfte der Bahnaktien innehatte und auch weiterhin die Firmenpolitik in allen Bereichen bestimmte, indem sie vorschrieb, welche Strecken die Bahn wie regelmäßig und zu welchen Fahrpreisen zu betreiben hatte, war diese Maßnahme, nun ja, kaum mehr als eine Formalität. Dann, Ende der 1990er-Jahre, wurde die gigantische Gesellschaft unter dem Dach der FS-Holding in verschiedene kleinere Gesellschaften aufgeteilt, um den europäischen Gesetzen zum Wettbewerb im Transportwesen zu genügen; von da an betrieb Rete Ferroviaria Italiana (das italienische Eisenbahnnetz) die Strecken und kleineren Bahnhöfe, während Grandi Stazioni für die großen Bahnhöfe und Trenitalia für die Züge verantwortlich war.

Auch diesmal schienen die Veränderungen, da dieselben Leute wie vorher in den Aufsichtsräten dieser angeblich neuen Gesellschaften saßen, eher vorgetäuscht als substanziell zu sein. Was allerdings für die Fahrgäste eine Veränderung brachte, war die Tatsache, dass Trenitalia noch weiter in unterschiedliche Sektoren aufgeteilt wurde, von denen jeder die Auflage bekam, die finanziellen Verluste zu begrenzen. Das führte dazu, dass die Interregionali und die Intercitys jetzt ein separates Rechnungswesen haben, und die Eurostars wiederum von beiden getrennt laufen. Deshalb kann man jetzt nicht mehr ein normales Ticket plus einen gesonderten Zuschlag kaufen, um sich dann im letzten Moment zu entscheiden, welchen Zug man nehmen will. Nein, man muss dem Fahrkartenverkäufer mitteilen, mit welchem Zug man fahren möchte (Zeit und Datum), und er muss diesen Zug in seinen Computer eingeben, ehe er den Fahrschein ausdruckt, damit das Geld, das man bezahlt, auch auf dem Konto der richtigen Firma landet, auch wenn sie letztendlich alle Teil derselben Gesellschaft sind. Seltsamerweise ist aber die Fahrkarte dann zwei Monate gültig, was bedeutet, dass es sehr wohl gestattet ist, nicht genau den Zug zu nehmen, den man beim Kauf der Fahrkarte angegeben hat. Merkwürdig, oder? Kauft man also ein Intercity-Ticket, bei dem der Zuschlag inklusive ist, dann kann man damit, falls man sich spontan dazu entschließt, auch einen billigeren Interregionale nehmen. Umgekehrt allerdings nicht, das ist klar.

Ist das tatsächlich eine anerkannte Regel, die irgendwo geschrieben steht, oder nur gesunder Menschenverstand? Ich meine, dass man ein teureres Ticket in einem billigeren Zug benutzen kann, aber nicht umgekehrt? Ich weiß es nicht, aber neulich habe ich eine Situation erlebt, in der einer sehr schönen jungen Frau mit rabenschwarzem Haar und der Art von Brüsten, die die Italiener prosperose nennen, mitgeteilt wurde, sie müsse eine Strafe zahlen, weil sie mit einer teureren Eurostar-Fahrkarte im Intercity reiste. Nur eine Meuterei der umsitzenden Fahrgäste rettete sie. Das Ganze dürfte fast zwanzig Minuten gedauert haben, und zum Schluss waren fünf oder sechs Leute daran beteiligt. Wie gesagt, sie war eine sehr attraktive Frau.

Kurzum, man kann also nicht mehr fünf oder sechs Interregionali-Fahrscheine und ein paar Zuschläge erwerben und dann einfach in den Zug einsteigen, der gerade am günstigsten ist, weil beim Intercity-Ticket der Zuschlag jetzt bereits mit drin ist. Allerdings, so erklärt mir Beppe, wenn ich eine Jahreskarte für den Interregionale kaufe, dann habe ich doch die Möglichkeit, quasi als besondere Vergünstigung, weil ich so viel Geld ausgegeben habe, zusätzliche supplementi zu erwerben – es gibt sie also doch noch –, um im Einzelfall dann mit dem Intercity fahren zu können, sofern ich, das ist Bedingung, beim Kauf dieser Zuschläge meine Dauerkarte und ein gültiges Ausweisdokument (ich liebe den Ausdruck »gültiges Ausweisdokument«) vorlegen kann. Der Fahrkartenverkäufer wird dann meinen Namen und die Nummer (die ziemlich lange Nummer) meiner Dauerkarte mit zwei Fingern in seinen Computer eingeben, damit die Reise buchhalterisch von einer Firma zur anderen übertragen werden kann und die Eisenbahn somit effizienter wird. Leider, leider sind jedoch diese besonderen Vergünstigungs-Zuschläge wegen der Notwendigkeit, ein Ausweisdokument vorzulegen, nicht an den Fahrkartenautomaten erhältlich. Dafür muss ich mich am Schalter anstellen.

Das ist ziemlich lästig, aber ich lasse mich darauf ein. Ich kann gleich ein halbes Dutzend Zuschläge kaufen, denke ich, und meine Besuche am Fahrkartenschalter so auf ein Minimum reduzieren. Für 670 Euro gibt mir Beppe eine Karte, die genauso aussieht wie alle anderen Trenitalia-Fahrscheine oder auch Zuschlag-Karten: ein etwa zwanzig mal fünf Zentimeter großes Stück weiche, blau-rosa gemusterte Pappe mit einem blassen Computeraufdruck. Das Einzige, was diese Fahrkarte von der für 6,82 Euro unterscheidet, ist das Wort ANNUALE, das ungefähr ein Hunderstel der Kartenoberfläche einnimmt. Es ist klar, dass ich ein Stück farbiges Klebeband auf diese Karte kleben muss, um sie von den Zuschlägen, die ich kaufen werde, unterscheiden zu können. Und ich werde sie laminieren müssen, damit sie sich in meiner Brieftasche nicht langsam, aber sicher auflöst.

Beppe geht weg, um eine Fotokopie der Karte anzufertigen, falls ich sie verlieren sollte. Er macht sogar zwei Kopien, eine für mich und eine für das Fahrkartenbüro. Das ist großzügig. Sie führen eine Akte. Er macht einen alten Metallschrank auf. Das Ganze dauert mindestens fünf Minuten. Der Kopierer muss erst warm werden. Dann erkundigt er sich nach meiner Familie, und natürlich erwartet er, dass ich mich nach seiner erkundige. Das mache ich. Mir wird es langsam peinlich, denn um 6.35 Uhr morgens ist die Schlange hinter mir lang, und am Schnellschalter steht auch schon eine Menge beunruhigter Menschen. Der Zug der lebenden Toten, so wurde eben angesagt, befindet sich in partenza, das heißt, er fährt gleich ab. Sein Sohn kommt in der Schule sehr gut zurecht, erzählt mir Beppe. Ich weiß genau, wenn ich jetzt einwende, dass wir unter diesen Umständen nicht ins Plaudern geraten sollten, wo so viele andere Leute warten, dann wird er denken, ich wolle nicht mit ihm sprechen. Seine Tochter leider nicht so gut, sagt er. Sie scheint ihre Lehrer nicht ernst zu nehmen. Beppe würde nie verstehen, dass ich mich um die anderen Leute in der Schlange sorge. Warum sollte ich? Persönliche Beziehungen kommen vor dem Gemeinsinn. Salutami la Rita, ruft er. Meine Frau.

AUF MEINER FAHRKARTE STEHT an der Seite da convalidare. Seit ungefähr zehn Jahren muss man seine Fahrkarte in einen kleinen gelben Stempelautomaten schieben, bevor man in den Zug steigt. Dahinter steht der Gedanke, dass man, sollte der Schaffner im Zug nicht dazu kommen, die Fahrkarte zu kontrollieren, sie (mit ihrer zweimonatigen Gültigkeit) trotzdem nicht noch einmal verwenden kann, da sie ja nun einen Stempel mit einem bestimmten Datum und einer Uhrzeit trägt: die convalida. Aber die Tinte im Stempelautomaten ist meistens so blass, dass ich überzeugt bin, ich könnte mindestens zwei Mal mit demselben Ticket fahren, falls der Schaffner tatsächlich nicht kommt und ein Loch hineinstanzt. Der Aufdruck ist unleserlich. Misstrauisch, wie ich gelernt habe zu sein, frage ich mich, wer wohl den Auftrag bekommen hat, diese kleinen gelben Stempelautomaten in jeder Halle und auf jedem Bahnsteig der 2.260 Bahnhöfe in Italien aufzustellen und zu warten, und ob die Kosten dafür tatsächlich niedriger waren als die Einnahmen, die man früher an die furbi verloren hatte, denen es gelang, im Zug dem Fahrkartenkontrolleur zu entgehen. Denn neun von zehn Mal wird das Ticket dennoch kontrolliert und gestanzt, auch wenn es bereits convalidato ist.

Oder vielleicht – denn Verschwörungstheorien lassen sich endlos ausweiten, wenn man einmal angefangen hat –, vielleicht ging es gar nicht darum, dass jeder Reisende seine Fahrt bezahlt, sondern darum, neue Möglichkeiten aufzutun, um von den Fahrgästen Bußgelder zu kassieren: wenn man sein Ticket nicht im Automaten entwertet, muss man eine Geldstrafe zahlen – etwa 50 Euro, selbst wenn man das Abstempeln nur vergessen hat. Da es auf italienischen Bahnhöfen keine Sperren zwischen den Fahrkartenschaltern und den Bahnsteigen gibt – also nichts, wodurch man an seine Pflicht zum Ticketentwerten erinnert würde –, ist solche Vergesslichkeit nur allzu verständlich, vor allem bei Touristen, die sich nicht auskennen und vielleicht nicht die Angewohnheit haben, das Kleingedruckte auf ihren Fahrkarten sorgfältig zu lesen.

Meine Mutter musste vor einigen Jahren einmal zahlen. Sie reiste gemeinsam mit einer Freundin. Man stelle sich vor: zwei blasse englische Rentnerinnen in geblümten Kleidern auf dem Weg von Florenz nach Siena. Ihnen war nicht klar, dass sie ihre Fahrkarten abstempeln mussten: Meine fromme evangelische Mutter ist die Letzte, die versuchen würde, sich vor dem Fahrgeld zu drücken. Dies war höchstwahrscheinlich ihr einziger Gesetzesverstoß in den über achtzig Jahren ihres Lebens. Mit Sicherheit war es das einzige Mal, dass sie je ein Bußgeld zahlen musste. Sie war tief beschämt. Der Schaffner war gnadenlos: »Ihr Ausländer behauptet immer, ihr hättet nicht verstanden«, sagte er.

Aber in Italien ist kein Gesetz wirklich wasserdicht, von konsequenter Durchsetzung ganz zu schweigen. Es existieren immer interessante Schlupflöcher. Wenn ich zum Beispiel vergesse, mein Ticket zu entwerten, oder dazu nicht in der Lage bin, weil die Entwerter nicht funktionieren (was häufig vorkommt und auf einigen kleinen Bahnhöfen geradezu der Normalzustand ist), brauche ich den Fahrkartenkontrolleur nur vor dem Einsteigen darüber zu informieren, dann schreibt er mit seinem Stift Zeit und Datum auf das Ticket, setzt seine Unterschrift darunter, und schon ist mir vergeben und ich darf ohne ein Bußgeld zu zahlen mitfahren. Der Kontrolleur, der manchmal, wenn auch nicht immer, zugleich der capotreno, der Zugchef, ist, ist im Allgemeinen an der Tür einer der Waggons im hinteren Teil des Zuges zu finden, hat einen Fuß auf den Bahnsteig, den anderen wichtigtuerisch auf die Einsteigetreppe gestellt und wartet darauf, pfeifen und mit seiner grünen Mütze winken zu können, um dem Lokführer zu signalisieren, dass er die Türen schließen soll.

Als ich einmal mit meiner Interregionale-Dauerkarte einen Intercity genommen hatte, fiel mir plötzlich ein, dass ich die Zuschlagkarte für 4,23 Euro nicht abgestempelt hatte. Sogleich beunruhigt, sprang ich auf dem kleinen Bahnhof von Peschiera aus dem Zug, konnte jedoch auf dem Bahnsteig keinen Entwerter entdecken und rannte, da ich sah, dass der Zugchef bereits die Pfeife an die Lippen hob, zu ihm und bat ihn, mein Ticket zu entwerten. Er weigerte sich. Er sagte, er sehe an meinem Ticket, dass ich bereits im Zug gewesen war und daher ein Bußgeld zu zahlen hatte. Ich wies darauf hin, dass ich, da ich einmal ausgestiegen war, ebenso gut draußen bleiben und so das Bußgeld umgehen konnte. Er konnte mich wohl kaum mit einem Bußgeld belegen, wenn er mich nicht im Zug erwischte, und ich hatte doch eindeutig nicht vorgehabt zu betrügen, denn ich war ja extra wieder ausgestiegen, um mein Ticket abzustempeln.

Wir stritten uns. Es ist bemerkenswert, wie oft es in Italien zu solchen unsicheren Situationen kommt: Wie ist das Gesetz anzuwenden? Ganze Persönlichkeiten bilden sich um derartige Komplikationen herum. Der furbo versucht natürlich, alle Regeln zu umgehen. Aber es gibt auch den gegensätzlichen Charakter, den pignolo, der sich immer peinlich genau an alle Vorschriften hält, selbst oder besonders dann, wenn sie absolut unangemessen erscheinen. Der pignolo hält alle anderen für furbi, der furbo hält alle anderen für pignoli.

»Ich werde mich weigern zu zahlen, wenn Sie mir ein Bußgeld aufbrummen«, erklärte ich dem Schaffner.

»Dann zeige ich Sie bei der Bordpolizei an«, gab er zurück. Es fahren üblicherweise in jedem Zug zwei bis an die Zähne bewaffnete carabinieri oder poliziotti mit.

»Die Bordpolizei ist an Bord«, sagte ich zu ihm. »Ich nicht.«

Noch einmal weigerte er sich, mein Ticket zu entwerten.

Der Intercity von Venedig nach Turin wurde derweil aufgehalten. Mit etwa tausend Passagieren an Bord.

Kampflustig stieg ich trotzdem wieder ein. »Ich handle eindeutig in gutem Glauben«, erklärte ich.

»In den Regularien steht nichts von gutem Glauben«, sagte er. Das stimmt. Italienische Regeln und Regularien ziehen niemals in Betracht, in welchem Geist jemand gehandelt hat. Er würde mir ein Bußgeld aufbrummen und damit basta.

Aber obwohl ich die ganze Fahrt nach Mailand im selben Waggon sitzen blieb, kam er nicht zu mir, um das Bußgeld zu kassieren. Vielleicht ging es nur darum, mich nervös zu machen, mich die Anwesenheit einer Autoritätsperson spüren zu lassen. Das hat die Steuerbehörde auch schon mit mir gemacht. Sie drohen und tun dann gar nichts. Da der Schaffner nicht kam, um das Datum auf mein Ticket zu schreiben, konnte ich den Zuschlag ein zweites Mal verwenden. Was ich dann auch tat!

Eine ähnliche Situation ergab sich einmal auf einer Fahrt nach Görz an der italienisch-slowenischen Grenze. Der Schaffner betrachtete meine Fahrkarte sehr eingehend und teilte mir dann mit, dass dieses »Dokument« mich dazu verpflichtete, über Pordenone statt über Udine zu fahren. Ich hatte den Umweg genommen, warf er mir vor. Ich hatte deshalb einen Preisausgleich von ungefähr dreißig Kilometern zu zahlen, plus ein Bußgeld.

Der Mann am Fahrkartenschalter hatte mir nichts davon gesagt, protestierte ich. Ich hatte einfach um eine Fahrkarte nach Görz gebeten, den Fahrplan studiert und den zeitlich günstigsten Zug genommen. Man konnte mir wohl kaum vorwerfen, ich wolle mir einen Vorteil verschaffen, indem ich dreißig Extrakilometer zurücklegte.

»Auf Ihrem Ticket steht über Pordenone«, sagte er. »Lesen Sie Ihr documento di viaggio nicht?«

Ich fand das faszinierend. Was für ein Mensch muss man sein, um zu glauben, dass sich die Leute eine Bus- oder Bahnfahrkarte kaufen und sich dann hinsetzen, um sie zu lesen? Oder sie als documento di viaggio betrachten?

Der Zug hielt in einem Bahnhof. »Ich bin gleich wieder da und kümmere mich darum«, sagte er ernst; er würde die genauen Mehrkosten der Fahrt und dann die genaue Höhe des Bußgeldes entsprechend dieser Mehrkosten ausrechnen. In Italien wird alles auf der Basis der Kilometerkosten berechnet, unabhängig davon, welche Strecken stärker befahren werden oder höhere Wartungskosten verursachen. Der Mann eilte in seinem grünen Blazer mit den glänzenden Knöpfen davon und … ließ sich nie wieder blicken. Kann sein, dass ein italienischer Beamter einen, wenn man beharrlich ist, am Ende umso eher davonkommen lässt, je hartnäckiger er auf einer korrekten Fassade besteht. Ich vermute, das ist der Grund, warum italienische Fußballspieler die Entscheidungen des Schiedsrichters unweigerlich anfechten. Man kann einfach nie wissen. Und selbst wenn der Mann diese Entscheidung nicht zurücknimmt, wird er sich womöglich beim nächsten Foul gründlicher überlegen, ob er es pfeift oder nicht.

Wie dem auch sei, auf der Dauerkarte, die ich um 6.35 Uhr morgens erworben habe, steht eine Warnung: da convalidare (ist zu entwerten). Aber da es sich um eine Jahreskarte handelt, ist es natürlich nicht nötig, sie zu entwerten. Es wäre sogar ein Fehler. Wie soll ich die Karte auch jedes Mal, wenn ich im Laufe des kommenden Jahres in einen Zug steige, abstempeln? Italien ist kein Land für Anfänger.

EINER DER GROSSEN VORTEILE des 6.40-Uhr-Zuges besteht darin, dass er in Verona eingesetzt wird. Man braucht nicht auf dem Bahnsteig oder im Warteraum herumzusitzen. Selbst wenn man fünfzehn Minuten zu früh da ist, kann man direkt einsteigen und im Zug warten. Ich gehe zum letzten Wagen. Der Zugverströmt einen ganz besonderen Geruch, der mich immer tief beeindruckt, wenn ich nach der langen Sommerpause wieder einsteige, um ein weiteres Unterrichtsjahr zu beginnen. Es ist eine Mischung aus Urin, Desinfektionsmittel und abgenutzten synthetischen Sitzpolstern, in denen noch der Zigarettenqualm von Jahrzehnten hängt. Inzwischen darf in den Zügen nicht mehr geraucht werden, aber der Geruch ist noch da. Das verschwommene Neonlicht greift die Augen an, ohne ein Buch ausreichend zu beleuchten. Hier und da ist ein Platz besetzt, von einem Studenten, der mit seiner frisch gewaschenen Wäsche ins College zurückkehrt; einem Mann im Overall, der sich dauernd räuspert; einem erschöpft aussehenden, drallen schwarzen Mädchen, das eindeutig nach einer langen Nacht auf dem Weg nach Hause ist. Vor dem Bahnhof von Verona herrscht lebhafter Prostitutionsbetrieb, hauptsächlich Immigrantinnen aus Afrika und den slawischen Ländern, die mit einem Fuß in der Sklaverei leben, fürchte ich. Sie fahren viel Zug. Ich weiß nicht, warum. Köpfe wackeln und nicken unvermittelt. Das Mädchen, die einzige Nicht-Weiße im ganzen Wagen, trägt rote Lackstiefel. Jemand schnarcht. Es ist ein Großraumwagen, ohne Abteile, und ich suche mir einen Platz so weit wie möglich von den anderen entfernt. Um 6.42 Uhr oder 6.43 Uhr wird durch den harten Sitz eine leichte Spannung in Lenden und Oberschenkeln spürbar. Kein Zug überwindet das Trägheitsmoment so sanft, so zögerlich und müde wie der 6.40-Uhr-Interregionale nach Genova Piazza Principe über Milano Centrale.

Dann stürmt ein Spätankömmling herein, ein junges Mädchen, und setzt sich direkt neben mich. Ihr Discman leiert, sie trägt ein aufdringliches Parfüm, hat einen Glitzerstein im Bauchnabel und in der Hand eine laut raschelnde Papiertüte mit einem klebrigen Croissant darin. Warum passiert das so oft? Es gibt Menschen, die für sich sein möchten, ihr Terrain abstecken und dort in Ruhe gelassen werden wollen, und es gibt Menschen, die ausgesprochen gerne in dieses Terrain vordringen, sich gerne dicht neben jemanden setzen. Von Letzteren scheint es in Italien überproportional viele zu geben. Man sitzt in einem Wagen, einem ganzen Zug mit lauter leeren Abteilen, in einem leeren Abteil, und jemand stürmt herein und setzt sich genau auf den Platz neben einem.

Während eines Streiks habe ich einmal im Bahnhof von Mailand einen vollkommen leeren Intercity entdeckt, einen wahren Geisterzug. Nach einer Weile verkündete eine Lautsprecherdurchsage, dass der Zug möglicherweise in zwei Stunden abfahren würde, man könne das jedoch nicht garantieren. Die Stimme bat für etwaige Unannehmlichkeiten um Entschuldigung. Da ich nicht vorhatte, mir ein Hotelzimmer zu suchen, beschloss ich, mich in den Zug zu setzen und zu lesen. Ich wählte einen Waggon ungefähr in der Mitte des langen Bahnsteigs. Da es ein Intercity war, gab es Abteile. Plötzlich schob ein Mann die Abteiltür auf, um sich zu mir zu setzen, ein etwas traurig wirkender, schlaksiger Mann mittleren Alters in einem grauen Regenmantel, mit schlaffem, sorgenvollem Mund und dicken Brillengläsern. Er hatte einen riesigen Koffer bei sich, die Art von Koffer, bei der man sich fragt, wo um Himmels willen sein Besitzer wohl hinfahren mag und für wie lange. Ob das wohl sein ganzes Hab und Gut ist? Ist er vielleicht ein Flüchtling?

Mit Mühe hievte der Mann den Koffer auf die Gepäckablage, setzte sich, wischte nicht vorhandene Krümel von seiner Hose, schaute mich an, lächelte und – ich wusste, ich konnte es nicht verhindern – fing an zu reden: über den Streik, über eine schwierige Umsteigeaktion, die ihm in Venezia Mestre bevorstand, über die Unmöglichkeit, in Italien je zu wissen, was einen erwartete, selbst auf einer ganz banalen Reise. War es nicht so? Es ist interessant, wie oft die Italiener über ihr Land sprechen, als wäre es ihnen fremd und von Menschen bevölkert, die unerklärlich unzuverlässig waren. Ich nickte kaum wahrnehmbar. »Ecco il capotreno«!, rief er plötzlich, sprang auf und rannte eilig aus dem Abteil, um mit einem Mann mit schicker Mütze zu sprechen, der auf dem Bahnsteig auf und ab ging.

Das war die Gelegenheit. Verstohlen nahm ich meine eigene kleine Tasche, ging in die andere Richtung bis zum Ende des Wagens und stieß die beiden Verbindungstüren zum nächsten Wagen auf. Ich muss durch ungefähr vier vollkommen leere Wagen gegangen sein, in Richtung Lokomotive, ehe ich mir ein anderes Abteil aussuchte. Da der Strom im Zug nicht eingeschaltet war, suchte ich nach einem Platz, auf dem eine der großen, hoch hängenden Lampen draußen im Bahnhof selbst durch die schmierigen Scheiben genug Licht zum Lesen lieferte. Hier. Gut. Ich setzte mich. Etwa zehn Minuten lang las ich. Ich war zufrieden. Ehrlich gesagt macht es mir gar nichts aus, zwei Stunden in einem leeren Zug zu sitzen und zu lesen. Wenn ein Buch gut genug ist, spielt es keine Rolle, wo man es liest. Es gibt Zeiten, da sind Zugverspätungen mir nur recht. Nach ungefähr fünfzehn Minuten wurde die Schiebetür des Abteils mit einem heftigen Ruck aufgezogen, und derselbe Mann erschien von Neuem.

»Da sind Sie ja!«, rief er. Er setzte sich. Nahm die Unterhaltung wieder auf. Fing an, mir zu erzählen, was der capotreno gesagt hatte. Der Zug würde abfahren, aber erst, wenn sie einen zweiten Lokführer gefunden hatten. Das war aber schwierig. Wegen dem Streik. Was Mestre betraf, weiß der Himmel. Sein letzter Zug an irgendein Reiseziel in den Bergen fuhr um 20.15 Uhr. »Wer weiß, wo ich heute Nacht schlafen werde!« Diese melancholische Überlegung schien ihm ziemlich gut zu gefallen. Dann warf er einen Blick auf die Gepäckablage und fragte: »Wo ist mein Koffer?«

Ich schüttelte den Kopf. »Den haben Sie im anderen Wagen gelassen.«

»In welchem anderen Wagen?«

Dem Mann war gar nicht klar, dass er sich jetzt vier Wagen näher an der Lok befand.

»Ach so.« Er kniff die Augen zusammen. »Kam mir doch gleich irgendwie komisch vor«, sagte er. »Aber warum um alles in der Welt haben Sie sich umgesetzt?«

»Ich möchte allein sein«, erklärte ich ihm.

Erschrocken sprang er auf und lief schnell zurück, um seinen Koffer zu holen. Mir ging kurz der Gedanke durch den Kopf, dass der Mann vielleicht ein Geist war; er ging um in diesem Zug, selbst wenn er tagelang auf irgendeinem Abstellgleis stand. Das würde erklären, warum er so wild auf Gesellschaft war. Um ganz sicherzugehen, setzte ich mich erneut um, diesmal in die erste Klasse. Sie können einem kein Bußgeld verpassen, weil man in der ersten Klasse sitzt, solange der Zug nicht fährt. Ich war überzeugt, dass er ein Geist der zweiten Klasse war.

ES IST 6.50 UHR. Vor den schmierigen Scheiben zieht die Landschaft vorbei. Links liegt die pianura padana, die Poebene, ein Streifen niedriger Fabrikgebäude entlang der Bahnstrecke, und dahinter weite Flächen mit Wein, Obstplantagen und Mais. Alles ist flach und öde, im Winter neblig, im Sommer dunstig. Dass die alten hölzernen Weinrebengestelle durch eine harte, geometrische Anordnung monotoner grauer Zementpflöcke ausgetauscht wurden, ist deprimierend, ebenso wie die weiten Flächen schwarzer Schutznetze, die jetzt die Kirschplantagen überziehen. Keine weiße Blütenpracht mehr im Frühjahr. Diese Landschaft wirkt verbissen, industriell und gerastert, so als hätte man die Natur fein säuberlich in Parzellen unterteilt, um das Geldzählen zu erleichtern. Wir fahren hier durch eine der reichsten Gegenden Westeuropas.

Aber rechts der Strecke, nach Norden hin, erhebt sich das Land über die stufigen Hügel des Valpolicella bis zu den Bergen des Trentino. Hier sehen die Weinberge noch traditioneller aus, und an klaren Tagen sieht man entlang der ganzen Alpenkette weiße Bergspitzen. Sogar die wilden Nadelwälder in weiter Ferne, die grauen Felswände und die dunklen, harzigen Täler sind dann zu erkennen. Es tut gut, von einem Buch aufzublicken und die Berge zu sehen, sich vorzustellen, man könne sie riechen. Sie lassen alles dramatischer erscheinen, und jemandem wie mir, der in London aufgewachsen ist, geben sie die Gewissheit, jetzt weit weg von zu Hause zu leben. In Peschiera füllt sich der Zug dann langsam.

Peschiera und Desenzano, die beiden ersten Halte, liegen am Südufer des Gardasees. In Peschiera steigt man aus, wenn man ins Gardaland will, das italienische Disneyland. Der hübsche kleinstädtische Bahnhof mit den dunkelbraunen Stuckarbeiten und verwilderten Blumenbeeten wird von einer Reihe bunter Holzfassaden verschandelt, die eine Straße im Wilden Westen nachahmen, in der Comicfiguren leben. Gardaland, Bus navetta gratuito!, sagt Yogi Bär. Kostenloser Shuttlebus. In den Sommerferien ist der Zug voll mit Teenagern, die hierherkommen, um das Geld ihrer Eltern auszugeben. Heute Morgen steht ein Polizeiwagen auf dem Bahnsteig, als hätten Topolino und Paperone, oder vielmehr Micky Maus und Onkel Dagobert, sich tatsächlich ein Duell geliefert.

Der Zug fährt jetzt ratternd über einen niedrigen Höhenrücken, und man kann über alte Terrakotta-Dächer und Beton-Hotels, Pizzerien und Gelaterias hinweg bis zum großen See schauen, der im Morgenlicht hellgrau schimmert und sich, so weit das Auge reicht, nach Norden erstreckt, anfangs zu beiden Seiten von stufigen Hügeln gesäumt, später von dunkleren Bergen, die das Wasser schwarz erscheinen lassen. Ein Fischerboot zieht ein langes Kielwasser hinter sich her, scheint aber stillzustehen. Das Wasser ist so ruhig, dass es massiv wirkt. Zwei Rucksacktouristen betreten lautstark unseren Wagen und streiten sich auf Deutsch. Die Interregionali haben ziemlich hinterlistige Schwingtüren zwischen den einzelnen Waggons: Man weiß nie, an welcher Seite der Doppeltür man drücken und an welcher man ziehen muss. Die Rucksacktouristen verhaken sich beim Hereinkommen und fallen beinahe übereinander.

Auf der linken Zugseite sind jetzt die niedrigen Berge von Custoza zu sehen, runde Moränenhügel aus Silt und Geschiebe, die von den Gletschern hinterlassen wurden, als der See entstand. Hier führte 1866 Viktor Emanuel II. seine Truppen in die Schlacht gegen Österreich-Ungarn, das trotz des Zusammenschlusses von Restitalien noch Herr über das Veneto war. Österreich hatte angeboten, das Gebiet im Austausch gegen die italienische Neutralität im Krieg gegen Deutschland zu übergeben, aber Viktor Emanuel war der Ansicht, die Ehre seiner uralten Familie und der neuen Nation verlange, dass er das Land mit Waffengewalt eroberte. Sein 120.000 Mann starkes Heer wurde von 80.000 Österreichern besiegt. Vierzehntausend Männer starben. Ihre Schädel sind in einem Ossuarium ausgestellt. Man kann die Einschusslöcher erkennen. Die meisten der Soldaten waren so jung, dass sie noch makellose Zähne hatten.

Ein erheblicher Teil des siegreichen österreichischen Heeres von 1866 bestand aus ortsansässigen Italienern, die vom Gedanken der nationalen Einheit nicht sehr begeistert waren, und noch heute findet man an den Hauswänden zwischen Peschiera und Desenzano Graffitis wie GOVERNO LADRO, VENETO LIBERO. Mit governo ladro, der diebischen Regierung, ist immer die römische gemeint, nicht die lokale. Und: NENNT MICH HUND, ABER NENNT MICH NICHT ITALIENER. BEFREIT UNS VOM SCHMUTZ DES SÜDENS. Und so weiter. Das führt vielleicht dazu, dass manche Touristen oder spitzfindige ausländische Journalisten glauben, es gäbe hier eine ernsthafte Separatistenbewegung. Dabei handelt es sich bloß um blumige Phrasen, ganz ähnlich wie beim FastTicket. Die Leute mögen den Gedanken einer Separatistenbewegung, es macht ihnen Spaß, Rom und den Süden zu hassen, aber sie fahren mit Trenitalia, um in weit entfernten Städten zu arbeiten oder an ihrem Lieblingsstrand in Apulien Ferien zu machen, wo sie höchstwahrscheinlich Freunde und Verwandte haben. In ähnlicher Weise finden die Leute Gefallen daran, dass ein Papst gegen Verhütung und Abtreibung ist, führen aber trotzdem ein vernunftbestimmtes, hyperkontrolliertes Sexleben. In allen Bereichen des italienischen Lebens muss man sich mit dem gleichen Schlüsselaspekt auseinandersetzen, nämlich dem, dass die Italiener als Nation bestens mit der Diskrepanz zwischen Realität und Ideal zurechtkommen. Die Menschen hier stehen über dem, was wir Heuchelei nennen. Sie nehmen den Gegensatz zwischen Rhetorik und Verhalten schlicht nicht wahr. Das ist eine beneidenswerte Geisteshaltung.

DIE MEISTEN FAHRGÄSTE IN DIESEM ZUG SCHLAFEN, und wenn nicht, dann wünschten sie, sie schliefen. Nicht selten steigt man ein und findet ganze Waggons in Schlafsäle verwandelt. Aber das kann gefährlich werden. Zweimal in letzter Zeit ist der Zug der lebenden Toten zum Zug der echten Toten geworden. Beim ersten Mal saß ich, dem Himmel sei Dank, nicht drin. Mitten im Winter roch es auf einmal, kurz nachdem die Wagen ins Rollen gekommen waren, nach Rauch: Ein Kurzschluss hatte einen Brand ausgelöst. Im letzten Wagen waren vier oder fünf Fahrgäste wach genug, um aufzustehen und durch den Zug nach vorne zu gehen. Niemand hatte jedoch eine Frau Mitte vierzig bemerkt, die tief schlief. Als der Rauch sich verzogen hatte, war sie tot.

Wie immer, wenn in Italien ein tödlicher Unfall passiert, beeilten sich die Richter, jemanden zu verhaften, der möglicherweise dafür verantwortlich gemacht werden konnte, in diesem Fall den armen capotreno, der aussagte, einer der geflohenen Fahrgäste habe ihm versichert, der mit Rauch gefüllte und deshalb hochgefährliche Waggon sei vollständig evakuiert worden. Nach ein paar qualvollen Tagen in Haft wurde er wieder freigelassen. Auf eine Demonstration der Härte folgt in Italien immer Milde und sehr oft Gleichgültigkeit. Es ist schwierig, im Gefängnis zu landen, weil man einen Unfall verursacht hat, obwohl viele Leute für nichts und wieder nichts kurzfristig eingesperrt werden.

Der zweite Todesfall ereignete sich an einem Morgen, an dem die Prüfungskommission tagte. Ich musste nach Mailand fahren, um mit sieben oder acht weiteren Professoren an einem Tisch zu sitzen und die mündlichen Ausführungen der Studenten zu ihren Abschlussarbeiten anzuhören. Wie das nullaosta ist diese Prüfung eine reine Formalität. Ich kenne keinen Studenten, der je durchgefallen wäre. Außerdem ist es unsäglich langweilig: drei, vier Stunden, in denen man die Langeweile förmlich in Händen halten und wie ein kleines flauschiges Tier streicheln kann. Doch wehe dem, der so eine Sitzung kurzfristig absagt. Denn wenn mehr als einer der Professoren fehlt und die Kommission beschlussunfähig ist, kann an dem Tag niemand seinen Abschluss machen, und das hat ernsthafte Sanktionen zur Folge. Die gesamte Universitätskarriere hängt am Ende also von einer langen Zeremonie kollektiver Langeweile ab. Es ist interessant, dass die meisten meiner italienischen Kollegen diese Einschätzung teilen, einige von ihnen sind sogar noch viel schärfer in ihrem Urteil; zugleich sind sie aber ganz und gar nicht der Meinung, man müsse an der Situation etwas ändern. Prüfungskommissionssitzungen sind so unvermeidlich wie Pizza oder der Papst.

An diesem Prüfungskommissionsmorgen wurde ich, als der Interregionale fünfzehn Minuten hinter Verona scharf bremste und ruckelnd zum Stehen kam, sofort nervös. Aus fünf Minuten wurden zehn. Wir befanden uns auf offener Strecke, kurz vor dem Dorf Sommacampagna. Es regnete unaufhörlich. Nach ungefähr einer halben Stunde kam eine Durchsage: »I signori viaggiatori sono avvisati che il treno sarà fermo per un periodo INDETERMINATO!«

Die Weiterfahrt auf unbestimmte Zeit verzögert! Wie fatal das klang. Als hätte die Erde aufgehört, sich zu drehen. Keine Erklärung, kein Hinweis darauf, wann das Sonnensystem seine verschiedenen Umlaufbahnen wieder aufnehmen würde. Der Regen fiel ununterbrochen. Erschrocken rief ich einen Kollegen in Mailand an, der, so hoffte ich, Frühaufsteher war. Wenn ich anfing, die Sitzungen der Prüfungskommission zu verpassen, würde die Universitätsverwaltung womöglich im nächsten Jahr bei meiner Bewerbung die Sache mit dem nullaosta überdenken, dachte ich bei mir.

Inzwischen holten sich die etwa ein Dutzend Fahrgäste in meinem Wagen nasse Haare, während sie sich aus den Fenstern lehnten, um zu sehen, was los war. »Selbstmord«, entschied einer sachkundig. Woher er das wusste? Weil wir mitten auf der Strecke eine Vollbremsung gemacht hatten. Weil seitdem keine Züge in die andere Richtung an uns vorbeigefahren waren. Die Strecke war offensichtlich in beiden Richtungen gesperrt. Was sollte es sonst sein? »Dieser Abschnitt ist berüchtigt für Selbstmorde«, erzählte er.

Er hatte recht. Um 6.50 Uhr in der Früh war jemand so unglücklich gewesen, dass er oder sie sich vor den ersten Zug geworfen hatte, den der verregnete Morgen hier vorbeischickte. Hoffentlich keiner der Studenten, die vor der Prüfungskommission sprechen sollten.

»Und bevor sie sauber machen«, erklärte unser fachkundiger Mitreisender uns allen, »müssen sie erst noch einen Arzt herbeordern, um den Totenschein auszustellen, und ein forensisches Team, um Fotos zu machen, falls den Lokführer eine Mitschuld trifft.«

Wie soll ein Lokführer je daran schuld sein, dass sich jemand vor die Lokomotive wirft?

Nach vielleicht anderthalb Stunden fuhr der Zug seltsamerweise etwa zehn Minuten lang im Schneckentempo rückwärts, ehe er auf ein Abstellgleis fahren konnte. Dann änderte sich erneut die Fahrtrichtung, und wir fuhren vorsichtig durch den Bahnhof von Sommacampagna. Kurz hinter dem Bahnsteigende, auf einer grasbewachsenen Böschung, sah ich Rettungssanitäter, die ein abgetrenntes Bein in einen Plastiksack steckten. Ein paar andere Männer in Anzügen standen unter Schirmen herum. Das Merkwürdige war, wie wenig mich das beeindruckte im Vergleich zu meinem inneren Bild von dem Moment, in dem sich das Opfer auf die Schienen geworfen hatte und sein noch unversehrter Körper und die Eisenräder aufeinandertrafen. Oder auch ihr unversehrter Körper. Der Gedanke lässt mich erschaudern, vielleicht weil man sich dabei vorstellt, man würde es selber tun. Ein paar Tage später wurde die Eisenbahngesellschaft in der Presse angegriffen, weil sie die Rechnung über die Reinigungsarbeiten an die Angehörigen geschickt hatte. Ein pignolo, ohne Zweifel, der versuchte, die unmöglichen Bilanzen des Unternehmens auszugleichen.

UM 7.40 UHR HÄLT DER ZUG in der Stadt Brescia. Wir sind jetzt in der Lombardei. Ein Mann mittleren Alters, der ein paar Reihen von mir entfernt sitzt, wird plötzlich lebendig. Er springt auf, reißt das Fenster mit einem Ruck herunter, lehnt sich hinaus und winkt Freunden auf dem überfüllten Bahnsteig zu. »Qua, qua. In fretta!« Hierher, hier. Schnell! Er hält ihnen Plätze frei, hat auf einen seine Jacke, auf einen eine Tasche und auf den dritten eine Zeitung gelegt. Keine fünf Minuten vergehen, dann ist der Zug voll. Überfüllt. Leute stehen und rempeln einander an. Niemand findet Platz fürs Gepäck. Und noch schlimmer, alle reden. Alle scheinen sich zu kennen.

Das ist etwas, das ich in England noch nie erlebt habe. Dort sind in Pendlerzügen die meisten Reisenden in sich selbst vertieft, in eine Zeitung oder ein Buch, oder versuchen, die Träume von vor einer Stunde weiterzuspinnen. Die Fahrt ist von einer wohltuend melancholischen Stimmung geprägt. Nicht so im Interregionale nach Mailand. Hier sind die Toten quicklebendig, was wesentlich unangenehmer ist. Entweder sind die Fahrgäste in Brescia Nachbarn oder in Mailand Arbeitskollegen. Überall im Wagen bilden sich angeregt plaudernde Grüppchen. Einige der Grüppchen kennen andere Grüppchen und verbandeln und verknüpfen sich mit ihnen. Ein paar Studenten tauschen Seminaraufzeichnungen aus. Über Fußball, Politik und das beste Rezept für Spargelrisotto wird eifrig diskutiert. Ich schiebe mir ein paar gelbe Schaumstoffstöpsel in die Ohren.

Aber das reicht nicht. Um mich herum drängt sich ein halbes Dutzend Männer und Frauen Anfang dreißig. Normalerweise redet hauptsächlich einer, während die anderen gelegentlich Zustimmung äußern oder Einwände einstreuen. Bei geschlechtergemischten Gruppen ist der Redner unweigerlich ein Mann. »Juve wurde mal wieder ein klarer Elfmeter erlassen.« Juve oder Juventus ist eine der sogenannten Big-Four-Fußballteams – Juventus Turin, Inter Mailand, AC Mailand und Rom –, die immer die Meisterschaft gewinnen. »Habt ihr das gesehen? Una vergogna«, sagt ein Anzugträger, etwa Mitte dreißig, mit einer nasalen Stimme, dem frisch geschrubbten Gesicht eines Bankangestellten, einem Ohrring, einem spöttischen Grinsen und einer hellroten Krawatte. Er lacht beim Sprechen und macht in einer Tour Witze. Die Frauen schauen sich an und lächeln nachsichtig. Zwei von ihnen stehen Arm in Arm da, berühren einander. Diese Grüppchen strahlen ein merkwürdiges kollektives Bewusstsein aus, etwas sehr Körperliches. Diese Menschen mögen ihre Körper, sie mögen ihre Accessoires, ihre Handtaschen und Laptops und Handys und die winzigen Designer-Rucksäcke. »Schau, was ich mir gekauft habe. Hier, schau mal.« Sie befingern den neuen Stoff und berühren den Arm ihrer Freundin.

»Witz«, fängt die rote Krawatte lautstark an. »Hört zu. Also, Berlusconis Sohn fragt seinen papá um Rat, wie er ein Mädchen flachlegen kann, auf das er scharf ist, okay? Der alte Berlusconi sagt: ›Stefano, zuerst kaufst du ihr eine Diamantkette, va bene? Dann lädst du sie in ein teures Restaurant ein, buchst ein Zimmer in einem Fünf-Sterne-Hotel, sorgst dafür, dass eine Flasche eisgekühlter Champagner vom Feinsten auf dem Nachttisch steht – und schon gehört sie dir. Also nichts wie ran!‹ ›Aber Papà‹, protestiert der Sohn, ›sollte die Liebe nicht umsonst und frei sein? Ich möchte nicht, dass sie denkt, ich will sie kaufen.‹ Und was gibt Silvio zur Antwort?« Vor der Pointe lächelt der Mann strahlend; er findet sich toll. »Was sagt der gute Silvio? ›Freie Liebe?‹, sagt er. ›Romantiker! Das war doch bloß etwas, das sich diese Geizhälse von Kommunisten ausgedacht haben, damit sie umsonst ficken konnten!‹ Damit sie umsonst ficken konnten!«

Die anderen kichern und stöhnen. Jemandem fällt ein, was der Moderator einer Talkshow am Abend zuvor über die Auswahl der Schiedsrichter für die Serie A gesagt hatte. Ich finde mich damit ab, eine Stunde lang zum Zuhören verdonnert zu sein, immerhin mit dem angenehmen Dämpfungseffekt der Ohrstöpsel.

Vor Kurzem wurde bei Trenitalia, angeregt von weiß Gott was für einem hypersensiblen Fahrgast, über die mögliche Einführung eines »Ruhewaggons« für diejenigen gesprochen, die sich nicht unterhalten wollen. Ehe sie dieses revolutionäre Vorhaben jedoch in die Tat umsetzten, wurde beschlossen, zunächst eine Umfrage unter den Reisenden durchzuführen. Die Zeitungen veröffentlichten ein paar der Antworten. Am faszinierendsten waren die Reaktionen derjenigen, die gar nicht verstanden, worum es ging: »Wenn ich nicht will, dass ein Mann mich anspricht«, sagte eine Frau, »dann weiß ich schon, wie ich ihm erkläre, dass er mich in Ruhe lassen soll.« »Man kann doch selbst entscheiden, ob man reden will oder nicht«, stellte ein Student fest. Diese Leute kamen einfach gar nicht auf den Gedanken, dass manche von uns vielleicht in aller Ruhe lesen wollen. »Und was ist, wenn ich im Ruhewaggon sitze und mein Telefon klingelt?«, wandte jemand ein. Mit dieser schlichten Beobachtung hatte er seiner Ansicht nach die Absurdität des Vorhabens nachgewiesen. Man hat nie wieder davon gehört.

DER WICHTIGE PLATZ, den die Eisenbahn in der Psyche der Italiener einnimmt, zeigt sich in der Häufigkeit, mit der sie zur Zielscheibe politischer oder wirtschaftlicher Proteste wird. Ich weiß noch, wie ich einmal in den späten 1990er-Jahren auf der Fahrt nach Mailand – wie immer in Gesellschaft der lebenden Toten – von meinem Buch hochschaute und feststellte, dass der Zug stand. Es war ein außerplanmäßiger Halt; wir standen auf offener Strecke, inmitten einer Landschaft von Feldern, Pappeln und Masten. Jemand riss ein Fenster auf, und wir hörten hupende Autos und merkwürdige Hintergrundgeräusche, die klangen wie das Blöken von Rindern. Ich stand auf und schob mein Fenster herunter. Es war das Blöken von Rindern. Eine Gruppe von Bauern hatte ein Feld mit Traktoren vollgestellt und ein paar Kühe auf die Schienen getrieben, um die Züge zu stoppen. Mit Bannern protestierten sie gegen die EU-Quoten für Milcherzeugnisse.

Die Zeit verging. Aus dem Fenster gelehnt sah ich, dass ein Fernsehteam eingetroffen war. Es waren auch Polizisten da, die mit den Bauern zu plaudern schienen. Weiter vorne im Zug schob jemand knallend ein Fenster herunter und brüllte Beleidigungen und Flüche nach draußen. »Comunisti! Fannulloni! (Faulpelze) Pagliacci! (Witzfiguren) Merde!« Die Bauern brüllten zurück. Es wurden so ähnliche Gesten ausgetauscht wie zwischen rivalisierenden Fußballfans im Stadion: Hohn und Verachtung.

Als der Schaffner vorbeikam, fragte ich ihn, warum die Polizei die Strecke nicht räumte. Mit schiefem Lächeln erklärte er mir, dass zwischen der Eisenbahngewerkschaft, den Bauern und der Polizei eine friedliche Übereinkunft bestand, nach der die Bauern jeden Zug eine halbe Stunde lang aufhalten durften. Dann würden sie ihn weiterfahren lassen und den nächsten Zug anhalten. »Es wäre gefährlich«, erläuterte er, »eine Kuh auf die Schienen zu stellen, wenn der Lokführer nicht weiß, wo und wann er mit ihr zu rechnen hat. Das Tier könnte dabei umkommen.«

Wir hatten es also mit dem klassischen italienischen Kompromiss zu tun, einem gespielten Konflikt, bei dem sich eigentlich alle einig waren. Anarchie ist in Italien selten, aber die Legalität wird immer wieder zur Disposition gestellt, vor allem wenn man sich als jemand präsentieren kann, der ungerecht behandelt wurde, etwas, wozu sich die Bauern besonders berufen fühlen. Für jeden Liter Milch garantiert die EU den europäischen Bauern etwa den doppelten Weltmarktpreis; als Gegenleistung müssen die Bauern bestimmte Produktionsgrenzen einhalten und dürfen die hohen Preise nicht durch Überproduktion ausnutzen. Die Bauern in Norditalien hatten ihre Milchquoten weit überschritten, weigerten sich aber, die entsprechenden Strafen zu zahlen. Um die italienische Regierung zu ermutigen, in ihrem Interesse zu verhandeln, schien es ihnen eine gute Idee, die Züge aufzuhalten, die durch ihre Felder fahren.

In den nächsten sechs Wochen wurde es zur Gewohnheit, dass der Zug irgendwo mitten auf dem Land anhielt, der Lokführer mit den Bauern plauderte und die Kühe die Fahrgäste anmuhten. Die Protestierenden schlugen große Zelte auf, saßen an Campingtischen und tranken Wein aus großen Flaschen, während sie zuschauten, wie wir in unserem Interregionale oder Intercity gefangen waren. Manchmal konnte man sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass Lokführer, Polizisten und Fernsehteams die Situation genossen. Jeden Abend wurde im Fernsehen unsere Lage dramatisiert und vom wirtschaftlichen Schaden gesprochen, während man weiterhin mit den Bauern, den vermeintlichen Opfern undurchsichtiger europäischer Regularien, sympathisierte. Schließlich gab die Regierung wie immer klein bei, wandte sich an Brüssel und erkämpfte dort, was die Bauern haben wollten. Was sie im Gegenzug versprochen haben, weiß ich nicht mehr, aber ich bezweifle ernsthaft, dass sie es gehalten haben. Italien ist das enthusiastischste Mitglied der EU und zugleich das Land, das am häufigsten vom europäischen Gerichtshof wegen Nichteinhaltung europäischer Vorschriften verurteilt wird. Das ist kein Widerspruch. Während der Protestaktionen hatten sich die Fahrgäste so an die Situation gewöhnt, dass sie die halbe Stunde Milchquoten-Verspätung schon in ihre Reiseplanung mit einbezogen.

WESENTLICH ÖFTER sind es die Bahnangestellten selber, die die Züge aufhalten, denn es gibt kaum eine Zeit, in der sie nicht gerade im Clinch mit ihrem Arbeitgeber liegen.

Wie immer ist die Lage kompliziert. Tarifverträge werden für einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren ausgehandelt und müssen dann erneuert werden. Die Regierung und die großen Arbeitgeber erneuern den Vertrag jedoch nur selten dann, wenn die Erneuerung fällig ist. Oft fangen sie zu diesem Zeitpunkt erst mit den Verhandlungen an. Daher kommt es oft zu Situationen, in denen ein Vertrag offiziell schon seit drei oder vier Jahren ausgelaufen ist. Die Arbeitnehmer werden weiterhin nach dem alten Tarif bezahlt, und dadurch entsteht Druck auf die Gewerkschaften, sich auf ein niedrigeres Angebot einzulassen, als sie eigentlich wollten; andernfalls würden ihre Arbeitnehmer überhaupt kein Angebot erhalten. Die Gewerkschaften sind sich dessen bewusst und setzen ihre Initialforderungen entsprechend hoch an.

Während der ganzen langen Verhandlungsphase gibt es regelmäßig eintägige Streiks, um die Arbeitgeber daran zu erinnern, dass die Lage dringlich ist. Zu einem kompletten Streik kommt es in Italien so gut wie nie; er passt nicht zu der Auffassung, dass alles verhandelbar ist, dass die letzte Waffe unter allen Umständen zurückgehalten werden muss.

Der Öffentlichkeit wird nicht mehr gesagt, als dass die Streikenden um die Erneuerung ihrer Verträge kämpfen, was natürlich vernünftiger klingt, als zu sagen, man streike für eine Lohnerhöhung. Da man kaum je genau weiß, um was es eigentlich geht – ein Gefühl, das anscheinend viele der Bahnangestellten teilen –, werden die Streiks gewissermaßen als höhere Gewalt betrachtet, als etwas, auf das man keinerlei Einfluss hat. Oder einfach als ein alltägliches Ärgernis. Je nach politischer Vorliebe unterstützen die Menschen die Arbeiter blind, oder sie sprechen von einem Italien, das niemals so »seriös« werden wird wie Frankreich oder Deutschland.

Man spricht von »Streik«, aber das Wort bedeutet hier nicht dasselbe wie anderswo, nämlich, dass die Züge nicht fahren und damit basta. Die Regierung und die Gewerkschaften haben einen Mindestbetrieb während der Streiks ausgehandelt. Auch in diesem Fall existiert also eine Art Komplizenschaft beim Regelverstoß, oder vielmehr eine Kooperation innerhalb der Kooperationsverweigerung. Die Folge ist eine der mehrdeutigen Situationen, für die die Italiener einen so untrüglichen Sinn haben.

Der Streik wird ein, zwei Wochen vorher angekündigt, wobei zugleich erklärt wird, dass er auch ausfallen oder verschoben werden oder die Regierung ihn für illegal erklären könnte. Es gibt eine Telefonnummer, die man anrufen kann, um zu erfahren, welche Züge fahren, aber die ist immer besetzt. Im Bahnhof von Verona wird ein Plakat aufgehängt mit einer Liste von treni circolanti im Falle eines Streiks, eine Art Streik-Fahrplan, so als wäre ein Streiktag wie ein Sonn- oder Feiertag. Das Plakat enthält allerdings auch den Warnhinweis, dass die angegebenen Züge vielleicht doch nicht fahren.

Natürlich ist das Ganze darauf ausgelegt, die größtmögliche Verwirrung zu schaffen, während man behauptet, die Auswirkungen des Streiks minimieren zu wollen. Ich gehe inzwischen einfach zum Bahnhof und zur Hölle damit! Irgendetwas fährt fast immer. Tatsächlich kann ich mich an keinen einzigen Streik erinnern, der mich daran gehindert hätte, von Verona nach Mailand zu gelangen. Es ist eine Strecke, auf der viele internationale Züge fahren, und wie wir gesehen haben, liegt den Italienern daran, in den Augen ihrer französischen und deutschen Nachbarn seriös zu wirken. Die meisten Pendler nehmen sich allerdings den Tag frei. Das gilt als un’assenza giustificata, als berechtigtes Fehlen. Das Ziel des Streiks wird also trotz allem erreicht, und zwar, ohne diejenigen, die wirklich reisen wollen, zu verärgern. Im Großen und Ganzen eine elegante Lösung.

DIE BERGE OBERHALB VON BRESCIA wirken besonders bedrückend. Die grau-grüne Vegetation der drohend aufragenden Hügel bedeckt nur spärlich den darunterliegenden weißen Sandstein, was der Landschaft ein seltsames, zerschlissenes Aussehen verleiht. Hier und da werden die Abhänge von der hellen Narbe eines Steinbruchs durchbrochen, dessen vertikales Gesicht mit löchrigen Querstreifen durchzogen ist. Formlosigkeit wechselt ab mit eckiger Geometrie: Einkaufszentren, Friedhöfe.

Auf der anderen Seite des Zuges sind auf einer riesigen Asphaltfläche Tausende neue VWs in perfekt symmetrischer Anordnung geparkt und augenscheinlich mit dem gleichen schwarzen Netzmaterial bedeckt, das auch die Kirschplantagen überzieht. Zum Schutz vor den Hagelschauern, die hier im Sommer oft niedergehen. Fabriken stehen zwischen modernen Wohnblöcken; die Gebäude stehen versetzt, ohne jedoch einen malerischen Gesamteindruck zu erzeugen: hohe Industrie-Silos, rostige Röhren und Vorratstanks, Küchengärten mit Rankhilfen für Kletterbohnen, Feigenbäume, die sich über eingedrückte Zäune neigen.

Ein dicker Mann in einem weißen Unterhemd putzt sich auf einem Balkon die Zähne. Man sieht Laken auf Wäscheleinen, Terrakotta und Teer, Solarpaneele und Wellblech. Ein winziger Weinberg mit nur drei Reihen von je einem Dutzend Rebstöcken liegt eingezwängt zwischen zwei Lagerhäusern aus Betonplatten, die so hoch wie Kathedralen sind. Daneben steht ein verfallenes kleineres Lagerhaus. Efeu breitet sich auf Holzpaletten und zerbrochenem Mauerwerk aus. Anscheinend entledigt man sich in Italien nicht des Alten, ehe man mit dem Neuen beginnt.

Ein Traktor wühlt sich durch den Schlamm um etwas herum, das wohl ein Stapel Heuballen unter einer weißen Plane sein muss, aber das Gebilde hat die Form und die Größe einer prähistorischen Grabstätte. Ausrangierte Autoreifen halten die Plane fest, falls Wind aufkommt. Nur hier und da scheinen noch Fragmente des alten, pittoresken Italien auf, wie Postkarten, die auf einen unruhigen Hintergrund gepinnt wurden: eine barocke Kirchenfassade oben auf dem Hang, der ockerfarbene Stuck an einer Villa, die im morgendlichen Sonnenschein leuchtet, eine Zypressenallee, die mit Sicherheit zu einem Friedhofstor führt.

In einer kräftigen Duftwolke von verbrannter Bremsflüssigkeit kommt der Zug kreischend in Rovato zum Halt. Wir sind jetzt in den Satellitenstädten von Mailand. Chiari, Romano, Treviglio. Chiari bietet auf der linken Zugseite hübsche, weinberankte Häuserfassaden, und auf der rechten ein gigantisches Zementwerk. Noch mehr Leute drängen herein. Ganze Bürobelegschaften haben sich an beiden Enden des Waggons zusammengefunden. Komplette Uni-Seminare sind hier versammelt. Leute, die ohnehin den größten Teil des Tages gemeinsam verbringen werden, müssen dennoch schon im Zug alles durchsprechen. Unsere rot gestiefelte Prostituierte schafft es irgendwie, das alles zu verschlafen. Sie ist an schwierige Schlafraumbedingungen gewöhnt. Wieder frage ich mich, warum sie so weit reisen muss. Wollen die Leute an ihrem Wohnort keinen Sex?

UNGEFÄHR UM ACHT fangen die Telefone an zu trällern. Die Gruppe neben mir lässt ein Handy herumgehen, alle plappern und lachen. Der Anrufer gehört zu ihrer Firma und ist zwei Wagen weiter vorne, kommt aber nicht zu ihnen durch. »Ausreden!«, protestiert eine junge Frau. »Wer ist bei dir? Sag die Wahrheit!« Sie ist auffällig geschminkt, ganz in Rosa mit rosa Handtasche, rosa-weißem Pulli, rosa-weißen Armreifen. Der Freund schickt ein Foto aufs Handy, um zu zeigen, wie verstopft der Gang ist. Selbst der capotreno kommt nicht durch! Alle freuen sich über diese Nutzungsmöglichkeit der neuen Technologie.

Hier und da gelingt es jemandem, eine Zeitung aufzuschlagen, Manifesto, Unità, Repubblica. In den Interregionali überwiegen die linken Zeitungen. Jemand liest einen Artikel über die Ungerechtigkeiten der derzeitigen Regierung vor. Nächste Woche gibt es einen Generalstreik, das heißt einen freien Arbeitstag. Natürlich am Freitag.

Der Zug verlangsamt seine Fahrt, als wir uns Lambrate nähern, dem ersten Bahnhof des Mailänder U-Bahn-Netzes. Hier versammeln sich die Roma, auf dem Bahnsteig Richtung Süden, wo die Grüne Linie fährt. Sie belegen die Steinbank auf der Höhe des letzten Wagens, wenn der Zug hält. Es sind drei, vier dunkelhäutige Männer, ungewaschen und unrasiert, ein halbes Dutzend Frauen, eine oder zwei mit Babys auf dem Arm, und ein paar Teenager, Mädchen und Jungs. Die Jungs haben eine Geige oder ein Akkordeon bei sich. Oft tragen sie Nagellack, manchmal sogar Lippenstift. Die Mädchen haben meist ein Kleinkind im Schlepptau. Wenn die Züge anfahren, steigen immer ein, zwei Roma ein. Sie fangen beim letzten Wagen an und arbeiten sich vor, die Männer machen in ihren schmuddeligen Westen Musik, die Frauen in den langen Kleidern betteln und wiederholen dabei immer wieder mit hoher Stimme ihren trauervollen Singsang.

»SIGNORE E SIGNORI! SCUSATE IL DISTURBO! Ich bin eine arme Immigrantin aus Albanien mit vier hungrigen Kindern, ICH BIN OHNE WOHNUNG, OHNE ARBEIT, OHNE GELD, OHNE ESSEN UND OHNE TRINKEN, PER FAVORE, SIGNORI, PER FAVORE.

Das Wort senza, ohne, wird seltsam betont, fast gesungen, wie in einem Klagelied. SENZA CASA, SENZA SOLDI. Aber was diesen Frauen in Wirklichkeit fehlt, ist Überzeugung. Sie betteln gelangweilt, wie Zombies, so als würden sie gar nicht erwarten, dass ihnen irgendjemand glaubt. Dieses Jammern ist nötig, scheinen sie sagen zu wollen, aber nur insofern, als es Teil einer Geschichte ist, die es manchen Leuten erlaubt, sich von ihrem Bargeld zu trennen. Die Gebenden brauchen sich nicht einzubilden, dass die Empfänger die Wahrheit sagen.

Ebenso wenig überzeugend sind die Männer, wenn sie eine der wenigen Melodien anstimmen, die sie auf ihren ungestimmten Geigen spielen können. »Alla Turca«, massakriert. Ein kleiner Junge läuft schwankend mit einer Sammelmütze durch den Wagen. Er weiß genau, wie lange er vor jedem Fahrgast stehen bleiben muss, um das maximale Pathos zu erzeugen. Ich habe auch schon gesehen, wie der Junge selber die Geige spielte, ganz allein im Gewühl der Metro, wobei sein miserables Spiel immer wieder im Lärm des Zuges unterging. Dann geht er mit der Mütze herum. Gelegentlich steige ich an der ersten Station aus und setze mich in den nächsten Wagen, um dem Krach aus dem Weg zu gehen, aber die Roma holen mich unweigerlich im nächsten Bahnhof wieder ein, und dann muss ich mir ihre gruselige Performance noch einmal von vorne anhören. Dann lieber doch gleich ganz, dann habe ich es hinter mir. Normalerweise arbeiten sie sich durch die Grüne U-Bahn-Linie bis zum südlichen Ende, nehmen dann den Zug zurück und steigen in Lambrate aus, um Pause zu machen. Kaum haben sie mit dem Betteln aufgehört, werden sie fröhlich.

Manchmal sieht man dieselben Frauen und Männer auch in der Regionalbahn betteln. Sie kommen ins Abteil, legen irgendein wertloses Schmuckstück auf den Sitz neben einem und kehren kurz darauf zurück in der Hoffnung, dass man es kauft. Aber im Zug haben sie es mit harter Konkurrenz durch die letzte Welle von afrikanischen Immigranten zu tun, und ich habe den Eindruck, dass die Roma zumindest in der Gegend um Mailand die U-Bahn bevorzugen.

Im Bahnhof von Verona gibt es einen Teenager, einen Jungen, der in den Zug steigt und einem erzählt, er habe sein Portemonnaie verloren und brauche Geld, um nach Hause zu seinen Eltern nach Turin fahren zu können. Beim ersten Mal habe ich ihm etwas gegeben. Später, als ich ihn mal darauf hinwies, dass er innerhalb von sechs Monaten schon drei Mal versucht hatte, mir diese Geschichte zu verkaufen, und dass man ihm bei seinem Veroneser Akzent kaum abnahm, dass er in Turin lebte, wurde er richtig aggressiv, so als wäre es eine Zumutung zu verlangen, dass er sich jeden Tag etwas Neues ausdachte oder um Details kümmerte, die höchstens für einen Romanschriftsteller eine Rolle spielten.

Die indischen Immigranten verkaufen Rosen an den Ampeln um den Bahnhof herum. Abends, wenn man zurückfährt. Sie betteln nie, sondern bieten einem einen Strauß mit sechs oder sieben Rosen für 5 Euro an. Ein Schnäppchen. Manchmal nehme ich sie. Manchmal frage ich mich, ob es eine Verbindung zwischen diesem Blumenhandel und den Prostituierten gibt, die in der Nähe ihren Dienst tun. Kaufen manche Männer ihrem üblichen Mädchen eine Rose?

Die Chinesen verkaufen eine Auswahl von Billigschmuck und Kopien von Designerartikeln, die sie auf Laken und Teppichen am Eingang zur Metro in Milano Centrale ausbreiten. Manchmal begegnet man in diesen Tunneln bis zu zwanzig chinesischen Flohmarkthändlern, wenn man nach einem Tag an der Universität zum Bahnhof zurückeilt. Sie sitzen in der Hocke und unterhalten sich leise miteinander, allzeit bereit, blitzschnell ihre Waren mitsamt dem Teppich aufzuheben, sollte die Polizei es auf sie abgesehen haben. Innerhalb von Sekunden sind sie dann mitsamt ihrem Krimskrams verschwunden. Manchmal ist es schwer, sich zwischen den vielen Pendlern und den ganzen ausgebreiteten Decken einen Weg zu bahnen.

EINMAL, VOR ETWA ZWEI JAHREN, habe ich einem Chinesen dabei geholfen, sich dieser kleinen Gemeinschaft von Milano Centrale anzuschließen. Meine Frau und ich wollten gerade einen Spaziergang in unserem kleinen Dorf bei Verona machen, als wir einen Asiaten sahen, der sich auf der winzigen Piazza ängstlich umschaute. Er war der erste Immigrant, den wir je in Novaglie gesehen hatten. Er war groß, vielleicht Ende zwanzig, kräftig gebaut und eindeutig desorientiert. Er trug einen schicken grauen Anzug, der aussah, als sei er aus großer Höhe auf ihn heruntergefallen. Seine Schuhe waren zu groß. Er hatte keine Tasche bei sich. Als wir auf ihn zugingen, schaute er uns ängstlich an, unentschlossen, ob er etwas sagen sollte, dann drehte er sich um und ging eilig weg. Wir beobachteten, wie er an eine der Türen klopfte, die direkt auf die Straße hinausgingen. Dann an eine andere. Und noch eine. Die Leute taten so, als seien sie nicht zu Hause.

Als wir von unserem Spaziergang zurückkamen, trieb er sich immer noch auf der kleinen Piazza herum, die deprimierend amorph ist: nicht mehr als eine Bushaltestelle; ein paar Flaschen- und Papiercontainer neben einer niedrigen Fertigbauturnhalle. Die ein, zwei älteren, schöneren Häuser sind wie so oft in Italien hinter hohen Mauern und Zypressenhecken versteckt. Der Mann sah jetzt noch ängstlicher aus. Für einen Asiaten hatte er ziemlich dunkle Haut. Ich ging hin und sprach ihn an.

»Posso aiutare?«

Er verstand mich nicht.

»English?«, fragte ich. »Can I help?«

»Mi-la-no«, sagte er.

»Parlez-vous français? Deutsch?«

»Mi-la-no«, wiederholte er.

»Das hier ist nicht Mailand«, sagte ich. »Wir sind hundertsechzig Kilometer entfernt von Mailand.« Dann hatte ich eine Eingebung und sagte: »Char. You want char?« Mir war eingefallen, dass »Char«, ein Wort, das wir in Nordengland als Kinder für Tee benutzten, ursprünglich aus dem Chinesischen stammte.

Er nickte eifrig.

Wir fuhren den Mann in die Stadt. Er bewegte sich so, wie ich mich zweifellos auch bewegen würde, wenn ich plötzlich mit einem Turban auf dem Kopf oder in einem Kimono durch eine fremde Stadt laufen sollte. Im erstbesten Vorstadtlokal bestellte ich ihm einen Tee und einen Hamburger. Ich weiß noch, wie mir die geübte Art auffiel, mit der er das Zuckerpäckchen schüttelte, ehe er es aufriss. Es war die erste Geste, die er mit Leichtigkeit ausführte. Vielmehr die Zuckerpäckchen. Er hat mindestens vier genommen. Er aß seinen Hamburger, trank den ekligen Tee vollkommen wortlos und unternahm keinerlei Anstrengung herauszufinden, was ich wohl mit ihm vorhatte. Er vertraute voll und ganz auf meine guten Absichten.

Auf dieser Seite der Stadt gibt es ein kleines Kloster, das für seine Wohltätigkeit bekannt ist. »Gehen Sie nicht zur Polizei«, sagten die Mönche. Sie würde ihn sofort dahin zurückschicken, wo er hergekommen ist. Er war wahrscheinlich aus einem Lastwagen gestoßen worden, vermuteten sie, der von Kroatien nach Italien gefahren war. »Sie kommen mitten in der Nacht über die Grenze«, erklärte einer der Mönche, »fahren noch ein paar Stunden weiter und werfen ihre Passagiere dann einen nach dem anderen in den gottverlassensten Gegenden aus dem Wagen. Er ist wahrscheinlich ziemlich weit gelaufen.«

»Er will nach Mailand«, sagte ich. Sie schüttelten den Kopf. Sie konnten nicht weiterhelfen. Dann sagte meine Frau: »Fahr ihn doch zu einem Chinarestaurant.«

Es gibt in Verona nur zwei oder drei Chinarestaurants. Ich bin kein Fan von chinesischem Essen. Ich fuhr ihn zum nächstgelegenen, einem grellbunten Lokal im Erdgeschoss eines formlosen Wohnblocks. Der Geschäftsführer war jung, schick gekleidet in einen hellgrauen Anzug, der dem des Neuankömmlings ähnelte, aber mit Verve getragen wurde. Augenblicklich wurde das ängstliche Gesicht meines jungen Mannes lebendig und wirkte erwachsen. Die beiden unterhielten sich sehr schnell in geschäftsmäßigem Tonfall. Sie sprachen die gleiche Sprache. Plötzlich zog der Restaurantbesitzer einen Hunderteuroschein aus der Tasche und gab ihn dem Mann.

Fahren Sie ihn zum Bahnhof, bat er mich, und setzen Sie ihn in einen Zug nach Mailand.

»Aber weiß er denn, wo er hin soll, wenn er dort ankommt?«

»Er soll dort im Bahnhof ein paar Leute treffen. Sie erwarten ihn. Wenn Sie ihn fahren, gebe ich Ihnen und Ihrer Familie als Gegenleistung ein Essen aus.«

Ich hatte keine Lust, chinesisch essen zu gehen, und der Bahnhof war zwanzig Autominuten entfernt. Trotzdem fuhr ich den Neuankömmling hin, stellte mich mit ihm am Fahrkartenschalter an, zahlte für eine Intercity-Fahrkarte nach Mailand, stempelte sie für ihn im Entwerter ab (ein Disput mit dem Schaffner hätte ihm gerade noch gefehlt) und brachte ihn auf den richtigen Bahnsteig. Ich frage mich, ob er wohl eine Ahnung hatte, wie viel der Hunderteuroschein wert war. Die Großzügigkeit des Restaurantbesitzers hatte mich überrascht, ja gedemütigt.

Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, fing der Mann an, etwas in seiner Sprache zu sagen. Er lächelte jetzt über das ganze runde, leicht pockennarbige Gesicht. Er wirkte aufgeregt. Ich schüttelte den Kopf. Er stellte pantomimisch jemanden dar, der telefonierte und sich dann etwas aufschrieb. Ich schrieb ihm meine Telefonnummer auf. Er hat sich nie gemeldet. Anscheinend leben jede Menge Chinesen in den alten Tunneln unter dem Mailänder Hauptbahnhof. Alle beschweren sich: Diese Leute stehlen uns die Arbeit, die Kultur. Doch im Angesicht der Notlage eines einzelnen Immigranten ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass die Italiener ihm helfen, statt die Polizei zu rufen und dafür zu sorgen, dass er zurückgeschickt wird. So reserviert die Italiener auch einer multikulturellen Gesellschaft gegenüberstehen mögen, die alte Antipathie gegen Regierung und Obrigkeit kommt dem illegalen Fremden immer wieder zugute.

ES IST SCHON KOMISCH: Ganz offensichtlich dreht sich ein Großteil des Lebens der neuen Immigranten in Italien um die Eisenbahn; man sieht indische Familien, die mit all ihrem Hab und Gut unterwegs sind, man sieht die Prostituierten und die Zuhälter in ihren bunten Hemden, man sieht Araber und Türken, die auf den Parkplätzen vor den Bahnhöfen Kebab-Buden aufmachen, aber nie sieht man einen Immigranten, der bei Trenitalia arbeitet.

Fährt man mit dem Auto am Fluss entlang, an der Etsch, um schnell zum Bahnhof zu kommen und den Zug der lebenden Toten noch zu erwischen, kommt man selbst um sechs Uhr morgens nicht umhin, die lange Schlange von schwarzen, braunen, gelben und ja, auch weißen Gesichtern zu bemerken, die sich vor einem hohen Eisentor gebildet hat. Dort ist die Questura, die Polizeihauptwache. Die Menschen sind Immigranten, die Aufenthaltsgenehmigungen beantragen wollen. Dank der Beinahe-Vollbeschäftigung brauchen die Veroneser Firmen die Immigranten, sie brauchen billige Arbeitskräfte. Aber warum müssen diese Leute hier so früh Schlange stehen, selbst an den kältesten Wintermorgen? Und warum sieht man sie nie als Busfahrer oder Fahrkartenkontrolleure wieder?

Die Antwort auf die erste Frage kann nur in der üblichen Gleichgültigkeit der gesamten italienischen Bürokratie gegenüber den Menschen liegen, denen sie angeblich dienen soll. Für öffentliche Behörden ist es ganz normal, dass sie nur an zwei, drei Tagen in der Woche für jeweils ein paar Stunden geöffnet haben. Man ist dort immer Bittsteller, niemals Kunde.

Dass die Immigranten nicht im Verkehrswesen arbeiten, liegt ganz einfach daran, dass man für alle Jobs im öffentlichen Dienst einen Schulabschluss nachweisen muss, il certificato scolastico. Selbstverständlich von einer italienischen Schule.

Wann immer man die Homogenität und scheinbare Würde einer Gesellschaft wie der italienischen bewundert, die sich einen Zusammenhalt und eine Identität bewahrt hat, die in England oder den US-amerikanischen Großstädten längst verloren gegangen ist, darf man nicht vergessen, dass sie sich solchen Ausschlussmechanismen wie der Sache mit dem Schulabschluss verdankt. Immigranten, die keine italienische Schule besucht haben, dürfen auch keinen italienischen Müll einsammeln, keine italienischen Busse fahren oder Fahrkarten für den Zug der lebenden Toten verkaufen. Die Gewerkschaften, sonst immer schnell zur Stelle, wenn es um Streik und Protest geht, scheint das nicht zu stören. Ich bin gespannt, was in den nächsten paar Jahren passieren wird, wenn die ersten Immigrantenkinder ihre Schulabschlüsse machen. Das wird ein großer Tag, wenn der erste schwarze capotreno versucht, mir ein Bußgeld aufzubrummen, weil ich meine Fahrkarte nicht entwertet habe.

DIE SCHIENEN UM UNS HERUM vervielfachen und kreuzen sich, wenn etwa anderthalb Kilometer vor der Einfahrt in den Bahnhof Milano Centrale die Bahnlinien aus allen Richtungen zusammenlaufen. Ein paar Minuten lang versucht der Zug so langsam zu fahren, wie es geht, ohne anzuhalten. Überall um uns herum sind Überführungen, schmutzige Spielplätze und Wohnhäuser. Überall Graffiti. »Evviva la figa!«, hat jemand geschrieben. Lang lebe die Möse.

Während der Zug in Lambrate einfährt, schläft die Prostituierte. Ich stecke mein Buch in meine Tasche. Diese letzten Augenblicke der Zugfahrt, wenn der Interregionale mal wieder an einem ganz normalen Tag meines Lebens knirschend zum Halt kommt, sind für mich mit einer außergewöhnlichen Anspannung verbunden. Die Welt scheint dann in der Schwebe zu sein; ein paar schreckliche Sekunden lang kann ich nicht umhin, ganz bewusst den Horror der Routine wahrzunehmen, der Tage und Jahre, die zu einer Vergangenheit zusammenfließen, die ebenso wirr und unstrukturiert ist wie diese Schienenlandschaft. Außer mir scheint sich niemand darüber Gedanken zu machen. Zwei Mädchen necken ein drittes wegen eines neuen Tattoos, einer kleinen Rose knapp über der nackten Hüfte. Sie berühren die Rose mit ihren manikürten Fingern. Das Fleisch ist fest und braun. »Lass mal sehen«, fordert die rote Krawatte, aber jetzt kommt der Zug mit einem Ruck zum Stehen, und alle drängen nach draußen. Nichts ist langsamer als der Interregionale auf den letzten anderthalb Kilometern bis Milano Centrale. Am besten nimmt man von Lambrate aus die U-Bahn.

∗ Alle Informationen im ersten Teil des Buches stammen aus dem Jahr 2005. Machen Sie sich auf Überraschungen im zweiten Teil gefasst, wo alles anders wird, damit vieles gleich bleiben kann.

Italien in vollen Zügen

Подняться наверх