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Teil 1 Gesundheit Geld oder Lebenserwartung!

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Beginnen wir mit einer guten Nachricht: Es geht der Menschheit so gut wie noch nie! Immer mehr Menschen gehören zur globalen Mittelschicht. Aber auch den Ärmsten geht es immerhin ein bisschen besser. Immer weniger Menschen leiden unter Hunger und extremer Armut. Immer mehr Menschen haben Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die Kindersterblichkeit nimmt immer weiter ab, Kinderarbeit wird immer weniger. Seuchen wie die Pocken sind ausgerottet. HIV kriegen wir langsam in den Griff. Es sterben immer weniger Menschen bei Verkehrsunfällen. Ja sogar Krieg fordert immer weniger Todesopfer.

Zoomt man aus all diesen Entwicklungen heraus, sieht man die vielleicht wichtigste Statistik der Welt, weil sie ein Gradmesser dafür ist, wie es den Menschen geht: die ständig steigende Lebenserwartung. Nicht nur im Westen steigt sie, nicht nur in China, überall auf der Welt. COVID-19 verursacht zwar gerade einen Einbruch, wie es ihn historisch immer mal wieder gab, der große Trend aber ist eindeutig. Es geht aufwärts. (Abb. 3)


Lange wurden Zahlen wie diese kaum beachtet. Sie standen nur in schwer zugänglichen Datenbanken und Berichten der Vereinten Nationen. Lediglich Experten hatten Zugang dazu, und die Öffentlichkeit interessierte sich ohnehin kaum dafür. Doch dann, 2006, hielt ein schwedischer Professor für Internationale Gesundheit, Hans Rosling, einen TED-Talk. Bei der Vortragsreihe (die Abkürzung steht für »Technology, Entertainment, Design«) präsentieren smarte Leute verblüffende »Ideen, die verbreitet werden sollten«. Der schon etwas ältere Rosling war mit seinem Karohemd und dem braunen Wollpulli ein ungewöhnlicher Gast. Und auch was er entwickelt hatte, war weder eine neuartige Künstliche Intelligenz noch eine geniale soziologische Idee, wie man sie sonst bei TED-Talks erwartet, sondern eine mausgraue Software mit einem Namen, der eher nach einem Beruhigungsmittel klang: Trendalyzer. Man konnte mit ihr all die drögen UN-Zahlen in bunten Flächen visualisieren und animieren.

Doch es war die Art, wie Rosling diese Zahlen präsentierte, die aus dem Vortrag einen viralen YouTube-Hit machte, als es das Wort dafür noch nicht mal gab. Der Schwede rannte vor seiner Leinwand hin und her und kommentierte aufgeregt wie ein Sportreporter die sich bewegenden Grafiken. Wie die Kindersterblichkeit dank steigender Pro-Kopf-Einkommen überall auf der Welt immer weiter sinke und sinke und wie die sogenannten Entwicklungsländer längst den Anschluss an die Industrienationen gefunden hätten. Nur wüsste das niemand! Die Daten lagen ja bislang versteckt in den Archiven. Frage man selbst die klügsten und gebildetsten Menschen, erzählte Rosling aufgeregt, würden sie positive Entwicklungen wie diese immer völlig falsch einschätzen. Sie hätten ein viel zu pessimistisches Bild von der Welt. Er scherzte, dass selbst seine »schwedischen Top-Studenten statistisch signifikant weniger über die Welt wissen« als Schimpansen, die einfach nur raten. Der Vortrag erhielt den Titel »The best stats you’ve ever seen« – die besten Statistiken, die du je gesehen hast.


So wie Rosling hatte noch keiner über Statistik gesprochen. Schon gar nicht über Daten der UN. Und erst recht nicht über Daten wie die zur weltweiten Kindersterblichkeit. In gewisser Weise war Rosling ein Datenjournalist, bevor es uns Datenjournalisten überhaupt gab. Der Erste, der trockene Zahlen ausgrub und eine Geschichte damit erzählte. Und so eine ganz neue Art entwickelte, die Welt zu sehen.

Aber dann passierte etwas Sonderbares. Der Professor mit dem Wollpulli und dem rudimentären Computerprogramm, der anscheinend nur die nackten Fakten präsentierte, erhielt über die Jahre eine unerwartete Gefolgschaft: Marktliberale. Hatte das »inspirierende Denken« seines TED-Talks noch BMW gesponsert, schien man nun vor allem im Silicon Valley von Roslings Diagrammen angetan. Kein geringeres Unternehmen als Google erwarb seine Software, um diese Zahlen – und ihre gute Botschaft – noch effektiver in die Welt hinauszutragen, als es Rosling in seinen Vorträgen bereits tat. Bill Gates wurde Roslings zweitprominentester Fan (hinter Barack Obama), pries dessen Buch als eines der wichtigsten, das er je gelesen habe, und als »unverzichtbaren Führer für ein klares Denken über die Welt«. Die Gates Foundation, so wie auch die IKEA-Stiftung, unterstützt bis heute Roslings Organisation Gapminder, die »niederschmetternde Ignoranz« mit einer »faktenbasierten Weltsicht« bekämpfen will, etwa indem sie Unterrichtsmaterial für Schulen bereitstellt.[10]

Auch in liberalen und konservativen Medien wurden Roslings Diagramme beliebt. Süffisant nannte einmal die FAZ die Botschaft, dass die Welt immer besser werde, eine »zutiefst erschütternde These«. Miesepetrige Linke kann man mit den Diagrammen jedenfalls sehr gut ärgern. Es sei ja nicht einfach eine Meinung, die Rosling vertritt, sondern es sei die »Empirie der Fakten, die für den Optimismus spricht«, hieß es einmal in der Welt. Dabei ist es nicht nur die Richtung der Entwicklungen, die Wirtschaftsliberale an Roslings Grafiken angesprochen haben dürfte, sondern auch das, was sie antrieb. Das Zauberwort heißt in Roslings Statistiken nämlich oft: Wirtschaftswachstum. Je höher das Pro-Kopf-Einkommen in einem Land, desto höher ist in der Regel auch die Lebenserwartung (Abb. 3). Und die Kurve der Lebenserwartung etwa steigt nach Jahrtausenden Menschheitsgeschichte just dann an, als die Industrialisierung und der Kapitalismus begannen und der angelsächsische Westen mit seinen Demokratien die Führung der Welt übernahm.

Diese Sicht ist weit verbreitet. »Jedes Mal, wenn in einem weiteren Land die Industrielle Revolution einsetzte, wurden Mittel für Investitionen frei und verbesserte sich die Organisationsstruktur der Gesellschaft. Und die Lebenserwartung stieg«, schreibt etwa der Geriater Rudi Westendorp von der Universität Kopenhagen, der Lebenserwartungen und Alterungsprozesse erforscht.[11] Der Prozess begann in Großbritannien im 19. Jahrhundert und setzte sich Land für Land fort.

So gesehen erzählt die steigende Lebenserwartungskurve, dass, wenn man den Menschen nur machen lässt und ihm die Möglichkeit gibt, sich frei zu entfalten, er immer neue Ideen finden und verbreiten wird, um das Leben zu verbessern. So wie einst James Watt, der schottische Erfinder, der mit seiner Weiterentwicklung der Dampfmaschine zu so etwas wie dem Wegbereiter der Industriellen Revolution wurde. Selbst als Sohn einfacher Eltern gelang es ihm, eine Maschine zu entwickeln, die manche reich machen sollte und zugleich unzählige Menschen von mühsamer Handarbeit entlastete.

Und noch etwas machten Roslings Grafiken deutlich: Lebenserwartung ist kein Nullsummenspiel. Sie muss nicht in einem Land sinken, um in einem anderen zu steigen. Zwar sind die Unterschiede zwischen den Lebenserwartungen groß. Aber der Trend ist für alle gleich.

Rosling war kein liberaler Provokateur, aber er stichelte gerne gegen »Journalisten und politische Aktivisten«, die mit ihrem Pessimismus ein viel zu negatives Bild der Welt verbreiten und damit den Menschen die Hoffnung rauben würden. Schaute man dagegen auf die Fakten – das Wort war zentral in Roslings Botschaft –, sähe man vieles anders.

Es gibt nur ein Problem mit dieser Erzählung: Sie ist nicht so einfach, wie Rosling und seine Anhänger uns glauben lassen. Folgen wir der Kurve und schauen einmal etwas tiefer, was die Lebenserwartung drückte und steigerte, wird das Bild komplizierter – und weniger wirtschaftsfreundlich.

Den ersten Widerspruch sieht man bereits, wenn man einen etwas differenzierteren Blick auf die Kurve wirft. Wo genau die Industrialisierung und der Kapitalismus beginnen, ist eine Frage der Definition. James Watt entwickelte seine Dampfmaschinen bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Maschinen begannen, das Leben leichter zu machen. Der Effekt auf die Lebenserwartung (man sieht es auf der weltweiten Kurve genauso, wie man es auf einer nationalen Kurve sehen würde): Null. Nichts.

Das eigentliche Wirtschaftswachstum infolge der Industrialisierung setzte erst Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Und der Effekt auf die Lebenserwartung war wieder: Null.

Würden wir die Kurve der Lebenserwartung nicht nur nach Ländern, sondern auch nach Regionen unterteilen, könnten wir noch etwas anderes sehen. In englischen Städten, wo die Industrialisierung als Erstes die größten Auswirkungen hatte und die Wirtschaft am stärksten wuchs, passierte mit der Lebenserwartung sogar das Gegenteil. Sie sank. Und würden wir die Kurven nach Ländern unterteilen, fiele auf, dass die Lebenserwartung hauptsächlich in Europa und Nordamerika stieg. Der Kolonialismus – fester Bestandteil der Industrialisierung und des frühen Kapitalismus – drückte in Teilen von Afrika, Indien und Südamerika die Lebenserwartung teilweise sogar unter dreißig Jahre.[12]

Diese Erkenntnis ist nicht neu. »Tatsächlich war in fast jedem historischen Fall der erste und direkteste Effekt von schnellem Wirtschaftswachstum eine negative Auswirkung auf die öffentliche Gesundheit«, schrieb bereits vor zwanzig Jahren der Historiker Simon Szreter von der University of Cambridge.[13] Szreter antwortete schon damals auf die provokante These des Medizinhistorikers Thomas McKeown, dass es das Wirtschaftswachstum und nicht die Medizin gewesen sei, die zur Steigerung der Lebenserwartung führte (nur in einem Punkt sollte McKeown recht behalten, aber sie wird Marktliberale nicht erfreuen, dazu gleich mehr).[14] Wenn sich etwas von Land zu Land wiederholte, wann immer die Industrialisierung einsetzte und die Menschen vom Land in die Stadt zogen, um in den Fabriken zu arbeiten, dann eine sinkende Lebenserwartung.[15]

Vor allem für Kinder waren die plötzlich boomenden Städte tödlich. Cholera, eine in Europa damals neuartige Durchfallerkrankung, ausgelöst durch eine bakterielle Infektion im Dünndarm, war eine dieser neuen Gefahren. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden europäische Städte immer wieder von Cholerapandemien heimgesucht, zuletzt Hamburg in den 1880er Jahren. Wie die Krankheit übertragen wurde, war unklar. Erst durch eine neue Form der Geodatenanalyse kam der Londoner Mediziner John Snow 1854 der Choleraübertragung auf die Spur. Er ermittelte, wo genau in der Stadt die Fälle auftraten, übertrug sie auf eine Karte und glich sie mit den Standorten der Pumpen verschiedner Wasserunternehmen ab. Trinkwasser- und Abwassersysteme waren damals nicht voneinander getrennt. Snows Karte des Viertels zwischen Oxford Street und Regent Street mitsamt der verzeichneten Punkte der Cholerafälle, die sich geisterhaft um eine bestimmte Wasserpumpe in der Broad Street scharten, gilt heute als Beginn der modernen Epidemiologie.[16] Den Beweis der Übertragung durch das Wasser lieferte später Robert Koch.

Snows Arbeit rückte etwas in den Fokus, das ganz wesentlich zur Steigerung der Lebenserwartung beitragen sollte: Hygiene. Doch die war teuer und ohne kurzfristigen Ertrag. »Aktivisten für ein öffentliches Gesundheitswesen hatten entdeckt, dass die Gesundheit verbessert werden konnte, indem man Abwasser von Trinkwasser trennte«, schreibt der populäre marxistische Autor Jason Hickel, wahrscheinlich der prominenteste und lauteste linke Kritiker von Roslings Diagrammen. »Aber ein Fortschritt in diese Richtung wurde durch die kapitalistische Klasse behindert statt befördert.« Immobilien- und Fabrikbesitzer hätten sich dem Bau neuer Anlagen widersetzt und sich geweigert, die Steuern zu zahlen, um die Arbeit zu erledigen.[17] Erst das allgemeine Wahlrecht und die Bildung von Gewerkschaften brachen, so Hickel (mit Bezug auf die Forschung von Szreter), den Widerstand. Damit ebneten sie nicht nur den Weg für saubere Städte mit sauber getrennten Kanalisationen, sondern auch für die allgemeine Krankenversicherung, Bildung und Sozialwohnungsbau. Es war der Zugang zu öffentlichen Gütern wie diesen, der die Lebenserwartung nach oben trieb.

Nicht nur Hickel sieht das so. »Es gibt eine unglückliche Tendenz, in einer Kultur, die so besessen ist von der Kreativen Zerstörung durch Technologie-Start-ups, anzunehmen, dass Institutionen der Feind von Innovation sind«, schreibt der US-amerikanische Autor Steven Johnson in seinem Buch Extra Life.[18] Viele würden heute glauben, dass staatliche Bürokratie den Fortschritt behindere und es nur innovative Unternehmen brauche, um Fortschritt zu bewirken. Historisch ist das Gegenteil der Fall.

Johnson geht in seinem Buch der Frage nach, woher die zwanzigtausend Tage zusätzlichen Lebens kommen, die wir in den letzten 150 Jahren dazugewonnen haben. Die meisten, so Johnsons Argument, entstanden nicht aus kapitalistischen Überlegungen heraus, wurden weder von Start-ups noch von Großunternehmen geschaffen. Oft mussten sie sogar gegen den Widerstand von Unternehmen erkämpft werden. Die Dinge, die historisch am meisten zur Steigerung der Lebenserwartung beigetragen haben dürften, sind Kanalisationen, Toiletten, Impfungen und Kunstdünger. In den etwas niedrigeren Ligen spielen Pasteurisierung, Bluttransfusionen, Antibiotika, Anschnallgurte oder Kühlketten. Unternehmen waren zwar wichtig bei der Verbreitung mancher dieser Innovationen, aber die große Mehrheit der zusätzlichen zwanzigtausend Tage Leben hätten wir, so Johnson, Innovationen von außerhalb des Marktes zu verdanken.[19]

Zum Beispiel Impfen, das ganz wesentlich zur Reduktion der Kindersterblichkeit und damit zur Steigerung der Lebenserwartung Ende des 19. Jahrhunderts beitrug. Die Idee war nicht neu. Ein Vorgänger der Impfung, die sogenannte Variolation, wurde bereits im 18. Jahrhundert aus China und Indien übernommen. Durch einen kleinen Schnitt wurden Kinder damals mit Pustelmasse von Pockenkranken infiziert. Doch das Verfahren war riskant, eigentlich grausam. 2 Prozent der Behandelten starben daran, und das einzig Tröstliche war, dass durch eine »richtige« Pockenerkrankung noch viel mehr sterben würden, nur eben etwas später.[20]

Der Durchbruch gelang, als man die Pusteln durch das Vacciniavirus ersetzte. Dieses verdankt seinen Namen der Tatsache, dass man es zunächst für den Erreger der Kuhpocken hielt, vom lateinischen vacca, die Kuh. Diese Verfahren – die Vaccination oder eben: Impfung – war deutlich weniger riskant. Doch die Widerstände gegen das Impfen waren enorm. Manche hielten eine Impfpflicht für einen Eingriff in die individuelle Freiheit, andere schworen auf natürliches Heilen, wieder andere hielten es für eine Ablenkungen vom eigentlichen Problem, dem Mangel an Hygiene. Der Siegeszug der Impfung war deshalb nicht nur ein medizinischer: Er sei auch, so Johnson, das Ergebnis von politischem Aktivismus und Reformbewegungen gewesen, die Menschen davon überzeugen mussten und die entsprechenden Institutionen schufen, die dafür sorgten, dass alle eine Impfung erhalten konnten.[21]

Eine Schlüsselrolle kam dabei den International Sanitary Conferences zu, die 1851 ins Leben gerufen worden waren, zur Etablierung von Quarantänestandards. Aus ihnen sollte hundert Jahre später die WHO werden. Der Markt hingegen spielte damals auf diesem Gebiet keine Rolle. Es gab kein BioNTech, Moderna oder AstraZeneca jener Zeit.

Aber was ist mit all den neuen Produkten, mag man aus einer marktwirtschaftlichen Perspektive einwenden, die sich die Menschen dank industrieller Produktion plötzlich leisten konnten und die zum Wirtschaftswachstum beitrugen? Deren Erfinder wir bis heute verehren und die ohne Zweifel das Leben ein bisschen besser machten: Coca-Cola, Maggi, Bayer?

Der Chemiekonzern Bayer nennt sich noch heute »ein Start-up des 19. Jahrhunderts mit einem Riesen-Potenzial«, dessen Ziel es »Tag für Tag« sei, das Leben überall auf der Welt zu verbessern.[22] Blickt man zurück, sieht es etwas anders aus. Das »Start-up« Bayer begann mit der Produktion von Farbstoffen. Aber in zwei schicksalshaften Wochen im Jahr 1897 entwickelten drei Chemiker des Unternehmens zwei neue Medikamente, die die Welt für immer verändern sollten. Das eine war Aspirin, bis heute eine der populärsten und vielseitigsten Pillen. Das andere: Heroin.

Heute ein neues Medikament auf den Markt zu bringen dauert Jahre und kostet Millionen. Markliberale beklagen, dass durch diese Bürokratie Patienten, die auf ein neues Mittel warten, unnötig lange leiden. In verschiedenen Phasen mit immer größeren Versuchs- und Kontrollgruppen, die nur ein Placebo erhalten, muss ein Pharmaunternehmen statistisch belegen, dass sein Medikament besser wirkt als die Scheinbehandlung. Und es muss die Nebenwirkungen aufzeigen. Aspirin und Heroin hingegen kamen atemberaubend schnell auf den Markt. Aspirin 1899, Heroin ein Jahr später. »Von den beiden Medikamenten wurde Aspirin damals als das gefährlichere angesehen, hauptsächlich wegen des Risikos von Blutungen im Magen«, schreibt die englische Historikerin Lucy Inglis. Heroin wurde zunächst vor allem an Lungenpatienten verabreicht. Doch entdeckten auch andere die, sagen wir: Vorzüge des, nun ja: Medikaments. Herointabletten waren billig. Teilweise gingen sie in 100er-Packungen über den Tresen, und zwar an alle, die danach fragten. Rosenwassergeschmack oder Schokoladenüberzug versüßten die Pillen mancherorts noch.[23]

Die Geschichte von Aspirin und Heroin ist nicht untypisch für die Pharmazie des 19. Jahrhunderts. Verkauft wurde, was sich schnell verkaufte, nicht was das Leben längerfristig verbesserte. Mit etwas Glück war es ein Medikament, das noch 120 Jahre später den Menschen helfen würde, Kopfschmerzen zu lindern (sogar beim Schreiben dieses Buches). Im weniger guten Fall bescherte ein Unternehmen der Menschheit eine der schlimmsten Drogen. In vielen Fällen entpuppten sich die Pillen und Säfte später, mit robusten Tests, als wirkungslos.

So verrückt es klingt: Die kurierende Medizin dürfte bis zur Einführung standardisierter statistischer Testverfahren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum etwas zum Anstieg der Lebenserwartung beigetragen haben. In diesem Punkt hatte der Medizinhistoriker McKeown also recht.[24]

Ein anderes Produkt des 19. Jahrhunderts verbreitete sich nicht ganz so schnell wie Heroin, beschert einem aber ebenfalls einen wunderbaren Rausch und macht vielleicht ein bisschen süchtig, obwohl wir wissen, wie gefährlich es ist: das Auto. Ich werde mich am Ende dieses Buches noch als passionierter Fahrradfahrer outen, aber an dieser Stelle möchte ich festhalten: Ich liebe alte Autos. Und es gibt nichts, was ich so gerne schaue wie Serien, in denen sie restauriert werden. Ich kann nur nicht hinschauen, wenn Leute mit ihnen fahren. So elegant die Fahrzeuge auch waren, es waren quasi Todesmaschinen.

Das Auto steht wie kaum ein zweites Produkt für Freiheit und etwas, das das Leben einfacher und schöner macht. Aber die Massenmotorisierung und die tödlichen Verkehrsunfälle liefen im 20. Jahrhundert derart aus dem Ruder, dass in den siebziger Jahren die Lebenserwartung in Deutschland nach jahrzehntelangem Anstieg sogar wieder kontinuierlich zurück ging. Auf dem Höhepunkt 1970 starben hier jährlich über zwanzigtausend oft junge Menschen im Straßenverkehr. Eine Kleinstadt ausgelöscht, jedes Jahr.

Ideen, Autos sicherer zu machen, gab es durchaus. Und diesmal kamen sie aus der Privatwirtschaft. Der schwedische Autobauer Volvo heuerte einen Ingenieur aus der Luftfahrt an, um Konzepte für ein sichereres Auto zu entwickeln. Einfache Sicherheitsgurte gab es zwar teilweise schon, waren aber wenig effektiv. Volvo übernahm das Gurtkonzept von Kampfflugzeugen, um die Kraft des Aufpralls auf den ganzen Körper zu verteilen. Der Sicherheitsgurt, den das Unternehmen bereits 1959 einführte, hatte jene Dreiecksform, die wir noch heute kennen, und war kinderleicht zu bedienen.[25] Das Patent für den Gurt gilt heute als eines der wichtigsten der Menschheit. Um die Verbreitung des Gurts nicht zu hindern, versprach Volvo, seine Patentrechte nicht durchzusetzen. Es war freier Markt in seiner schönsten Form: ein Produkt, das Leben rettet, entwickelt in einem Unternehmen, das sich seiner sozialen Verantwortung bewusst ist und auf seine Einnahmen verzichtet.

Und dann passierte: eigentlich nichts.

Jedes Kind schnallt sich heute mit weniger Widerstand im Auto an, als sich die Autoindustrie gegen Anschnallgurte wehrte. Johnson schreibt, dass der Großteil der Automobilhersteller »schreiend und tretend« dazu gezwungen werden musste, Anschnallgurte standardmäßig einzubauen.[26] Und es waren just die von Rosling so geschmähten »Journalisten und politische Aktivisten«, die die Automobilindustrie vor sich her trieben. Erst 1974 mussten in Westdeutschland Gurte in neue Autos eingebaut werden. Für die Gurtanlegepflicht dauerte es dann noch einmal zehn Jahre (die sozialistische DDR war etwas schneller: Trabis und Wartburgs waren bereits ab 1970 begurtet).[27]

Schauen wir also aus einer linken Perspektive auf die Kurve, sehen wir Wissenschaftlerinnen, Beamte, Aktivistinnen und Journalisten, die der berühmten »unsichtbaren Hand« des freien Marktes ständig wieder auf die Finger klopfen müssen, damit sie nicht permanent Menschen über die Klippe schiebt mit ihren Produkten.

Die Automobilindustrie ist nur ein Beispiel für eine Branche, die zwar erheblich zum Wirtschaftswachstum beitrug, aber gleichzeitig die Lebenserwartung drückte. Die Geschichte wiederholt sich bis heute. In den USA stagniert oder sinkt seit mehreren Jahren die Lebenserwartung. Einer der Hauptgründe: das Pharmaunternehmen Purdue. Es verfolgte die lukrative Geschäftsidee, hochdosierte Opioide selbst bei wenig schweren Schmerzen verschreiben zu lassen. Aggressives Marketing brachte seine OxyContin-Pillen an die Ärztinnen und Ärzte und löste eine Epidemie aus, die bis heute etwa eine halbe Million Menschenleben allein durch Überdosen gekostet haben dürfte. Wieder war es ein einziges Produkt, das die Lebenserwartung eines ganzes Landes einknicken ließ.[28]

Hans Rosling, der schwedische Mediziner, mit dem dieses Kapitel begann, sah in der Statistik »eine neue Art Glückspille«, mit der er unserem Pessimismus entgegenwirken wollte. Er wollte die Fakten und nichts als die Fakten präsentieren. Aber in der Art, wie er diese präsentierte, steckte bereits mehr Interpretation und mehr Ideologie, als es den Anschein hat. Zu suggerieren, dass mit steigendem Einkommen die Lebenserwartung steigt, ist zwar nicht grundsätzlich falsch. Aber es heißt noch lange nicht, dass das eine zwingend mit dem anderen zu tun hat, und falls doch, wie sehr und warum. Da ist ein armes Land wie Costa Rica, das ökonomisch seit Jahrzehnten stagniert, aber die Lebenserwartung durch eine innovative, öffentliche medizinische Versorgung auf das Level von Deutschland steigern konnte. Und da ist ein reiches Land wie die USA, in dem die Lebenserwartung niedriger ist und sogar sinkt.[29]

Roslings Erbe der Statistik als »Glückspille« wirkt nichtsdestotrotz bis heute auf den Umgang mit dem Medium. Ein Gutachten der Leopoldina, der einflussreichen deutschen Wissenschaftsakademie, die die Politik berät, empfahl jüngst die Förderung von Datenjournalismus. Allerdings solchen, der nicht nur kritisch, sondern auch konstruktiv sei und »Negativität« entgegenwirke, hieß es mit Verweis auf Rosling. Unsere Aufgabe als Datenjournalisten soll demnach sein, »positive Entwicklungen« aufzuzeigen, beispielsweise die weltweit steigende Lebenserwartung, um das »positive Selbstverständnis von Demokratien« zu stärken.[30] Leider funktioniert nicht einmal das: Die Lebenserwartung steigt auch in Diktaturen. Statistik ist keine Glückspille, sondern eher wie eine dieser Pillen im 19. Jahrhundert. Man weiß nie, welche Wirkung sie entfalten wird. Erst macht sie glücklich, weil die Welt so schön einfach und klar erscheint. Dann folgt der Kater, und alles wird kompliziert.

Hans Rosling starb 2017. Er bleibt eine Legende.

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