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Adam und/oder Eva

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Ich war gerade dabei, dieses Kapitel zu überarbeiten, da knallte es auf Twitter. Auffahrunfall, wie immer:

»Endlich mal die wichtigen Dinge anpacken!«, twitterte CSU-Spitzenpolitiker Florian Hahn süffisant. Dazu postete er einen Artikel aus der Bild: »Vize-Bürgermeisterin will Crash-Test-Dummys gendern.« Da steckt natürlich alles drin, was es für einen guten Boulevard-Aufreger braucht: Autos, Verkehrsunfälle, Gendern.

Hintergrund war, dass Katharina Fegebank von den Hamburger Grünen bei einem Kongress über »gendergerechte Mobilität« gesprochen hatte. Der Verkehr sei noch immer an Männern und ihren Bedürfnissen ausgerichtet, sagte sie.[31] Als beliebtes Beispiel dafür gilt, dass Crashtest-Dummys oft Männerkörpern nachempfunden sind. Bild fand das alles »links-grüne Propaganda« und »puren Unfug«, Mobilität sei doch längst gendergerecht. CSU-Mann Hahn fand das offenbar ebenfalls. Und mit ihm viele andere: 1900 Likes erhielt sein Tweet, nicht wenig.[32]

»Lieber @hahnflo« (das steht für Florian Hahn), antwortete darauf der Grüne Cem Özdemir. »Etwas mehr als 50 % der Weltbevölkerung sind Frauen. Sie fahren auch Auto (auch in Bayern!) & haben genauso ein Recht darauf, dass ihre Sicherheit maximiert wird. Bisher sind Dummys aber vor allem männlichen Körpern nachgebaut. Nicht wichtig?«[33]

Natürlich wichtig: 5500 Likes.

»Crashtest-Dummies wurden von Beginn an auf Männer genormt«, versuchte es noch ein Journalist auf den Punkt zu bringen. »Dadurch sterben Frauen öfter bei Verkehrsunfällen oder werden schwerer verletzt. Man kann es natürlich auch so posten, aber dann ist es halt Desinformation.«[34]

Knaller: 11200 Likes, sehr, sehr viel.

Was allerdings Information und was Desinformation ist, wird schnell unklar, wenn Männer in einem polarisierenden Sozialen Netzwerk wie Twitter drauflos posten. Um es vorweg zu nehmen: Dass Frauen häufiger bei Verkehrsunfällen sterben, stimmt nur sehr bedingt. Oder auch gar nicht. Es hängt davon ab, wie wir auf Unfalldaten schauen.

Das Risiko ist für Frauen deutlich höher, eine schwere Verletzung davonzutragen, wenn sie mit dem Auto in einen Unfall verwickelt sind. Auf eine Erhöhung von 47 Prozent kommt zum Beispiel eine oft zitierte amerikanischen Studie von 2011.[35] Andere kommen auf niedrigere Werte, aber nichtsdestotrotz erhöhte. Manche aber auch gar keine.[36]

Mit zum erhöhten Risiko beitragen könnte, dass die Sicherheit im Auto zu wenig an ihnen ausgerichtet ist. Die Sitze sind für Frauen tendenziell zu groß. Die Nackenstützen sitzen nicht am richtigen Ort. Gaspedal und Bremse sind zu weit weg. Frauen müssen den Sitz weiter nach vorn schieben und sind damit näher am Lenkrad.

Ein Grund dafür könnte sein, so vermuten manche, dass Crashtest-Dummys in der Regel Männerkörpern nachempfunden sind. »Sierra Sam«, die erste Puppe, die man ab 1949 mit Betonblöcken kollidieren ließ, war mit 1,85 Metern Körpergröße ein Hüne, größer als 95 Prozent aller männlichen Erwachsenen in den USA seinerzeit. Später kam ein Durchschnittstyp hinzu, allerdings ein durchschnittlicher Mann: 1,75 Meter groß und 78 Kilo schwer. Das ist immer noch deutlich größer und schwerer als die durchschnittliche Frau.

Kleinere Dummys gibt es heute zwar, aber sie kommen in Zulassungstests weniger häufig zum Einsatz und sind im Grunde nur kleinere Männer. Weder haben sie Brüste, noch sind sie schwanger. Weder das Becken noch die Nackenmuskulatur wurde angepasst. Als Ende der neunziger Jahre anpassbare Kopfstützen eingeführt wurden, um Schleudertraumata zu verhindern, waren die Effekte für die Männer groß. Frauen brachten sie nichts. Crashtest-Dummys bildeten damals nur verschieden große Menschen ab, nicht aber unterschiedliche Nackenmuskulaturen.

Gender Data Gaps heißt das Problem: Datenlücken, die entstehen, weil nicht zwischen Geschlechtern differenziert wird. Das Thema ist nicht neu. Aber es erhält derzeit wieder sehr viel Aufmerksamkeit durch das Buch Unsichtbare Frauen der Autorin Caroline Criado-Perez. Es gibt kaum ein Buch, das man in Berlin so viele, vor allem junge Frauen lesen sieht (auch während ich an diesem Buch schreibe, sitzt auf der Fensterbank gegenüber von meinem Büro eine, die es liest). Criado-Perez’ These ist, dass viel zu oft in Datenerhebungen der Mann als Standard angenommen wird. Oft passiert das ohne böse Absicht. Manchmal liegt es einfach daran, dass nur Männer an der Entwicklung eines Produktes arbeiten. Frauen aber bekommen es zu spüren und haben das Gefühl, etwas stimme nicht mit ihnen. Etwa wenn sie in Büros frieren, weil die Standardtemperatur für Büros vor Jahrzehnten festgelegt wurde, anhand des Kälteempfindens von Männern. Oder wenn sie vor öffentlichen Toiletten Schlange stehen müssen, weil die Anzahl der Toiletten anhand der Zeit berechnet wurde, die ein Mann dort braucht. Die Beispiele reichen von den Klaviertasten, die für Männerhände gemacht sind, bis zum Pistolenabzug. Und das sind lediglich die unangenehmen Dinge. Gefährlich wird es, wenn es um Gesundheit und Sicherheit geht.

In der Medizin ist der männliche Körper der Standard. Das beginnt bereits im Studium. Werden in Lehrbüchern »neutrale Körperteile« abgebildet, sollen es häufiger solche von Männern sein, so zumindest eine Untersuchung.[37] Derart weiter geht es im Labor: Bei Tierversuchen werden meist männliche Tiere verwendet, weil man verhindern will, dass der Zyklus der weiblichen die Resultate durcheinanderbringt. »Zykluseffekte werden durch die Wahl männlicher Versuchstiere bewusst ausgeklammert und die so produzierten Substanzen dann aber Frauen mit aktivem Zyklus verabreicht«, schreibt die Medizinerin Vera Regitz-Zagrosek von der Berliner Charité in ihrem Buch Gendermedizin.[38] Werden für ein neues Medikament erste klinische Studien durchgeführt, rekrutiert man auch hierfür überwiegend Männer. Lange seien Frauen von Studien in Europa ausgeschlossen worden, so Regitz-Zagrosek. Die Sorge war, dass sie während einer Studie schwanger werden und ihre Kinder Schäden davontragen könnten, wie es bei dem Schlafmittel Contergan geschah. Mittlerweile ist das zwar wieder anders, Frauen sind als Studienteilnehmerinnen vorgeschrieben. Dennoch sind sie immer noch unterrepräsentiert.[39] Das Resultat sind Studienergebnisse mit einer Verzerrung zugunsten von Männern. Frauen nehmen Medikamente, die vor allem an Männern getestet und für sie portioniert wurden.

Richtig gefährlich wird es, wenn tödliche Erkrankungen aufgrund von Gender Data Gaps übersehen werden. Mittlerweile oft thematisiert ist das beim Herzinfarkt. Wie beim Autounfall ist das Risiko, bei einem Herzinfarkt zu sterben, für Frauen höher als für Männer. Auch aufgrund von Datenlücken?

Wie man sich einen Herzinfarkt vorstellt, wird auch geprägt durch Serien und Filme und sieht oft so aus: gestandener Mann, der sich während aufreibender Arbeit plötzlich an die Brust fasst und unter Schmerzen keuchend zusammenbricht. Diesen »Hollywood-Herzinfarkt« erleiden Frauen wie auch Männer. Bei Frauen, so Regitz-Zagrosek, stünden aber oft auch andere Symptome im Vordergrund, etwa Unwohlsein oder Übelkeit, manchmal gar Erbrechen, Schmerzen im Nackenbereich, Kiefer, in Schultern, oberem Rücken, Bauch oder im rechten Brustbereich, Schweiß, Schwindel oder Erschöpfung.[40] Das kann dazu führen, dass Betroffene, Angehörige, aber auch Ärztinnen und Ärzte einen Infarkt bei Frauen eher übersehen.

»Möglicherweise interpretieren Männer und Frauen ähnliche Beschwerden einfach anders. Denkbar ist auch, dass schmerzhemmende Systeme im Hirn der Frau eine Rolle für eine veränderte Wahrnehmung spielen«, so Regitz-Zagrosek. »Es ist erstaunlich, dass wir in der Medizin so wenig darüber wissen, nachdem das Phänomen bereits seit über zehn Jahren bekannt ist.«[41] Criado-Perez drückt es noch drastischer aus: »Frauen sterben, und die Medizin ist mit dafür verantwortlich. Es ist an der Zeit, dass sie aufwacht.«[42]

Paradox ist nur: Frauen sterben nicht. Männer sterben. Und zwar fast an allem, woran man nur sterben kann. In Berichten zum Thema Gender Health Gap fällt das oft unter den Tisch. Autounfälle sind für Frauen zwar tödlicher, da hatte Cem Özdemir mit seinem Tweet schon einen Punkt. Aber die Wahrscheinlichkeit, in einen schweren Autounfall zu geraten oder ihn zu verursachen, ist für Männer so viel größer, dass deutlich mehr Männer als Frauen durch Autounfälle ums Leben kommen: Rund 1000 Männer verunglückten 2019 im Auto, im Gegensatz zu rund 400 Frauen. Von den rund 3000 Menschen, die im Straßenverkehr starben, waren drei Viertel Männer beziehungsweise Jungen.[43]

Dieser Geschlechterunterschied gilt für fast jede Todesursache. Ob Kreislauferkrankungen, Krebs, HIV, Suizid, überhaupt Unfälle, Mord und Totschlag oder selbst Corona, fast jede Todesursache verkürzt das Leben von Männern stärker als das von Frauen.[44] Der Unterschied in der Lebenserwartung wurde über das 20. Jahrhundert immer größer, auch wenn er mittlerweile wieder schrumpft. Biologisch lässt er sich kaum erklären.

Der Gender Age Gap erstaunt umso mehr, weil man nach allem, was man über Gender Data Gaps weiß, eigentlich das Gegenteil erwarten würde. Zum Beispiel auch beim Herzinfarkt. Er mag eher bei Frauen nicht richtig erkannt oder falsch diagnostiziert werden. Er ist, so wie das Auto, für Frauen also gefährlicher. Trotzdem ist er bei Männern häufiger und nimmt ihnen deutlich mehr Lebensjahre, denn sie erliegen einem Herzinfarkt früher. Das Herzinfarktalter beginnt bei Männern ab 75, bei Frauen erst ab 85. Wenn Frauen einem Herzinfarkt erliegen, sind die Männer oft schon längst gestorben.

Zwei Grafiken verdeutlichen das Problem. Die erste (Abb. 4a) stammt aus einer wegweisenden amerikanischen Studie, die 1998 zum ersten Mal zeigen konnte, dass das Risiko zu versterben vor allem für jüngere Frauen damals deutlich höher war, wenn sie mit einem Herzinfarkt in ein Krankenhaus eingeliefert werden (spätere Studien fanden kaum mehr Unterschiede). Dennoch ist das Risiko, überhaupt einen Herzinfarkt zu erleiden und daran zu sterben, für Männer größer und tritt deutlich früher im Leben auf (Abb. 4b).


Wo (feministische) Linke einen Gender Data Gap zulasten von Frauen sehen, sehen manche Rechte viel zu wenig Daten darüber, wo Männer in dieser Welt benachteiligt sind.

2021 beantragte die AfD im Bundestag die »Einrichtung eines Stipendiums zur Erforschung von Männerdiskriminierung und Misandrie« (Männerhass). Ziel sollten »empirische Erhebungen zu den strukturellen Benachteiligungen von Männern und Jungen in der deutschen Gesellschaft« sein. Im Blick hatte die AfD beispielsweise die Schulen, wo Jungs konstant schlechtere Leistungen erbringen als Mädchen.[45]

Die Partei ist nicht alleine. Vereine wie MANNdat sammeln beharrlich Zahlen zu Gewalt gegen Männer oder Männerkrankheiten. Was bei den einen der Herzinfarkt ist, ist hier Prostatakrebs, die »gesundheitspolitisch vernachlässigte Krebsart«[46], über die – anders als über Brustkrebs – kaum gesprochen wird. Probe aufs Exempel: Über 2000 Bücher zählt Amazon zum Thema Brustkrebs, zu Prostatakrebs sind es keine 500.

Ob man aus der mangelnden gesellschaftlichen Faszination für die Prostata wirklich eine Vernachlässigung von Männern ableiten kann, lassen wir einmal dahingestellt. Manche dieser Gruppierungen sind auch kaum einen Klick weit entfernt von offener Frauenverachtung. Aber selbst politisch neutrale Organisationen wie das »Bundesforum Männer«, eine Interessenvertretung für Jungen, Väter und Männer, wünschen sich mehr geschlechterspezifische Gesundheitsdaten. »Daten zur Sterblichkeit sind zwar häufig nach Geschlechtern aufgeteilt, aber tiefer gehende Daten meistens nicht«, sagt Thomas Altgeld, Vorsitzender des Forums. »Bei Corona wird weder bei den Impfquoten noch bei den Intensivpatienten nach Geschlecht unterschieden, zumindest nicht mehr in der medialen Berichterstattung. Wir wissen nur aus dem angelsächsischen Raum, dass das Risiko, auf die Intensivstation zu kommen, für Männer dreimal höher ist.«

Die Körper von Frauen stehen unter ständiger medizinischer Beobachtung. »Frauen kritisieren zu Recht diese gesellschaftliche Routine, Mädchen schon bei der ersten Periode zum Frauenarzt zu schicken«, sagt Altgeld. Aber er kritisiert, dass Jungen mit ihrer körperlichen Entwicklung häufig alleine gelassen würden, was später zum Problem werden könne, weil Selbstfürsorge nicht so gelernt würde. Krebs zum Beispiel werde bei Männern in späteren Stadien diagnostiziert. Und wenn dann doch, zeigen Männer oft weniger Therapietreue, halten sich nicht an die ärztlichen Anweisungen. Doch Daten dazu würden nur selten erhoben. Und ein Thema in der Medizin sei es kaum.

Altgeld ist Psychologe, arbeitet also auf einem Gebiet, auf dem eher Frauen die Norm sind. Lange war das zu ihrem Nachteil. Psychisch erkrankte Frauen wurden als hysterisch abgetan und in Kliniken weggesperrt. Dass sich das Fach vor allem um Frauen als Patientinnen drehte, führte aber auch dazu, dass Männer hier bis heute oft übersehen werden. »Die Allgemeine Depressionsskala, ein Fragebogen, mit dem man Depressionen diagnostiziert, ist an weiblichen Symptomen orientiert«, sagt Altgeld. »Die angelsächsische Forschung geht aber inzwischen davon aus, dass auch Aggressivität, Reizbarkeit oder Suchtverhalten Symptome von Depression sein können, die bei Männern viel häufiger auftreten.«

Wir schauen auf Gender Gaps zulasten von Männern anders als auf die von Frauen. Als ich einmal zum Vatertag für die Zeit eine Infografikseite zur Lebenserwartung von Männern erstellte, mit Daten zu allem, woran Männer eher sterben, konnten wir es nicht lassen zu schreiben: »Männer feiern am Vatertag gern sich selbst. Man mag es ihnen von Herzen gönnen – vor allem wenn man sich Statistiken zu ihrer Lebenserwartung anschaut.« Manche Leser (ich nehme an, es waren Männer) schienen sichtlich verletzt. »Was für eine bösartige und gehässige Überschrift«, hieß es in einem Kommentar. »So viel Hass und Abschätzung in nur einem Satz«, schrieb ein anderer.[47]

Die Stereotype, warum Männer häufiger an Herzinfarkten und Unfällen sterben, sind schnell zur Hand. Es sind nicht nur Vorurteile. Sie lassen sich alle mit Zahlen belegen. Männer rauchen häufiger und mehr, ernähren sich weniger gesund, haben mehr Übergewicht und meiden Arzttermine. Männer fahren häufiger zu schnell und häufiger betrunken. Der Tag mit den meisten Autounfällen unter Alkoholeinfluss ist natürlich: der Vatertag.[48]

Es gibt mittlerweile ein ganzes Repertoire an Begriffen, um das töricht-tödliche Verhalten von Männern zu beschreiben, mit dem sie sich selbst schaden. »Toxische Männlichkeit« etwa. Oder die Male Idiot Theory, die Theorie vom männlichen Idioten. Sie basiert auf einer nicht ganz ernst gemeinten Studie im ansonsten sehr renommierten British Medical Journal, die untersuchte, warum Männer so viel häufiger den »Darwin Award« gewinnen, den makaberen Preis für die idiotischste Art zu sterben. 88,7 Prozent aller Darwin Awards gehen an Männer. Die Studienautoren kamen zu dem schlichten Schluss: »Männer sind Idioten, und Idioten tun dumme Dinge.«[49]

In einem der umfassendsten Berichte der Europäischen Union zum gesundheitlichen Zustand ihrer Männer heißt es, dass die Hälfte (!) aller vorzeitigen Todesfälle von Männern vermeidbar seien. Die Gründe dafür, so der Bericht weiter, seien »schlechte Lebensstile und vermeidbare Risikofaktoren«.[50]

Der Unterton: selber schuld.

Aber ist das alles eigene Schuld? Ist das einfach nur Nebenwirkung eines riskanten, aber abenteuerlichen Lebens auf der Überholspur, das man sich als Mann herausnehmen kann? Männer sind einfach sehr viel mehr mit dem Auto unterwegs als Frauen. Sie tun das nicht aus Freude am Fahren, sondern weil sie müssen. Wer im Straßenverkehr in einen Unfall verwickelt wird, dem geschieht dies auch auf dem Weg von und zur Arbeit. Männer machen nicht nur aus Hedonismus gefährliche Dinge, sondern landen auch eher in Berufen mit größerem Gesundheitsrisiko.

Derart tief sind die Gefahren in männlichen Rollenmustern verankert, dass Männer sogar schon früher sterben, wenn sie noch gar keine Männer sind. Bereits Baby-Jungs verunfallen häufiger tödlich als Baby-Mädchen. Und je älter sie werden, desto größer wird der Unterscheid. Auf drei im Verkehr oder in der Freizeit tödlich verunfallte Mädchen kommen fünf Jungs, auf drei zu Hause verunfallte sogar sieben. Jungs treiben mehr Sport, nehmen aber auch Risiken anders wahr und sind risikobereiter, was »in enger Verbindung mit gesellschaftlich konstruierten geschlechtsspezifischen Rollenmustern« stehe.[51]

Doch haben wir mit diesen Daten noch ein ganz anderes Problem. »Männer« und »Frauen« sind sehr große Kategorien. Nach Unterschieden zwischen ihnen zu suchen ist oft wichtig. Aber manchmal ist es eine Rückkehr zu Adam und Eva und zu neuen, alten Stereotypen.

In Berichten über Gender Data Gaps klingt es heute oft so, als hätten Frauen bei einem Herzinfarkt generell andere Symptome als Männer. Tatsächlich ist der angeblich männliche »Hollywood-Infarkt« sowohl bei Männern als auch bei Frauen der häufigste Herzinfarkt. Der symptomarme »Eva-Infarkt« macht etwa ein Drittel aller Herzinfarkte aus. Ihn erleiden ebenfalls beide Geschlechter, nur Frauen etwas häufiger. In erster Linie ist er ein Problem bei Älteren. Selbst Gender-Medizinerin Regitz-Zagrosek sagt mittlerweile, dass der »Eva-Infarkt« von den Medien zuletzt »etwas übertrieben worden« sei.[52]

Es gibt heute auch eine Crashtest-Dummy, die einer durchschnittlichen Frau nachempfunden ist, stärker noch als die bisherigen weiblichen Dummys: 1,66 Meter groß, 62 Kilo schwer, breiteres Becken, schwächere Nackenmuskulatur. Eine gegenderte Crashtest-Dummy, wie Bild lästerte. Sie heißt: Eva. Aber ist Eva nicht einfach ein weiterer Durchschnittstyp, ein weiteres Stereotyp im Stil von »Männer sind so, Frauen so«, das mit der Vielfalt der Menschen in einem Auto – dicke, dünne, große, kleine, kräftige, kranke, junge, alte – wenig zu tun hat?

Der Unfallforscher Heiko Johannsen von der Medizinischen Hochschule Hannover ist von der Dummy-Debatte nicht überzeugt. Er sieht durchaus, dass es bei gewissen Verletzungen Geschlechterunterschiede gibt, etwa beim Schleudertrauma. Grund dürfte die schwächere Nackenmuskulatur sein. »Aber die Unterschiede zwischen Jungen und Alten sind viel größer als die zwischen männlich und weiblich«, sagt Johannsen im Gespräch. »Ab 45 Jahren nimmt Verletzbarkeit immer mehr zu. Dieses Thema müssen wir viel eher adressieren.«

Johannsen erzählt, seit das Thema »wie wild« durch die Presse gehe, erhalte er plötzlich wütende E-Mails, was ihm einfalle, nur zu 50 Prozent der Menschen zu forschen. Er hält den Vorwurf für unbegründet und fügt hinzu: »Ich bin größer und schwerer als der Durchschnittsdummy. Ich müsste mir mit der gleichen Begründung die Frage stellen, ob die Schutzeinrichtung meiner Belastung standhält.« Er vertraue da aber auf die Industrie, wo die Entwicklung ohnehin weg gehe von den Puppen und hin zu digitalen Simulationen, die sehr viel verschiedenere Menschen abbilden können, mit unterschiedlich alten Körpern oder anders ausgeprägten Nackenmuskulaturen.

Nur knallt das weder im Boulevard noch auf Twitter

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