Читать книгу Von ganzem Herzen mangelhaft - Tina Flynn - Страница 2
Kapitel 1 „Lehrer haben vormittags Recht und nachmittags frei.“ Dann würden sie wohl vormittags Lotto spielen und nachmittags shoppen gehen. Jenny Stila
Оглавление20 Jahre zuvor
Sie starrte auf die Tafel, unfähig, zu begreifen, was Herr Blaschke ihnen da zu erklären versuchte. Die Wörter „Mathe“ und „Hölle“ hatten Jennys Meinung nach nicht umsonst soviel gemeinsam: Fünf Buchstaben, ein "e" am Ende, beides brachte sie ins Schwitzen. Ihre Mitschülerinnen Nadine und Andrea rollten mit den Augen, sie rollte mit und grinste, doch Andrea sah genervt zur Seite und Nadine blickte Jenny so irritiert an, als wollte sie fragen 'was willst du von uns?'
Als es nach dem erlösenden Klingeln raus in die Pause ging, eilten alle lachend und schwatzend an dem pummeligen kleinen Mädchen in Mamis Strickpullover vorbei und bezogen ihre Grüppchenplätze draußen. Die stylishe Mädelsclique neben dem Eingang zum Quatschen über Jungs, die sportliche drüben am Spielplatz, zum Gummitwist. Jenny versuchte sich unauffällig Richtung Sekretariat durchzuschlagen. Sie hatte dort zwar nichts zu tun, aber so bekam sie wenigstens die zehn Minuten Pause rum, ohne dass sie eine Aufsicht mitleidig fragen würde, warum sie denn alleine auf dem Hof herumstehe. Nicht, dass sie das gern tat. Sie hätte viel lieber zu einem der Mädchentrupps gehört, aber sie wollten Jenny nicht dabei haben. Warum, blieb ihr schleierhaft. Gut, sie stand eher auf klassische Musik als auf Pop, hatte keine Ahnung, wer gerade angesagt war, trug nicht die neuesten Klamotten der hippen Marken, aber sie verstand nicht, warum das den anderen reichte, um sie abzulehnen. Jedenfalls war Jenny zu schüchtern, um zu fragen.
Auf dem Heimweg schaute sie noch im kleinen Kiosk vorbei, um sich für ihren gemütlichen Lesenachmittag mit Süßigkeiten einzudecken, dann bummelte sie nach Hause. In ihr Refugium. Dorthin, wo sie geliebt wurde, wie sie war. Meistens jedenfalls. Mama oder "Mams", wie sie von ihren Kindern genannt wurde, hatte das Hühnerfrikassee fertig, und Bruder und Oberprimaner Kai (kein Mensch verwendete heute noch die Bezeichnung "Oberprimaner" für einen Schüler der 13. Klasse, aber Jenny war ein großer 'Nesthäkchen'-Fan und neidisch auf Annemaries großen Bruder Hans, der immer so nett zu seiner kleinen Schwester war), hatte schon um zwölf Uhr Unterrichtsschluss gehabt. Papa bekam im Himmel vermutlich Hühnerleber mit Zwiebeln. „Hallo, mein Schatz“, begrüßte Mams ihre Jüngste fröhlich, "alles okay in der Schule?“ Jenny nickte, damit bloß keiner nachfragte. Kai sah die Papiertüte vom Kiosk aus der Tasche lugen und meinte: „Bist du sicher, dass du noch mehr Kilos auf den Hüften vertragen kannst?“ Rot bis unter die Haarwurzeln entriss Jenny ihm die verräterisch knisternde Tüte und stopfte sie zurück. „Aber erst nach dem Mittagessen!“, wies Mams sie zurecht. Sie hätte ihr die Tüte sicher abgenommen, wenn sie gesehen hätte, wie groß und prall gefüllt sie war. "Außerdem wird gleich dein Zimmer aufgeräumt. Wie kann man nur so schlampig sein, ich weiß gar nicht, von wem du das hast!", wunderte sich ihre Mutter kopfschüttelnd. "Mams!", rief Jenny. "Ich weiß, ich mach das noch. Ich bin halt nicht so ein Ordnungsengel. Irgendwie passiert das mit dem Chaos immer ganz von allein." Mams hielt inne und sah ihre Tochter streng an. "Du musst an dir arbeiten. Jeder kann das lernen, man muss es nur wollen." Jenny sagte nichts. Was war nur falsch an ihr? Barbara aus ihrer Klasse hatte neulich noch getönt, wie chaotisch sie war, aber dass sie das von ihrer Mutter hätte, und nie Ärger deswegen bekäme. Mühlschreibers waren eben so. Aber bei Jenny war es anscheinend ein Charakterfehler. Sie schien aus sehr vielen Fehlern zu bestehen. Sie war nicht ordentlich genug (Mams), nicht sportlich genug (Kai), nicht cool genug (Mitschüler). Nur schreiben, das konnte sie. „Ich hab in Deutsch eine 1-!“, verkündete Jenny stolz. Kai nickte unbeeindruckt. „Aber nicht abheben, junge Dame. Schön weiter lernen.“ „Ich freu mich so!“, lächelte Mams liebevoll. „Du bist eben eine Deutschkanone, so wie ich früher. Nur viel hübscher und klüger.“ Jenny schnaubte innerlich. Ihre Mutter hatte ja keine Ahnung. Die Klasse war da sicher anderer Meinung. „Mathe sollte sie können“, brummte Kai, „das ist viel wichtiger im Leben als Schwafeln.“ „Kommt drauf an, in welchem Beruf", entgegnete Jenny. Kai musterte sie. „Du willst ja wohl nicht Lehrerin werden“, knurrte er.
Schule? Bis ans Ende ihrer Tage?
Nie im Leben.
Heute
An einem ihrer letzten Osterferientage hatte Jenny Stila, 31 Jahre alt, Studienrätin für Deutsch und Latein, es noch einmal mit einem Date versuchen wollen. Auf "Love for Eternity - Singlebörse für Anspruchsvolle" hatte sie sich vor einigen Monaten angemeldet, nachdem ihr Ex und bester Freund Armin davon geschwärmt hatte. Das Ergebnis waren bisher zwei nette, vier unspektakuläre und ein sehr verstörendes Date gewesen, das sie eine Weile von LFE ferngehalten hatte. Im Internet hatte 'Paul' sich als 'fröhlichen Papieringenieur' bezeichnet. Während des Treffens hatte er dann Hochzeitspläne mit ihr schmieden wollen. Eine seiner fröhlichen Ideen war dabei, dass sie als Lehrerin ja quasi das Papier verwenden würde, das er herstellte. Bildlich natürlich, aber doch ungemein romantisch, oder? Sie hatte sich nur dadurch retten können, dass sie Armin auf der Toilette angerufen und herbeizitiert hatte. Der da hatte dann den eifersüchtigen Ex so überzeugend gemimt, dass 'Papierpaul', wie Jenny ihn seither nannte, panisch die Flucht ergriffen hatte. Und jetzt saß sie hier wieder mit einem Vertreter der Papierindustrie. Redakteur Ben. Jenny verlor sofort jedes Interesse an ihrem Gesprächspartner, wenn dieser nur um sich selbst kreiste. Hallo? Sie waren doch hier, um sich kennen zu lernen, und nicht in einer Castingshow. Geistesabwesend ließ Jenny ihren Blick durch das kleine Restaurant kreisen, in dem sie sich bisher mit allen ihren Dates verabredet hatte. Von hier aus hatte sie es nicht weit bis nach Hause. Wirt Pino hatte nach ihrer vierten Verabredung angefangen, sie anzuzwinkern und den Daumen hoch- oder runter zu halten, je nachdem, ob er ihre Verabredung für vielversprechend hielt oder nicht. Das war ihr ein bisschen peinlich. Zumal er sie heute, als sie mit Ben hier aufgetaucht war, mit den Worten "Platz wie immer am Fenster?" begrüßt hatte. Der fröhliche Wirt hatte es sicherlich gut gemeint und wollte ihr seine Aufmerksamkeit beweisen, doch sie mochte ihren Dates nicht unbedingt auf die Nase binden, dass sie fast wöchentlich jemand anderes anschleppte.
So lief das eben auf einer Internet-Datingplattform. Zumindest, wenn man ernsthaft nach einem Partner suchte und nicht nur nach einem Abenteuer fürs Bett. Man lernte sich per mails kennen, fand sich interessant und traf sich. Aber dann stellte man in der Regel entweder Enttäuschung oder höchstens Sympathie fest. Jetzt saß sie hier mit Ben. Und flirtete mit Pino. Pino war toll. Ein immer strahlender, in sich ruhender runder kleiner Mexikaner mit italienischen Wurzeln, Halbglatze und einer fröhlichen Frau mit zwei bezaubernden Töchtern. Pinos Daumen zeigten beide nach unten. Jenny seufzte. "...das ist natürlich ein Wahnsinnsauftrag, nicht jeder zieht sowas an Land..." Jenny dachte wehmütig daran, dass bald ihre Osterferien beendet sein würden. "...ich will mich ja nicht selbst loben, aber da macht mir wirklich keiner was vor..." Ihr Blick erstarrte. Das durfte jetzt nicht wahr sein, oder? Ebru und Harkan, das sympathischste und hübscheste Pärchen des Schillergymnasiums und Schüler ihres Lateinkurses, steuerten genau auf ihre Lehrerin zu. "Hallo, Frau Stila, das ist ja cool", röhrte Harkan, und seine schwarze Lederjacke quietschte. "Was macht ihr denn hier?", fragte sie starr vor Schreck. Natürlich war der Anblick netter Schüler immer ein Grund zur Freude, aber doch nicht, wenn sie einen bei einem Fast-Blind-Date erwischten! Musste sie jetzt alle einander vorstellen? Himmel! Doch Ebru, die die Situation mal wieder wesentlich schneller im Blick hatte als ihr Freund, zupfte ihn am Ärmel, was bei der dicken Lederjacke eine Herausforderung war und wisperte: "Komm, wir stören bestimmt. Lass uns einen Platz suchen." Harkan wollte protestieren, doch Ebru zog ihn mit sich. "Schönen Abend noch, Frau Stila", lächelte sie Jenny an, "bis nächste Woche im Unterricht." Jenny sah beiden kurz hinterher. Dann lächelte sie Ben schief an. "Ich konnte mir in dem Alter noch keine Abende beim Italiener leisten." Doch Ben starrte ihr nur ungläubig ins Gesicht. "Du bist tatsächlich Lehrerin?", fragte er fast angewidert. Sie hob die Braue. "Wieso? Stand doch im Profil?", fragte sie zurück. Er verzog das Gesicht. "Ich dachte, das sei ein Witz. Du siehst überhaupt nicht aus wie eine ..." Er riss sich zusammen. Na toll. Wieder einer mit Vorurteilen. Sie sah diskret auf die Uhr und dann zu Ben: "Entschuldige bitte, ich geh mal kurz auf die Toilette." Er nickte abwesend. Pinos Edelpizzeria hatte zum Glück auch auf dem Klo Empfang. "Minchen?", schrie sie fast ins Handy, "du musst mich retten." "Pinos?", brummte ihr Ex. "Du spinnst ja." Er legte auf. In spätestens einer Viertelstunde würde er da sein. Als sie wieder zurück zu ihrem Platz kam, war Ben verschwunden. Nicht zum Rauchen oder auf die Toilette, nein, er war gegangen. Und hatte bezahlt, wie Pino ihr versicherte. "Sei froh, dass du den losbist", meinte er, "dase ware eine Idiot. Aber wie ich gesehen habe, kennst du meine Nichte?", zwinkerte er begeistert. Jenny kippte die Kinnlade herunter. "Ebru ist deine Nichte?" Pino strahlte begeistert. "Du willst mir sagen, dass meine Schülerin die Nichte des Mannes ist, der seit Monaten meine Dates kulinarisch betreut?" Pino strahlte noch mehr. Dann hielt er sich den Zeigefinger vor den Mund. "Aber ich nix verrate, keine Sorge. Ebru weiß nix. Ebru Job für dis, Männer privat!", zwinkerte er nochmals. In dem Moment kam Armin durch die Tür. "Was ist?", brummte er. "Soll ich dich etwa vor Pino retten?" Doch der Italiener wieselte schon davon.
"Du kannst doch nicht jedes Mal so ein Theater veranstalten, nur um ein Date loszuwerden", schüttelte Minchen den Kopf, als sie nebeneinander zu ihr nach Hause trabten. "Man kann auch ganz ehrlich sagen 'hey, danke für den schönen Abend, aber ich glaube, wir passen nicht so gut zusammen.'" Er sah sie von der Seite an. "Wir Männer haben auch Gefühle." Jenny nickte eifrig. "Eben. Die will ich ja nicht verletzen!" Minchen schüttelte den Kopf. "Und deshalb muss ich kommen und so tun, als gäbe es einen Notfall? Glaubst du, die Typen sind dämlich? Die merken doch, dass das ein Trick ist. Ich kann nicht schauspielern! Und diese Verarsche verletzt sie vielmehr, als eine klare Aussage." Jenny war anderer Meinung. "Die meisten hören einem doch gar nicht zu." Doch Minchen blieb eisern. "Das war das letzte Mal. In Zukunft haust du dich selbst da raus." Jenny seufzte. Ihr Liebesleben war viele Jahre bei Armin gut aufgehoben gewesen, jetzt war er ihr bester Freund. Deshalb ließ sie sich seine Kritik gefallen. Er und Jennys Bruder Kai arbeiteten beide bei der gleichen Bank in verschiedenen Städten, und hatten eigentlich nicht viel miteinander zu tun, außer einem gemeinsamen Ziel: Jennys Leben zu retten: Vor Naivität, vor Absturz in die Armut, vor im Bad herumliegenden Stromkabeln, vor allem. Armin und Jenny stellten irgendwann fest, dass ihre Erotik verschwand und ersetzt wurde durch Wettpupsen. Dass sie gute Freunde, aber kein Liebespaar mehr waren. Noch lange nach der Trennung fragten ihre Familien sie ständig, ob sie nicht endlich wieder vernünftig werden und zusammenziehen wollten. Jenny hatte sogar das Gerücht gehört, es seien Wetten auf sie beide abgeschlossen worden, bei denen es übrigens nicht um das Ob, sondern nur um das Wann ging. Aber die Sache war für beide gegessen, und so hatten sie sich auf "Love for Eternity" angemeldet. Armin "ging weg wie warme Semmeln", wie er gern betonte, er hatte schon viele Verabredungen gehabt, suchte aber auch nicht so ernsthaft wie Jenny. Er war aber auch ein Hauptgewinn: Ein perfekter Hausmann, der kochen, waschen und putzen konnte. Deshalb nannte sie ihn Minchen, weil er so süß war und ein bisschen wie ein Hausmädchen. Er rief sie immer noch an, wenn es bei Aldi mal wieder was im Sonderangebot gab. Putzlappen oder Suppen. Und auch sonst war er für sie da, wenn sie ihn brauchte. Der perfekte platonische Freund.
Sie waren fast bei Jennys Wohnung in der grünen Siedlung angekommen. Minchen hatte sich aufs Schweigen verlegt, das konnte er gut, und Jenny, die Ben längst abgehakt hatte, hing nun ihren Gedanken an die Schule nach. Bald waren die Ferien vorbei, und der Alltagswahnsinn würde wieder losgehen. Der Alltag mit Anais, dieser arroganten Prinzessin aus ihrem Lateinkurs. Jenny sah in dem Mädchen jedes Mal die tuschelnden Klassenkameradinnen von einst, die geringschätzig die Augenbrauen hoben, wenn sie sich näherte. Sie manifestierten sich nun in einer begabten, schönen 18jährigen Latein-Schülerin, die die Wertschätzung des Direktors, die Sympathien des Lehrerkollegiums und die Bewunderung ihrer Mitschüler besaß. Sie hatte schon oft mit ihrem Therapeuten darüber diskutiert, weshalb sie Lehrerin geworden war. Ihrer Meinung nach lag es daran, dass man, wenn man sich unsicher fühlt, aus verschiedenen Optionen das Bekannte wählt, auch wenn es nicht gut für einen ist. Als sie sich für eine Studienrichtung entscheiden musste, konnte sie auf eine Schulzeit zurückblicken, in der sie mit Lehrern prima zurecht gekommen war. Lehrer waren soziale Menschen, die Verständnis für vieles hatten, mit denen man immer reden konnte, und die stille, fleißige Menschen wie sie selbst zu schätzen wussten. Außerdem gab es für Jenny kaum einen schöneren Ort als ihren Schreibtisch, der prall gefüllt war mit bunten Ordnungsboxen, Stiften in allen Farben des Regenbogens, Post-its, Notizbüchern und glänzenden Papieren. Im Referendariat merkte sie, dass es ihr lag, tolle Materialien wie Arbeitsblätter oder Spielkarten herzustellen und zu gestalten. Außerdem verfügte sie über großes Talent, wenn es darum ging, schwierige Zusammenhänge leicht verständlich zu machen. Sie nahm ihre erste feste Stelle an in der Überzeugung, dass der Lehrberuf für einen kreativen, schülerzugewandten und engagierten Menschen wie sie ein Spaziergang werden würde. Leider erkannte sie zwei grundlegende Tatsachen erst, als es zu spät war: Als Lehrer war man mittlerweile auch unter den besten Voraussetzungen für viele Eltern und Schüler keine Respektsperson mehr, sondern eher Freiwild, das inkompetent und faul zu finden chic ist. Außerdem wurde jede Kreativität durch immer größere Klassen und einen Haufen Bürokratie im Keim erstickt. Sie erwachte aus ihren tiefdunklen Gedanken und schloss die Türe auf. Während Minchen seine Jacke aufhängte und sich auf den Fernseher zubewegte, verschwand Jenny im Bad. Dort blieb sie plötzlich stocksteif stehen und starrte auf das schwarze, haarige Etwas, das zu ihren Füßen über die Wand des Badezimmers kroch. „Hab keine Angst!“, hörte sie im Geiste die Stimme von Paps, „die Spinne hat vielmehr Angst vor dir, als du vor ihr.“ Jenny bezweifelte das auch mit 31 noch. Weshalb traute sich das Mistvieh dann hierher? Es gab Ritzen, Spalten, den Keller. Aber sie hatte eine eigene Theorie entwickelt, warum alle Spinnen dieser Welt anscheinend gezielt ihre Nähe suchten: Bestimmt machten sie Jagd auf Lehrer. Das Tier war sicherlich nicht zufällig ausgerechnet an einem der letzten Ferientage aufgetaucht, um Jenny Stila vor dem Schulanfang nochmal ordentlich zu zeigen, wo das Netz hängt. Ihr Therapeut würde wahrscheinlich wieder väterlich grinsen, wie immer, wenn sie versuchte, sich in seiner Gegenwart selbst zu interpretieren: "Meine Angst vor Spinnen bedeutet bestimmt eine schwierige Beziehung zu meiner Mutter, meine Angst vor arroganten Schülern hat mit den Schwierigkeiten zu tun, die ich selbst als Teenager mit Gleichaltrigen hatte." „Diese 1:1-Deutungen sind längst überholt“, würde er sagen, und sie fragen, warum sie denn die Beziehung zu Mams als schwierig bezeichnen würde. War das herauszufinden nicht sein Job? Als Jenny nach den ersten Jahren mit einer Vollzeitstelle gemerkt hatte, dass sie nur solange eine bezaubernde, souveräne und beliebte Lehrerin sein konnte, bis sie ein Schüler provozierte, war sie zu einem Therapeuten gegangen, der jetzt mit ihr zusammen ihre Kindheit aufarbeitete, um nach der Ursache für ihre Unsicherheit zu forschen. Auch die Wutanfälle, die sie zwar nicht auslebte, sie aber langsam verrückt machten, waren ein Grund. Die ständige öffentliche Lehrerschelte von Eltern, in Zeitungen oder Nachrichten machte sie so fertig, dass sie am liebsten alles hinschmeißen wollte. Sie war nämlich gut in ihrem Job. Aber wie sollte sie das dieser blöden Spinne beibringen? Ihr Therapeut hatte Jenny geraten, ein Tagebuch zu schreiben über alles, was sie an ihrem Beruf aufregte oder wütend machte. Sie nannte es ihr 'Ragebuch' und hatte davon bereits zehn in ihrem Regal stehen. Alle schwarz. Die Spinne bewegte sich. „IIIIIIeh!“, kreischte Jenny. „Du musst sofort ins Bad!“, schrie sie hysterisch und zog Minchen von der Couch hoch. „Hey!“, rief Armin, „ich will nicht duschen! Ich will keinen Sex! Lass mich los! Was willst du von mir?!“ Doch Jenny ließ sich nicht auf Diskussionen ein. „Komm jetzt, da hockt eine mega haarige Spinne. Mach die weg!“ Doch Minchen schüttelte den Kopf und zappte ungerührt durch das Programm. „Lass mich in Frieden. Ich mag auch keine Spinnen. Außerdem sind wir nicht mehr zusammen. Such dir einen anderen Helden für die Drecksarbeit.“ Langsam wurde Jenny panisch. „Armin, bitte, das ist kein Witz. Wenn du die nicht sofort ins Jenseits beförderst, komm ich gleich mit und ziehe wieder bei dir ein.“ Das wirkte. Seufzend stand er auf, ging zur Badezimmertür, öffnete sie vorsichtig und schloss sie sofort wieder. „Da ist nichts.“ Wortlos wies sie mit ausgestrecktem Arm auf die Tür. Er grinste und ging hinein. „IIIIIeh!“, hörte sie ihn rufen und etwas krachen. Klang wie ihr Mülleimer. „So. Die ist tot. Aber den Dreck machst du weg.“ „Was?“, schrie Jenny entsetzt. „Ich hab Angst!“ „Herrschaft!“, meckerte er, „alles muss man selber machen.“ Er holte ein Papiertuch aus der Küche und verschwand wieder im Bad. Sie hörte die Klospülung und seufzte erleichtert. „Danke!“, lächelte sie kläglich, als er brummend wieder herauskam. "Harkan sagt auch immer, was einen Mann nicht umbringt, macht ihn härter." "Wer ist Harkan?", fragte Minchen. "Du hast einen Männerverschleiß!" Doch Jenny schüttelte abwehrend den Kopf. "Das ist einer meiner Schüler aus der Oberstufe. Der hat mal eine Spinne für mich aus dem Fenster geworfen. Naja", gab sie zu, "für die anderen Mädels aus dem Kurs auch." Minchen zog die rechte Braue hoch. "Du redest mit deinen Schülern über Spinnen? Und nennst deine Schülerinnen Mädels?" Jenny zuckte die Schultern. "Wieso nicht?" Er wirkte skeptisch. "Du bist die Lehrerin. Ein Vorbild. Da hat man keine Angst, sondern wahrt Distanz." "So ein Blödsinn", erwiderte Jenny, "du kennst doch meine Einstellung: Zuerst bin ich Mensch, dann Frau, irgendwo zwischen Platz elf und hundert deine Exfreundin. Eine meiner vielen sozialen Rollen ist Lehrerin, aber deshalb höre ich doch nicht auf, ein Mensch zu sein." "Wissen das deine Schüler?", fragte Minchen. Jenny bezweifelte das. Für Schüler war man als Lehrperson vermutlich kein menschliches Wesen. Das merkte sie, wenn ihre Fünftklässler ihr mit weit aufgerissenen Augen beichteten, dass sie sie gestern in der Stadt beim Einkaufen gesehen hatten. Oder wenn Schüler, mit denen sie sonst prima klarkam, sie außerhalb des Schulgeländes sichtbar ignorierten. Schaudernd dachte sie an Harkan und Ebru. Wenn man mal Schüler-Ignoranz brauchte, konnte man sich aber auch nicht drauf verlassen. „Komm mit“, riss Minchen sie aus ihren Gedanken, „ich muss dir was zeigen.“ Er zog Jenny zum Schreibtisch und warf ihren Computer an. Minchen war mal wieder begeistert auf der Suche nach einem passenden weiblichen Wesen. Zumindest normalerweise war er begeistert, jetzt erzählte er leicht beunruhigt, dass seine blöde Kollegin aus der Bank 80 Übereinstimmungs-Points mit ihm hatte. „Du bist doch immer so kreativ“, behauptete er, „lass dir was einfallen, wie ich aus der Nummer wieder rauskomme.“ „Was krieg ich dafür?“, wollte Jenny wissen. „Hallo? Ich hab grad eine Riesenspinne getötet und dein Bad geputzt, das reicht ja wohl!“ Wo er Recht hatte, hatte er Recht. Sie setzten ein neues Profilbild von ihm ein, das ihn von weitem unter dem Schatten eines Baumes zeigte. Nun hofften sie, dass Bankmaus Erika ihn noch nicht online entdeckt hatte. In Jennys Postfach fand sich nichts Interessantes. Nur Franz war online. Ach du je. Spinne im Bad, Franz im Internet, Abend im Arsch. Laut LFE hatten sie 90 Points Übereinstimmung. „Heiratet am besten gleich!“, witzelte Minchen, bevor er ging, doch das hatte Jenny eigentlich nicht vor. Zunächst verfolgte sie neugierig sein Profil, doch dann verlor sie schnell das Interesse. Weshalb glaubte eine seriöse Datingplattform, dass dieser Langweiler zu ihr passen würde? Franz liebte die Waldfotografie, las gerne Bücher über Physik und ging regelmäßig ins Kino. Langsam zweifelte Jenny daran, ob diese Art der Partnersuche wirklich etwas für sie war. Love for Eternity bot angeblich in kürzester Zeit die tollsten Männer: Intelligent, aber nicht selbstverliebt; witzig, aber nicht albern; sportlich, unternehmungslustig, aber auch häuslich; solide, aber nicht langweilig; gutaussehend, aber nicht vergeben. Das System bei LFE blieb Jenny rätselhaft – nach Anfertigung eines persönlichen, psychologischen Profils, bei dem es unter anderem darum ging, ob man mehr auf Kreise oder Dreiecke stand, wurden Love-Points vergeben, die Auskunft darüber gaben, wie gut man mit dem jeweiligen Partner zusammenpasste. Alles über 60 war gut, 100 bedeuteten den Volltreffer. Witzigerweise gehörte Minchen bisher nicht zu ihren Empfehlungen. Als sie Franz' Profil anklickte und zum zweiten Mal sein Foto sah, seufzte sie. Franz hatte kurze brünette Haare mit angedeutetem Mittelscheitel, trug eine Brille und lächelte glücklich in die Kamera. Mehr gab es nicht zu berichten. Jenny ermahnte sich selbst. Darin war sie Meisterin. Schlecht getroffenes Foto, Stimme und Bewegung zählten auch, wahrscheinlich war der total lustig und nett. Dass sich in diesen Internetdatingplattformen nur Mauerblümchen verabredeten, war doch völliger Unsinn. Sie selbst war schließlich auch alles andere. Als großer Fan von Typberatungsbüchern wusste sie sich zu stylen. Zumindest war das die Meinung ihrer Schüler und Kollegen. Mams dagegen fand die Haarexperimente ihrer Tochter meist eher “interessant”, Jennys Kleidung “mutig” und das MakeUp “...völlig überflüssig. In ein paar Jahren wirst du dich ärgern. Tante Lonny hat sich immer geschminkt, und wie sah sie kurz vor ihrem Tod aus? Falten über Falten.” Leider vergaß Mams dabei immer zu erwähnen, dass Tante Lonny aus einer Generation stammte, in der Gesichtspuder gleichbedeutend war mit Kleister, sie außerdem rauchte wie ein Schlot und 'kurz vor ihrem Tod' bereits 93 Jahre alt war. Jenny klappte ihren Laptop wieder zu und stapfte in die Küche, um sich eine Tiefkühlpizza zu machen.
An ihrem ersten Schultag nach den Ferien war die Bahn überraschenderweise pünktlich. Jenny ging nach hinten und kuschelte sich in einen Sitz am Fenster. Es war nicht mehr ganz dunkel draußen, die Sonne begann gerade, aufzugehen und einen Himmel zu malen, den man auf einem Bild für kitschig halten würde. Jenny sah hinauf und dachte an Paps. Wie es dort oben wohl war? Stimmte es, dass die Verstorbenen quasi wie Schutzengel über einen wachten? Die eigentlich romantische Vorstellung hatte schon einen faden Beigeschmack. Wer will sich schon von seinem Vater bei allem beobachten lassen, was man hier auf der Erde so trieb? Jenny musste grinsen. Ihre Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit. Ihre Eltern waren fast 20 Jahre lang glücklich verheiratet gewesen und hatten das Erziehungsprinzip “hart aber herzlich” verfolgt: Sie liebten Sohn Kai und ihre kleine Schneeflocke Jenny unendlich, erzogen sie mit viel Humor, aber auch konsequenter Strenge. Werte wie gutes Benehmen, Zuverlässigkeit und Fleiß standen an erster Stelle. Als Papa bei einem Autounfall starb, war Jenny acht Jahre alt, und dieses Prinzip wurde von Mams eisern weitergeführt. Unterstützt wurde sie dabei von ihrem Ältesten, den sie allerdings manchmal etwas bremsen musste, wenn er sich zu sehr als Jennys Vormund aufspielte. Mit Jennys Lehrern war sich Mams durch die Bank darüber einig, dass Klein-Jenny ziemlich intelligent sei. Deshalb erwartete sie von ihrem Mädchen immer, dass es sein Bestes gab und an seinen vermeintlichen Fehlern arbeitete. Leider führte diese Strategie allerdings dazu, dass Jenny sich immer weniger zutraute. Bruder Kai, sechs Jahre älter, begünstigte diese unerfreuliche Entwicklung, indem er es manchmal ein bisschen übertrieb mit dem Prinzip “Kritik macht dich härter”. Seine Sprüche waren nur als Neckerei gemeint, doch seine nach Liebe und Anerkennung hungernde Schwester nahm sie sich zu Herzen. Wenn Jenny Klassik hörte, drehte er ihr schonmal das Radio ab und drückte ihr eine Kassette in die Hand mit den Worten „DAS ist richtige Musik“. Wenn sie mal wieder in ihrem Zimmer blieb, um zu lesen, zu basteln oder zu malen, bezeichnete er sie als 'Mauerblümchen', das doch so nie Freunde finden würde. Und in der Tat besaß Jenny keine richtige Freundin, die ihr den Rücken stärkte. Da sie gern für sich allein blieb und sich lieber kreativ beschäftigte, statt sich mit anderen Mädchen über Klamotten oder Jungs zu unterhalten, hatte sie nur wenige und wenn, eher oberflächliche Freundschaften. Jenny wurde nie physisch gemobbt, niemand tat ihr was, keiner versteckte das Mäppchen oder spielte Streiche, aber sie gehörte nie richtig dazu. Es war ihr peinlich, immer bis zuletzt auf der Bank zu sitzen, wenn im Sportunterricht Mannschaften gebildet wurden. Wenn es im Unterricht hieß, 'Gruppenarbeit', schoss ihr regelrecht das Blut in die Wangen, weil sie Angst hatte, dass keiner mit ihr arbeiten wollte. Es war Jenny zuwider, auf andere zuzugehen und zu fragen, dafür war sie zu schüchtern und vielleicht auch zu stolz. Kai hatte später die perfekte Lara geheiratet, Mams' Traumschwiegertochter. Lara war elegant, ordentlich, konnte sich auf jedem gesellschaftlichen Parkett bewegen und sich stundenlang mit Mams über Backrezepte und Kindererziehung unterhalten. Ganz anders, als die verträumte Jenny. Jetzt konnten sie ihr zu dritt bei jeder Gelegenheit aufs Butterbrot schmieren, dass sie sich endlich mal vernünftig kleiden (Mams) und einen Mann finden sollte (Lara). Der liebe Kai versorgte seine Schwester dann noch regelmäßig mit Thesen zu seinem Lieblingsthema, dass Lehrer zuviel Freizeit und von herzlich wenig eine Ahnung hätten. Das brachte sie gänzlich auf die Palme, und so entstand zwischen ihnen so eine Art Hassliebe. Jenny hatte Kai sogar ein eigenes Ragebuch gewidmet. Sie wuchs also in einer Atmosphäre auf, die ihr eine Menge Selbstzweifel mit auf den Weg gab. Auch noch als Erwachsene war sie sich nie ganz sicher, ob das, was sie tat, gut und richtig war oder sie fragte sich, wer das definierte. Sie lebte mit der Grundeinstellung, dass die Meinungen und Einstellungen anderer Leute wichtiger und kompetenter waren als ihre. Ein bisschen selbstsicherer wurde sie im Studium, als sie viele Gleichgesinnte traf, von zuhause auszog und ihr eigenes Leben begann. In dieser Zeit holte sie ihre Pubertät nach. Sie probierte vieles aus: Haarfarben, Makeups und Klamottenstile, die bei Mams und Kai meist auf eher wenig Zuspruch stießen, was diverse Umziehaktionen in engen Toiletten auf Bahnhöfen oder in Zügen mit sich brachte. Sie nahm lieber das in Kauf, als die hochgezogenen Brauen ihrer Familie. Als sie im Studium ihre Freundin Kim Chapelle kennenlernte, eine Deutsche mit französischen Wurzeln, fühlte sie sich sofort zu dem selbstbewussten Energiebündel hingezogen. Kim besaß genau die Spontaenität und unbeschwerte Lebensfreude, die Jenny gern gehabt hätte. Sie 'zog ihr Ding durch' und pfiff auf die Meinung anderer. Zu Jennys Bewunderung gesellte sich allerdings auch das Gefühl, stets die Unterlegene zu sein. Aber das war sie seit der Schulzeit gewöhnt. Im Großen und Ganzen wurde Jenny zu einer kreativen, fröhlichen Person mit ausgeprägtem Minderwertigkeitskomplex. Schwierige Voraussetzungen für den Lehrerberuf, auch wenn sie gelernt hatte, selbstbewusst zu wirken. Doch das war nur eine dünne Schale, die solange hielt, bis sie angekratzt wurde. Und in der Schule wird diese Schale oft angekratzt. Jenny seufzte. Im Moment war Anais Hackman die härteste Kratzbürste. Dann rief sie sich zur Ordnung. Schluss mit dem Gejammere! Im allgemeinen gefiel ihr das Schulleben doch. Die Schwätzchen im Lehrerzimmer, die wuseligen, hochmotivierten Kleinen, die harten, aber authentischen Mittelstufler und die engagierten Oberstufenschüler. Jenny lehnte sich entspannt zurück. Sie freute sich auf ihre Klasse.
Wie erwartet hatte Jenny der Deutschunterricht in ihrer eigenen Sechs wieder großen Spaß gemacht. Sie hatte ihren Schülern stolz die neue Sitzordnung vorgestellt, die sie abends mühsam zusammengefriemelt hatte. Es handelte sich um ein logistisches Wunderwerk. Jenny hatte sich wirklich Mühe damit gegeben. Alle paar Wochen wechselten sie die Sitzordnung, damit jeder mal vorne sitzen durfte. In dem großen Raum standen immer drei Tische in Gruppen zusammen, sodass jeweils bis zu sechs Schülerinnen und Schüler ringsum Platz fanden. Gruppentische hatten den Vorteil, dass mehrere Kinder zusammenarbeiten konnten, ohne dass man ständig Tische und Stühle rücken musste, es sah gemütlicher aus. Kein Schüler hatte jemanden im Rücken sitzen, der einen unauffällig mit Papierkügelchen bewerfen konnte. Natürlich saßen zwangsläufig ein paar Kinder zumindest schräg zur Tafel und hatten nicht den allerbesten Blick nach vorne, aber Jenny war sehr zuversichtlich, dass ihre Bande mit dem Ergebnis zufrieden sein würde. Um eine möglichst ideale Kombination zu finden, die dafür sorgte, dass weder Quatscher den Unterricht störten, noch Erzfeinde nebeneinander ihr Dasein fristen mussten, jeder zumindest auf einer Seite mit einem Freund oder einer Freundin zusammensaß, kein Mädchen einsam an einem Jungentisch und kein Junge ausgeliefert an einem Mädchentisch Platz nehmen musste, hatte sie den Kindern erlaubt, auf einem Zettel Wunschkandidaten zu notieren. Und es war ihr tatsächlich nach zweistündiger Auswertungs- und Puzzlearbeit gelungen, eine Sitzordnung zu finden, die jedem gerecht wurde. Nachdem alle die neuen Plätze eingenommen hatten, fragte sie, ob es noch irgendwelche Unzufriedenheiten oder Fragen gäbe, aber anscheinend war alles prima.
Deshalb begann sie nichtsahnend mit dem Deutschunterricht.
Als es schellte, eilte Jenny, umhüllt vom wohligen Gefühl, alles richtig gemacht zu haben und voller Vorfreude auf ihre Theater-AG, Richtung Lehrerzimmer, um sich noch kurz mit dem Probenplan für heute zu beschäftigen. Als sie aber an einer offenen Tür vorbeikam, stellten sich ihr die Nackenhaare auf: Sie vernahm Anais Hackmans sonst so sanfte Stimme böse zischen: „Bleib mir endlich vom Hals, du kleine Schlampe!“ Jenny sah gerade noch, wie die Achtzehnjährige ein Mädchen am Kragen gepackt hielt und Richtung Tür schubste. Die etwa Zwölfjährige lief an Jenny vorbei, schoss durch die gegenüberliegende Tür ins Freie und rannte davon. Ihr Gesicht hatte Jenny nicht sehen können, dafür war alles zu schnell gegangen. Anais stand mit rotem Kopf im Klassenraum und starrte ihre Lehrerin mit undurchdringlicher Miene an. Jenny wusste nicht, was sie sagen sollte, tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Irgendwie hatte sie doch immer gewusst, dass Anais Hackman, die brillante, beliebte Anais in Wirklichkeit eine intrigante Ziege war, dass hinter der strahlenden, perfekten Miene ein Eisberg hauste. So wie bei den Mädchen damals in ihrer eigenen Schulzeit. „Was ist denn hier passiert?“, entfuhr es ihr. Anais' Gesicht entspannte sich, doch ihre wunderschönen Augenbrauen blieben zusammengezogen. „Ich hab mich nur gewehrt“, brummte sie. Jenny ging einen Schritt auf sie zu. „So sah das aber nicht aus.“ Dann wurde sie lauter. „Sag mal, du kannst doch nicht ein kleines Mädchen würgen und bedrohen?“ Anais schüttelte entrüstet den Kopf. „Hab ich doch gar nicht- sie“, aber Jenny ließ sie nicht ausreden. Diese Ausflüchte würde sie sich nicht anhören. Da war es, dieses Gefühl, das sie durch ihre eigene Schulzeit begleitet hatte. 'Wer bist du überhaupt?' 'Geh woanders hin und lass uns in Ruhe.' Es war nie ausgesprochen worden, aber lesbar gewesen in den abfälligen Mienen der Mitschülerinnen. Aber die Zeiten waren vorbei. Von Anais würde sie sich ein solches Verhalten nicht bieten lassen. „Jetzt hör mir mal gut zu“, zischte Jenny sie an, „wenn du glaubst, dass du an dieser Schule alles und jeden um den Finger wickeln kannst, hast du dich geschnitten. Mit mir läuft das nicht. Du wirst zu diesem Mädchen gehen und dich entschuldigen, du-“ „Das werde ich nicht!“, rief Anais empört. „Sie haben doch keine Ahnung, was-“ „Was ist hier los?“, erklang eine kräftige Stimme von der Tür. Jenny drehte sich erschrocken um. Schoppi stand in der Tür. Einer von Anais' großen Bewunderern. Der Schulleiter persönlich. Ehe Jenny etwas sagen konnte, schob sich Anais an ihr vorbei und lächelte Direktor Schoppenhauer entschuldigend an. „Nichts, ist schon in Ordnung. Wir hatten eine kleine- Frau Stila hat da etwas missverstanden. Ich muss jetzt gehen.“ Mit einem gewinnenden Lächeln sah sie Schoppi an, der zu Jennys grenzenlosem Erstaunen ebenso gewinnend zurück lächelte. Mit einem weniger freundlichen Gesichtsausdruck bedachte er Jenny. „Kommen Sie doch bitte kurz in mein Büro.“
Er bot Jenny Platz und Kaffee an. Sie wollte etwas sagen, doch er kam ihr zuvor. „Was war da eben los?“ Nicht, dass Jenny selbst das so genau wusste. Sie versuchte sich zu konzentrieren. „Ich habe Anais Hackman eben dabei ertappt, wie sie eine kleine Schülerin gewürgt und bedroht hat.“ Er runzelte die Stirn. „Wie heißt die andere Schülerin?“ Jenny konnte nur mit den Schultern zucken. „Das weiß ich nicht, ich kenne sie nicht und habe sie nur schräg von der Seite gesehen, es ging alles so schnell, sie ist weggelaufen. Aber das ändert doch nichts-“ Er schnitt ihr mit einer raschen Handbewegung das Wort ab. „Frau Stila. Natürlich zweifle ich nicht an Ihren Worten, allerdings fällt es mir schwer, Anais Hackman ein solches Verhalten zuzutrauen. Wir kennen sie alle als verantwortungsbewusste und zuverlässige Schülerin. Vermutlich haben Sie da etwas missverstanden. Darüberhinaus wünsche ich nicht, dass an meinem Gymnasium Lehrkräfte in einem solchen Ton mit Schülern reden. Wenn es ein Problem gibt, wird die Situation durch einen ruhigen Umgangston entschärft, um dann alles weitere zu klären. Das muss ich einer ausgebildeten Pädagogin nicht sagen, auch wenn Sie noch sehr jung sind.“ Jenny traute ihren Ohren nicht. Hatte er gerade Anais als verantwortungsbewusst und sie als jung und unerfahren bezeichnet? Er lächelte sie jetzt wesentlich freundlicher an. „So“, rief er geschäftig, „das war nicht der einzige Grund, weshalb ich Sie zu mir gebeten habe- Sie hatten den Wunsch geäußert, mich zu sprechen?“ Ach so. Das. Sie setzte sich gerade und versuchte absolut professionell und seriös zu wirken. Aber sie kam sich vor wie in einer Schmierenkomödie. „Ich wollte Sie nur informieren, dass ich mit meiner Theater-AG am Wettbewerb 'Theater in der Schule' teilnehme.“ Dabei handelte es sich um einen vom Stadttheater jährlich ausgeschriebenen Wettbewerb zwischen Theaterkursen verschiedener Schulen. Dem Gewinner winkten 1000 Euro und ein Auftritt im Theater. Wenn Jennys Truppe gewinnen würde, könnte sie endlich aus Kims Schatten heraustreten und auch eins von Schoppis Zugpferden werden. Bei dem Gedanken musste sie grinsen. In diesem Schuljahr hatten sie sich gemeinsam für „Die Physiker“ entschieden. Das Drama stand auf dem Lehrplan und konnte vielen Mitschülern das Verständnis des Handlungsablaufs näher bringen. Die Theater waren dazu anscheinend nicht mehr fähig. Als Jenny das letzte Mal einen Kurs in "Die Physiker" geschleppt hatte, war die Verwirrung hinterher größer als vorher gewesen. Warum Möbius als Salomo auf einem Nutellaglas saß, das Ganze auf einem riesigen Frühstückstisch spielte und der Inspektor seinen kompletten Text sang, hatte sie den Schülern auch nicht erklären können. Doch zu ihrer Enttäuschung hielt sich Schoppis Begeisterung in Grenzen. „Nun gut. Mit einem Klassiker kann man nicht viel falsch machen. Ihre letzten beiden Aufführungen waren ja auch sehr hübsch. Aber seien Sie vorsichtig: Je bekannter ein Werk, desto öfter haben es die Theaterleute gesehen. Da dürfte es schwierig sein, sie mit etwas Neuem zu beeindrucken. Vielleicht können Sie mit dem Wettbewerb noch ein Jahr warten, und dann auf ein eher modernes, unbekanntes Werk zurückgreifen?“ Jenny seufzte innerlich. Danke für die Aufmunterung. Ihre Aufführungen waren also „hübsch“. Aber sie konnte keinen Rückzieher mehr machen, sie waren bereits angemeldet, und die Schüler freuten sich auf die Teilnahme. Das sah auch Schoppi ein. „Denken Sie daran, mit diesem Wettbewerb vertreten Sie die Schule in der Öffentlichkeit; vergessen Sie nicht, wir haben einen guten Ruf zu verlieren.“ Eigentlich leitete sie Theater-AGs, um Schülern dabei zu helfen, sich zu entfalten, nicht, um Schoppis „guten Ruf“ nach außen zu tragen. Aber das behielt sie für sich.
Ihre Theaterprobe musste sie wegen der Konferenz heute Nachmittag etwas kürzer halten. Sie fuhr schnell nach Hause, um zu essen und sich mental auf die endlosen Diskussionen am Nachmittag einzustellen. Konferenzen bedeuteten wenig Neues, kaum Beschlüsse, dafür Gerede, schlechten Kaffee und haufenweise Schokokekse aus dem Supermarkt.
Als sie um die Ecke hastete und auf die Haustür zusteuerte, stellte Frau Schmidt, ihre freundliche, rundliche kleine Nachbarin, eben ihren Mülleimer nach draußen. "Guten Tag, Frau Stila", strahlte sie. "Schon wieder frei? Hach, Lehrer müsste man sein, das wär ein Leben!" Jenny verbiss sich die Frage, ob Frau Schmidt auch gern bis 22.00 Uhr am Schreibtisch sitzen würde. Die alte Dame wollte ja nur nett sein. Stattdessen lächelte sie nur zurück. Dass sie gleich nochmal in die Schule zurückmusste, behielt sie ebenfalls für sich. Vermutlich würde Frau Schmidt auch noch beglückwünschen, weil sie "einmal im Monat nachmittags zur Arbeit" musste. Ihr kam so dermaßen die Galle hoch, dass sie sich sofort, nachdem sie die Pizza in den Ofen geschoben hatte, ihr Ragebuch ergriff, das sie immer bei sich trug, und voller Eifer mit dem Kugelschreiber über die Seiten fuhr: Ich gebe zu, auch in meiner beschränkten jugendlichen Vorstellung damals arbeiteten Lehrer höchstens von acht bis eins, fuhren nach Hause, und genossen Kuchen im Garten. Dann korrigierten sie vielleicht vor dem Abendessen milde lächelnd ein paar Klassenarbeiten, und setzten sich am Abend noch ein Weilchen in die hauseigene Bibliothek mit Regalen aus dunklem Kirschholz, um einen Blick in die ein oder andere Schullektüre zu werfen. Man hat ja als Kind auch immer gedacht, der Lehrer sei nur für die eigene Klasse da. Mir war immer schleierhaft, weshalb man angeblich drei Wochen braucht, um eine Arbeit zu korrigieren. Abgesehen davon, dass ich mich immer wieder frage, was die Leute eigentlich glauben: Dass nur faule Menschen Lehrer werden, oder dass man durch den Lehrerberuf zwangsläufig zu einem Faultier mutiert, weil das Teil der Ausbildung ist, frage ich mich, wieso anscheinend jeder denkt, wir täten nichts. Das meiste Material der Schulbuchverlage ist großartig, aber ich muss doch trotzdem Unterricht vorbereiten. Klasse A kommt prima mit Gruppenarbeit zurecht, Klasse B braucht Frontalunterricht. Klasse C lernt gern an Texten, Klasse D ist mit einer praktischen Herangehensweise mehr gedient. Meine wöchentlich 25 Unterrichtsstunden bedeuten lediglich ein Abspulen der Arbeit, die ich am Tag zuvor vorbereitet habe: Texte raussuchen, Arbeitsblätter anfertigen, Karten laminieren, Texte vorübersetzen, in neue Themen reinarbeiten, Lektüren lesen, Hausaufgabenhefte kontrollieren. Dazu kommen zwei oder drei Arbeitskorrekturen für durchschnittlich 130 Schüler pro Halbjahr, also rund dreizehn Arbeiten pro Wochenende, Testkorrekturen, Heftkontrollen, Beratungsgespräche mit Eltern, Schülern oder Kollegen, Projektarbeit für Musik- oder Theater-AG's, Sport- oder Vorlesewettbewerbe, Konferenzen, Vertretungsunterricht, kopieren, Elternbriefe, Vorbereitung und Organisation von Klassenfahrten... Die Tage, an denen ich um 13 Uhr nach Hause gehen kann und einen freien Nachmittag zur Verfügung habe, muss ich mit der Lupe suchen. Im Schnitt arbeite ich sechsundfünfzig Stunden die Woche, von denen, freundlich gerechnet, achtundvierzig bezahlt werden. Dabei bin ich jeden Tag im Lehrerzimmer von sechzig, im Klassenraum von etwa dreißig Personen umgeben, von denen viele gleichzeitig etwas von mir wollen. In der großen Pause will Frau Schild mit mir über einen Schüler sprechen, Herr Nickel über einen Fehler im Stundenplan. Während Mathis mir freundlich zuwinkt, kräht Addolorata nach einem Kaffee, weil die 8b wieder so fürchterlich war. Draußen im Flur stehen Max, Thorben und Luis, um sich bei mir krankzumelden, Ebru will noch eben schnell ihre Hausaufgabe abgeben, und die neuen Fünftklässler haben sich auf der verzweifelten Suche nach dem Chemieraum verirrt.
Die vielen Ferien suche ich heute noch. Der einzige wirkliche Urlaub, den ich habe, ist der im Sommer. Und auch nur zum Teil. Zwei Wochen vor Schulbeginn fange ich mit der Vorbereitung an, manchmal habe ich Nachprüfungen, nicht zu vergessen die Konferenz vor dem ersten Schultag. Im Herbst, Ostern oder zu Weihnachten bin ich froh über ein paar freie Tage, um an Reihenvorbereitung und Korrekturen aufzuholen, was ich ohne Urlaub niemals schaffen würde. Ich liebe meinen Schreibtisch. Dort habe ich meine Ruhe, niemand fragt mich, wann ich denn endlich einen Mann finde (Lara), oder ob das mit dem ewigen Haarefärben wirklich sein müsse (Mams). Aber auch ich mag Freizeit. Elternsprechtage und Konferenzen müssen nach Unterrichtsschluss in den Nachmittag gelegt werden und ziehen sich oft bis in die Abendstunden. Und dass Lehrer dann keine Lust haben, auch noch die letzte Sommerferienwoche für Nachprüfungen zu opfern, kann jeder nachvollziehen. Ich behaupte nicht, dass wir mehr arbeiten als die Menschen in der freien Wirtschaft. Ich behaupte nur, dass wir mindestens genau so viel arbeiten, psychisch stärker gefordert sind als manch anderer und deshalb auch ein paar Wochen Sommerferien brauchen und verdienen. Denn wir sollen ja nicht nur unseren Job machen: Wir sollen ihn zudem fröhlich, engagiert und gern erledigen.
Heftig atmend warf sie den Stift auf den Tisch. Als sie sich etwas beruhigt hatte, ging es ihr schon etwas besser. Als ihr Therapeut ihr geraten hatte, ein Tagebuch über alles zu schreiben, was sie in der Schule frustrierte, hatte sie dankend abgelehnt. "Ich bin unter anderem hier, weil ich überarbeitet bin. Wann soll ich denn jetzt auch noch Tagebuch schreiben? Während ich auf dem Zahnarztstuhl sitze, oder wenn ich mit meiner Familie Kaffee trinke?" Aber ihr Therapeut hatte ihr vorgerechnet, dass man immer eine Viertelstunde für etwas wirklich Wichtiges erübrigen könne, und sie erstaunt sein würde, wie erlösend sich soetwas auf das eigene Wohlbefinden auswirke. Und tatsächlich, seit sie seinen Rat befolgte, kam sie mit ihrem Unmut besser zurecht. Sie wurde ihren Frust los, ohne jemandem wie Kim damit auf die Nerven zu gehen, und oft wirkten die Probleme kleiner, wenn man sie sich noch einmal durchlas. Seitdem trug sie ihr schwarzes Ragebuch immer mit sich und verwendete es bei jeder Gelegenheit. In einer Freistunde, in der Bahn, im Wartezimmer. Und sie hoffte und betete, dass sie es niemals in der Schule liegenlassen würde.
Als sie um vier Uhr wieder im Lehrerzimmer erschien, diesem kalten Betongefängnis in einem alten Plattenbau aus den Siebzigern mit grauen Wänden, dunklen Böden und grellen Lampen, lief sie fast Mathis über den Haufen, ihren Lieblingskollegen und Leihpapa. Nicht, dass man dieses Pädagogenurgestein wenige Jahre vor der Pensionierung über den Haufen rennen könnte. Wie immer freute er sich, sie zu sehen. “Schau mal in dein Fach", rief er und ging mit ihr zu Jennys Platz, "die Schulleitung will möglichst bis gestern eine Aufstellung der Lerninhalte Deutsch 10 haben wegen der zentralen Abschlussprüfungen. Ich hab schon mal was geschrieben, du kannst dir das für deinen Unterricht als Vorlage nehmen.” “Оh, danke!”, lächelte Jenny, als sie plötzlich lautstarkes Schimpfen vernahm: „Na prima. Als wenn wir sonst nichts zu tun hätten. Aufstellung über Lerninhalte in Englisch? Wofür das denn? Steht doch alles in den Lehrplänen, nach denen ich mich seit dreißig Jahren strikt richte. Ich schreib das doch alles nicht noch mal ab? Reine Schikane! Wie bei den Schildbürgern!“ Addolorata Schwan, ihres Zeichens Meckerziege mit einem geschätzten Geburtsdatum irgendwo zwischen den Weltkriegen war wieder mal in Topform. Während allein die schrille Stimme dieser Frau Jenny aggressiv machte, grinste Mathis nur breit. “Hey, Dori, mach dir doch keinen Kopf, kopier das Ganze und sag unserem Boss, du hättest dich 1:1 daran gehalten!“ Addolorata schoss mit einem verkniffenen Mund auf ihn zu. “Nenn mich nicht Dori, Mathis, du weißt ganz genau, dass ich das nicht wünsche.” Und dann rauschte sie an ihnen vorbei in Richtung Schulleitung. Man hörte ihr Gezeter noch aus dem Treppenhaus. Jenny sah Mathis an und rollte die Augen. Aber dann musste sie doch zugeben, dass sie Addolorata Schwan halbwegs verstehen konnte. “Als ich meinen letzten Freund Armin kennen lernte, war seine erste Reaktion auf meinen Beruf: “Och nee, nicht schon wieder eine Lehrerin.” Mathis lachte. “Nichts gegen dich, Schatz”, fuhr sie in Minchens Stimmlage fort, “aber ihr habt doch nie Zeit, seid ständig gestresst und nehmt den kompletten Schreibtisch in Beschlag.” Tja. was soll ich sagen? Ich habe nie Zeit, bin ständig gestresst und nehme den kompletten Schreibtisch in Beschlag.“ Jenny holte Luft. Dann sagte sie grinsend: „Naja, langer Rede kurzer Sinn: Ich glaub, Addolorata hat Recht: Wir sind Sklaven und können uns nur selber Leid tun.“ Mathis lachte grölend und ging zurück zu seinem Platz. Langsam füllte sich das Lehrerzimmer, in zehn Minuten würde die Konferenz beginnen.
Coco saß an ihrem Platz, vor sich ein Stapel Klausuren. Coco korrigierte immer. Vor dem Unterricht, nach dem Unterricht, und zwischendurch. Coco, oder vielmehr Charlotte Schneider, war Kim und Jenny eine gute Freundin geworden. Sie waren alle im selben Alter und teilten die Liebe zu Kunst und italienischem Essen. Coco unterrichtete Geschichte, Deutsch und Literatur. Da sie vorwiegend in der Oberstufe eingesetzt wurde, gab es immer einen Stapel langer Aufsätze zu korrigieren. Doch mit ihrer Ruhe und unangestrengten Autorität war sie Jennys uneingeschränktes Vorbild. Wenn Charlotte Schneider einen Klassenraum betrat, waren die Schüler still. Eltern kamen ihr selten dumm, und sogar Schoppi wirkte in Cocos Gegenwart kleiner als sonst. Im Gegensatz zu Kim, in deren energiegeladener Gegenwart sich Jenny immer ein bisschen gehemmt fühlte, tat Cocos in sich ruhende Persönlichkeit ihr gut. Jennys Blick fiel auf ein Arbeitsblatt, das vor ihrer Freundin lag. Anscheinend handelte es sich um eine Kurzgeschichte, in der es um ein Café ging. “Wie süß”, rief Jenny begeistert, “ein schickes It-Girl mit Lippenstift in der Hand. Sehr motivierend für Teenager.” Coco schaute verwirrt hoch, aber Kim, die hinter Jenny getreten war und über ihre Schulter lugte, sah genauer hin und erstickte Jennys Begeisterung im Keim. “Das ist eine Kommunion, das It-Girl ein Engel, und der Lippenstift eine Kerze.” Jenny ließ sich nicht so leicht überzeugen. “Kerzenflammen sind gelb, nicht rot.” Doch jetzt fügte auch Coco hinzu: “Eine Kommunion ist katholisch, Jenny. Die stehen auf glühendes Höllenfeuer.” Jenny dachte unwillkürlich an Anais, und verbiss sich eine Bemerkung. Sollte sie den Beiden erzählen, was sie erlebt hatte? Kim würde ihr sowieso nicht glauben. Anais war der Star ihrer Big Band und hatte bei ihrer Musiklehrerin einen Stein im Brett. Kim schwärmte ständig von der hochbegabten Anais, die es sicher mal weit bringen würde im Musikgeschäft. Jenny würde ihre Freundin nur gegen sich aufbringen. Am liebsten wollte sie gar nicht mehr an die ganze Sache denken und zog es vor, sich abzulenken. “Ich hab heut mal was Neues ausprobiert”, erzählte sie vom Unterricht in ihrer sechsten Klasse. „Ich hatte doch dort ein Mobbingproblem. In den Ferien habe ich mir Gedanken gemacht, und jetzt Kümmerteams gebildet-” “Kummerteams?”, witzelte Kim, doch Jenny ließ sich nicht unterbrechen. “Immer fünf Leute bilden ein Team. Jedes Teammitglied ist für alle anderen vier verantwortlich und muss sofort eingreifen, wenn jemand gemobbt wird.” “Кlingt toll”, nickte Coco, schrieb ein "gut" unter die letzte Arbeit und schloss ihren eleganten Füller. “Das heißt, dass keiner sagen kann 'das geht mich nichts an'. Außerdem trauen sie sich eher, sich einzumischen, weil sie zu viert sind." Sie dachte nach. "Aber was machst du, wenn sich innerhalb eines Teams die Leute verkrachen? Kann ja jederzeit vorkommen.” Jenny nickte. “Wir haben ausgemacht, dass die Teams auf unbestimmte Zeit so bleiben können, wie sie sind, dass die Kinder aber auch jeden Freitag in der Klassenleiterstunde ein neues Team bilden dürfen, wenn es nicht klappt. Mindestzahl ist vier, Höchstzahl sechs. Wie das dann genau ablaufen wird, und inwiefern das neue Probleme aufwirft, wird die Zeit zeigen.” Kim klopfte ihr anerkennend auf die Schulter. “Wir sind stolz auf dich!“ Jenny freute sich ehrlich. Ein Lob aus Kims Mund war selten. „LFE ist ein Griff ins Klo“, erzählte sie daraufhin in Plauderlaune, „mein neuester Vorschlag heißt Franz.“ Und sie berichtete, wie wenig sie von seinem Profil hielt. "Was soll ich machen, wenn der sich mit mir treffen will?" „Wieso willst du mit ihm schreiben, wenn du ihn jetzt schon doof findest?“, fragte Kim irritiert. „Das ist eine Partnerbörse, Jenny, niemand verlangt, dass du dich mit jedem triffst. Antworte einfach nicht. Du wirst schon nicht die einzige sein, mit der er in Kontakt steht“, fügte sie schnell hinzu, als Jenny ihre Miene verzog. Coco wandte ein: „Aber ich kann sie verstehen. Was ist gegen ein Treffen einzuwenden? Selbst wenn er nicht dein Traummann ist, hast du einen netten Abend zum Quatschen.“ Jenny seufzte. „Ihr habt keine Ahnung, wie anstrengend sowas ist. Man hofft immer wieder, dass man endlich seine große Liebe kennen lernt – und dann? Nix. Man sitzt da zwei Stunden in einem Restaurant, schweigt sich peinlich lächelnd an, redet über die nervenden Geschwister und will einfach nur weg!“ „Wieso machst du's dann?“, fragte Kim ungeduldig. Jenny schwieg. Ja. Wieso machte sie sowas? „Die große Liebe findet man nunmal nicht an jeder Straßenecke“, sprang Coco für sie ein. „Dafür muss man schon ein bisschen warten können. Du darfst nur nicht mit zu großen Hoffnungen in jedes Treffen gehen.“ Sie hielt inne. „Hast du Schoppi eigentlich schon von deinen Wettbewerbsplänen erzählt?“ Jenny berichtete von ihrem Gespräch mit ihm, malte es aber positiver aus, als es gewesen war, um vor Kim nicht wie ein Depp dazustehen. Coco lächelte und wollte gerade damit beginnen, eine Anekdote aus ihrem Geschichtskurs zu erzählen, als Kim an Jennys Ärmel hängen blieb und ihre Malblätter zu Boden fielen. „Schei-!”, holte sie aus, doch Jenny stoppte sie pflichtschuldigst. “Vorsicht! Keine Kraftausdrücke!” "Lass mich in Ruh”, brummte Kim, “ich bin Vollblutkünstler, ich bin eh nicht von diesem Planeten.“ Coco schlürfte ihren Kaffee. “Was sind das denn für tolle Sachen? Lehrerkarikaturen?” Interessiert griff sie sich ein Blatt aus dem Stapel und prustete los. “Lass das hier bloß unsere gute Frau Schwan nicht sehen", wisperte sie. "Willst du die Bilder etwa aushängen?” “Genial, was? Meret Grintmann, 9c. Wir haben uns alle weggeschmissen. Und ich hab ihr die 1+ auch nur versprochen unter der Bedingung, dass dieses Bild nicht im Internet oder sonst wo veröffentlicht wird.” Coco zog eine Augenbraue hoch. “Und wie willst du das verhindern?” Kim grinste. “Indem ich es behalten darf.” Coco lachte, wurde aber sofort wieder still, denn Schoppi betrat das Lehrerzimmer. Addolorata Schwan schob sich mit verkniffenem Mund hinter ihm zu ihrem Platz. Schoppenhauer, zu seinem Leidwesen mit zwei p geschrieben, statt mit einem wie bei seinem großen Vorbild, war seit zwanzig Jahren Rektor der Schule. Was seinen Unterricht und Schul-Management anging, ein hervorragender Schulleiter, in Bezug auf menschlichen Umgang hatte er allerdings Defizite. Er sah sich nicht, wie im Schulgesetz vorgesehen, als Ansprechpartner und Vertrauensperson seiner Lehrer, sondern in erster Linie Schülern und Eltern gegenüber verpflichtet. Seine Schule war ein Wirtschaftsunternehmen wie jedes andere. Eltern waren möglichst alle Wünsche zu erfüllen, damit weiterhin viele Kinder an seiner Schule angemeldet wurden. Wenn ein Schüler Mist baute und vom Lehrer erwischt wurde, war in Schoppis Augen der Lehrer dafür verantwortlich, Beweise für die Schuld des Schülers beizubringen, ansonsten stand Aussage gegen Aussage und er hatte beim Gespräch mit den Eltern nichts anderes in der Hand als die Behauptung eines Lehrers. Nicht, dass er diesem im Einzelfall misstrauen würde, aber letztendlich ging es ihm weniger um die Erziehung des Schülers, als um zufriedene Eltern.
Nach seiner Begrüßung gingen sie Punkt für Punkt auf der Konferenz-Liste durch. Punkt 1: Die Kolleginnen und Kollegen sollten sich zukünftig vor Klassenfahrten zusätzlich zur Planung auch noch selbst um die Vertretungen kümmern. Das hatte bisher immer der Stundenplankoordinator gemacht. "Lächerlich", schimpfte Addolorata. "Diese Prozedur macht doch wohl mehr Sinn in den Händen von Hans-Jürgen, weil der an seinem Computer den besten Überblick über die Unterrichtsstunden der Kollegen hat. Wir müssen uns die Infos mühsam zusammensuchen." Hans-Jürgen Meyer-Dietz ließ sich auch nicht einschüchtern. "Ich höre immer nur Entlastung, Entlastung. Ich will auch mal entlastet werden, weil diese ganze Tüftelarbeit am Computer immer mehr Zeit in Anspruch nimmt: Die mittlerweile aus allen Nähten platzenden Klassen benötigen pro Ausflug einen Lehrer mehr. Dadurch fällt auch mehr Unterricht aus, der vertreten werden muss. Und wenn ich mich dann ständig mit Kollegen herumschlagen muss, die sich rundweg weigern, zusätzlichen Unterricht zu übernehmen, ist es doch nur zu verständlich, dass ich darauf keine Lust mehr habe, oder?" Jenny fragte sich, ob er direkt auf Frau Schwan anspielte. "Außerdem sehe ich meine Familie kaum noch, die hat auch ihre Rechte." Jenny stimmte ihm innerlich zu. Die ewigen Sparmaßnahmen waren zum Kotzen. Sie bedeuteten einen Teufelskreis aus Ärger und Frust, der leicht mit ein paar zusätzlichen Stellenbesetzungen behoben werden könnte, aber dazu fehlte das Geld. Immer weniger Lehrer würden Ausflüge durchführen wollen. Ausbaden mussten das die, die am wenigsten dafür konnten, die Schüler. Die Schuld dafür bekamen die Lehrer in die Schuhe geschoben. Punkt Nummer zwei setzte sich mit dem Wunsch auseinander, mehr 'Social Media' in den Unterricht zu integrieren. Mathis und andere Kollegen arbeiteten schon lange an der Idee, Themen wie “Umgang mit Facebook und Twitter”, “Fotos im Netz” oder “Cybermobbing” im Unterricht zu behandeln. “Eine hervorragende Idee, nur leider nicht umsetzbar”, wie Schoppi sagte. “Das liegt natürlich nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, an Ihrer Unfähigkeit, sondern einfach an den fehlenden finanziellen Mitteln. Die Schule hat kein Geld für die Anschaffung eines Klassensatzes Tablets.” Jenny kam eine Idee. “Wäre es nicht möglich, einfach nur 15 davon zu besorgen – man kann ja auch zu zweit damit arbeiten?” Doch leider wurde das von den Informatikern heftig bestritten. “Wie soll man in Ruhe recherchieren oder Begriffe googlen, wenn der Mitschüler die ganze Zeit darauf wartet, dranzukommen?” Frau Ziegler hatte eine andere Idee. “Oder man holt die Eltern mit ins Boot. Die haben doch heutzutage fast alle ein Tablet zuhause. Und wer keins hat, bekommt eins von der Schule gestellt.” Doch Schoppi schüttelte den Kopf. “Das geht auch nicht. Erstens werden sich viele Eltern weigern, ihrem Kind ein solch teures Gerät mit in die Schule zu geben, zweitens müssen wir aus Rücksicht auf die sozial benachteiligten Kinder darauf verzichten. Die schämen sich doch, wenn sie sich kein eigenes leisten können.” Gereon, der Prachtpädagoge frisch von der Uni hob die Hand. Kim stöhnte. Böses Mädchen, dachte Jenny grinsend. “Ich sehe das Problem an einer ganz anderen Stelle. Ob eigene Geräte oder geliehene- wie will ich eine 30köpfige Klasse am Tablet unter Kontrolle halten? Bevor ich ihnen irgendwas erklären kann, spielen fünf schon Clash Of Clans, zehn sind in unanständige Seiten vertieft, und der Rest liest die Bildzeitung online. Computer kann ich kontrollieren, Tablets nicht. Ehrlich gesagt bin ich der Meinung, dass wir in diesem Rahmen – ich spreche von 30köpfigen Klassen, keinen Umgang mit dem Internet lehren können. Das ist wieder eine Sache, die die Eltern einfach bequem an uns abschieben wollen. Den verantwortungsvollen und vernünftigen Umgang mit dem Internet müssen sie ihren Kindern von Anfang an beibringen. Dann können wir weitermachen und spezielle Bereiche unterrichten.” Mathis erhob sich. “Wie willst du das anstellen, Gereon. Von den Eltern haben wirklich viele keine Ahnung vom Internet. Ich bin ja auch immer dafür, dass Papas und Mamas ihre Erziehungspflicht haben, aber irgendwo ist auch mal Schluss.” “Das sehe ich nicht so”, protestierte Coco laut, “wir können den Kindern hier nur Literatur näher bringen, wenn sie von zuhause Interesse am Lesen mitbringen. Sie kommen hier in Musik nur mit, wenn auch zuhause mal musiziert wird. Und wenn das Internet so eine große Rolle spielt und die Eltern das iPad liebend gern benutzen, um ihre Ruhe zu haben und das Kind davor zu parken, haben sie verdammt nochmal auch die Pflicht, ihnen den richtigen Umgang damit beizubringen. Ich habe die Nase gestrichen voll davon, dass wir ständig für die Erziehungsdefizite der Eltern herhalten sollen.” Beifälliges Gemurmel. Aber Coco war noch nicht fertig. „Außerdem daddeln die Kinder schon in ihrem Privatleben genug an den ganzen Geräten herum. Ich habe einen privaten Nachhilfeschüler, zu dem ich einmal in der Woche fahre. Wenn ich ankomme, legt er sein Handy aus der Hand, und am Ende der Stunde habe ich meine Unterlagen noch nicht ganz in die Tasche gepackt, da hat er sich schon wieder draufgestürzt. Die Mutter steht daneben, lächelt kläglich und sagt mitleidheischend: „Tja, da komme ich nicht gegen an.“ Ich bin der Meinung, wenn viele Eltern es nicht schaffen, diese Sucht ihrer Kinder in den Griff zu kriegen, müssen wir nicht auch noch auf diesen Zug aufspringen. In meinem Unterricht haben iPads, Handys oder Ähnliches nichts verloren.“ Mathis wollte etwas erwidern, doch Coco hob die Hand. „Ich habe ja nichts dagegen, dass man zum Beispiel als Klassen- oder Soziologielehrer über die Chancen und Gefahren des Internets aufklärt, und zuhause kann jeder soviel recherchieren, wie er will. Aber in meinem Unterricht will ich Inhalte vermitteln. Dazu brauche ich nur Ohren, Augen und Aufmerksamkeit der Schüler.“ Schoppi hob die Hand. “Ich sehe schon, dass wir hier heute keine Einigung erzielen werden” Jenny runzelte irritiert die Stirn. Einigung? Worüber? Sie musste wirklich aufpassen, dass sie nicht einschlief. Mit 60 Leuten in einem Raum wurde die Luft schnell stickig, und man versank bei diesen ganzen Diskussionen, die wichtig waren, aber zu keinem Ergebnis führen würden, schnell in so einen angenehmen Nebel der Entspannung. “Herr Wendt hat mit ein paar Kollegen ein Team gegründet, das sich in den nächsten Wochen mit dem Thema auseinandersetzen wird, und wir werden uns auch am pädagogischen Tag nochmal darüber unterhalten.” In der Pause trat Schoppenhauer plötzlich hinter Jenny, und sie schreckte hoch. „Frau Stila, mir liegt eine Elternbeschwerde vor“, kam ihr Chef ohne Umschweife auf den Punkt. „Der Vater von Patricia Kampfeld aus Ihrer 6 hat mich gerade angerufen, er bat um ein Gespräch mit Ihnen in meinem Beisein. Es geht darum, dass sich das Mädchen von Ihnen wohl ungerecht behandelt und vorgeführt fühlt.“ Jenny stockte der Atem. Was? Wieso das denn? Doch sie hatte gar keine Zeit nachzudenken: „Wäre Ihnen morgen um 13.15 Uhr in meinem Büro recht? Laut Stundenplan haben Sie zwar schon um 12 Uhr frei, aber vorher bin ich leider außer Haus.“ Jenny nickte. „Ja, natürlich“, beeilte sie sich zu sagen. Schoppi bedankte sich und eilte in sein Büro. Was war denn bloß passiert? Sie war sich wirklich keiner Schuld bewusst! Patricia hatte während der heutigen Doppelstunde nicht den Eindruck erweckt, dass sie etwas bedrückte. Das Mädchen war generell sehr zurückhaltend, aber so sehr Jenny sich den Kopf zerbrach – ihr fiel nichts ein, kein Vorfall, kein Vorwurf von beiden Seiten, nichts.