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Kapitel 2 „Ist Latein als Schulfach überhaupt noch zeitgemäß?“ Schlagzeile einer bekannten Tageszeitung

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Jenny war ein Naturtalent darin, sich frühmorgens schon verrückt zu machen mit Schreckensereignissen, die sie am Tag treffen könnten: Eine verspätete Bahn, freche Schüler oder ein kaputter Kopierer. Ein Brief vom Finanzamt könnte sie mit der Forderung überraschen, 2376 Euro nachzahlen zu müssen, oder ihre 30 Jahre alte Küche explodierte und das Haus ging in Flammen auf. Ihr Therapeut hatte ihr sogenannte „Mantras“ mit auf den Weg gegeben, die ihr helfen sollten, sich von dieser Grübelei zu befreien, doch um vier Uhr war sie einfach noch zu müde für den Kampf 'Denken gegen Grübeln'. Heute malte sie sich aus, mit welchen Vorwürfen Ehepaar Kampfeld sie wohl konfrontieren würde. Sie versuchte sich mit der Überlegung abzulenken, welche Handtasche sie heute mitnehmen würde, aber nicht mal das klappte. Jenny liebte Handtaschen und hatte viele. Egal, mit welcher Absicht sie shoppen ging, meistens kam sie mit einer neuen Handtasche nach Hause. Die eine machte sie mehr, die andere weniger glücklich, und Jenny war immer noch auf der Suche nach ihrer Traumhandtasche, einem butterweichen Stück aus stabilem Leder, mit mehreren großen Innenfächern und Außentaschen mit hübschen Schnallen, gerne auch Fellapplikationen. Beige, grau oder hellblau, das wirkte edel und passte zu allem. Doch als sie gedanklich wieder bei den Kampfelds angekommen war, gab sie auf, kochte Kaffee und ging mit ihrem blöde dreingrinsenden „Good Morning!“-Becher ins Bad. Wenn sie sich den strengen Eltern gegenüber schon wie ein kleines Schulmädchen fühlte, wollte sie wenigstens aussehen wie eine souveräne Lehrerin. Als sie dann zur ersten Stunde ihre Klasse betrat, fühlte sie sich schon besser. Sie versuchte heimlich Patricia zu beobachten, doch nichts fiel ihr auf, das Mädchen benahm sich völlig normal, meldete sich sogar zweimal und verhielt sich wie immer. Mittags griff Jenny dann nach ihrem schicken schwarzen Unterrichtsplaner aus glänzendem Leder mit sämtlichen Notizen und eilte ins Direktorat. In der Eingangshalle traf sie schon auf Patricia und ihre Eltern. Sie begrüßte die drei freundlich, und während Patricia und ihre Mutter nicht zu wissen schienen, wohin sie schauen sollten, reckte Herr Kampfeld kampfbereit sein Kinn. Zumindest war jetzt klar, von wem der Ärger ausging.

Schoppi bat sie herein, und nach einer kurzen Begrüßung erteilte er Ehepaar Kampfeld das Wort. Während der Vater loslegte, blickte seine Frau zu Boden. Das irritierte Jenny. Bisher hatte sie Patricias Mutter als fröhliche, selbstbewusste Frau kennen gelernt. Vermutlich war ihr Mann nie dabei gewesen. „Das Problem, Frau Stila, ist, dass sich unsere Tochter seit einiger Zeit von Ihnen vorgeführt und ungerecht behandelt fühlt.“ Jenny schoss das Blut in die Wangen, sie konnte nichts dagegen tun. Als ob sie Schüler vorführen würde. Jenny Stila, die sich für Mobbingopfer einsetzte, weil sie ganz genau wusste, wie es war, nicht dazuzugehören. Die jede Klassenleiterstunde für Gespräche und Spiele nutzte, durch die sich das Klassenklima verbesserte. Sie war doch nun wirklich die Letzte auf diesem Planeten, die Schüler quälte. Herr Kampfeld fuhr fort. „Sie haben wohl gestern eine neue Sitzordnung eingeführt, und Patricia ist das einzige Mädchen, das allein sitzt. Wohl nicht ganz allein, Sie haben ja jetzt Gruppentische, aber sie hat zumindest niemanden direkt neben sich sitzen. Des weiteren haben Sie wohl von drei Schülern, auch unserer Tochter, die Hausaufgaben eingefordert und vor versammelter Mannschaft besprochen. Sie wissen ja sicherlich, dass Patricia ein großes Problem mit der Rechtschreibung hat, so dass sie so natürlich der Häme ihrer Klassenkameraden ausgeliefert war. Verstehen Sie uns nicht falsch", fügte er mit einem kurzen Seitenblick auf seine Frau hinzu, deren Blick immer noch am Boden festzukleben schien, „wir sind hier, um das zu klären. Bisher war Patricia sehr zufrieden mit Ihnen, umso enttäuschter ist sie jetzt. Und da ich schon oft in der Grundschule Lehrer erlebt habe, die langsamere oder leistungsschwächere Kinder einfach fertig machen, möchte ich dem rechtzeitig entgegenwirken, bevor Patricia sowas erneut durchmachen muss.“ Schoppi nickte und gab das Wort an Jenny weiter. Sie hatte die ganze Zeit Patricia beobachtet, und das Kind tat ihr furchtbar Leid. Musste das peinlich sein. Vermutlich war sie gestern wirklich etwas traurig gewesen und hatte davon zuhause erzählt. Statt sie zu beruhigen, war der Herr Papa dann sofort losgepoltert, statt erstmal die Lehrerin anzurufen, um zu erfahren, wie sich die ganze Sache aus Jennys Sicht verhielt. Sie versuchte ruhig zu bleiben, hatte Mühe, ihren Frust zu kontrollieren. „Gut, kommen wir zunächst mal zur Sitzordnung.“ Jenny hielt das Planungsblatt aus ihrer Agenda hoch mit 27 Namen und hunderten von Pfeilen in verschiedenen Farben. „Den Plan hier habe ich angefertigt, um möglichst alle Schüler zufrieden zu stellen“, erläuterte sie mit leicht zitternder Stimme. „Ich saß sehr lange dran und habe mich am Schluss gefreut, eine Lösung gefunden zu haben, die gewährleistet, dass niemand mit jemandem an einem Tisch sitzen muss, den er gar nicht mag, und dass jeder mindestens neben einem Freund sitzen kann. Und an einem Gruppentisch“, sie wandte sich nun lächelnd an Patricia, „zählt für mich auch „über Eck“ zu „nebeneinander“. Das hat doch mit allein setzen oder benachteiligen nichts zu tun? Amrei sitzt direkt neben dir, ihr könnt miteinander quatschen, zusammen arbeiten und euch eure Stifte teilen, also wenn ich jetzt auch noch anfangen soll, jedem seinen Lieblingsplatz zu geben, dann komme ich nicht mehr zum Unterrichten, Patricia“, wurde Jenny am Schluss doch etwas laut. Das Mädchen nickte.

Jenny mahnte sich zur Ruhe. „Jetzt zu den Hausaufgaben.“ Sie blickte Patricias Vater kampfbereit in die Augen. „Erstens ist Patricia für mich ganz sicher nicht „die Schlechteste der Klasse“, wie kommen Sie darauf? Die Arbeiten waren alle gut oder befriedigend, mündlich steht sie ähnlich. Außerdem finde ich, dass es den Lerneffekt steigert, wenn wir die eigenen Schülertexte korrigieren und nicht fremde aus dem Lehrbuch. Natürlich hätte ich fragen können, aber mir war wirklich nicht klar, dass das für Patricia so ein Problem darstellt. Darüber hinaus hatte sie wenige Fehler, und als diese blöde Bemerkung von Ruben kam“, wandte sie sich an Patricia, „kannst du dich sicher noch daran erinnern, dass ich ihn ganz schön zurecht gewiesen habe.“ Jenny sah Herrn Kampfeld erneut direkt in die Augen. „Es liegt mir völlig fern, Schüler vorzuführen oder absichtlich zu benachteiligen. Sollte der Eindruck entstanden sein, tut es mir sehr Leid, lag aber wirklich nicht in meiner Absicht. Und in Zukunft würde ich mich freuen, wenn Sie bei solchen Problemen direkt zu mir kämen oder, noch besser, Patricia, du das Vertrauen hättest, mir das selbst zu sagen. Ich reiße wirklich niemandem den Kopf ab, der sich falsch behandelt fühlt. Aber verbessern kann man eine Situation nur, wenn man sie anspricht.“ „Danke, Frau Stila,“ wurde sie von Schoppi unterbrochen, „dem kann ich mich natürlich nur anschließen. Wenn erstmal solch ein Missverständnis entsteht, kann es schnell passieren, dass man auch viele andere Dinge falsch interpretiert“, er strahlte die Eltern gewinnend an, „und Frau Stila hat, denke ich, zum Ausdruck gebracht, dass ihr die ganze Angelegenheit außerordentlich Leid tut.“ Alle standen auf und verabschiedeten sich, auch Herr Kampfeld gab Jenny die Hand. Schoppi ließ sich sogar dazu herab, seiner Mitarbeiterin viel Erfolg bei ihren Proben zu wünschen. Vermutlich war heute sein „Ein Herz für Lehrer“- Tag. Als Jenny zurück ins Lehrerzimmer ging, fragte sie sich, warum sie sich trotzdem so unwohl fühlte. Sie hätte es weitaus besser gefunden, wenn Schoppi ihr „Leidtun“ weniger betont hätte. Sie bereute ja nicht ihr Handeln an sich, sondern den Eindruck, der dadurch entstanden war. Und wenn Schoppi die Eltern dann noch freundlich darauf hingewiesen hätte, dass es die feinere Art ist, direkt mit dem Klassenlehrer zu sprechen, statt ihn gleich vor den Direx zu zerren, hätte sie sich auch nicht beschwert.

Jenny atmete tief durch. Patricia machte sie überhaupt keinen Vorwurf und nahm sich fest vor, ihr das im Unterricht zu zeigen, auch wenn das alles andere als leicht werden dürfte. War sie besonders nett, stand zu befürchten, dass Patricia ein schlechtes Gewissen dahinter vermutete und sie nicht mehr ernst nehmen würde. War sie streng, musste sie sofort wieder Angst haben, dass bei Patricia oder bei ihren Eltern eine falsche Botschaft ankam. Sie beschloss, das alles zu vergessen und sich so normal wie möglich zu benehmen.

Dementsprechend fühlte sie sich in den folgenden Tagen in ihrer Klasse recht unsicher. Rubens zunehmend aufsässiges Verhalten war da auch nicht besonders hilfreich. Der Junge, der Patricia Kampfeld so sehr verunsichert hatte, entwickelte sich langsam zu einer echten Nervensäge. Papa Lichter war Pfarrer, Mama Lichter gab Seminare zum Thema Lebensgestaltung. Man hätte also meinen können, er sei ein besonders ausgeglichenes und soziales Wesen. Weit gefehlt. Der Junge war sehr klug, keine Frage, besaß für seine elf Jahre eine beeindruckende Allgemeinbildung, besonders, was Erdkunde und Geschichte betraf, schrieb hervorragende Aufsätze und stand in fast jedem Fach 1. Aber er ließ auch jeden wissen, wie begabt und intelligent er war. Und die Freunde, die er mit Humor und Abenteuerlust leicht gewann, verprellte er schnell durch seine besserwisserische Art. Ruben wusste nie, wann es Zeit war, den Mund zu halten. Heute war er mal wieder in Bestform. Nachdem er zum dritten Mal einen abschätzigen Kommentar in die Klasse hineingerufen hatte, reichte es Jenny. „Ruben, wenn du dich melden möchtest, hebst du deinen Finger wie alle anderen in der Klasse auch!“ - „Aber ich hab mich doch die ganze Zeit gemeldet, und Sie nehmen mich nicht dran!“, erwiderte er ungerührt. Jenny hob die Braue. „Woran könnte das liegen. Vielleicht daran, dass sich auch neun andere gemeldet haben, die ein Recht darauf besitzen, aufgerufen zu werden?“ - „Aber mich haben Sie nicht drangenommen.“ „Ruben, jetzt halt doch mal die Klappe“, zischte ihm sein Tischnachbar zu. Jenny nickte und versuchte ihn bei seiner Ehre und seinem logischen Denkvermögen zu packen. „Ruben. Überleg mal. Wir haben 45 Minuten Unterricht, ihr seid 27 Schüler. Wenn man die Stillarbeit oder Gruppenarbeit sowie meine Vorträge abzieht, bleiben vielleicht 20 Minuten übrig, das heißt, jeder Schüler hätte ein, zweimal die Gelegenheit, drangenommen zu werden. Und ich möchte jedem dazu die Chance geben. Das heißt, dass ich eben manchmal zuerst die aufrufe, die sich sonst weniger beteiligen.“ Ruben überlegte. „Das heißt, wenn ich zweimal was gesagt habe, brauche ich mich für den Rest der Stunde nicht mehr melden, weil ich eh keine Chance habe?“ Die eine Hälfte der Klasse lachte, die andere stöhnte, und Patricia hob geringschätzig die linke Augenbraue. Jenny musste sich das Grinsen verkneifen. Sie hatte ihn mit Logik packen wollen und eine absolut logische Antwort erhalten. "Nein, Ruben. Denn auch wenn ich dich nur zweimal zu Wort kommen lasse, merke ich mir trotzdem, ob du dich nur zweimal, oder zwanzig Mal gemeldet hast.“ „Okay“, sagte er zustimmend, „damit kann ich leben.“ Jennys Blick huschte zu Patricia, doch die war mit ihren Stiften beschäftigt.

Als sie in der Pause auf ihr Handy sah, stellte Jenny panisch fest, dass Mams bereits fünfmal angerufen hatte. Himmel! War was passiert? Mit mulmigen Gefühlen tippte Jenny die Nummer in die Tasten. "Hallo, mein Schatz", klang Mams' Stimme gedehnt. "Kann ich dich in einer Stunde zurückrufen? Bin gerade mit Charlotte auf dem Weg in die Sauna." Charlotte war Mams' Nachbarin und beste Freundin. Und sie liebten die Sauna. "Man kann den ganzen Dreck das Alltags tüchtig ausschwitzen", pflegte sie zu sagen. Jenny war irritiert. "Du hast mich fünfmal angerufen", stellte sie fest. Das klang alles nicht nach Notfall. "Du bist aber auch schwer zu erreichen", erwiderte Mams leicht vorwurfsvoll. "Ich hatte Unterricht? Da mache ich immer mein Handy aus. Was ist denn los?", fragte Jenny ungeduldig. "Nichts Schlimmes. Lara plant ein Grillfest im August und möchte wissen, ob du auch Geflügelwürstchen magst." Jenny rieb sich die Stirn. Mams rief sie während der Arbeitszeit fünfmal an, um zu fragen, was sie auf einem Grillfest essen wollte, das etwa in einem halben Jahr stattfand und von ihrer Schwägerin organisiert wurde, die ihr auch eine SMS schicken konnte? "Ich muss jetzt Schluss machen. War ja auch nicht so wichtig", wiegelte Mams ab, "ich wollte dich nicht stören, weshalb schaltest du dein Handy nicht einfach ab?"

Jenny ging zur Toilette. Die erste Lateinstunde nach dem Zusammenstoß mit Anais stand bevor, und sie hatte Bauchschmerzen. Wie würde das Mädchen sich wohl verhalten? Jenny zwang sich, auf Horrorvorstellungen diesbezüglich zu verzichten. Es waren ja noch ein paar andere Schüler im Kurs und Anais hatte sicher Besseres zu tun, als sich mit ihrer Lehrerin anzulegen. Jennys Zwölfer-Lateinkurs bestand nur aus 21 nahezu erwachsenen Schülerinnen und Schülern, mit denen zu arbeiten bisher riesigen Spaß machte. Sie mochten das Fach und hatten es fast alle gezielt gewählt. Die wenigen, die Latein machten, um genug Stunden zu haben, wie Harkan oder Tabea zum Beispiel, waren nicht besonders leistungsstark, aber nett. Schon als kleines Mädchen hatte Jenny den Kinderbuchklassiker „Nesthäkchen“ verschlungen. Wie die Heldin, Annemarie Braun, hatte sie den großen Bruder Hans, „der schon Latein konnte“, bewundert. Latein war für sie seit damals der Inbegriff von hoher Bildung. Ihr Spaß am Auseinandertüfteln der Formen und grammatischen Strukturen hatte nie nachgelassen, und so hatte sie beschlossen, das Fach zu unterrichten, und sie hatte sich an der Schule den Ruf erarbeitet, endlich mal eine Lateinlehrerin zu sein, die der „toten“ Sprache Lebendigkeit einhauchen kann. Dementsprechend wütend machte sie die neueste Diskussion in verschiedenen Fachzeitschriften zum Thema "Ist Latein noch ein zeitgemäßes Unterrichtsfach?" Jenny wühlte in ihrer Tasche, griff nach ihrem Ragebuch und betätigte noch einmal die Spülung. Dann suchte sie fieberhaft nach ihrem Stift, der irgendwo in der Tasche herumkullern musste. Sie fand ihn und schrieb sich ihre Magenkrämpfe von der Seele: Die Welt ist heute Casting. Im Fernsehen wird alles gecastet vom Sänger bis zur Bauersfrau, sogar Haarfärbemittel heißen so. Weshalb nicht ein Casting für Schulfächer veranstalten? Die, die von einer größtenteils attraktiven aber ahnungslosen Jury gewählt werden, dürfen weiterhin unterrichtet werden. Mathe und Englisch kämen vermutlich ziemlich weit, aber was müsste Latein sich anhören? Also weg damit? Natürlich kann man die fehlenden Kenntnisse im Bedarfsfall an der Uni nachholen, aber was man in der Schule über mehrere Jahre verteilt gemütlich lernen kann, muss man sich an der Uni in einem Semester einpauken. Außerdem ist Latein eines der leichtesten Fächer überhaupt. Das Thema ist immer dasselbe - Krieg und Politik -, es gibt kaum Ausnahmen von den grammatischen Regeln, und um die korrekte Aussprache muss man sich auch keine Sorgen machen. Nur weil die Masse kein Interesse mehr an Bildung hat, soll man mit Latein tabula rasa machen? Schon Einstein erkannte, dass die Masse nicht unbedingt Recht hat. Sämtliche Begriffe der deutschen Grammatik stammen aus dem Lateinischen, Latein trainiert Selbstdisziplin und vermittelt Einblicke in die Grundlagen von Kultur, Politik und Philosophie. Wer sich die Mühe macht, mal in die Bücher seiner Sprösslinge zu schauen, wird feststellen, dass die heutigen Lektionen auf Spaß am Umgang mit Geschichte ausgerichtet sind. Ach so, Bücher, daran hakt's. Aber vielleicht traut sich ja doch nochmal jemand, eins in die Hand zu nehmen. Blättern, nicht wischen.

Es klopfte. "Hallo? Ist da jemand drin?", ertönte Addoloratas schrille Stimme. "Ich komme schon!", beeilte Jenny sich zu sagen, ließ Buch und Stift in die Tasche gleiten und griff nach dem Toilettenpapier.

Anais Hackman, die immer perfekt zurechtgemachte, wohlerzogene Tochter aus gutem Hause, die ausschließlich Einsen und Zweien schrieb, hatte in allen Klassenstufen Fans, weil sie toll aussah und singen konnte wie ein Popstar. Die Fünftklässlerinnen wollten werden wie sie, die weiblichen Teenager wollten aussehen wie sie, und die männlichen Teenager träumten von einem Date mit ihr. Das war die Seite, die die meisten kannten. Die andere Seite erlebten nur die, die Anais nicht die von ihr gewünschte Wertschätzung entgegenbrachten. Dessen war Jenny sich sicher. Sie hatte die allseits beliebte Anais schon öfter dabei ertappt, wie sie schlecht über andere redete. Und ihren arroganten Gesichtsausdruck konnte sie überhaupt nicht leiden. Bisher hatte Jenny das für sich behalten, doch ihre finstere Miene vor ein paar Tagen hatte Anais vermutlich deutlich gemacht, was sie von ihr hielt. Eine solche Entgleisung wie da passte absolut nicht zu Anais' „Everybody's Darling“ - Image. Fairerweise musste Jenny zugeben, dass sie sich ihrer eigenen Motive nicht sicher war. Machte sie aus einer Mücke einen Elefanten? War sie vielleicht nur bei Anais extrem empfindlich, weil sie das Mädchen ablehnen wollte? Nach dem Zwischenfall im Flur würde sich Jenny zukünftig vor möglichen Angriffen und kleinen Spitzen wappnen. Klammheimlich, nur für sich, machte sie aus Anais' Nachnamen ein "Hagman“, in Anlehnung an den großartigen Vater aller Fieslinge aus der Serie „Dallas“. Als sie mit der Lateinstunde begann, war alles wie immer. Nur wenn sie Anais drannahm, grummelte es in ihrem Bauch. Waren ihre Antworten ein bisschen spitzer als sonst? Lächelte sie ihre Lehrerin geringschätzig an, wenn keiner hinsah? Jenny ermahnte sich. Anais' Verhalten und Denkweise konnte sie nicht beeinflussen, sie konnte nur sich selbst kontrollieren und sich dazu zwingen, freundlich und distanziert zu bleiben, wie es sich für eine Lehrerin gehörte.

Sie schrieb „Ablativus absolutus“ an die Tafel und erklärte: „Der Ablativus absolutus heißt so, weil er absolut gelernt werden muss.“ Sie machte eine kleine Pause, um ihren Witz wirken zu lassen. „Wer jetzt nicht gegrinst hat, sollte die Lektionen dazu nochmal dringend wiederholen, das war Stoff der neunten Klasse", fügte sie hinzu. „Ich hatte letzte Stunde das Gefühl, dass wir dieses Thema doch nochmal kurz auffrischen sollten...“ „Oh ja“, stöhnte Harkan. Jenny lächelte. „Na, dann mal los, weshalb heißt das Ding 'Ablativus absolutus'? Falk?“ Der große Blonde mit dem sympathischen Lächeln erklärte: „Absolutus ist das Partizip Perfekt Passiv von absolvere, loslösen. Der ganze Begriff bedeutet also 'losgelöster Ablativ'." Er stockte. „Soll ich weiter machen?“ Jenny dankte ihm und nahm die schwarz gelockte Ebru dran. „Wovon losgelöst, Ebru?“ „Vom restlichen Satz. Man übersetzt die zwei, drei Wörter als eigenständigen Nebensatz.“ „Wer hat ein Beispiel aus der Hausaufgabe?“, fragte Jenny. „Anais?“ Madame lächelte kühl. „Caesare occiso Roma maesta erat. Das 'Caesare occiso' ist der Ablabs und wird übersetzt mit 'Nachdem Caesar getötet worden war', dann kommt der Hauptsatz 'war Rom traurig'.“ Sie schaute dabei nicht in ihr Heft. Hatte es noch nichtmal aufgeschlagen. „Das war zwar nicht ganz der Satz aus dem Text, aber die Erklärung war richtig. Ja, Lilian?“ „Ich hab da mal ne Frage, ich hab das Ganze mit weil übersetzt“, sie las ihren Satz vor. Jenny nickte. „Das geht auch.“ Harkan schnaufte. „Hä?“ Sie drehte sich zur Tafel. „Je nach inhaltlichem Zusammenhang kann man den Ablabs mit „weil“, „als“, oder sogar mit „obwohl“ übersetzen.“ Sie schrieb Stichpunkte an die Tafel. „Aber woher weiß ich denn, welche Übersetzung die richtige ist?“, fragte Harkan verzweifelt. „Tja“, Jenny sah ihn mitfühlend an. „Indem man den Rest übersetzen kann und dann erkennt, welcher Zusammenhang den meisten Sinn macht.“ Harkan nickte. „Ich bin tot.“ Jenny schüttelte den Kopf. „Nein, Harkan, du bist nicht tot. Du kannst nur kein Latein. Aber mach dir nichts draus, ich helfe dir, und Ebru hilft dir auch.“ Das Mädchen nickte und wuschelte ihm durch die Haare. Die beiden waren seit zwei Jahren ein Paar und Ebru hatte ihrem Freund fest versprochen, ihn mit durchs Abi zu schleppen. „Welcher Vollpfosten macht eigentlich die Lehrpläne“, maulte Harkan. „Was interessiert mich in meinem zukünftigen Leben Latein? Cäsars Kriege oder Catilinas Reden? Oder war es Cicero?“ Er sah seine Lehrerin genervt an. „Wieso lernen wir überhaupt soviel Bockmist an der Schule, wenn wir ihn doch eh nie brauchen werden?“ „Woher willst du das jetzt schon wissen?“, knurrte Falk. „Die Gesellschaft hat sich auf ein Bildungsangebot geeinigt, das dich nach dem Abitur dazu befähigt, jede Ausbildung deiner Träume zu beginnen. Ob du dann Autoschlosser wirst oder Medizin studierst, bleibt dir überlassen.“ Harkan schnaubte. „Außerdem steigt dein Selbstwertgefühl, wenn du feststellst, dass du auch schwierige Aufgaben lösen kannst!“, versuchte ihn seine Freundin aufzumuntern. Harkan konnte sich nicht verkneifen, zu erwidern: „Und das kommt ausgerechnet von Frau Ich-kann-kein-Mathe“. Fragend sah sich Jenny im Kurs um. „Hat jeder den Text von der Tafel abgeschrieben?“ Keine Widerrede. Anais saß immer noch mit verschränkten Armen lächelnd da, vor sich ihr geschlossenes Heft. Jenny fragte mutig: „Was ist mit dir?“ Anais lächelte, anscheinend verwirrt. „Nein, danke, ich kann das schon, und zur Not steht es ja im Buch.“

In der kurzen Mittagspause holte Jenny ihre Lieblingstasse aus dem altmodischen Küchenschrank. Mit ihrem Kaffee setzte sie sich vor einen der speckigen Computer im Hinterzimmer und schrieb an Rubens Mutter. Sie hielt die Mail kurz und frei von Vorwürfen, betonte nur, dass es ihre Pflicht sei, seine Eltern darüber aufzuklären, dass Ruben im Moment etwas über die Stränge schlage und nicht mehr so ganz wisse, wo denn seine Grenzen seien. "...Natürlich bin ich gerne dazu bereit, ihm diese aufzuzeigen, doch bitte ich dabei um Ihre Mithilfe..." Rubens Mama war die Klassenpflegschaftsvorsitzende in ihrer Sechs und damit Jennys Ansprechpartnerin, wenn es um Ausflugsorganisation ging, Elternabende oder die Klassenkasse. Sie unterstützte Jenny, wo sie nur konnte. Deshalb hatte sie keine Skrupel, Frau Lichter auch mal unerfreuliche Mitteilungen zu senden. Die Dame kannte ihren Sohn. Nach „herzlichen Grüßen“ sendete Jenny die Mail ab, schnappte sich ihre Unterlagen und lief hinunter in die Aula. Die Schule hatte im Umland einen guten Ruf, was Theater- und musikalische Projekte anging. Sie verfügte über einen hervorragenden Gospelchor, eine Theatergruppe, die Jenny leitete, und die Big Band, die Kim Chapelles ganzer Stolz war. Kim hatte seit ihrem ersten Tag am Schiller-Gymnasium aus einer kleinen Truppe fürchterlich quietschender Saxophonisten und wild herumhämmernder Schlagzeuger eine Band aufgebaut, die in der Umgebung ihresgleichen suchte. Jedes Jahr am Ende des Schuljahres gab die verschworene Gemeinschaft in der Aula ein Konzert mit Jazzstücken verschiedener Epochen, umgeschriebenen Filmmusikhits und musicalreifen Gesangseinlagen. Nichts, was Talent hatte, war vor Kim sicher. Sie soll sogar bereits mit Zensuren gehandelt haben, um Musiker für ihre Projekte zu verpflichten. Der Lohn war jedes Jahr eine dreimal bis zum Bersten gefüllte Aula, mehrere aufregende Abende mit Musik, eine Menge stolzer Schüler und Eltern und ein glücklicher Schulleiter. Jenny hatte sich aufs Theater spezialisiert und leitete eine Gruppe von zwölf etwa Siebzehnjährigen, die zu einer sehr fröhlichen Truppe zusammengewachsen war. Ihre Aufführung würde wie jedes Jahr im Mai stattfinden, sie befanden sich gerade in der emotional hochexplosiven Probenendphase, in der manchmal alles klappte, manchmal aber auch gar nichts. Der Grat zwischen Shakespeareniveau und Privatfernsehen am Nachmittag war sehr schmal. Aber Jenny machte das Ganze riesigen Spaß, außerdem hielt sie Theaterspielen an Schulen für extrem wichtig. Nicht nur einmal hatte sie Schüler erlebt, die im Unterricht den Mund nicht aufbekamen, aber auf der Bühne aufblühten. Schüler, die im Alltag durch aggressives Verhalten auffielen und sich in einer Theatergruppe problemlos in ein Team eingliedern und ihre Energie in grandiose Auftritte verwandeln konnten. Und es schadete auch den Kollegen nicht, den Stillen aus der vierten Reihe, der kein Mathe konnte, mal zu erleben, wie er vor 500 Menschen einen Monolog über Freiheit hielt, der sich gewaschen hatte. Leider mussten Kim und Jenny jedes Jahr feststellen, dass es nur eine Handvoll der immer gleichen Kolleginnen und Kollegen war, die ihre Veranstaltungen besuchten. Natürlich hatten sie alle genug zu tun und waren froh, wenn sie nicht auch noch abends in die Schule mussten. Aber dadurch verpassten sie, wie viele Exemplare der oft abschätzig zitierten "heutigen Jugend" gern sehr viel Freizeit opferten, um Musik zu machen, Text zu lernen oder sich hingebungsvoll auf dem Bühnenboden zu wälzen. In einigen Wochen würde der langersehnte Theater-Wettbewerb beginnen, den zwei Mitarbeiter der städtischen Bühnen, meist aus den Bereichen Dramaturgie oder Regieassistenz, betreuen würden. Sie sahen sich verschiedene Beiträge an und am Ende kürten sie das Gewinnerteam. Während die Schüler das Ganze sehr sportlich sahen, wollte Jenny der Schule und ganz besonders Schoppi zeigen, dass Kim nicht der einzige Stern am Lehrerhimmel war, der dem Gymnasium gute Publicity einbrachte. Sie wollte endlich auch einmal beweisen, was in ihr steckte. Denn während Kims Konzerte immer nahezu überfüllt waren, verirrten sich in Jennys Vorstellungen nur halb so viele Leute, und sie grübelte ständig, wie sie das ändern könnte. Jetzt saßen alle gemeinsam auf dem schwarz glänzenden Boden, um das Bühnenbild zu besprechen. Manon Driesch, eine hübsche Halbfranzösin mit schwarzem Pagenkopf, schlug vor: „Es würde doch super passen, wenn das Bühnenbild klar den Inhalt des Stückes wiedergeben würde. So, wie die Handlung in Akt eins und zwei in sich spiegelverkehrt aufgebaut ist, könnte man auch das Bühnenbild stellen. E-“ „Hast du'n Hau?“, fragte Gemma, die eine der Hauptrollen spielte, „das wird ja mega Arbeit. Also, ich muss noch voll viel für Bio lernen und pinsele gerne drei Türen an, aber ganz bestimmt nicht sechs.“ "Lass Manon doch mal ausreden“, mischte Jenny sich kurz ein. Gemma blies sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht und zog ihren viel zu dicken Pullover über den Kopf. „Ja, 'tschuldigung. Mir ist so warm“, dann grinste sie Manon an. Die fuhr fort: „Wir müssen nichts Zusätzliches basteln, glaub ich jedenfalls, nur in der Pause austauschen. Die rechte und linke Tür jeweils, Sessel, Bild, Lampe. Wir lassen den Vorhang geschlossen, dann haben wir mehr als genug Zeit bei 20 Minuten Pause. In der Zeit muss sich niemand großartig umziehen.“ „Doch, Falk“, krähte Pavel, der selbsternannte Spaßvogel der Truppe, „der hat solche Käsefüße, der muss duschen gehen.“ Alle stöhnten. Falk würdigte ihn keines Blickes. Jenny ergriff wieder das Wort. „Was haltet ihr von Manons Vorschlag?“ Tara, die „Schwester Monika“ aus dem Stück und die Ehrgeizigste des Kurses, meldete sich. „Ich finds gut, aber vielleicht kann sie bis nächste oder übernächste Woche mal eine Skizze mitbringen, dann können wir uns das Ganze besser vorstellen und dann abstimmen.“ Die anderen nickten. Jenny sah Manon fragend an, die ebenfalls ihre Zustimmung gab. „Auf geht’s, Auftritt Familie Rose.“ Ebru ächzte. „Ich kann meinen Text noch nicht richtig.“ Jenny sah sie strafend an. „Ebru, ich verbringe hier meine Zeit mit euch nicht, damit ihr Kaffeekränzchen abhaltet. Wir kommen nicht weiter mit den Proben, wenn ihr den Text nicht könnt und wir alles fünfmal wiederholen müssen.“ „Aber Sie werden doch dafür bezahlt“, brummelte Mischu, „Ihnen kann doch egal sein, wofür.“ Jenny sog tief die Luft ein. „Ihr kapiert wohl nie, dass auch Lehrer Menschen mit Gefühlen sind, die mehr Spaß am Job haben, wenn alles gut läuft. Und das mit der guten Bezahlung – über den Witz lache ich jedes Mal, wenn ich auf mein Konto schaue.“

Als Jenny nach Hause kam, sah sie als Erstes bei LFE nach dem Rechten. Franz war wieder da und lächelte glücklich. Hallo Schönheit, hast du denn nicht mal Lust auf ein Treffen? Bin da ganz flexibel, schlag doch einfach was vor! Würde mich sehr freuen! Franz. Sie starrte auf ihren Bildschirm. Jetzt war es soweit. Aber was stellte sie sich eigentlich so an? Schließlich trieb sie sich doch hier auf LFE herum, um einen Mann kennenzulernen. Ihr sausten erneut die Gesprächsfetzen aus ihrer Unterhaltung mit Kim und Coco durch den Kopf. „Naja, wer nicht wagt, der nicht gewinnt, gib ihm eine Chance“, ermutigte sie sich selbst laut und schrieb: Hallo Franz, dann treffen wir uns doch in der WunderBar in der Innenstadt. Freitag um 18 Uhr? LG, Jenny. Diesmal würde sie nicht zu Pino's gehen. Der musste sie ja langsam für einen ziemlich hoffnungslosen Fall halten. Sie klickte auf „senden“ und ging zum Kleiderschrank. Das würde hundertprozentig eine furchtbare Enttäuschung werden. Alle auf Vernunft gepolten Hirnwindungen fragten durcheinander, ob sie noch alle Tassen im Schrank hätte, sich mit jemandem treffen zu wollen, den sie eigentlich nicht treffen wollte. Es gab aber in Jenny Stilas Leben zwei große Probleme: Sie konnte schlecht nein sagen, weil sie es hasste, andere vor den Kopf zu stoßen. Außerdem sehnte sie sich so sehr nach der großen Liebe, dass sie selbst dem kleinsten Hoffnungsschimmer nachgeben wollte. Jenny war klar, dass sie da einen kleinen Spleen besaß. Darum hatte sie das Thema „Männersuche“ bei ihrem Therapeuten völlig ausgeklammert. Dass sie keinen Mann fand, lag ja nicht daran, dass sie einen Dachschaden hatte, sondern dass sich bisher einfach nicht der Richtige finden ließ. Und solange ihr Therapeut nicht mit Hugh Jackman verwandt oder zumindest befreundet war, konnte er in dieser Richtung sowieso nichts für sie tun. Irgendwie war es ja süß, wie schnell Franz sie zu einem Treffen überreden wollte. Er schien einen Narren an ihr gefressen zu haben, warum auch immer. Mit Schwung öffnete sie die beiden Flügel ihres Kleiderschrankes. Ratlosigkeit machte sich in ihr breit. Natürlich hatte sie genug anzuziehen, doch nichts, was zusammenpasste. Das lila Pailettenoberteil stand ihr hervorragend, aber nur mit dem grauen Rock, der grad bei der Schneiderin war. Das hübsche, schmale, schwarze Wollkleid hatte keine Ärmel und war bei dem momentanen Mistwetter einfach zu kalt. Ihre schicke neue Jeans wäre definitiv ein Hingucker, aber die konnte sie nur zusammen mit High Heels tragen, und mit denen kam sie nicht viel weiter als von einer Straßenseite zur anderen. Wer wusste, wenn man sich verstand – Jenny hoffte das ja noch immer – ob sie dann noch spazieren gingen, und dann wollte sie auch laufen können. Da fiel ihr Blick auf die glänzende neue BaGreat-Tasche. Diesmal hatte sie zugeschlagen, obwohl es nicht die absolute Traumtasche war. Jennys neueste Eroberung war ein champagnerfarbenes Objekt aus butterweichem Leder mit zwei Außentaschen für Handy oder Schlüssel, die an ihren goldenen Reißverschlüssen niedliche Herz-Anhänger hatten. Leider war sie ein bisschen zu beutelartig für Jennys Geschmack, aber innen war sie in zwei große Fächer aufgeteilt. In die eine Seite kamen Portemonnaie und Timer, in die andere das aktuelle Buch, das sie gerade mit sich herumschleppte, meist ein dicker Thriller. Und jetzt hieß es, das Outfit um die Handtasche herum zu bauen. Jenny brauchte Inspiration. Sie brauchte Kim. Schon nach dem zweiten Läuten erklang deren gut gelaunte Stimme: „Hey, was gibt’s? Mach schnell, ich habe hier noch einen Haufen Musiktests liegen und den kleinen Kröten versprechen müssen, sie bis morgen fertig zu haben.“ Jenny lächelte. Die 5c war eine der süßesten Klassen der Schule, sie hatte erst zweimal Vertretung dort gehabt, kannte aber schon alle Namen. „Ich hab nichts anzuziehen“, beschwerte sie sich und erzählte ihrer Freundin, dass sie sich gerade Gedanken über ihr Outfit machte, das sie beim Date mit Franz tragen würde. Kim überlegte kurz. Sie kannte nicht nur ihre Freundin ziemlich gut, sondern auch ihren Kleiderschrank. "Du solltest vielleicht noch wissen“, fügte Jenny hastig hinzu, „dass alles zu einer beigen Handtasche passen muss.“ Kim lachte. „Hosenanzug?“ Jenny schüttelte den Kopf. „Macht zu breite Hüften.“ „Du hast doch diesen schicken ausgestellten Wollrock...dazu die rehbraunen Wildlederstiefel und den hellen Kaschmirpullover!“, schlug Kim vor. „Geht nicht. Der Pulli ist in der Reinigung. Ich konnte mal wieder nicht vernünftig Suppe essen“, bedauerte Jenny seufzend. „Die sind grad ziemlich voll mit Aufträgen, das kann dauern.“ "Hm“, überlegte Kim, „aber eigentlich finde ich die Idee gut... hast du keine Bluse, die dazu passen könnte?“

Jenny rümpfte die Nase. „In Blusen fühle ich mich immer wie ein kleines Mädchen, das sonntags zu Besuch bei Oma ist.“ Dann hellte sich ihr Gesicht auf. „Ich hab doch noch den dünnen grauen Pulli mit V-Ausschnitt, der dürfte passen. Dann noch die Kette mit den lila Halbedelsteinen als Farbklecks, und alle sind zufrieden“, frohlockte sie. Kim lachte. „Schön, wenn ich helfen konnte. Dann mach ich mich jetzt wieder an meine Tests, muss gleich noch zur Probe mit Anais und Milena.“ Die Namen versetzten Jenny einen Stich. Milena war Anais' persönliche Pianistin und beste Freundin. Und noch arroganter als Anais, wenn das überhaupt möglich war. „Aber die sind doch so gut, die können doch bestimmt auch allein proben?“, sagte Jenny spitz. Doch Kim stimmte ihr zu. „Das machen sie ja auch ganz oft, aber heute müssen wir ein neues Stück besprechen. Anais hat sich was von Aretha Franklin ausgesucht und wir überlegen, ob wir es im jazzigen Stil lassen, oder ganz anders drangehen. Macht irre Spaß!“ Genau, dachte Jenny. Und sag ihnen das auch noch täglich, damit sie sich noch mehr einbilden. "Bis später bei Coco!“, rief Kim und legte auf. Eigentlich sollte man sich doch über begabte Schüler freuen. Aber bei Anais und Milena wollte Jenny das einfach nicht gelingen. Sie seufzte, verwarf diese Gedanken und wandte sich wieder ihrem Kleiderschrank zu. Heute würde etwas stattfinden, das niemand für möglich hielt. Coco, immer elegant und modern gekleidet, Coco, Prototyp der erfolgreichen Karrierefrau, würde abends ihre geschmackvoll eingerichtete hochelegante Wohnung für eine Tupperparty zur Verfügung stellen. Coco stand auf Tupperware. Diese tollen Plastikschüsseln – hochwertig, effizient und platzsparend. Man konnte hunderte von diesen runden, rechteckigen und quadratischen Kästchen so ineinander- und aufeinander stapeln, dass sie auf fast nichts zusammen schrumpften. Ein Ikea-System für Essbares. Nur haltbarer. Jenny fand diese unentbehrlichen praktischen Hausfrauenhelfer spießig. Wer gab schon zwanzig Euro für eine Plastikschüssel aus? Und wenn sie dreimal einen hohlraumversiegelten Dingsbums mit integrierter Hitzebeständigkeit und Deckeln in den aktuellen Trendfarben hatte. Tupperparty. Was machte man denn da? Jenny kicherte in sich hinein. Auf Pyjamapartys trug man Pyjamas, trug man auf Tupperparties Tupper? War Madonna damals in ihrem "Like a virgin"-Video Werbebotschafterin für Tupper gewesen? Sie rief sich zur Ordnung. Trotz aller Ablehnung hatte sie sich Coco zuliebe informiert: Frauen treffen sich alle paar Monate bei anderen Frauen, die dafür eine Tupperschüssel geschenkt bekommen, um sich von einer professionell ausgebildeten Tupperspezialistin die Vorteile dieser exquisiten Produktreihe vorführen zu lassen. Jenny seufzte.

Als sie bei Coco eintraf, waren alle außer der Beraterin und Kim schon da. Strahlende Haushaltsexpertinnen, die Cocos Tupperschätze bewunderten: „Aaaaah! Nicht zu glauben!“, „Ja, weiter!“, „Gib sie mir!“, „Woooow – wie bist du daran gekommen?! Ooooooh, wie schööööön!“, „Guck mal, wie der knackt!“ Guck mal, wie der knackt?! Jenny wollte als Deutschlehrerin nicht darauf herumreiten, dass man ein Knacken nicht sehen kann und beschloss, mitzumachen. „Hey, schaut mal hier, was für eine multifunktionale Farbe!“, sie hielt ein sonnengelbes Trinkgefäß in die Höhe. Die anderen musterten sie irritiert. Coco lachte und rief: „Darf ich vorstellen, meine gute Freundin und Kollegin Jenny Stila“, nahm ihr den Becher aus der Hand, zischte leise „das ist ein alter Zahnputzbecher, den ich für Tischmüll verwende, du Idiotin“, und zog sie ins Wohnzimmer: Weiß und cremefarben, wohin man blickte. Weiße Wände, weiße Ledermöbel, weißer Kuschelteppich, dunkles Parkett, dunkelbraune, fast schwarze, schwere Holzschränke und -vitrinen, weiße Stehlampen, Kunstdrucke an den Wänden, kaum Pflanzen. Etwas kalt und trist insgesamt, aber auch irgendwie beeindruckend. Jeder wusste, dass man das nicht von einem Lehrergehalt bezahlen konnte. Cocos Mutter hatte ihr dieses Schmuckstück überschrieben, als sie selbst in ein Wohnstift umgezogen war. Jenny fühlte sich bei Coco immer ein bisschen wie in einer Möbelausstellung. Als sei Coco nur auf der Durchreise, wie ein Hotelgast.

„Kommt doch herein, nehmt Platz. Bedient euch, auf dem Tisch stehen Wein, Apfelschorle, Wasser. Kaffee kann jederzeit gekocht werden.“ „Sie sind also auch Lehrerin?“, fragte eine Mittvierzigerin mit glänzender Nase und lachte neckisch. „Hui, da müssen wir uns ja heute alle gut benehmen, damit wir keine schlechten Noten kriegen.“ Jenny rollte innerlich mit den Augen. Aber für schlechte Laune hatte sie keine Zeit. Acht Großstadtdamen thronten alles andere als elegant auf diesen edlen Möbeln, eine wurde fast vom Leder verschluckt. Sie unterhielten sich über nichts anderes als Tupper und – noch schlimmer – Feng Shui. „Du hast eine wunderschöne Wohnung, Charlotte“, flötete Birgit, „so klar und rein. Glaubst du an Feng Shui? Ich hab vorhin in deiner Küche dieses beeindruckende rote Bild gesehen, und es heißt doch in der Feng Shui-Lehre, dass besonders wasserintensive Räume wie Küche oder Bad ihr Gleichgewicht dadurch herstellen, dass man darin viele rote Farben verwendet.“ Zum Glück klingelte es in diesem Moment an der Tür, sonst wäre Jenny ein unbedachter Spruch zum Thema Menstruation herausgerutscht. Kim erschien im Wohnzimmer und setzte sich zu Jenny, kurz darauf schneite auch die Tupperexpertin herein und baute fröhlich ihre Produkte auf. Jede Schüssel, jede Dose oder was auch immer wurde von der Beraterin bis ins kleinste Detail vorgestellt und erläutert. Es gab große, kleine, mittlere, plus-size, oversize, mit Deckel, ohne Deckel, mit Ausguss, ohne Ausguss, weitenverstellbar, höhenverstellbar, mikrowellengeeignet, nichtganzsomikrowellengeeignet, für den großen Hunger, kleinen Hunger, den frühen Hunger, den späten Hunger, für Gemüse, für Fleisch, für Obst, für Käse, Nüsse, Pfeffer, Büroklammern und Strasssteinchen. Jede Schüssel musste von jeder Frau auf- und zugemacht werden. Jeder Behälter musste beschnuppert werden. Die machten den Deckel auf, steckten ihre spitzen, glänzenden Nasen hinein, riefen entzückt „Oh, das riecht so neu!“ und machten den Deckel wieder zu. Am meisten beeindruckt war Jenny von der Redegewandtheit der Verkäuferin, die in einem atemberaubenden Tempo beteuerte, dass das Wohl und Wehe der Küche von Tupper abhing: „Stellen Sie sich vor, Sie haben Mehl, Zucker oder die anderen Kleinigkeiten nicht in unseren vakuumversiegelten Frischhalteboxen, sondern bewahren sie in den üblichen Papiertüten auf. Irgendwann kommen Mehlwürmer, Sie merken es nicht, diese Würmer fressen sich durch Ihren kompletten Schrank, nisten sich hinten in den Sperrholzplatten ein, und eines Tages kracht der Schrank zusammen!“ Sie tippte mit ihren perfekt manikürten Spinnenfingern an eine kleine Plastikschale. „Aus unseren Boxen kommt das Ungeziefer nicht heraus“, strahlte sie.

Als Jenny die Runde mal etwas aufmischen wollte, eine Dose fallen ließ und mit den Worten „stimmt, sie ist wirklich unkaputtbar!“ wieder aufhob, fanden nur Kim und Coco das lustig. Kim lachte sich auch kringelig, als Jenny freimütig zugab, dass ihre Küche ja so alt und verwahrlost sei, dass man da eher von Sheng-Pfui als Feng-Shui sprechen könnte. Als sie dann mit Kim in Cocos Küche stand, flüsterte sie ihrer Freundin ins Ohr: „Meine Güte, wie kann man nur so eine...Hausfrau sein.“ Kim grinste. „Sie sind doch eigentlich ganz nett“, meinte sie, und nippte genüsslich an ihrem Kaffee, während sie in Cocos Keksdose herumwühlte. „Ja“, gab Jenny zu. Sie hatte ja nichts gegen die Frauen persönlich, wollte nur mal ein bisschen lästern, „klar, nett sind sie...aber so... spießig.“ Kim drehte sich zu ihr um. „Jenny. Nur, weil du nicht kochst, heißt das noch lange nicht, dass Tupper spießig ist.“ „Was bist du denn jetzt so streng zu mir?“, ereiferte Jenny sich. „Streng?“ Kim lachte. „Du hast behauptet, die Mädels seien spießig. Ich habe nur meine Meinung dazu gesagt.“ Jetzt hatte sie ihren Lieblingskeks gefunden: Zartbitter auf knusprigem Teig mit Nuss. Jenny sah sie nachdenklich an. „Dann sag mir mal deine Meinung zu Cocos Wohnung.“ Kim verspeiste das Plätzchen genussvoll und nieste dreimal wie immer, wenn sie bittere Schokolade gegessen hatte. „Was meinst du?“, fragte sie unbekümmert. „Naja, sie hat uns doch erzählt, sie lebe glücklich mit diesem Tom zusammen – also, nicht zusammen, ich weiß, sie haben getrennte Wohnungen, aber die Wochenenden verbringen sie doch gemeinsam. Aber hier? Keine zweite Zahnbürste, kein Rasierschaum im Bad, keine Klamotten im Schrank, keine Männerzeitschrift, die irgendwo herumliegt... irgendwie sieht das hier total wie eine Singlewohnung aus.“ Kim starrte sie verständnislos an. „Jenny, du schnüffelst in Cocos Sachen herum?“ Jenny verdrehte die Augen. „Natürlich nicht. Ihre Klamotten habe ich gesehen, als sie ein Tuch für mich rausgesucht hat, und an ihrem Spiegelschrank war ich, weil ich dringend Toilettenpapier gesucht habe, da ist es mir einfach aufgefallen. Was denkst du denn von mir?“, fügte sie entrüstet hinzu. Langsam wurde sie sauer. Kim zuckte die Achseln. „Wie dem auch sei, es geht uns nichts an. Wenn sie Probleme hat, kann sie mit uns reden, das weiß sie. Setz sie damit jetzt bloß nicht unter Druck!“ „Was?“, entfuhr es Jenny etwas lauter, „wie kommst du denn darauf?“ Kim versuchte sie zu beschwichtigen. „Ich mein ja nur. Du bist manchmal etwas sehr... emotional. Ich weiß, du willst nur helfen, aber Coco ist erwachsen. Sie kann tun und lassen, was sie will und uns teilhaben lassen, an was sie will.“ Jenny wollte sich nicht abwimmeln lassen. Diesmal nicht. „Aber sich Sorgen machen hat doch nichts mit einmischen zu tun? Wir-“ Kim seufzte. „Jenny. Du hast ja Recht. Aber trotzdem ist es nicht immer gut, gleich einen Wirbel zu machen, weil einem etwas seltsam vorkommt. Ich weiß, du willst am liebsten jedem helfen, aber das geht nunmal nicht. Wie halt in der Schule. Da willst du auch alle Kinder zu guten, anständigen Menschen erziehen. Das funktioniert aber nicht so einfach. Das sind eigenständige Persönlichkeiten, die sich selbst entwickeln müssen.“ Jenny schüttelte entgeistert den Kopf. „Was redest du denn da? Erziehung ist was für Hobbypsychologen, oder was! Und was hat das bitte mit Coco zu tun?“

Doch Kim hatte anscheinend keine Lust mehr auf Diskussionen, schnappte sich noch einen Keks, rief unbekümmert: „Komm, lass uns wieder zu den Hausfrauen gehen“ und verließ die Küche. Jenny sah ihr konsterniert nach. Was wussten sie eigentlich über Cocos Privatleben? Kim begriff anscheinend den Unterschied zwischen Neugier und ehrlicher Anteilnahme nicht. Und dass es Menschen wie Coco gab, die sich um vieles sorgten, aber ihre eigenen Probleme lieber für sich behielten. Auch diese Sauberkeit hier. Nicht jeder musste Kleiderberge oder Papierstapel zuhause herumliegen haben, aber diese abwaschbare Ungemütlichkeit, als würde niemand hier wohnen, passte gar nicht zu Coco. Sie war ordentlich und elegant, ja, aber nicht kalt.

Als Jenny am nächsten Abend ihre Emails checkte, fiel sie fast vom Stuhl: Rubens Mutter hatte eine dreiseitige Lebensbeichte geschickt, in der sie sich rechtfertigen zu müssen glaubte, weshalb ihr Sohnemann so war, wie er war. "Ich bin wie immer vollkommen Ihrer Meinung, liebe Frau Stila, doch wegen Rubens aufsässigem Verhalten bin ich leider völlig mit meinem Latein am Ende. Es tut mir Leid, dass ich beruflich so viel unterwegs bin, aber die Absprache mit meinem Mann lautet nunmal, dass er sich dann mehr kümmern muss. Das Problem ist leider, dass Volker Rubens Verhalten völlig harmlos findet, es sogar unterstützt." Er war – vielleicht, weil er als Pfarrer eher ein ernsthaftes Umfeld hatte – vielmehr stolz auf die diversen „Dummejungenstreiche“ seines Sohnes und sah nicht ein, weshalb man da überreagieren solle. Jenny seufzte. Um Dummejungenstreiche ging es nicht. Auch nicht darum, dass er anderen etwas tat. Er kannte einfach keine Grenzen, sah nur sich selbst, war völlig unfähig, Empathie zu entwickeln, sich in andere hineinzuversetzen. Er stieß Kinder weg, die nicht seiner Meinung waren, mischte sich ungefragt in Erwachsenengespräche ein, unterbrach Mitschüler im Unterricht, wenn sie nach seinem Empfinden etwas Dummes sagten. Ruben wurde alles ermöglicht vom Fußballverein über Saxophonunterricht bis hin zu Theaterkursen, aber was er anscheinend vielmehr brauchte, waren Gespräche, ehrliches Interesse seiner Eltern an seiner Person und konsequente Grenzen. Jenny stellte sich das Familienleben bei Lichters so vor, dass Ruben beim Abendessen von seinem Vater abwesend gefragt wurde: „Na, alles prima, Junge?“, Ruben antwortete: „Ja, alles klar“, um seine Ruhe zu haben oder weil er wusste, dass es seinen gestressten Vater gerade nicht wirklich interessierte. Und wenn die Mama endlich zuhause war, wollte er sie nicht belasten und fraß alles in sich hinein, ließ seine Ängste und Aggressionen, dann an Lehrern und Mitschülern aus. Spekulation hin oder her, Jenny schloss das jedenfalls aus der Mail seiner Mutter. Sie klappte ihren Laptop zu. Was sollte sie auch antworten. Das Telefon klingelte. Mams. "Hallo, mein Schatz“, plärrte diese gleich aufgekratzt ins Telefon, „wie geht es meiner Kleinen?“ "Prima“, antwortete Jenny pflichtgemäß. Ihr fehlte gerade jede Lust auf ein längeres Gespräch. „Wie geht’s dir? Was gibt’s?“ „Och, bei mir ist alles paletti“, freute Mams sich hörbar, „ich rufe an, weil Lara uns am Samstag nächster Woche zum Kaffee eingeladen hat. Du kommst doch sicher, oder?“ Jenny hatte riesige Korrekturberge abzuarbeiten, außerdem hatte sie keine Lust auf den Spießrutenlauf, Fragen über ihr nicht vorhandenes Privatleben beantworten zu müssen, und überhaupt- wieso lud ihre Schwägerin Lara sie nicht selber ein? Das war wieder typisch. „Ach“, wiegelte Mams ab, „nimm das nicht persönlich, sie weiß ja, dass wir regelmäßig telefonieren.“ „Lara telefoniert mit Gott und der Welt", musste Jenny loswerden, "gerne stundenlang, wenns sein muss, aber für mich hat sie keine Zeit?“ Mams blieb ihr die Antwort schuldig, doch Jenny kannte den Grund auch so. Als Single zählte Jenny für Lara nicht zu den ernstzunehmenden Menschen. Lara hatte die nervtötende Angewohnheit, Jenny immer nur dann wie eine gleichwertige Person zu behandeln, wenn sie gerade einen Freund hatte. Jenny seufzte, weil sie wusste, wie es jetzt weiter ging. „Ich hab sooo viel zu korrigieren, Mams.“ Ihre Mutter seufzte wie erwartet zurück. „Du Arme. Aber am Wochenende kannst du für deine Familie wohl mal ein paar Stunden erübrigen, oder? Die Hefte laufen dir ja nicht weg.“ Langsam machte sich Wut in Jenny breit. Wie brachte es ihre Mutter nur immer wieder fertig, dass sie sich wie ein quengeliges Kind fühlte, obwohl sie im Recht war? „Das stimmt, aber es kommen neue nach, und ich wollte diese Klausur fertig haben, bevor ich nächsten Dienstag die nächste Arbeit schreibe. „Kannst du dann nicht einfach Freitag etwas mehr machen?“, schlug Mams vor. „Mams. Ich werde Freitag viel machen. Soviel nur geht. Bis mein Kopf auf die Tischplatte knallt." Außerdem hatte sie Freitag das Date mit Franz. Aber das würde sie ihrer Familie sicher nicht auf die Nase binden. Und überhaupt- hatte sie nicht auch ein Recht auf Privatleben abseits ihrer Familie? "Wieso könnt ihr alle nicht verstehen, dass ich einen Fulltime-Job habe? 24 Stunden bleiben 24 Stunden, und was ich in der Zeit nicht schaffe, liegt am nächsten Tag immer noch da!“ Jenny verabscheute die Schuldgefühle, die jetzt in ihr hochkrochen. Sie hatte doch nichts falsch gemacht. Wieso sollte sie immer Verständnis haben und auf jeden Rücksicht nehmen, wieso schaffte ihre Familie das nicht? Außerdem war sie eh immer hin und hergerissen, wenn es um Kai und Lara ging. Sie liebte ihren Bruder sehr, und auch mit Lara kam sie gut klar, doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund meinten die beiden ihr ständig ungefragt Ratschläge erteilen zu müssen, was sie zu tun und zu lassen hätte. Und statt, wie vermutlich jeder erwachsene Mensch dieser Welt, einfach zu denken „Klappe halten, das ist meine Sache“, fühlte sich Jenny immer sofort klein und unerfahren in ihrer Gegenwart. „Armin kommt auch!“, fügte Mams berechnend hinzu. Ach, du Schande, jetzt ging die Leier wieder los. Da Minchen in ihrer Familie sehr beliebt war, wurde er weiterhin zu sämtlichen Feierlichkeiten eingeladen. Er war ja auch ein Schatz, der wie Kai kam, wenn Jennys Computer kaputt war und ihn reparierte, oder, wenn zu wenig Geld da war, nach einem Besuch bei ihr einen Hunderteuroschein auf dem Tisch „vergaß“. Wenn der Kühlschrank nichts mehr hergab: Minchen besorgte Getränkekisten. Wenn der Drucker nicht mehr druckte: Minchen legte neue Patronen ein. Insgeheim hofften alle, dass sie wieder zusammen kämen, was die Treffen für Jenny auch nicht entspannter machte. Sie seufzte. „Mams. Ich komm ja gerne, wenn es machbar ist. Aber nicht länger als zwei Stunden, okay?“, fragte sie in der irrigen Hoffnung, etwas Dankbarkeit zu erhaschen. Weit gefehlt. Mams blieb Mams. "Ja...klar...“, antwortete sie etwas spitz, „damit werden wir uns dann wohl begnügen müssen.“ Und sie fügte noch hinzu: "Du weißt, dass Lara sich immer sehr viel Mühe gibt." Ja, das wusste sie. Lara, die gottgleiche Schwiegertochter. Konnte alles, wusste alles, machte alles perfekt. Im Moment endete jedes Telefonat mit ihrer Mutter so, dass Jenny einfach nur noch auflegen wollte. „Okay, ich meld mich. Pass auf dich auf, ja?“ „Jaja, mein Schatz“, gurrte Mams schon wieder besänftigt, „fühl dich gedrückt. Und arbeite nicht zuviel, ja? Liebe Grüße. Tschüss, mein Schatz, bis bald.“ Wo war die nächste Tafel Nussschokolade.

Diese Dates waren einfach zuviel für ihre Nerven. Einerseits wünschte Jenny sich nichts sehnlicher als einen festen Freund, andererseits war sie diese ewigen Abende der Enttäuschung gründlich leid. Sie lernte jemanden kennen bei LFE, man schrieb sich hin und her, fand sich sympathisch und tauschte Fotos aus. Traf sie den jeweiligen Typen dann endlich in der Hoffnung, diesmal könnte es tatsächlich der Richtige sein, musste Jenny zum wiederholten Mal feststellen, dass es eben nur ein weiterer netter Kerl auf der Nettekerleliste war. Jenny glaubte an Liebe auf den ersten Blick. Zumindest war sie der Meinung, dass der erste Eindruck zählte. Dabei kam es nicht unbedingt auf gutes Aussehen an, aber auf selbstbewusstes Auftreten, lachende Augen, eine angenehme Stimme. Wenn das alles nicht passte, die erste Anziehung fehlte, konnte man es gleich vergessen. War man jedoch von der Ausstrahlung des Anderen angezogen, war das zwar keine Garantie für ewiges Glück, aber doch eine gute Grundlage für weitere Treffen. Soweit die Theorie. Aber bis jetzt hatte sie diesen tollen ersten Eindruck vergeblich gesucht. Und das nach 20 Dates.

Das war eben der Nachteil an Dating im Netz: Bevor man sich 'in echt' gegenüberstand, hakte man erstmal die gemeinsamen Interessen ab, bis man sicher war, einen idealen Kandidaten gefunden zu haben. Das ließ Erwartungen entstehen, die selten erfüllt wurden.

Jetzt stand sie vor Aufregung frierend vor dem Bistro. Sie war fünf Minuten zu früh und fragte sich, ob sie schon reingehen sollte. Gleich würde sie Franz begegnen. Der Gedanke, sich suchend umschauen zu müssen, während er sie vielleicht schon beobachtete, war ihr zuwider. Jenny schloss kurz die Augen, öffnete schwungvoll die Tür und schlug sie fast einer älteren Dame vor die Nase, die gerade das Bistro verlassen wollte. Jenny entschuldigte sich und ging hinein. Ihr erster Blick fiel auf die unendlich breite Bar, hinter der hunderte Flaschen in allen Farben des Regenbogens darauf warteten, verwendet zu werden. Bier, Wein, Whisky, Schnaps, aber auch Fruchtsäfte, mindestens zwölf verschiedene Sorten Wasser, Liköre, Branntweine und verschiedene Kaffeesirups. Wie um sich abzulenken, konzentrierte sie sich auf diese fast künstlerisch anmutende Ausstellung verschiedenster Getränke. Dann schaute sie langsam und vorsichtig, als wolle sie niemandem auffallen, am wenigsten Franz, nach rechts und ließ ihren Blick auf die andere Seite wandern. Sie atmete auf. Nichts. Pärchen, Freundinnen, ältere Männer vor ihrem Bier, aber kein glücklich lächelnder Franz. Jenny schimpfte mit sich selbst. Wenn sie nicht hätte kommen wollen, hätte sie ihm ja absagen können. Sie reckte den Kopf und ging zu einem Zweiertisch. Was würde Anais wohl sagen, wenn sie sie so verängstigt sehen würde. Der Tisch stand in einer Ecke des Bistros. Hier saß Jenny nicht auf dem Präsentierteller, falls Eltern oder Schüler auftauchten, aber auch nicht soweit hinten im Raum, dass sie nicht wieder herauskam, falls sie fliehen musste. Ihr Magen grummelte, und ihr Blick klebte an der Eingangstür. Sie erschreckte sich, als eine junge Bedienung mit glatten blonden Haaren fragte, was sie Jenny bringen dürfe. „Ein Wasser, bitte“, war alles, was sie herausbrachte. Sie kramte nochmal in ihrer Handtasche nach dem Handy, um festzustellen, ob Franz sich gemeldet hatte, da hörte sie ihn. Leise. „Hallo Jenny.“ Mehrere Stimmen schrien wie in einem atonalen Chor auf sie ein: „Sei höflich! Begrüß ihn freundlich!“, „Bleib cool!“, „Lauf weg, der ist furchtbar!“, „Augen zu und durch!“ „Was mach ich bloß?“ „Mams!“ und „Merk dir diese Stimmen, die kannst du als Beispiel für deine nächste Deutschstunde mit Schulz von Thuns Innerem Team verwenden.“ Sie hob den Kopf, lächelte Franz an und im selben Moment war der ganze Spuk vorbei. Franz - war Franz. So, wie sie sich ihn vorgestellt hatte. Völlig unspektakulär. Sie begrüßten sich, und ein paar Minuten gab Jenny sich der irrigen Hoffnung hin, es könnte doch ein netter Abend werden. Aber sie merkte schnell, dass Franz im siebten Himmel schwebte. Er starrte sie an, lächelte ihr bewundernd zu und machte ihr ein Kompliment nach dem anderen – auf eine so unbeholfene Art, dass Jenny Mitleid hatte. Zunächst erzählte er von seinen drei Schwestern, deren Namen alle mit F begannen. Ihre Eltern, die Fritz und Frieda hießen, hatten diese Idee lustig gefunden: Franz, Felicitas, Freda und Filippa. Dann berichtete er von seinem Hobby, der Naturfotografie, und Jenny lächelte, nickte, aß und hörte zwei Mädels am Nachbartisch zu, die sich über einen Designer-Lagerverkauf unterhielten. „Wie siehst du das denn?“ Jenny schreckte hoch. Mist. Wie sah sie was? Sie überlegte blitzschnell. „Im Prinzip bin ich deiner Meinung. Ich weiß nicht, ob man das überhaupt verallgemeinern darf, aber -“ sie lächelte gewinnend, „du kennst dich da sicher besser aus.“ Er starrte sie etwas komisch an und sagte dann zur Bedienung, die Jenny überhaupt nicht bemerkt hatte: „Dann zwei Cappuccini, bitte.“ Zum Glück kam irgendwann endlich der Augenblick des Zahlens, ein sehr unangenehmer Moment beim ersten Date, fand Jenny. Entweder sie zahlte. Damit wies sie sich als unabhängige Frau aus, verschlimmerte aber ihren Kontostand. Oder er zahlte. Damit schonte sie ihr Konto, doch wenn man den Mann nicht wiedersehen wollte, kam das einer ziemlich dreisten Ausnutzung gleich. Sie teilten. Wenn er sie einladen wollte, würde dieser Vorschlag spießig klingen. Als die hübsche, freundliche Bedienung mit der Rechnung kam und fragte, wie sie zahlen wollten, schoss es wie aus einem Munde: „Zusammen“. „Getrennt“. Jenny lachte gequält, er lachte herzlich, dann zückte er sein Portemonnaie, verfügte „du bist dann halt nächstes Mal dran“, und gab der Kellnerin ein großzügiges Trinkgeld. Jenny bedankte sich artig und beschäftigte sich innerlich bereits mit der nächsten Hürde, dem Verabschieden. Küssen ging gar nicht, umarmen war das Höchste der Gefühle. Oder einfach freundlich lächelnd die Hand schütteln? War das kompliziert. Was war, wenn sie ihn gemessen umarmen wollte, er das als Einladung zum Kuss verstand? Sie hasste diese Dates und würde sich nie, nie, nie wieder mit einem Typen verabreden, den sie nicht mindestens einmal schon in natura gesehen hatte.

Sie standen mitten in der Fußgängerzone. Jenny scharrte mit den Füßen. Dann nahm sie allen Mut zusammen, drehte sich zu ihm um und strahlte verhalten, sofern das überhaupt möglich war. Er strahlte ehrlich zurück, diese Ehrlichkeit war es ja, die alles so schlimm machte. Jenny lachte gestresst, er lachte begeistert. Sie wollte einfach nur noch weg.

Mams! Wo war Mams, wenn man sie brauchte? Sie mischte sich in jede Lebenssituation ein, rief ständig an und passte auf, dass ihrer Schneeflocke nichts geschah, aber ausgerechnet, wenn Jenny ihre Hilfe dringend brauchte, war Frau Stila meilenweit weg. Franz grinste. „Jaaa“, sagte sie gedehnt und klang in ihren eigenen Ohren so steif, dass sie am liebsten davon gelaufen wäre, „das war doch nett. Danke für das schöne Essen! Dann...“ sie schnappte nach Luft, wollte ihm keine Zeit zur Unterbrechung geben, „mach's mal gut, wir sehen uns dann, also hören, äh, mailen...“ Sie nahm ihn so kurz und schnell in den Arm, dass er gar nicht merkte, wie ihm geschah, dann rannte sie los. Leider war da keine Straße, sie stand plötzlich vor einer Mauer mit einem Plakat, das für „Erlebnisgastronomie der Extraklasse“ warb. „Scheißescheißescheiße!“ Sie kniff die Augen zusammen und schlich in ihren hammercoolen, aber entsetzlich unbequemen Stiefeln an ihm vorbei, winkte gequält, ignorierte sein „Ich kann dich doch mitnehmen!“, überlegte es sich dann doch anders, rief „Danke, ich hab da... den... Zug... fährt gleich!“ und verschwand um die nächste Straßenecke.

Nie.wieder.ein.Date.

Von ganzem Herzen mangelhaft

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