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Der erste Schultag
Оглавление„Schnell zieh‘ Dich an, wir müssen los!“, plärre ich hinüber in Julias Kinderzimmer.
So fängt das Gezeter schon an. Im Kindergarten da haben wir geschlafen bis um neun Uhr, gegen halb elf trödelten wir gemütlich ein, als freiberufliche Kreative kann ich mir die Zeit einteilen wie es mir passt, aber jetzt? Allein um halb sieben Uhr aufstehen zu müssen ist für mich eine gewaltige Watschn’ am Morgen. Erst gestern kamen wir aus unserem dreiwöchigen Urlaub zurück. Inselhüpfen in Griechenland, meine Seele schwelgt daher noch in wärmeren Gefilden. Kaum ist man hier, schon braucht man eine Jacke, muss seine braungebrannten Beine in einer Strumpfhose verhüllen und das Mitte September.
„Wo ist denn die rote Jacke? Ach egal, dann nimm einfach eine andere“, rufe ich hinüber zur Julia während ich nach etwas Passendem zum Anziehen suche.
Ich persönlich bin der Meinung, der erste Schultag ist total überbewertet. Da locken sie einen hinein in die Schule mit Schultüte und Schokolade, dabei lernt ein jedes Kindergartenkind schon, dass man sich nicht mit Süßigkeiten locken lassen soll. Im Gegenteil, daran ist bestimmt etwas faul, wenn sie einem gleich dermaßen schöntun. Vielmehr sollte man den letzten Schultag ehren, denn bis dahin hat man wenigstens etwas geleistet und bekommt hoffentlich das Grundschulabitur mit freier Fahrt aufs Gymnasium.
Daran denken die Eltern seit dem ersten Ultraschall, ans Gymnasium. Als wäre es das Nirwana, das allein Seligmachende für ihr Kind. Bei einer Realschule rümpfen die meisten heutzutage schon die Nase und die Hauptschule, die inzwischen Mittelschule heißt, damit sie besser klingt, wäre für Akademikereltern ein Fiasko. Fast wie eine Krankheit, vor der es sich unbedingt zu schützen gilt und zwar vom ersten Schultag – noch besser – vom ersten Schnaufer an. Weil die Kinder sollen ja unbedingt einmal studieren, am besten im Ausland, um eine grandiose Karriere hinlegen zu können. Deshalb holt man sich nach Möglichkeit ein Chinesisches Au Pair Mädchen, aber bitte nur eine, die reines Mandarin spricht, damit sich dem Nachwuchs schon im Frühstadium seiner linguistischen Entwicklung das Mandarin rein spielerisch ins Hirn brennt. Dann wählt man selbstverständlich einen Kindergarten, in dem bereits Fremdsprachen angeboten werden, weil Englisch allein reicht ja nicht. Das gilt ja heutzutage nicht mehr als Fremdsprache, das lernt nämlich bereits jeder Mittelschüler quasi im Vorbeigehen. Also wäre Chinesisch gar nicht so schlecht, weil das Kind soll möglichst eine Karriere in der Wirtschaft anstreben und zwar auf keinen Fall unten „Beim Semmelwirt“, sondern in der internationalen Weltwirtschaft. Auch wenn die sowieso bald zusammenbricht, mit BWL – sprich Betriebs-Wirtschafts-Lehre – kann man die Welt dann wieder retten und entsprechend aufbauen. Handwerk und goldener Boden? Dafür gibt es doch heutzutage die Polen.
„Wie feiert ihr eigentlich den ersten Schultag?“, wollte meine Mutter bereits vor Wochen wissen. Sie ist eine recht flotte Lady, aus gutem Hause und ein wenig wohlhabend. Daher möchte sie auch keinen Mann, weil es ihr mehr Spaß macht, ihr Geld alleine auszugeben.
Ihren Vornamen empfindet sie heute noch als persönliche Beleidigung ihrer Eltern, daher nennen wir sie alle Gerti. Nicht Oma, weil Omas sind alt, meint Julia. Höchstens Gerti-Oma. Das „i“ bringt da wenigstens einen jugendlichen Touch hinein.
Wieso feiern? Man bringt das Kind zur Schule und geht wieder, am besten erst einmal zum Frühstücken in eines dieser vielen schicken Cafés rund um den Gärtnerplatz. Wir wohnen nämlich sehr zentral in der Münchner Innenstadt und zwar dort, wo es hip ist, nämlich im Glockenbachviertel.
Um hier eine bezahlbare Wohnung zu finden, muss man entweder jemanden umbringen, damit eine frei wird, oder man erbt. Ich habe geerbt.
Ganz in der Nähe befindet sich der Gärtnerplatz. Er wirkt, als hätte man ihn dem Marais Viertel in Paris entnommen und hierher gebeamt. Früher lagen da die Penner – bzw. Obdachlosen, Penner sagt man ja nicht –
auf der Wiese und hinterließen ihren Müll. Daraufhin wurde der Platz einfach ein wenig umgestaltet, die Beete vergrößert, der Rasen verkleinert, ein paar Parkbänke wurden aufgestellt, weil sich die Anwohner beschwert haben über das Gschwerl, das hier herumlungert und abends Lärm schlägt. Die sollen jetzt ganz unter der Isarbrücke verschwinden, wo sie hingehören und niemanden mehr stören. So kann man die Preise in der Münchner Innenstadt getrost immer weiter in die Höhe treiben.
Zwar lebt hier nicht die Münchner Schickeria mit Porsche und Wochenendhaus am Tegernsee, die wohnt im Lehel, in Bogenhausen, oder draußen in Grünwald. Hier trifft man auf Werber, Musiker, Schauspieler, Schriftsteller, Modedesigner, Architekten oder solche, die sich für kreativ halten. Fast ein wenig wie in Berlin am Prenzlauer Berg oder ein bisschen wie Brighton in England.
Erst neulich sprang mir wieder eines dieser zahlreichen Wohnungsgesuche vors Gesicht, das in Augenhöhe an einer Ampel klebte: 1500 Euro Belohnung! „Kreatives Paar, sie: Stylistin, er: Grafik-Designer suchen eine bezahlbare lichtdurchflutete Dreizimmer Altbauwohnung, möglichst mit großem Südbalkon im Gärtnerplatz- oder Glockenbachviertel.“
Inzwischen tummeln sich am Gärtnerplatz nur noch lauter junge und trendige Leute auf den Parkbänken. Der Lärmpegel ist zwar der gleiche geblieben, die Müllmenge nach lauen Sommernächten ebenfalls, aber die hippe Jugend darf selbstverständlich gerne auf dem Rasen sitzen, so lange sie nach etwas aussieht und nicht obdachlos wird.
Jeder hat seinen ganz individuellen Look, nicht Mainstream, denn man kann sich hier wunderbar einkleiden. Vom Viktualienmarkt bis hinter ins Glockenbachviertel gibt es die individuellsten Läden, damit auch ja ein jeder gleich erkennt: „Mensch, da kommt mir ein Kreativer entgegen, der wohnt bestimmt im Glockenbachviertel!“
Zwar habe ich als vielbeschäftigte Kreative nur ein Kind zustande gebracht, die meisten Eltern im Viertel haben allerdings zwei bis drei Kinder. Auch die sind beruflich erfolgreich oder tun zumindest so, daher brauchen sie unbedingt eine Übermittagsbetreuung für ihre Brut, wenn nicht gar einen Hortplatz, damit die ganze Bagage aus dem Haus ist und man nicht am Ende gar mittags ein Essen auf den Tisch bringen muss.
Auch wir haben einen Hortplatz ergattert. Einen von fünf verfügbaren. Das Gefühl lässt sich ungefähr damit vergleichen, als hätte das Kind einen Studienplatz inklusive Stipendium an einer englischen Eliteuniversität gewonnen. Zwar haben wir jetzt keinen privaten Hort mit professioneller Hausaufgabenbetreuung, aber in der Not tut es auch der städtische. Überhaupt, wen jucken denn heutzutage schon die Hausaufgaben. Da muss man natürlich gleich am ersten Schultag hin, damit das Kind von Anfang an dazu gehört, also können wir uns erst danach zum Feiern mit der Oma treffen.
„Ist das nicht ein wenig prollig, so ein Hort?“, meint die Gerti.
„Ach wo, da ist heutzutage ein jeder, nicht mehr wie bei uns früher. Prollig ist, wenn die Kinder nachmittags zu Hause sind, kein Sozialverhalten üben, weil ihre Harz-4-Eltern nichts besseres zu tun haben, als den ganzen Nachmittag ihre Kind zu entertainen.“
„Im Rheinland gibt es tolle Einschulungspartys, da kam neulich ein Bericht im Fernsehen! Habt Ihr schon was zum Anziehen gekauft?“
Gerti wuchs im Rheinland auf und hat daher eine Vorliebe fürs Feiern und Aufbrezeln.
„Mei, die soll halt irgendetwas Hübschen anziehen, das sie bereits im Schrank hat.“
„Aber die Kinder, die sind da fei schon ausstaffiert, womöglich kommt sogar das Fernsehen.“ Wahnsinn!
„Aber die Schultüte, die kaufe ich, das habe ich ihr schon versprochen.“, bot die Gerti bereits im April an.
„Das ist lieb von dir, aber Julia hat bereits im Kindergarten eine gebastelt.“
„Dann kaufe ich ihr eben noch eine Schöne dazu!“
„Das geht nicht, wegen der Wertschätzung, außerdem IST die schön.“
„Ja, wennst meinst.“
Die Kindern haben weiße Schultüten mit Wasserfarben bemalt. Das ist jetzt wirklich nicht der kreative Brüller, aber immerhin haben sie es ganz alleine gemacht und das muss man würdigen.
Ich blicke gehetzt aus dem Fenster während ich versuche Spiegelreflex-Kamera und Camcorder in meinem Handtäschchen zu verstauen. Die Nachbarn von gegenüber sind schon auf dem Weg in die Schule, begleitet von einer Schar Omas und Opas, Tanten und Onkels und wir haben jetzt noch nicht einmal die Gerti dabei!
„Schnell, schnell, die Nachbarn sind schon unterwegs!“, dränge ich. Ich bin ungern zu spät, lieber eine halbe Stunde zu früh als fünf Minuten zu spät. Daher bin ich tendenziell ständig in Eile.
„Nur keine Hektik!“, gähnt mein Mann Hannes schlaftrunken, „es ist noch genügend Zeit.“ Er hingegen ist die Ruhe in Person. Sehr selten platzt ihm der Kragen, da muss ich es ihm schon abbetteln, dass der mal aus der Haut fährt. Eigentlich heißt er Johannes, aber er mag es nicht, wenn ich ihn so nenne, das mache ich nämlich nur ernsten Tones, zum Beispiel wenn ich sauer auf ihn bin.
Schnell noch ein Foto mit Schultüte vor der Haustür gemacht. Einmal alleine, einmal mit Papa, einmal mit Mama.
„Jetzt schau ein bissl glücklicher Julia, nicht so gequält! Ja, so ist es besser.“
Julia und Papa schreiten voran, ich hinterher, bewaffnet mit Foto und Filmkamera, um den Schulranzen von hinten zu filmen. Irgendwie haben die beiden den selben Gang. Überhaupt ist Julia ganz der Papa. Ob sie wohl auch so ungern in die Schule gehen wird wie ihr Vater? Darüber möchte ich jetzt lieber noch nicht nachdenken.
Hannes hat immerhin BWL studiert, sogar an einer englischen Universität und Karriere in der internationalen Weltwirtschaft gemacht, allerdings über den zweiten Bildungsweg.
Das klingt schon so anstrengend, finde ich. Da kann man den schulischen Weg doch gleich beim ersten Mal richtig beschreiten, oder etwa nicht?
„Mei, er war ja so ein lieber Bub, nur Lernen hat er halt nie mögen“, erzählt meine Schwiegermutter heute noch, als wäre es erst gestern gewesen. Das darf die Julia aber nicht hören, weil Lernen ist das Allertollste, man muss als Eltern ja ein Vorbild sein.
Rein intellektuell sehe ich im Hannes jetzt eher einen Geschichtsprofessor. Nicht, weil er aussieht, wie man sich rein optisch so einen Professor vorstellt, mit grüner Cordhose. Nein, der Hannes ist stets top gekleidet, wie BWLer es halt so sind, nur, dass er noch diese Glockenbach-Note mit einbringt. Er verfügt über eine stark ausgeprägte humanistische Ader, die er leider gymnasial nicht ausleben konnte, weil er in der Grundschule leider nicht hat Lernen mögen. Außerdem hat er viel mehr Tiefgang als so ein normaler BWLer, dem nichts anderes eingefallen ist, als BWL zu studieren. Aber was willst machen. Damals auf dem zweiten Bildungsweg gab es auf der FOS – sprich Fachoberschule – noch kein allgemeines Abitur, aus diesem Grund blieb ihm halt nur mehr die Wirtschaft.
Als gutes Vorbild habe ich mich für einen Griechisch-Kurs an der Volkshochschule eingeschrieben. Da fängt man noch einmal ganz von vorne an, bei Alpha. Wie ein Erstklässler lernt man erst die Buchstaben, dann Lesen und Schreiben. Im Übrigen haben die Griechen das Alphabet ja erfunden. Das wird die Julia mit Sicherheit anspornen, mir möglichst rasch nachzueifern. Und wer weiß, vielleicht gehört Griechenland ja sowieso bald zu Deutschland, wenn wir es demnächst abbezahlt haben, darauf sollte man vorbereitet sein.
In der Vorschule, soweit man das eine Vorschule nennen kann – es war eher ein einstündiges wöchentliches Sparprogramm – wurden ein paar Buchstaben geschrieben, Zahlenmengen geschätzt und Experimente durchgeführt. Oft fiel es allerdings aus, weil die Erzieherin krank war oder im Urlaub. Da hätten Sie einmal die Eltern hören sollen, weil die Frau Wastlhofer es gewagt hat außerhalb der Ferienzeiten einen Urlaub zu buchen. Zwar verdient man als Erzieherin nicht die Welt und während der Ferien kostet alles dreimal so viel, aber die Kinder könnten ja etwas verpassen in der Vorschule im Hinblick auf den Übertritt in die Grundschule. Bereits hier droht das magische Wort Übertritt. Als wäre das die Überquerung einer unüberwindbaren Todesschlucht.
„Immer mit der Ruhe, die fangen doch in der Schule sowieso noch einmal bei Null an“, versuchte ich eine weinende Mutter im Sandkasten zu beruhigen.
„Hast du eine Ahnung, die werden doch heutzutage ganz wo anders abgeholt als wir damals“, jammerte sie.
Der Julia machte das Schreiben in der Vorschule jetzt noch nicht so viel Spaß, eher die Experimente. Das lag daran, dass ihre beste Kindergarten-Freundin die Miriam bereits von ihrer großen Schwester das Schreiben abgeschaut hatte und wie gedruckt die Buchstaben niederschrieb.
„Schau, wie ich‘s schön kann!“, prahlte die Miriam jedes Mal. Da hat es der Julia schon wieder gereicht und ich verstehe auch warum.
Frau Wastlhofer nahm mich nach einiger Zeit diskret zur Seite und zeigte mir Julias Vorschulheft. Sie würde so krumm schreiben, die Zeile nicht halten können und einen Kreis, den sie in vier Viertel zerschnitten, hätte sie auch nicht richtig zusammengeklebt. Ob sie vielleicht an einer Augenschwäche leide? An einer, die wenn man sie rechtzeitig erkennt und entsprechend behandelt, die rechte – oder wars die linke – Gehirnhälfte nachtrainieren könnte und dann würde das alles bis zur Einschulung wieder passen.
Überhaupt sei sie immer so still. Jetzt muss man dazu sagen, dass Julia ein Frühchen war und daher vielleicht aber auch nur vielleicht motorisch noch nicht ganz so weit wie die anderen, aber vermutlich ist es einfach so ihre Art. Nach dem Motto: wer viel arbeitet, macht viele Fehler und wer nichts arbeitet, macht keine Fehler, wartet sie lieber erst einmal beobachtend ab, was die anderen so treiben und nach einiger Zeit macht sie dann auch mit. Das ist eigentlich schlau, weil somit blamiert mach sich selten. Dennoch marschierten wir aus Pflichtgefühl zum Augenarzt, es schadet ja nicht.
Der Doktor machte unterschiedlichste Sehtests, von Nahem, von Weitem, in Rot- und Grüntönen und meinte schließlich, Julia sehe wie ein Adler. Ich solle mich bitte nicht verrückt machen lassen, seine Kinder seien bereits in der dritten Klasse und könnten die Zeilen immer noch nicht gescheit halten.
Beruhigt marschierten wir zurück. Das mit dem Frühchen lässt einem lange keine Ruhe, weil vielleicht fehlt ja doch noch irgendwo irgendetwas. Seit dem ersten Atemzug werden die Kinder gecheckt von vorne bis hinten, von oben bis unten und von innen nach außen, wie beim TÜV – sprich dem Technischen-Überwachungs-Verein. Es wird gemessen und verglichen, wer kann schon was, wie viel davon, wie früh und vor allem wie schnell. Da wird man als Mutter schon leicht nervös, wenn da was nicht schnell genug funktioniert, selbst wenn das bei lange genug ausgebrüteten Kindern vielleicht noch länger dauern mag.
Also kaufte ich ein Vorschulbuch, allein schon wegen der Feinmotorik.
„Das brauchst du gar nicht erst zu kaufen, das mache ich sowieso nicht!“, protestierte Julia, während sie lieber eine Kette aus winzigen Perlen fädelte. Ich kaufte es trotzdem. Das war so hübsch aufbereitet mit Prinzessinnen und Aufklebern, das würde ihr bestimmt gefallen. Die Aufkleber gefielen ihr, aber lustlos machte sie ihre Aufgaben. Nach einer Weile beschloss ich, es sein zu lassen, bevor ich ihr die Freude am Lernen schon vor der Einschulung verderbe.
Nach wenigen Minuten erreichen wir die Schule. Ein alt ehrwürdiges Gebäude aus der Gründerzeit, anheimelnd und recht gepflegt. Hier würde man selbst gerne noch einmal zu Schule gehen, zumindest ich.
Vor dem Eingang finden Fotoshootings statt, Kind mit Oma, mit Mama, mit Geschwistern, und jetzt noch mal alle zusammen, weil heute sehen wir aus, wie aus dem Ei gepellt. Einige sind sogar im Dirndl. Wir reihen uns in die Schlange ein, um diesen einmaligen Augenblick auch digital zu verewigen.
In der Turnhalle hat sich bereits die junge Hoffnung von morgen versammelt, umringt von fotografierenden Eltern und Großeltern. Man hat dort eine Bühne aufgebaut und Bänke für die Neuankömmlinge. Julia setzt sich neben einen Jungen, den sie bereits aus dem Kindergarten kennt. Der ist so aufgeregt, dass er gar nicht mehr aufhört zu reden, er plappert und plappert. Julia hingegen wirkt recht entspannt. Sie steht der neuen Schulsituation erst einmal abwartend gegenüber. Wahrscheinlich wird sie erst einmal ein halbes Jahr lang beobachten und die anderen studieren, bevor sie sich rühren wird, aber dann vermutlich gleich perfekt. Aufgeregt kann sie auch gar nicht sein. Wir waren ja bis gestern im Urlaub. Da hatte sie noch gar keine Zeit, sich in ihren ersten Schultag hineinzusteigern.
Ich sehe keine einzige gekaufte Schultüte, alle selbst gebastelt von Kindern oder ihren kreativen Eltern. Eine toller als die andere. Es wurde nicht nur gemalt, da wurde geschnitten, geklebt, genäht und modelliert. Die Eltern scheinen sich schon wochen-, wenn nicht gar monatelang vorher ins Zeug gelegt zu haben und jeder hat ein Motto. Ich erkenne Fußballstadien, Ritterburgen, ein Aquarium, einen Märchenwald, Prinzessinnenschlösser, Blumenwiesen, Schmetterlinge, Pferdekoppeln, Krieg der Sterne, Harry Potter, ganze Welten taten sich vor mir auf.
Da hätten wir uns mit einer Gekauften schön blamiert.
Während der einstündigen Begrüßungszeremonie seitens der Lehrer und Schüler, die für die Neuankömmlinge eine kleine Aufführung veranstalteten, bekommt man sofort das Gefühl, das ist eine persönliche Schule, klein die Klassen, die Lehrer stets bemüht, schon allein aus Furcht vor den überengagierten Akademikereltern. Die Kinder wirken allesamt recht wohl erzogen von ihren Karrieremüttern.
Direktorin Frau Oberst hat ihren Chor bestens im Griff. Brav singen die Schüler ihre Strophen und rezitieren ellenlange Gedichte. Wie die sich das alles nur merken konnten über die großen Ferien hinweg ist mir ein Rätsel.
Anschließend werden die Kinder von ihren Lehrerinnen abgeholt. Es gibt zwei erste Klassen mit je 18 Kindern. Das sind deshalb so wenige, weil die meisten Eltern aus der Nachbarschaft ihre Kinder lieber in eine andere Grundschule ins Nachbarviertel schicken. Die hatte nämlich irgendwann einmal einen Preis gewonnen. Wofür weiß man bis heute nicht, aber es melden die Eltern sogar den Wohnsitz um, damit sie ihre junge Brut in den benachbarten Schulsprengel hineinmogeln können. Diese Schule quillt inzwischen dermaßen über, dass man munkelt, die Direktorin schleiche abends um die Häuser, um zu überprüfen, ob da jetzt ein echtes Namensschild an der Klingel angebracht ist, oder nur ein aufgeklebtes, weil für dumm verkaufen lassen die sich jetzt auch wieder nicht. Das schreckt die Eltern allerdings nicht ab. Obwohl die Klassen dort riesig sind, rennen sie denen jedes Jahr die Tür ein. Oder vielleicht gerade deshalb, weil sie denken das muss doch einen Grund haben, warum da alle hinrennen, also rennen wir auch, quasi herdenmäßig. Das ist uns nur recht, weil dadurch sind unsere Klassen wesentlich kleiner.
Julias Lehrerin Frau Herzig, eine gemütliche und liebevolle Person, weist uns den Weg durch das Schulgebäude. Seit vielen Jahren unterrichtet sie bereits an dieser Schule und zwar nur erste und zweite Klassen, weil es da noch nicht so stressig ist und ihr die Kinder in der Dritten und Vierten so leid tun. Warum eigentlich?
Gerüchte über böse Lehrer, die Kinder reinlegen wollen, gestresste Kinder, die aus Prüfungsangst in der vierten Klasse leere Blätter abgeben lassen mich kalt. Das kann ich mir an dieser Schule jetzt überhaupt nicht vorstellen.
Das Klassenzimmer ist riesig und schön hell. Die Kinder stürzen sich auf ihre Schulbänke. Jeder will den besten Platz ergattern. Julia schaut sich in aller Ruhe um und bis sie zu Ende geschaut hat, sitzen bereits alle. Die werden sich in den nächsten Wochen sowieso noch ganz oft umsetzen, aber das ist wie mit den Pauschal- Urlaubern, Hauptsache die Handtücher auf die Liegestühle in der ersten Reihe geschmissen. Hier ist es allerdings genau anders herum. Alle flüchten nach hinten. Ich führe sie neben ein schüchternes Mädchen in der ersten Reihe, das noch alleine sitzt. Wunderbar, denke ich mir, die schwätzt bestimmt nicht so viel. Das genaue Gegenteil wird der Fall sein, wie sich noch herausstellen wird, weil stille Wasser sind tief.
Die Eltern dürfen noch ein paar Fotos machen, dann müssen sie gehen. Hannes und ich überbrücken die Zeit in einem unserer zahlreichen Lieblingscafés. Ich bestelle eine Latte Macchiato, Hannes schweigt.
Normalerweise braucht der Hannes ein wenig Zeit in der Früh. Unter einem Espresso scheint der noch gar keinen Puls zu haben, da ist es also grundsätzlich nichts Besonderes, wenn er so still ist. Es stört mich auch nicht, da meistens ich rede, nur schaut er irgendwie kritisch und da bin ich sensibel, wenn er so schaut.
„Wir müssen die Julia fei nicht in den Hort schicken“, brummt er in seinen Dreitagebart.
„Dooooch, sonst gehört sie nicht von Anfang an dazu“, entgegne ich.
„Ich meine generell, du bist doch eh daheim.“
Da spüre ich, wie meine Halsschlagader sich weitet und mir das Blut ins Gesicht schießt. Was soll ich sagen, ihr Kinderzimmer in unserer Altbauwohnung ist sicherlich gemütlicher, aber was solls, Kinder fühlen sich unter Kindern nun mal wohler als zu Hause bei Muttern. Gerade als Einzelkind braucht sie nachmittags den Kontakt zu anderen Kindern, um ein Sozialverhalten zu entwickeln. Wenn es etwas schmuddeliger zugeht, fällt das den Kindern überhaupt nicht auf. Die Stadt hat nun mal kein Geld für Luxussanierungen.
Was heißt hier ich sei daheim, ich arbeite schließlich tagsüber und habe keine Zeit, das Kind nachmittags zu bespaßen. Schulschluss ist um halb- spätestens um viertel nach zwölf, natürlich geht sie in den Hort wie alle anderen Kinder meiner Freundinnen und Bekannten auch. Von der täglichen Kocherei ganz zu schweigen, wann soll ich da noch zum Joggen gehen oder ins Fitness-Studio, ins Freibad, an die Isar, in den Griechisch-Kurs oder einfach nur gemütlich shoppen oder mit Freundinnen Latte Macchiato trinken? Aber das muss ich ihm jetzt nicht unbedingt auf die Nase binden, wo er doch angeblich täglich arbeitet wie ein Viech um mir dieses Leben zu ermöglichen, während ich ja nur projektweise von zu Hause tätig bin und ansonsten von seinem schwer verdienten Geld nur faul im Café hocke. Immerhin habe ich unsere Wohnung mit in die Ehe gebracht und habe definitiv kein schlechtes Gewissen, geschweige denn Mitleid, weil wenn Männer andauernd über ihren Job jammern, finde ich das äußerst unmännlich.
„Jetzt schau ihn dir doch erst mal an, das ist bestimmt lustig dort. Außerdem gehen dort ihre Mitschüler auch hin und sie findet schnell Anschluss.“
Das ist anscheinend ein überzeugendes Argument, denn seine Miene hellt sich deutlich auf.
Nach einiger Zeit begeben wir uns in die Schule zurück.
„Na, wie war’s?“, fragen wir Julia.
„Schön“ murmelt sie.
„Was habt ihr gemacht?“
„Nichts.“
Dieses Nichts hörte ich bereits im Kindergarten und scheint zu bedeuten: „lass’ mich in Ruhe, das ist mein Leben und geht dich nichts an.“
In der Aula erwartet uns bereits Sandy aus dem Hort, eine blutjunge, gepiercte Blondine mit schwarzer Lederjacke. Ist die soeben aus Berlin eingeflogen, oder aus London? Jedenfalls gefällt sie Julia und sie reicht Sandy wohlerzogen die Hand zum Gruß. Die hingegen blickt zwieder drein, als könnte sie sich mit mindestens Hepatitis anstecken bei der kleinen Julia und führt uns nach nebenan in die Einrichtung. Julia stürzt gleich in die Puppenecke, die war ihr aus ihrem alten Kindergarten vertraut. Dann wird das nicht so hart mit dem Übertritt Kindergarten-Schule, sondern mehr schleichend – über die Puppenecke.
Das einzige Mädchen aus ihrer Klasse, die auch den Hort besucht ist die Nelly. Die restlichen Mitschüler sind entweder in einem anderen Hort oder in der Übermittagsbetreuung untergekommen. Nelly wird im Laufe des Schuljahres Julias beste Freundin werden. Da sich Julia dort anscheinend wohl fühlt, ist das Thema für Hannes vorerst erledigt.
Wir marschieren wieder ab, diesmal zum Italiener, Mittagessen. Gegen 15 Uhr holen wir Julia vom Hort. Die Kinder sitzen im lauschigen Innenhof. Dort befindet sich immerhin ein kleiner Spielplatz und es werden Weintrauben angeboten. Julia bedankt sich artig für die Trauben und greift zu. Sandy schaut verwirrt und nuschelt: „Also bei uns braucht hier keiner extra danke zu sagen.“ Zum Glück hat der Hannes das jetzt nicht mitbekommen.
Zu Hause feiern wir noch ein wenig mit der Gerti. „Die Frau Herzig meinte, ich habe mein Kleid verkehrt ʼrum an,“ meint die Julia. Gerti schaut auf. Das Kleid sieht vorne und hinten gleich aus, nur auf der Vorderseite hat es Taschen.
„Das passt so, die Taschen gehören nach hinten, wie bei einer Jeans, so ist der Trend, den kennt die Frau Herzig noch nicht, weil Lehrerinnen sind nicht trendy.“, beschwichtige ich, bevor die Gerti merkt, dass ich ihrer Enkeltochter am ersten Schultag tatsächlich das Kleid verkehrt herum angezogen habe.
Julia muss als erste Hausaufgabe ihre Schultüte zeichnen. Sie findet allerdings keine Ruhe, möchte lieber Kuchen essen und mit der Gerti spielen. Sie hat übrigens noch nie besonders gerne gezeichnet, vermutlich weil ich es als Illustratorin in ihren Augen eh besser kann und hat daher auch absolut keine Lust.
„Das geht ja schon gut los“, denke ich mir.
Gerti gelingt es schließlich, sie zu ermutigen, es wenigstens zu versuchen. Selbstverständlich gebe ich als Illustratorin auch noch meinen Senf dazu: „Eine weiße Schultüte auf einem weißen Papier ist aber nicht gerade plakativ. Schneide die doch aus und klebe sie auf ein farbiges Papier, das ist viel effektvoller.“ Gesagt, getan und das Ergebnis lässt sich durchaus sehen. Julia gibt es dann aber am nächsten Tag doch nicht ab, weil sie findet, ihre Zeichnung passe gar nicht zu den anderen. Als einzige auf blauem Untergrund, das würde zu sehr herausstechen und genau das war ihr peinlich. Stattdessen erzählt sie der Lehrerin, sie hätte die Hausaufgabe vergessen.