Читать книгу Sophies Spiegel - Tina Sabalat - Страница 4

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Als Sophie erwachte, war es immer noch Nacht. Die stille Dunkelheit wurde von einem einzelnen Licht gestört – ein warmer, ruhiger Schein, anders als das flackernde Neonlicht der Leuchtstoffröhren in der Fabrikhalle. Sie öffnete die Augen und sah nach oben. Nein, das war nicht die staubgraue, feuchte Betondecke, sondern eine saubere, weiß getünchte Wand. Sophie richtete sich auf und sah, dass man sie auf einem Bett mit weicher Matratze und dicken Kissen ablegt hatte. Lange Vorhänge bewegten sich vor einem weit geöffneten Fenster im warmen Nachtwind und machten schleppende Geräusche auf dem Boden, das Licht kam von einer verschnörkelten Glaslampe auf dem Nachttisch.

Sophie schwang die Beine über den Rand des Bettes und stand auf, musste aber sofort Halt am Bettpfosten suchen: Sie fühlte sich schwach, ihr Kopf schwirrte. Eine Nachwirkung der Ohnmacht, oder war sie etwa krank? Drei Nächte hatte sie auf dem eisigen Boden der Fabrikhalle geschlafen, vielleicht war sie erkältet und fieberte. Hatte sie nicht sogar geglaubt, Julian gesehen zu haben? Hatte sie sein Gesicht nicht auf das dieses zweiten Fremden gestülpt? Gesund klang das nicht, eher nach Halluzinationen – entweder also Fieber, oder sie wurde langsam verrückt.

Sophie ließ einen längeren Blick durch den Raum schweifen. Außer dem Bett gab es eine Kommode, einen Schreibtisch mit vielen Schubladen sowie einen Stuhl, über Letzterem hing ihre Lederjacke. Wie in einem Krankenhaus oder Hotel sah das Zimmer nicht aus, denn es befanden sich einige persönliche Dinge darin: Auf dem Sekretär standen ordentlich aufgereiht Bücher hinter einer kleinen Sammlung Muscheln und Parfümflakons. Über der Kommode hing ein Bild, an einem Wandhaken luftige Tücher. Die Möbel wirkten zart und zerbrechlich, gemacht aus weiß lackiertem Holz – ein Mädchenzimmer, das bewiesen auch die drei Porzellan-Puppen, die am Fußende des Bettes saßen und mit matten Kulleraugen ins Nirgendwo starrten.

Sophies Aufmerksamkeit kehrte zu dem Bild zurück – und sie erschrak, als sie darauf das Mädchen erkannte, dessen Porträt ihr der seltsame Fremde in der Fabrik gezeigt hatte. Ja, das war wiederum sie selbst mit dieser kunstvollen Flechtfrisur! Jünger als heute, vielleicht vierzehn, etwas molliger auch, aber dennoch: unverwechselbar! Neben ihr stand ein großer, dunkelhaariger Junge von etwa sechzehn, den sie noch nie gesehen hatte, sowie eine unbekannte Frau – und Gin'Sah. Sophie starrte auf das Gesicht des Mannes, dann erneut auf das Mädchen. Der Pinselstrich war fein, das Gemälde fast so realistisch wie eine Fotografie, daher gab es keinen Zweifel: Hier hing ein Bild, auf dem eine jüngere Ausgabe von ihr selbst abgebildet war, im Kreise einer völlig falschen Familie. Und dieses Bildnis befand sich in einem Zimmer, das einem Mädchen zu gehören schien. Einem toten Mädchen? Diesem toten Mädchen?

Sophie schwindelte erneut, wusste jedoch dieses Mal ganz genau, woher diese Schwäche rührte – von einem klammen Gefühl in ihrem Magen, das nichts anderes war als Angst. Sie schlich zu der nur angelehnten Tür und spähte hinaus: ein halbdunkler Flur, von dem weitere Räume abgingen. Etwas klapperte, und als Gin'Sah aus einem der Durchgänge trat, huschte Sophie zurück hinter die Tür und presste sich an die Wand. Sie hielt die Luft an, hörte ihr Herz wummern – und die Schritte des Mannes in einem anderen Zimmer verschwinden. Sie wartete eine Minute, bis sie sich rührte, doch die fühlte sich an wie ein ganzes Jahr: mit einem heißen Sommer, der ihr Schweißperlen auf die Stirn trieb, und einem kalten Winter, der ihr Schauer über den Rücken jagte. Hatte dieser Typ sie aus der Fabrik entführt? Den wachsamen Augen von Johnny entrissen, als sie ohnmächtig gewesen war? Alles wies darauf hin. Und scheinbar hatte er sie mitgenommen zu sich nach Hause – in das Zimmer, in dem seine tote Tochter gelebt hatte, der Sophie zum Verwechseln ähnlich sah. Oh Gott, das war nicht gut!

Sophie fröstelte erneut, und in ihrem Kopf gab es nun nur noch einen einzigen Gedanken: Nichts wie weg! Sie riss die Lederjacke vom Stuhl, die ihr so kostbar war, weil Julian sie nur wenige Tage vor seinem Tod in ihrem Zimmer vergessen hatte, schlüpfte hinein und registrierte wie schon so oft erst verwundert, dann glücklich, dass sie noch immer nach ihm duftete. Sie schlich zum Fenster, lehnte sich hinaus und erblickte eine schmale, unbekannte Straße, gepflastert mit Steinplatten, gesäumt von flachen Häusern und altmodischen Laternen mit mildem Licht.

Sie befand sich im Erdgeschoss, und bevor sie nachgedacht oder gar einen Plan geschmiedet hatte, war Sophie schon durch das Fenster geklettert. Sie landete in einem Blumenbeet, und als trockene Erde zwischen ihren Zehen kitzelte, bemerkte sie, dass Gin'Sah ihr die Stiefel ausgezogen hatte. Doch die Nacht war warm, und sie würde hoffentlich Hilfe finden, bevor sie sich Blasen lief. Ja, Hilfe war das richtige Stichwort! Sie brauchte jede, die sie bekommen konnte, denn sie war entführt worden. Von einem Fremden, der einen Ersatz für seine tote Tochter suchte und irgendeiner Sekte angehörte, wenn Sophie seine komische Kleidung und dieses Gerede von Tränken und Konstellationen richtig deutete.

Ihre Augen irrten die Straße hinauf und hinunter. Kein Mensch zu sehen, verlassen und still, die Fenster der anderen Häuser waren dunkel. Kein Wunder, es war mitten in der Nacht, und ... Moment! Sophie erstarrte, als sie wenige Meter entfernt etwas wahrnahm, verborgen in einer Nische: ein schneller Wischer von einer Bewegung, wie der Flügel eines Vogels. Sie kniff die Augen zusammen. Nein, kein Vogel – ein Stück Stoff flatterte dort im Nachtwind, nicht weiß, aber dennoch hell, vielleicht beige. Oder hellbraun?

»Julian«, flüsterte sie in Erinnerung an das Gewand, das der zweite Fremde getragen hatte, stieß sich von der Mauer ab und ging zögernd auf die Gestalt zu. Auch diese löste sich aus ihrem Schatten und machte ein paar Schritte – doch in die falsche Richtung, nämlich weg von Sophie.

»Julian!«

Sie rannte los. Ihre nackten Füße patschten auf die Steine, als sie der eilig entschwindenden Silhouette folgte, ihre Gedanken wirbelten ebenso rasch auf und ab wie ihre Beine. War es doch keine Halluzination gewesen, als sie in der Fabrik geglaubt hatte, Julian zu erkennen? War er es wirklich? Wenn er es war, warum hatte er sich versteckt? Warum lief er vor ihr weg? Vor allem aber: Warum war er hier, warum war er nicht tot?

»Julian!«

Er bog mit wehenden Gewändern um eine Ecke, Sophie spürte ihre Fußsohlen brennen, als sie auf den rauen Steinplatten scharf in die Kurve ging. Diese Abbiegung, noch eine und noch eine, von einer menschenleeren Gasse in die nächste, die immer gleichen nachtschlafenden Häuschen links und rechts: Der Umhang flatterte wie ein Banner vor ihr im Wind, der Abstand wurde groß und größer.

»Julian! Warte doch!«

Sophie hörte selbst, wie bettelnd ihre Stimme klang, doch die Gestalt reagierte nicht: Sie lief und lief und lief, in einem unglaublichen Tempo, als flögen ihre Füße über den Boden, als gebe es kein Gewicht, keinen Körper, den es vorwärts zu tragen galt. Sophie fiel Meter um Meter zurück, obwohl sie so schnell rannte, wie sie konnte – und als sie um die nächste Ecke bog, war Julian verschwunden.

Sophie eilte dennoch die Straße hinunter, spähte in die Gassen, die von ihr abgingen, wie auch in die Eingänge der Häuser. Und flüsterte dabei seinen Namen, als könnte sie Julian so hervorlocken. Vergeblich, verlassen und dunkel gähnten ihr Hauseingänge und Abzweigungen entgegen. Sie lief aus und presste sich eine Hand in die stechende Seite: verdammter Mist! Mist, Mist, Mist! Sie richtete sich auf, atmete tief ein – und gab einen kleinen, spitzen Schrei von sich, als eine Bewegung in ihrem Augenwinkel sie zusammenschrecken ließ. Sophie fuhr herum, und vor ihr stand Julian: Mit einem Gesicht, das nicht glühte von der Jagd, sondern noch immer so blass und kühl war, wie sie es in Erinnerung hatte. Aus dem Sarg, am Tag seiner Beerdigung. Ein Keuchen entrang sich ihrer Kehle, das sie selbst nicht einordnen konnte: Schrecken? Überraschung? Freude? Sie machte zwei, drei Schritte auf Julian zu, wollte ihm um den Hals fallen, ihn an sich drücken, sich davon überzeugen, dass sie nicht träumte, nicht völlig durchgeknallt war – doch er wich zurück. Rascher und geschmeidiger, als Sophie es jemals bei einem Menschen gesehen hatte, mit abwehrend erhobenen Armen.

»Was zum ...«, setzte sie an, aber Julian legte einen Finger auf die Lippen. Sie verstummte. Dann bedeutete er ihr, sie möge ihm folgen, und wandte sich zu einem Gebäude rechts: eine Art Kreuzgang mit steinernen Statuen in Nischen, in der Mitte schlief ein Garten mit Blumenbeeten und müde plätscherndem Brunnen.

Julian führte sie in die hinterste Ecke und hockte sich auf eine Bank, Sophie sank mit bebenden Gliedern neben ihn und konnte ihren Blick nicht von ihm wenden: Es war unglaublich, ihn wiederzusehen, ihn tatsächlich und leibhaftig vor sich zu haben. Nachdem sie vier Monate lang jeden Tag auf die wenigen Fotos gestarrt hatte, die sie von ihm besaß, und die doch nie die erhoffte Erinnerung an glückliche Tage brachten, sondern immer nur neue Tränen.

»Wie kann das sein?«, wisperte sie jetzt mit einem aufgeregten Zittern in der Stimme. »Du bist doch tot! Ich hab dich gesehen, ich war auf deiner Beerdigung!«

Julian antwortete nicht, aber seine klaren, grasgrünen Augen lagen auf ihr und schienen ebenso viel von Sophie aufnehmen zu wollen wie sie von ihm: Sie wanderten über ihr Gesicht, ihre verunstalteten Haare, die zu große Lederjacke und die schmale Jeans bis hinunter zu ihren bloßen Füßen. So hatte er sie auch angesehen, als sie sich in der Schule gegenseitig umgerannt hatten, beide hoffnungslos verspätet für die erste Stunde. Doch damals hatte ein Lächeln seine Miene erhellt, während er ihr aufgeholfen hatte, als würde ihm gefallen, was er da sah – heute blieb sein Gesicht leer. Aufmerksam, aber leer.

»Es war ein Autounfall«, flüsterte Sophie weiter, obwohl das klang, als wolle sie Julian an seinen eigenen Tod erinnern, und daran, dass er unmöglich hier sein konnte. »Ich habe gesagt, du sollst nicht mit Sean nach Hause fahren, erinnerst du dich? Ich habe dich gewarnt!«

Julian schwieg noch immer, Sophie griff nach seiner Hand – doch er riss sie weg, wiederum blitzschnell, bevor ihre Haut die seine berühren konnte.

»Was hast du? Rede mit mir!«

Verzweiflung in ihrer Stimme, denn mittlerweile verstand sie nichts mehr: Warum er weggelaufen war, warum er sie nicht umarmen wollte, warum er nicht sprach.

Julian hob eine Hand in einer Geste, als bitte er um Geduld. An seinem Gürtel hing ein Beutel, wie ihn auch Gin'Sah gehabt hatte – aus diesem zog er einen Bleistift sowie ein Notizheft. Schlug es auf, schrieb etwas hinein und reichte es Sophie. Sie nahm es, sah auf die ordentliche Schrift, ohne den Sinn der Worte wahrzunehmen, dann wieder auf Julians Gesicht. Sein so unglaublich lebendiges, unglaublich reales Gesicht, das zu sehen sie nach wie vor völlig verstörte und die immer gleiche Frage durch ihren Kopf jagte: Wie war das möglich?

Julian nickte nachdrücklich auf das Heft hinunter, Sophie drehte sich widerstrebend zum Licht und entzifferte das Geschriebene.

Ich kann nicht mit dir sprechen. Und ich bin NICHT Julian.

»Aber du siehst so aus wie er«, antwortete Sophie, erstaunt und trotzig. »Ganz genau so! Nur deine Haare sind länger, und ...«

Sophies Augen wanderten über die sandfarbenen Strähnen, die ihm sonst so widerspenstig in die Stirn gefallen waren und die nun glatt und lang den Rücken hinunter fielen. Viel zu lang, um in vier Monaten gewachsen zu sein. War das ein Hinweis darauf, dass der Junge recht hatte, dass er wirklich nicht Julian war? Aber das Muttermal ... Ja, er hatte sogar diesen kleinen Leberfleck an der Schläfe, und so etwas gab es nicht zweimal, nicht einmal bei Zwillingen!

Der Junge nahm ihr das Heft ab, kritzelte erneut einige Worte hinein.

Ich sehe genau so aus, dennoch bin ich nicht er. Ich habe nur das Äußere mit ihm gemein. Bitte, glaube mir.

Die Fragezeichen wuchsen. »Wenn du nicht Julian bist, dann ... kennst du mich gar nicht, oder?«, erkundigte sie sich zögerlich, und obwohl Sophie die Antwort ahnte, hoffte sie, dass sie anders lauten würde. Doch der Junge schüttelte wie erwartet den Kopf und machte aus ihrem Herzen einen schweren, schwarzen Klumpen.

Ich sah dich nie zuvor. Ich weiß, dass du Julian geliebt hast, aber ich kenne dich nicht und ich habe keine Gefühle für dich. Er zögerte, ergänzte dann: Es tut mir leid.

Nicht Julian. Keine Gefühle. Und es tat ihm leid. Sophie atmete tief ein, versuchte, sich in den Griff zu bekommen, diese bodenlose Enttäuschung herunter zu schlucken, die nach der unverhofften Wiedersehensfreude umso gnadenloser war. Und um ihren schwirrenden Kopf zu klären, denn wenn das hier nicht Julian war, war alles noch viel seltsamer!

»Warum kannst du nicht reden?«, fragte Sophie den Jungen, und wenige Sekunden später las sie die Antwort in dem Heft.

Ich vermag durchaus zu sprechen, aber nicht mit dir. Nur mit meinesgleichen.

»Und wer sind deinesgleichen?«

Er zögerte, warf Sophie einen prüfenden Blick zu, als wolle er abwägen, ob sie die Wahrheit vertragen könnte. Seine Augen versenkten sich in ihren und Sophie registrierte die selbst im matten Licht unverwechselbaren Goldpünktchen rund um die Pupille – ein weiterer Beweis gegen das, was er eben behauptet hatte. Das ist Julian, sagte alles in ihr, Kopf und Herz und Bauch, das ist doch Julian!

Der Junge nickte schließlich, als habe Sophie die Prüfung bestanden, dann notierte er etwas. Ein Wort nur, aber mehr bedurfte es gar nicht, um Sophie erneut schwindeln zu lassen und aus der harmlosen Angst in ihrem Magen ein gefräßiges Ungeheuer zu machen.

Tote.

***

»Tote?!?«

Seltsamerweise zweifelte Sophie keine Sekunde daran, dass wahr war, was er da sagte. Sie verspürte weder Unglauben noch Zweifel – und rückte trotzdem erschrocken ein Stück zur Seite. Das geschah ganz instinktiv, doch als die Augen des Jungen sich daraufhin sichtlich trübten, bereute sie das sofort: Es zeigte so deutlich nicht nur ihre Furcht, sondern noch stärker eine Abneigung, die sie indes gar nicht empfand.

»Tut mir leid, du hast mich erschreckt. Du siehst nicht tot aus. Du bist zwar blass, doch das warst du ja ...«

'Schon immer', hatte sie sagen wollen, verstummte aber. Das ist nicht Julian!, hämmerte sie sich in ihren Kopf und ahnte dabei, dass das vergeblich war, dass sie diesen Fehler wieder und wieder machen würde.

»Du sagst also, du wärst nicht Julian. Und hättest außer dem Aussehen nichts mit ihm gemeinsam.«

Der Junge nickte.

»Aber du bist ebenso tot wie er.«

Das wurde ebenfalls bejaht.

»Aber wie kannst du hier sein, wenn du tot bist?«, fragte Sophie, obwohl das sehr seltsam klang – der Junge antwortete ihr jedoch schnell, als sei das eine Frage, auf die er gewartet hatte oder die zu beantworten ihm leicht fiel.

Ich bin hier, weil es keinen Platz gibt, an den meine Seele gehen könnte.

»Ist ... mein Julian auch hier? Kann ich ihn sehen?«

Sophies Stimme klang hoffnungsvoll, denn noch war das kleine Flämmchen in ihrer Brust nicht ganz erloschen. Doch sie erntete nur ein Kopfschütteln und neue Worte im Heft.

Nein. Er hat einen solchen Ort, deswegen ist seine Seele aus deiner Welt verschwunden.

Sophie runzelte die Stirn. »Meine Welt? Was meinst du damit?«

Du bist jetzt in einer anderen Welt, schrieb er weiter, nämlich in meiner. Gin'Sah hat dich mitgenommen.

Sophie war erneut versucht, einen sicheren Abstand zwischen sich und diesen Jungen zu bringen: Was sie zu hören bekam, wurde immer verrückter. Dass sie nicht machte, dass sie wegkam, lag allein an diesem Gesicht, das sie völlig in seinen Bann gezogen hatte. Und es gab noch eine Frage, die sie stellen musste. Weil sie logisch war und sich aus dem ergab, was er zuvor gesagt hatte, auch wenn sie dieser Sache mit dem Sprechen wiedersprach.

»Aber ... ich bin nicht auch tot, oder?«, erkundigte sie sich und dachte mit Schaudern an ihre Ohnmacht in der Fabrikhalle – die vielleicht gar keine Ohnmacht gewesen war, sondern ihr Tod.

Sorge dich nicht, schrieb der Junge, nach einem raschen und entschiedenen Kopfschütteln, für das Sophie ihm unendlich dankbar war. Du bist am Leben, denn diese unsere Welt beherbergt nicht nur Tote.

»Und ... Gin'Sah?«

Auch er lebt.

Sophie merkte, dass sie die Luft angehalten hatte, wer weiß, wie lange schon. Nun seufzte sie erleichtert und besann sich auf das, was der Junge eben geschrieben hatte – über seine Welt, in der die Toten blieben.

»Du sagtest, Julian sei nicht mehr da, weil er nach seinem Tod gegangen sei. Was genau meinst du damit? Wohin soll er denn gegangen sein?«, verlangte sie zu wissen, was den Jungen traurig lächeln ließ.

An einen Ort, an dem seine Seele nach dem Tod zuhause sein kann. Ein Jenseits.

Ein Jenseits. Sophie dachte über dieses Wort nach, die Augen auf das Heft gesenkt. Kein Begriff, der in ihrem täglichen Wortschatz vorkam, auch wenn sie sich nach Julians Tod gefragt hatte, wo er wohl wäre. Ob es ihn doch noch gab, irgendwie, irgendwo – zumindest etwas von ihm. Einen winzigen Teil, der aber dennoch er war. Oder ob der gnadenlose, vom Aufprall an diesem Baum brutal verformte Stahl des Autos alles ausgelöscht hatte, was Julian einmal ausgemacht hatte. Jenseits ... Was war das? Der Ort, an dem das Leben nach dem Tod stattfand, wenn man an dergleichen glaubte. Himmel, Elysium, Paradies, Nirwana.

»Wieso hat deine Welt kein Jenseits?«, fragte Sophie, der Junge streckte die Hand nach dem Heft aus.

Das weiß ich nicht, kritzelte er hinein, mehr nicht.

»Versuch doch bitte, es mir zu erklären. Ich begreife schon nicht, wo ich hier bin. Was das mit 'eurer Welt' bedeuten soll.«

Er schrieb erneut, länger diesmal.

Es gibt eure Welt und unsere. Sie existieren zeitgleich und auch am gleichen Ort, sind in manchen Dingen voneinander abhängig, in anderen nicht. Und sie sehen anders aus, weil wir sie unterschiedlich gestaltet haben.

Sophie ließ mit gerunzelter Stirn einen Blick durch den Garten wandern und musste bei genauerem Hinsehen zugeben, dass sie dergleichen in London noch nie gesehen hatte. Es gab dort zwar jede Menge alte Gebäude aus verschiedenen Epochen, aber diese Architektur war grundsätzlich anders. Zu geschwungen die Bögen des Kreuzganges, zu flach das Dach, zu fremd die Kleidung der steinernen Statuen. Und: Dieser Kreuzgang sah nicht so alt aus, wie er es in ihrer Welt automatisch gewesen wäre, denn neue Bauten bestanden aus Stahl, Beton und Glas, nicht aus Stein auf Stein auf Stein.

Wir sind hier keine fünfhundert Schritte von dem Ort entfernt, an dem du geschlafen hast, stand in dem Heft, als Sophie sich erneut darauf konzentrierte, sie riss erstaunt die Augen auf: Das Fabrikgelände, in dem sich Johnnys Kinderasyl befand, war riesig. Es bestand aus zahllosen halbzerfallenen Hallen, überwucherten Bahngleisen und einem brackigen Kanal – dort gab es weit und breit keine derartige Siedlung, geschweige denn so einen Garten! Das einzige Grün dort waren die Brennnesseln, die aus dem aufgesprungenen Beton wucherten, und dass man Johnnys zugigen Schlafsaal den wohnlichsten Teil der Anlage nennen konnte, besagte schon alles.

»Warum existieren diese zwei Welten?«

Die Antwort auf diese Frage kennt niemand. Wir wissen von euch, doch ihr ahnt nichts von uns.

»Weshalb habt ihr uns denn nie gesagt, dass es diese Welt gibt? Und euch?«

Der Junge zuckte mit den Achseln, jedoch eher unwissend als gleichgültig. Seine Augen baten Sophie um Verzeihung, dass er ihr die Antwort schuldig bleiben musste, ein Ausdruck, den sie nur schwer ertrug: In ihrer Phantasie war Julian immer glücklich gewesen, wenn sie sich wieder sahen, er hatte ihr ernstes Gesicht und ihren Schmerz weggelacht, weil es ihm gut ging. Trotz allem, was passiert war. Sophie schluckte, rief sich ihr 'Das ist nicht Julian!'-Mantra ins Bewusstsein und konzentrierte sich auf diese Sache mit den zwei Welten.

»Wie unterscheiden sie sich?«

In vielen Dingen, in anderen wiederum gar nicht. Wenn wir etwa ein Haus bauen, tun wir das nach den gleichen physikalischen Gesetzen. Aber wie wir die Gebäude gestalten, entscheidet unser Verständnis dessen, was wir schön finden oder was unsere Art zu leben benötigt. Daher sehen die beiden Welten anders aus. Aber wir unterscheiden uns nicht nur in solchen banalen Dingen. Wir denken, dass unsere Welt die ideale Welt ist ...

Er hielt inne, strich das 'ideal' durch und klopfte sich selbstvergessen mit dem Stift gegen die Unterlippe, während er nachdachte. Eine Angewohnheit, wie es schien, und zwar eine, die Sophie von Julian nicht kannte: Er hatte sich immer mit dem Zeigefinger an der Nasenwurzel gerieben, wenn er grübelte, als er könnte damit sein Gehirn zum schnelleren Arbeiten anregen. Das Reiben hatte Sophie als liebenswert empfunden, während dieses Klopfen ihr nach kurzer Zeit richtiggehend wehtat: Als würde mit jedem Auftreffen des Stiftes auf dem weichen Gewebe der Satz 'Julian ist tot' Silbe für Silbe für Silbe in ihren Kopf gehämmert.

Sie musste den Blick abwenden, denn sie empfand plötzlich eine unsägliche Wut auf diesen Jungen. Wie konnte es sein, dass er hier war, Julian jedoch nicht? Warum war er in diese Welt geboren worden, wo der Tod nicht das Ende war – während Julian in einer hatte leben müssen, wo Sterben das gleiche war wie auf immer verloren?

Sophie spürte, wie ihre Hände sich zu Fäusten ballten und zwang sich zu einem tiefen Atemzug. Ja, es wäre besser, einen Julian zu haben, der nur schriftlich mit ihr sprechen konnte – besser, als völlig ohne Julian zu sein! Aber war es die Schuld dieses Jungen, dass er hier war oder dass seine Welt so verschieden war von ihrer? Dass jede seiner Bewegungen Sophie an einen anderen Menschen denken ließ? Sophie schloss die Augen. Was würde dieser Junge empfinden, wenn sie ihm gestand, wie sie fühlte? Dass sie sich nur für ihn interessierte, weil er aussah, wie er aussah? Er weiß das, sagte etwas in ihr, denn genau deswegen hat Gin'Sah ihn mitgebracht in die Fabrik, hat ihn vielleicht sogar hierher geschickt. Dennoch: Es war ungerecht, so zu denken.

Sophie straffte sich, öffnete die Augen. Der Junge schrieb wieder in seinem Heft, sie beugte sich zu ihm hinüber und las mit.

... denken, dass unsere Welt so etwas ist wie die beste aller möglichen Welten. Ihr macht so viele Fehler, es gibt so viel Leid in deiner Welt. Wir tun stets das Richtige, das, was gut ist.

»Aber wie könnt ihr erkennen, was das Richtige ist?«

Er zögerte erneut, zuckte dann überfordert mit den Schultern. Jemand sagte mal, es könne ein Experiment sein, notierte er. Zwei Welten, zwei Arten zu leben, eine würde zugrunde gehen. Doch das glaube ich nicht, fügte er rasch hinzu, als Sophie entsetzt die Augen aufriss – weil 'zugrunde gehen' schrecklich klang, nach Endzeit und Apokalypse. Es muss einen Sinn haben, dass wir euch kennen, ihr uns jedoch nicht, schrieb er weiter. Ihr seid so etwas wie ein schlechtes Vorbild, das uns anhalten soll, auf unserem Weg zu bleiben. Vielleicht tun wir das Richtige, weil wir sehen können, was ihr alles Falsches tut.

»Also ist hier« – Sophie deutete wage auf den Garten und meinte damit doch ungleich mehr – »alles perfekt?«

Nein, nicht alles.

»Wegen dieser Sache mit dem fehlenden Jenseits«, schlussfolgerte Sophie und erntete ein entschiedenes Nicken.

Ja. Daran hängt viel. Mehr, als man auf den ersten Blick vermutet.

»Und ihr wisst nicht, warum eure Welt genau da anders ist.«

Nein, aber natürlich gibt es Theorien. Eine besagt, dass wir einstmals ein Jenseits hatten, jedoch vergaßen, wie man hineingelangt. Eine andere behauptet, es läge daran, dass ihr Religion habt, wir dagegen nicht. Dass das der Grund sein könnte, warum wir nicht so sterben wie ihr.

»Wieso habt ihr keine Religion?«

Sie birgt viele Gefahren. Erinnere dich an die unzähligen Kriege, die religiös begründet wurden. Die Kreuzzüge. Hexenverbrennungen oder die Inquisition.

»Du weißt viel von meiner Welt«, bemerkte Sophie.

Wir studieren euch.

»Unter dem Motto 'Wie man es nicht machen sollte'.«

Auf diese Bemerkung kam ein Nicken als Antwort, garniert mit einem entschuldigenden Lächeln, das Sophie die Seele aufriss: Das war hundert Prozent Julian! So hatte er immer gelächelt, wenn sie sich gestritten hatten und er so oft derjenige gewesen war, der als Erstes die weiße Fahne hisste.

»Okay, nochmal«, bat sie den Jungen. »Es gibt zwei Welten, ihr habt mich aus meiner mitgenommen in diese. Eure Welt besitzt kein Jenseits, aber niemand kann erklären, warum. Und da es euch fehlt, bist du hier, obwohl du tot bist. Während Julian aus meiner Welt verschwunden ist, weil wir ein Jenseits haben.«

Der Junge nickte bekräftigend, somit hatte Sophie zumindest die Fakten richtig zusammengebracht. Begriffen hatte sie das Ganze allerdings nicht wirklich, klang das alles doch zu absurd. Parallele Welten, so was gab es nur im Kino! Andere Kleidung, seltsame Frisuren und komische Häuser, das war noch lange keine Bestätigung dafür, dass er die Wahrheit sagte! Aber er muss das auch nicht beweisen, erkannte Sophie mit Schaudern: Dass sie ihn sehen konnte, war der nötige Beweis, denn in ihrer Welt wäre es unmöglich. Wenn er wirklich tot war, wie er behauptete, denn dafür war ein bisschen Blässe kein Beleg. Sophies Augen fuhren über sein Gesicht, seine Brust. Blinzelte er? Nein. Füllte er seine Lungen mit Luft? Nein. War er also tot? Vielleicht. Wahrscheinlich. Er sah aus wie Julian und war tot wie Julian – war aber nicht Julian.

»Wer bist du?«, erkundigte sie sich schlicht, was den Jungen lächeln ließ, als würde ihn diese Frage freuen.

Ich heiße Lan'The.

Sophie wartete auf mehr, doch der Stift bewegte sich nicht weiter. Aber das war keine Erklärung, nur ein fremd klingender Name. Sie warf dem Jungen einen fordernden Blick zu und deutete nachdrücklich auf das Heft.

Julian und ich sind Spiegel – so nennen wir das. Unsere Ähnlichkeit ist stärker als die von eineiigen Zwillingen, wir sind körperlich absolut identisch. Jeder von euch hat ein solches Abbild in dieser Welt. Wird in eurer Welt ein Mensch geboren, erscheint er auch hier. Und wenn einer von euch stirbt, stirbt sein Spiegel bei uns. Unsere Welten sind somit verknüpft, ohne euch gäbe es uns nicht.

»Du bist also gestorben, als Julian gestorben ist?«

Ja.

»Genau so? Bei einem Unfall?«

Es war zwei Uhr morgens gewesen, die Jungs hatten zu viert im Auto gesessen. Am Steuer Sean, der kaum eine Woche seinen Führerschein besaß und ebenso lang diesen viel zu schnellen Wagen fuhr. Ein Baum, ein Brand – drei Jungs tot, einer wie durch ein Wunder unversehrt. Doch Julian hatte zu den Toten gehört, Julian war von einem Augenblick auf den anderen nicht mehr da gewesen.

Sophie schüttelte die Erinnerung an das verkohlte, von den Blechscheren der Feuerwehr auseinandergerissene Wrack ab und konzentrierte sich auf Lan'Thes Antwort.

Wir brechen zusammen, wenn unser Spiegel stirbt. Wo immer wir gerade sind. Unser Herz hört auf zu schlagen.

»Einfach so? Ohne ... Vorwarnung?«, fragte Sophie, Lan'The nickte, dann huschte der Stift zum wiederholten Mal in raschem Tempo über das Papier.

Werden wir alt, können wir uns denken, dass der Tod näher kommt. Doch stirbt unser Spiegel durch ein Unglück, sehen wir das nicht kommen.

»Werdet ihr denn krank, wenn wir erkranken?«

Nein.

»Und falls hier jemand einen Unfall hat?«

Wir verfügen über eine bessere Konstitution. Manche sagen, wir würden gar nicht sterben, tätet ihr es nicht.

Sophie runzelte die Stirn. In diesen Worten schien ein gewisser Vorwurf zu liegen, obwohl Lan'The sie nach wie vor unbefangen ansah: Ihr seid schwach, ihr bringt alles Leid in diese Welt.

»Okay«, sagte sie, »ihr sterbt also, wenn euer Spiegel stirbt. Und dann?«

Wo sich bei euch Körper und Seele trennen, das eine zerfällt und das andere fortgeht, klammern sich unsere Seelen an ihre Körper. Aber sie vermögen nicht alles zu halten, nur eine hohle Silhouette. Die Lebenden nehmen Abschied von uns, dennoch bleiben wir in dieser Welt. Wir können uns zeigen, doch wir gehören nicht mehr zu dieser Gesellschaft.

Sophie starrte auf das Papier. Sie war erschöpft und hatte das Gefühl, dass ihr Gehirn viel zu langsam arbeitete: Sie sprach mit einem Toten, der irgendwie noch lebte. Der Julians Spiegel war, aber nicht Julian. In einer anderen Welt, am gleichen Ort.

»Was meinst du mit 'Silhouette'?«, fragte sie schließlich. »Du siehst doch ganz normal aus.«

Lan'The warf Sophie wieder einmal diesen prüfenden Blick zu, als wolle er abschätzen, was er ihr zumuten konnte. Dann hob er seine Hand, senkte sie auf die ihre hinab – und hindurch. Es fühlte sich an, als würde ein kühler Hauch über ihre Haut streichen und die kleinen Härchen aufrichten: Sophie schauderte und war trotzdem fasziniert. Die Hand sah doch so massiv aus, nach Fleisch und Blut und Knochen!

Sie hob ihre Finger an Lan'Thes Gesicht, hielt jedoch inne, als er zurückzuckte, schnell wie ein Wimpernschlag. Sie berührte schließlich erst den Stoff seines Umhangs, der sich absolut real anfühlte, hob dann neuerlich die Hand, fragend und zögernd. Lan'The nickte, schloss die Augen, und Sophie strich vorsichtig über seine Wange. Nein, nicht über, sondern durch seine Wange, denn sie spürte so gut wie keinen Widerstand, als ihre Hand durch ihn hindurchging, nur wieder diese leichte Kühle: Als hielte man die Hand aus dem Fenster, hinaus in den Nachtwind.

Gespenstisch, dachte Sophie, ein anderes Wort fiel ihr nicht ein: Es fühlte sich absolut gespenstisch an.

»Wie geht das?«, flüsterte sie. »Wie kannst du hier sitzen, in dieses Heft schreiben und trotzdem so ... sein?«

So neblig, so geisterhaft, hatte sie sagen wollen, doch das hätte sehr negativ geklungen, nach Gespenstern und Erscheinungen. Und dieser Junge hatte nichts von einer Spukgestalt an sich, er war ein Mensch. Nicht aus Fleisch und Blut, sondern in einem anderen Aggregatzustand. Wie Dampf ein anderer Zustand von Wasser war, ohne dass man ihn deswegen fürchten musste.

Wir können die Dinge anfassen oder benutzen, die uns ins Grab gegeben werden, wie Kleidung, Stift und Papier, schrieb Lan'The. Wäre dieser Stift nicht mit mir begraben worden, könnte ich ihn nicht halten. Meine Hände würden durch ihn hindurchgehen wie deine Finger durch meine Haut.

»Warum ...« Sophie zögerte, fand den Einfall, der ihr gekommen war, schrecklich banal, sprach ihn aber doch aus, weil Lan'Thes Augen sie ermutigten. »Warum lasst ihr euch nicht mit Handschuhen begraben? Dann könntet ihr alles anfassen.«

Lan'The lachte. Er warf den Kopf nach hinten, seine Brust hob und senkte sich in schnellem Rhythmus, ohne dass ein Laut aus seiner Kehle kam. Oder besser: Ohne dass ein Laut aus seiner Kehle kam, den Sophie hören konnte. Schallte da gerade ein Ton durch diese Welt, den nur Ohren vernehmen konnten, die aus diesem kühlen Nachtwind gemacht waren? Der kleine Schauder, der nun Sophies Rücken hochkroch, entstammte der Ahnung, dass sie es hier mit Dingen zu tun hatte, die sie niemals zur Gänze würde begreifen können.

Eine gute Idee, aber wir sind schrecklich schwach. Ich vermag selbst mit umhüllten Fingern nur leichteste Gegenstände zu bewegen, eine Tür zu öffnen ist bereits unmöglich. Daher können wir nicht arbeiten, nichts zu dieser Welt beitragen. Und selbst wenn wir es könnten – ein Toter braucht kein Essen, kein Feuer und keine Kleidung, wozu sollte er arbeiten und den Lebenden ihr Brot nehmen?

Sophies Augen hingen an seiner Hand, saugten jedes Wort, das er in dieses Heft schrieb, mit einer Wissbegierde auf, die sie lange nicht mehr verspürt hatte.

»Erzähl weiter«, bat sie, als er stockte. »Erzähl mir, wie es ist, tot zu sein.«

Er sah auf, mit einer Traurigkeit in seinen Augen, die Sophie ihre Frage bereuen ließ – und die in ihrer Eindringlichkeit schon Antwort genug war.

»Entschuldige«, bat sie. »Aber für mich ist das hier völlig fremd, ich möchte nur verstehen, was du bist. Wie du dich fühlst.«

Lan'The zögerte, nickte, schrieb weiter.

Meine bloße Hand durchdringt alles, wäre ich nackt, könnte ich durch Wände gehen. Durch Mauern, Bäume, Steine. Nur auf der Erde kann ich laufen, egal auf welchem Belag und egal ob mit Schuhen oder ohne, so unlogisch das auch klingt. Doch dabei berühren meine Füße den Boden nicht – ich tue meine Schritte, dennoch machen meine Schuhe niemals einen Abdruck. Ja, so ist die Welt für einen Toten: Wie Sand, durch den du gehst, ohne ihn zu spüren und ohne eine noch so flüchtige Spur darin zu hinterlassen.

Ein eingängiges Bild, das Mitleid in Sophies Brust ergoss, bis sie eine unerträgliche Enge im Hals verspürte und Zuflucht zu einer wiederum ganz banalen Frage nahm.

»Bewegst du dich deshalb so schnell?«, erkundigte sie sich in Erinnerung an die Jagd durch die Gassen oder sein Zurückzucken eben, Lan'The nickte.

Wir sind wie der Wind, so flink und leicht. Weil nur die Seele bleibt, mit dieser dünnen Silhouette und allem, was zu ihr gehört, wie Gefühlen, Sehnsüchten oder Angst.

Eine Pause, in der er nachdachte.

Tot zu sein bedeutet auch, zu vermissen, fuhr er dann fort. Meine Eltern. Freunde. Ich vermisse es, in die Schule zu gehen ... Ja, selbst das Lernen vermisse ich. Doch noch stärker sehne ich mich danach, zu essen oder zu trinken. Ich brauche ich nichts dergleichen, weil ich keinen Körper besitze, trotzdem fehlt es mir. Geschmack. Das Gefühl von etwas Süßem oder Saurem, Heißem oder Kaltem auf der Zunge.

Er zögerte wieder kurz, schrieb dann aber mit Nachdruck weiter.

Es gibt einige, die sagen, Tote seien auf das Wesentliche reduzierte Menschen. Ohne störende körperliche Bedürfnisse, nur Geist. Das mag so sein, doch wenn du vorher einen Körper hattest, ist dieser Nebelleib eine Qual. Nach meinem Erwachen bin ich mit dem Kopf gegen Mauern gerannt und habe meine Hände tief ins Feuer gehalten, nur um Schmerz zu empfinden. Vergeblich.

Sophie wollte ihm mitfühlend eine Hand auf den Arm legen, hielt sich aber in letzter Sekunde zurück.

»Und was tust du? Wenn du eigentlich nichts tun kannst?«

Warten.

»Auf was?«

Auf den richtigen Tod. Auf ein Ende. Einen Neuanfang. Auf etwas, das anders ist als dieser Zustand, denn er ist unerträglich.

»Das verstehe ich«, erwiderte Sophie, eigentlich nur so dahin und aus Freundlichkeit, doch dann merkte sie, dass sie es tatsächlich begriff. Weil es dazu nicht viel brauchte. Wie sehr hatte es ihr eben wehgetan, diesen Jungen, den sie für Julian gehalten hatte, nicht umarmen zu dürfen – und wie schlimm musste diese Sehnsucht erst für ihn sein? Ihm erging es mit allen so. Und schlimmer noch: Er würde nie wieder einen Herzschlag, die weiche Haut oder auch den festen, warmen und Halt gebenden Körper eines anderen spüren. Ja, Sophie verstand, warum es unerträglich war, und als sie erkannte, dass dieser Zustand für die Toten dieser Welt ewig andauerte, tanzten schwarze Punkte vor ihren Augen.

»Was wollt ihr von mir? Ich bin wegen dieser Sache mit den Toten hier, nicht wahr?«, fragte sie, und bevor Lan'The darauf hatte antworten können, vernahm Sophie eine sanfte, freundliche Stimme, die sie mittlerweile kannte.

»Wir hoffen, dass du unsere Tür zum Jenseits findest und öffnest«, antwortete ihr Gin'Sah.

Sophie wand den Kopf: Er stand unter einem der Torbögen, ebenso aufrecht und stolz wie die Statuen, der Nachtwind zupfte an seinen hellblonden Haaren und dem im kalten Mondlicht womöglich noch weißer leuchtenden Stoff seines Gewandes.

»Warum?«, stieß Sophie hervor, »was habe ich damit zu tun?«

Gin'Sah kam mit geschmeidigen Schritten näher, kniete sich vor Sophie und sah ihr besorgt ins Gesicht. Er hob eine Hand, strich fürsorglich eine Haarsträhne aus ihrer Stirn – sie registrierte erleichtert die Wärme, die von dieser Hand ausging: Er war lebendig, wenigstens er!

Gin'Sah ließ seine Finger eine Sekunde an Sophies Wange ruhen, als ahnte er, was ihr durch den Kopf geisterte.

»Weil dein Spiegel in unserer Welt vor dir gestorben ist. La'Isa, meine Tochter«, sagte er. »Das ist äußerst selten, denn eure Welt birgt so viel mehr Gefahren.«

»Ist sie auch ... so?«

Sophies Stimme klang brüchig und Lan'The schlug die Augen nieder, als schäme er sich für seinen Zustand, was Sophie tief ins Herz schnitt, denn es war nicht seine Schuld. Es war Seans, aber er war ebenso tot, und somit gab es niemanden mehr, auf den sie ihre Wut schleudern konnte.

»Entschuldige«, sagte Sophie und legte ihre Hand nun doch auf Lan'Thes Arm, der sich durch den Stoff so nachgiebig anfühlte wie ein mit wenig Luft gefüllter Ballon. »Ich kann das nicht in die richtigen Worte fassen.«

Lan'The lächelte, Sophie musste erneut wegsehen, weil dieses Lächeln zu viel Julian enthielt.

»Ist La'Isa ... hier?«

Gin'Sah nickte. »Sie sind alle hier.«

Sophies Augen irrten durch den nächtlich dunklen Garten, als würden weitere Tote hinter den Büschen lauern. Ihr Blick blieb an einer verschleierten Mädchengestalt mit gesenktem Haupt hängen – nur eine von vielen Statuen, aber mit diesem Wissen plötzlich so schrecklich bedeutsam.

»Dies ist ein besonderer Ort«, erklärte Gin'Sah, dessen Aufmerksamkeit nichts zu entgehen schien. »Ein Garten der Begegnung, den Tote an ihrem Todestag aufsuchen und ihre lebenden Familienangehörigen treffen. Doch ich fürchte, ich habe mich falsch ausgedrückt: Ich wollte sagen, dass La'Isa noch in dieser Welt weilt, nicht, dass sie in der Nähe ist.«

»Aber ich kann sie sehen?«

Ein trauriger Schatten wanderte über Gin'Sahs Gesicht.

»Sie zeigt sich uns nicht«, sagte er. »Ihr Tod war ein schrecklicher Unfall, es mag sein, dass sie wütend ist auf den Schuldigen. Auf mich.« Er nickte, als Sophie erschrocken erstarrte. »Ja, es war meine Schuld, und sie hätte allen Grund, mich nie wieder sehen zu wollen.« Er verstummte, lächelte dann. »Wer weiß? Wenn sie erfährt, dass du hier bist, zeigt sie sich vielleicht.«

Gin'Sahs dunkle Augen versenkten sich in Sophies und sie fand nichts als Wohlwollen darin.

»Du solltest dich ausruhen. Ein Bett steht bereit, du kannst essen, baden, frische Kleider anziehen. Morgen früh bringe ich dich zum Rat, dort wird man dir erklären, wie du uns helfen kannst, und du wirst Antworten auf all deine Fragen bekommen.«

Das Angebot war verlockend, zumindest der erste Teil mit Essen, Bett und Bad, denn Sophie war müde, hungrig und seit Tagen ungeduscht. Dennoch, etwas mehr musste sie bereits heute wissen.

»Ich soll euren Toten also das Jenseits zeigen. Weil ich aus einer Welt komme, in der es eines gibt.«

Gin'Sah bejahte mit einem knappen Senken seines würdevollen Kopfes. »Du wirst als erster Mensch der anderen Welt in unserer sterben. Deine Seele wird den Weg zu eurem Jenseits suchen, unsere Toten werden ihr folgen. Und dort Eingang finden, dessen sind wir uns gewiss. Unsere Welten sind verknüpft, untrennbar, durch das Leben und somit auch durch den Tod: Wenn du unseren Toten den Weg weist, werden sie Frieden erfahren.«

»Ich soll also ... sterben?«

»Ja, aber nur vorübergehend.«

Die Angst in Sophies Brust wurde härter, kälter, greifbarer.

»Das habt ihr noch nie gemacht, oder?«, fragte sie, ihre Stimme war voller Zweifel. »Das ist ein Experiment.«

»Ja.«

»Und ... wie? Wie soll ich sterben?«

»Du wirst den Schierlingsbecher trinken.«

Sophies Spiegel

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