Читать книгу Sophies Spiegel - Tina Sabalat - Страница 5

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Eine Ewigkeit verging, bis Sophie in dieser Nacht Ruhe fand. Der Schlaf wollte einfach nicht kommen, obwohl sie so schrecklich erschöpft und das Bett denkbar bequem war. Doch in ihrem Kopf wirbelte es die Gedanken umher wie auf einem kunterbunten Karussell: schrill, laut und so rasant, dass sie keinen richtig fassen konnte. Tote und Jenseits und Lan'The und Julian und La'Isa und Schierling und Sterben. Und die andere Welt natürlich.

Als Sophie jetzt ins morgendliche Sonnenlicht blinzelte, fühlten ihre Augen sich klebrig und geschwollen an. Es brauchte einige Zeit, bis sie realisierte, wo sie war: in Gin'Sahs Haus, La'Isas Zimmer. Nicht weit entfernt von da, wo sie wohnte, und dennoch ganz woanders.

Sophie lauschte auf die Geräusche in der Wohnung und auf der Straße. Leise Stimmen irgendwo, ein paar Vögel raschelten und tschilpten in den Büschen vor dem Fenster – ruhiger als Sophies Welt war diese hier auf jeden Fall. Sophie horchte auch in sich hinein und stellte fest, dass sie sich eigentlich gut fühlte, und das war nicht nur der Nacht in dem warmen Bett zuzuschreiben. Etwas Anderes, etwas Neues hatte die ewig gleichen Gedanken an Julian und diese schwere, schwarze Trauer ein Stück zur Seite geschubst, und die Erwartungen an den heutigen Tag kribbelten bereits jetzt wie emsige Ameisen durch ihre Adern. Zum Rat sollte sie gebracht werden, über die Toten wollte man mit ihr reden. Über die Toten? Über ihren eigenen Tod traf es wohl besser!

Sophies Magen sackte ab, als habe ihn ein zu schneller Aufzug hinab in ein Stockwerk mit dem Namen 'Angst' befördert, tief unten im Keller, und ihre wohlige Schläfrigkeit war von einer Sekunde auf die andere verschwunden. Ja, sie hatte Angst vor dem, was sie heute erwartete, vor dem, was man mit ihr vorhatte. Doch die Angst war seltsam lebendig, seltsam aufputschend, und Sophie ahnte, dass das mit Julian zusammen hing. Oder besser gesagt mit seinem Spiegel, mit Lan'The. Gin'Sah hatte ihr versichert, dass sie ihn wiedersehen würde, als er sie gestern Nacht zu seinem Haus geleitet hatte – und Sophie freute sich darauf, auch wenn er nicht der war, nach dem sie sich wirklich sehnte.

Sie schlug die Decke zurück, schlüpfte in Jeans und T-Shirt, hielt vergeblich nach ihren Stiefeln Ausschau und tapste schließlich auf bloßen Füßen in den Flur, noch immer lauschend. Stimmen kamen aus einem Raum rechts, Sophie identifizierte Gin'Sah und eine Frau, fremde Silben vermischten sich mit bekannten zu einer unverständlichen Sprache. Das vertraute englische 'th' war vorhanden, benutzt zusammen mit vollen Vokalen und Schnarrlauten – die Sprache ähnelte wohl am meisten dem Altenglisch, das Sophie aus der Schule kannte, dennoch verstand sie nichts. Das Gespräch wurde leise geführt, klang aber durchaus lebhaft: Gerade war die Frau an der Reihe, und ihr Monolog entbehrte nicht einer gewissen Schärfe.

Der Raum besaß nur einen Vorhang vor dem ungewohnt runden Durchgang, Sophie klopfte gegen die Wand und trat ein, als die Stimmen verstummt waren.

»Guten Morgen«, sagte sie, während ihre Augen das Zimmer musterten: Flache Bänke mit dicken Polstern darauf umstanden einen niedrigen Tisch aus dunklem Holz, an den weißen Wänden hingen handgewebte Teppiche. Es sah irgendwie orientalisch aus, fand Sophie, wie in einem Hotel, in dem sie mal in Tunesien gewesen war. Aber nicht fremd oder besonders anders als in ihrem Zuhause. Blau, Sonnengelb und Rot beherrschten die Stoffe – inmitten dieser kräftigen Farben nahm sich Gin'Sah mit seiner weißen Kutte und den hellen Haaren fast ungesund bleich aus.

Er hatte mit einer braunhaarigen, zierlichen, ausgesprochen hübschen Frau seines Alters gesprochen, die Sophie von dem Familienbild in La'Isas Zimmer wiedererkannte. Und als er sich jetzt Sophie zuwandte, geschah dies mit einem Lächeln und einer Verbeugung, zu der er die Hände vor dem Bauch verschränkte, so dass die Fingerspitzen der aneinandergelegten Handfläche nach unten wiesen.

»Sophie«, sagte er, »wie schön. Tritt ein, fühl dich wie zuhause. Dies ist La'Shi, meine Frau.«

La'Shi trug ein dunkelblaues Kleid mit einem prachtvollen Silbergürtel darüber, zwei dicke Zöpfe fielen ihr meterlang und glänzend auf den Rücken. Und das Lächeln, mit dem sie sich Sophie zuwandte, gefror in knisternder Zeitlupe zu Eis, als ihre Augen auf deren Antlitz trafen. Sie taumelte einen Schritt nach hinten, Gin'Sah griff nach ihrem Arm, Besorgnis im Blick.

Sie hat geglaubt, ihre Tochter wäre wieder da, dachte Sophie, als die Frau sich abwandte, die Hände vor das Gesicht schlug und Sophie damit an ihr eigenes Entsetzen erinnerte, als der totgeglaubte Julian vor ihr aufgetaucht war. Und an die Enttäuschung, als sie hatte begreifen müssen, dass dieser Junge nicht Julian war, dass dieser Junge sie weder kannte noch liebte.

»Tut mir leid«, sagte Sophie.

»Das musst es nicht«, erwiderte Gin'Sah schlicht, »es ist nicht deine Schuld.«

Er strich seiner Frau über den Rücken, sie ließ sich auf die Polster sinken, als fehle ihr die Kraft zum Stehen. Dann fühlte Sophie sich kaum merklich am Ellbogen gefasst und aus dem Raum geführt.

»Komm, begleite mich«, sagte Gin'Sah. »Du wirst hungrig sein. Aber erst einmal solltest du dich erfrischen.«

Der sanfte Druck an ihrem Arm beförderte Sophie zurück in den Flur und vor eine hölzerne Tür.

»Das Bad«, erklärte Gin'Sah überflüssigerweise, als Sophie zögerte: In ihrem Kopf formulierte sich eine Frage, die sie eigentlich schon gestern hätte stellen müssen, die aber über diese Sache mit Julian und den Toten vergessen worden war.

»Darf ich dich was fragen?«, erkundigte sie sich trotzdem vorsichtig, Gin'Sah nickte ermutigend.

»Gewiss. Ich will dir alles sagen, was du wissen möchtest.«

»Wenn du der Vater von La'Isa bist und La'Shi ihre Mutter – warum erkenne ich niemanden von euch? Du bist meinem Vater in keinster Weise ähnlich.«

»Euere Spiegel erscheinen hier, sobald ihr geboren werdet«, antwortete Gin'Sah. »Es gibt Orte, überall auf der Welt, die wir Mutterschreine nennen. Dort finden sich Schalen aus Stein, in denen die Kinder wie aus dem Nichts auftauchen. Nackte, schreiende Bündel, keine Minute alt.«

Aus dem Wohnzimmer drang ein unterdrücktes Schluchzen. Gin'Sah sah zu dem Durchgang, schob Sophie dann bestimmt ins Badezimmer und schloss die Tür hinter ihnen.

»Verzeih, La'Shi geht all das sehr zu Herzen«, sagte er entschuldigend, fuhr dann in seiner Erklärung fort. »Die Kinder, die in den Mutterschreinen erscheinen, werden adoptiert. Geburten gibt es bei uns nicht, das macht unsere Welt abhängig von eurer. Die Kinder werden in der Reihenfolge ihres Erscheinens vergeben, und so kann es sein, dass ich La'Isa meine von Herzen geliebte Tochter nenne, auch wenn sie dies in deiner Welt nicht ist.«

Sophie nickte langsam. »Ich habe eine Schwester. In meiner Welt. Cathryn. Also ist Cathryn ... nein: der Spiegel von Cathryn hier bei anderen Eltern?«

»So ist es. Aber ich glaube, dass wir unseren Söhnen und Töchtern ebenso viel Liebe geben, wie ihr das vermögt.«

»Ganz bestimmt«, erwiderte Sophie, was Gin'Sah zu freuen schien, dann ließ er sie allein.

***

Das Bad besaß eine in den Boden eingelassene, steinerne Wanne, tief, jedoch nicht besonders groß, so dass man in ihr hocken musste. Das Wasser plätscherte reichlich, aber nur lauwarm aus einem Hahn – die kochend heiße Dusche, nach der Sophie sich gesehnt hatte, fiel damit aus. Die bereitgelegte Zahnbürste war aus Holz, die Zahnpasta verbarg sich in einem Döschen, die Seife roch nicht so blumig, wie Sophie es gewöhnt war, sondern herb nach Kräutern. Sie fand ein Fläschchen mit einem Öl, das sie statt einer Creme verwendete, und da nirgends ein Föhn zu sehen war, musste sie sich damit begnügen, ihre nassen Haare mit einem Kamm zurecht zu striegeln. Die Frisur, die das ergab, machte Sophie selbst nicht sehr glücklich, hätte ihre Mutter jedoch zweifelsohne wieder zum Weinen gebracht, begleitet von einem geschluchzten 'Ach Kind, was hast du nur getan?'

Das Kleid, das Gin'Sah ihr hingelegt hatte als Austausch gegen ihre muffigen Fabrik-Klamotten war hellblau, bodenlang, oben schmal und unten weit, mit einem runden Ausschnitt und engen Ärmeln bis zum Handgelenk. Um die Hüfte wurde eine Lederkordel geschlungen, die Schuhe waren braune Ballerina aus weichem Leder. Die Sachen passten ihr wie angegossen, und Sophie wusste nur zu gut, warum das so war: Sie hatten La'Isa gehört. Ja, sie hatte im Bett einer Toten geschlafen und trug ihre Kleider. Aber das war erträglich, wenn es der Preis dafür war, Lan'The wiederzusehen.

Nach dem Bad wartete in einem stillen Esszimmer mit einem Tisch und hochlehnigen Stühlen aus dunklem Holz ein Pfannkuchen auf Sophie, der bitter nach Vollkorn schmeckte. Dazu gab es Kompott und einen müsliartigen Brei, dem ein paar Löffel Zucker gut bekommen wären, sowie Milch. Als Sophie satt war und nur noch halbherzig getrocknete Obststücke aus dem Müsli pickte, ging irgendwo im Haus eine Tür und rasche Schritte eilten durch den Flur heran.

»Mutter, bist du hier?«

Der Junge, der in das Esszimmer trat, kam Sophie dumpf bekannt vor, und seine Frage half ihr, eins und eins zusammenzuzählen: Er war La'Isas Bruder, der in einer jüngeren Version zusammen mit den Eltern auf dem Bild in ihrem Zimmer abgebildet war. Jetzt mochte er etwa achtzehn sein, und seine Augen weiteten sich überrascht, als er Sophie erblickte. Im Gegensatz zu seiner Mutter fing er sich jedoch rasch und musterte Sophie, als wäre sie nun wirklich die Letzte, die er sehen wollte.

Er hatte kastanienbraune Haare, die wie bei Gin'Sah bis über die Schultern fielen, allerdings von einigen Wellen bewegt. Helle Haut mit Sommersprossen, tiefblaue Augen, kräftige Kieferknochen und ein Mund, der spöttisch wirkte – oder amüsierte er sich etwa über sie? Gutaussehend war er, befand Sophie nüchtern, als besähe sie sich das Foto eines Fremden in einer Zeitschrift, sehr sogar, auch wenn sein hochmütiger Gesichtsausdruck mit diesem hochgereckten Kinn das nicht gerade positiv unterstrich. Der Junge trug die hier übliche Gewandung in der gleichen Farbe wie Lan'The, diesem hellen Braun, und war mehr nur als ein Stück größer als Sophie. Seine Beine schienen da aufzuhören, wo sie im Ganzen endete: Kein Wunder, dass er so eingebildet war, von dieser Höhe konnte er auf alles und jeden herabsehen.

»Was ist deinem Haar geschehen?«, fragte La'Isas Bruder anstelle einer Begrüßung, Sophie fühlte sich überrumpelt.

»Wie bitte?«

»Deine Frisur, sie sieht abscheulich aus. Was ist damit geschehen?«

Ähnlich wie sein Vater sprach er das Englisch langsam, aber sehr korrekt – als beherrsche er es eher theoretisch als praktisch, als habe er es eher aus Büchern denn durch praktische Übung gelernt.

»Bist du Friseur, oder was?«, schnappte Sophie, weil ihr spontan nichts Besseres einfiel, woraufhin sich die Stirn des Jungen fragend furchte.

»Was ist ein Friseur?«, erkundigte er sich – in einem Tonfall, als sei es ihre Schuld, dass er das nicht wusste.

Sophie lächelte. »Nachdem du mich nach meiner Frisur gefragt hast und ich einen Friseur erwähnt habe, wird das wohl jemand sein, der Haare schneidet.«

Sie gab die Suche nach essbaren Bestandteilen in der Müsli-Matsche auf und schob die Schale auf den Tisch.

Der Junge schnaubte abfällig. »Jeder vermag Haare zu schneiden. Nur derjenige nicht, der deine geschnitten hat.«

»Gib mir eine Tube Gel, dann sieht das schon anders aus. Aber so was habt ihr hier ja nicht.«

»Eine was wovon?«

Sophie seufzte und schenkte dem Jungen unter hochgezogenen Augenbrauen einen Blick.

»Vergiss es, das verstehst du eh nicht. Hast du wenigstens das Wort 'Tube' schon mal gehört?«

»Nein.« Der Junge verschränkte die Arme vor der Brust, Sophie triumphierte innerlich ein wenig: Sah aus, als würde sie Boden gutmachen.

»Gibt es in diesen Tuben vielleicht auch etwas, das den Schmutz aus deinem Haar entfernt?«, fragte er dann jedoch, was ihm Sophie zähneknirschend als einen Punkt anrechnen musste, während sie sich um einen absolut unbewegten Gesichtsausdruck bemühte.

»Das ist schwarze Farbe, kein Schmutz. Und das bleibt so.«

»Warum?«

Eine harmlose Frage, doch Sophie spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Und das war mehr als nur ein weiterer Punkt für ihn, das war ihr Schachmatt. Seine veilchenfarbenen Augen weiteten sich für eine Sekunde: Er hatte die Röte bemerkt, und Sophie wurde wütend. Was hatte dieser Typ gegen sie? Er kannte sie nicht einmal!

»Vielleicht soll das genauso aussehen, wie es aussieht«, gab sie zurück, »schon mal daran gedacht?«

»Warum um alles in der Welt solltest du so aussehen wollen?«

Weil meine Haare der einzige Teil meines Körpers sind, den ich schmerzlos verstümmeln kann. Weil Schwarz die Farbe der Trauer ist. Weil ich hoffe, dass die Haare nachwachsen, dass mit den Löchern und der Farbe die Trauer verschwinden wird. Und damit mein Schmerz. All das hätte Sophie sagen können, aber es kam ihr nicht über die Lippen: Es war persönlich, ganz schrecklich persönlich, und es ging diese eingebildete Sommersprosse absolut nichts an.

»Leck mich«, gab sie zurück und warf den Löffel in das Müsli, was die Miene des Jungen noch mehr verfinsterte: Um Schimpfworte zu verstehen, schien sein Englisch zu reichen.

»Mundet es dir etwa nicht?«, erkundigte er sich in herausforderndem Tonfall, als hätte er das krümelige Zeug zusammengerührt.

»Nein. Es schmeckt wie Sand mit Quark.«

Er öffnete den Mund, zweifelsohne, um ihr entsprechend zu antworten, als Gin'Sah in die Küche trat.

»Ah, ihr habt euch schon kennen gelernt«, sagte der, und Sophie konnte der Gelegenheit nicht widerstehen, um dem Jungen noch einen mitzugeben. Auch wenn sie sich schon selbst zusammengereimt hatte, wer der Neuankömmling war.

»Nein«, antwortete sie, »haben wir nicht. Wer bist du eigentlich?«

Letzteres richtete sie in unschuldigem Tonfall direkt an den Jungen, der straffte sich.

»Na'Bao«, sagte er, mehr nicht. Sophie legte abwartend den Kopf schräg, der Junge presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Die Stille währte zehn, zwölf Sekunden, dann räusperte sich Gin'Sah vernehmlich.

»Ich bin Gin'Sahs und La'Shis Sohn, La'Isas Bruder«, ergänzte Na'Bao und vollführte unter den strengen Augen seines Vaters sichtlich widerwillig die steife Begrüßungsverbeugung, die Sophie schon von Gin'Sah kannte.

»Wo warst du?«, fragte Gin'Sah seinen Sohn, der nun scheinbar der Höflichkeit gegenüber Sophie genüge getan hatte. Na'Bao antwortete in der Sprache dieser anderen Welt und erntete Worte, die aus dem sonst so bedächtigen Mund Gin'Sahs ungewohnt scharf klangen. Der Junge erwiderte etwas in einem ähnlichen Tonfall und Sophie fand ihn mittlerweile unerträglich, unverschämt und arrogant.

»Wir brechen jetzt auf, du wirst uns begleiten«, sagte Gin'Sah auf Englisch, nachdem der Streit ein oder zwei Minuten hin und her gegangen war. Minuten, in denen Na'Baos Miene immer trotziger geworden war und sich Gin'Sahs kühles Gesicht tatsächlich ein wenig erhitzt hatte.

Als wäre es die finale Höchststrafe, Sophie länger ertragen zu müssen, verzog der Junge erneut den Mund und antwortete seinem Vater wieder in seiner Sprache. Die Worte kamen schnell und drängend, seine Gestik in Richtung Sophie war vorwurfsvoll. Er verstummte indes mitten im Satz, als Gin'Sah eine Hand hob und aus funkelnden Augen einen Blick abschoss wie einen kalten, schwarzen Blitz.

»Genug. Deine Mutter ist unpässlich, und es ist nicht tragbar, dass ich allein Sophie geleite. Zudem dürfte es deinem Ruf nützen, wenn du dich mit ihr zeigst. Wenn du bereit bist, brechen wir auf«, fügte Gin'Sah an Sophie gerichtet hinzu, was diese mit Wucht zu dem zurückholte, weswegen sie hergeholt worden war.

War sie bereit? Nein, ganz und gar nicht. Die morgendliche Vorfreude auf das Wiedersehen mit Lan'The war verflogen, sie fühlte sich wieder fremd und allein in dieser Welt. Kam das von dem, was Na'Bao da wieder aufgewühlt hatte mit der blöden Frage nach ihren Haaren? Ja, aber nicht nur. Sie solle sterben, hatte Gin'Sah gestern Nacht gesagt, und das klang auch in der besten aller möglichen Welt gefährlich. Was war das überhaupt, die beste aller möglichen Welten? Keine ideale Welt, das hatte Lan'The ja zugegeben. Nein, 'die beste aller Möglichen' war weniger als ideal, weil es hier immer noch Dinge gab, die aus Ideal eben nur das Bestmögliche machten. Also schlechte Dinge. Dinge, die schief gingen.

Als Sophie nun aufstand, fühlte sie sich so zitterig, als stände sie kurz vor der wichtigsten Prüfung ihres Lebens. Gin'Sah hatte einen dieser Kapuzenumhänge über dem Arm getragen, im gleichen hellblau wie ihr Kleid, legte ihn Sophie um die Schultern und fädelte dann vorn die silberne Fibel ein, als helfe er einem Kind beim Anziehen. Seine klugen Augen fuhren über ihr Gesicht, und Sophie spürte, dass er sich um sie sorgte. Und ihre Angst erkannte.

»Der Rat wird dir deine Fragen beantworten. Man wird dir alles erklären und dich zu nichts zwingen«, sagte er sanft, und Sophie nickte, weil sie nicht wusste, was sie hätte antworten sollen.

***

Ein sommerlicher Morgen wartete draußen, doch Gin'Sah hatte Sophie die Kapuze ihres Umhanges tief ins Gesicht gezogen. Noch jemand, dem meine Haare nicht gefallen, dachte sie resigniert und war versucht, die warme Hülle trotzig abzuschütteln. Als ihr auf dem Weg zum Sitz des Rates nun jedoch die ersten Menschen begegneten, ahnte sie, dass er das aus anderen Gründen getan hatte: Die Frauen trugen sämtlich hochgetürmte, verwirrend geschlungene Flechtfrisuren, ähnlich der La'Isas auf dem Porträt. Hatte Sophies selbstgemachter Punklook in den Straßen Londons niemanden geschockt, wäre er hier zweifelsohne höchst auffällig gewesen, vielleicht sogar eine Provokation.

Gin'Sahs Hand lag erneut leicht an ihrem Oberarm, Na'Bao hielt sich erst ein paar Schritte hinter ihnen, schloss nach einem scharfen Blick seines Vaters aber auf. Sophie registrierte, dass sie La'Isas Bruder wirklich nur bis ans Kinn reichte, und wünschte sich, sie trüge ihre Stiefel: Der Absatz würde sie ein paar Zentimeter in die Höhe heben, das grobe Profil hätte für einen selbstbewussten Gang sorgen können. Diese Schläppchen zwangen sie zu einem mädchenhaften Trippelschritt, der sie irgendwie noch kleiner machte.

Während die Drei durch die sonnigen Gassen gingen, fragte Sophie sich, warum Na'Bao eben so unfreundlich gewesen war. Gut, sie hatte vorher erst zwei weitere Menschen aus dieser Welt kennen gelernt, nämlich Gin'Sah und Lan'The, doch beide waren ganz anders als dieser Junge. Zurückhaltend, höflich. Na'Bao dagegen wirkte gereizt und angespannt. Nein, mehr noch: Als würde unterschwellig etwas in ihm brodeln, wie eine Lavakammer unter der starren, aber gefährlich brüchigen Oberfläche eines Vulkans. Auch jetzt hatte er die Hände tief in die Taschen seines Gewandes gerammt, als wären sie zu Fäusten geballt und er könne sich nur mit Mühe zurückhalten, sie zu benutzen – die Frage war nur, gegen wen oder was.

»Vorsicht Stufe«, vernahm Sophie Gin'Sah und realisierte, dass sie auf eine Treppe zusteuerten, die von dieser Wohnstraße in eine weitere hinunterführte.

Hatte er bemerkt, dass sie seinen Sohn angestarrt hatte? Hoffentlich nicht, das wäre zu peinlich! Sie schwor sich, den Jungen ab jetzt mit ebensolcher Verachtung zu strafen, wie ihm das so mühelos bei ihr gelang, und zudem, sich diese fremde Welt anzuschauen: Was wollte sie erzählen, wenn sie in die ihre zurückgekehrt war? Dass es da einen Typen gegeben hatte, der sie wegen ihrer Haare angemacht hatte? Wenn sie zurückkehrte. Ja, das war das entscheidende Wort, realisierte Sophie, als die Angst sie erneut im Magen kitzelte, und so mussten nun Menschen, Gebäude und Straßen nicht nur dafür herhalten, sie von Na'Baos brodelnder, schweigsamer Gestalt abzulenken.

***

Im Tageslicht sah die Stadt noch idyllischer aus als in der Nacht. Die einstöckigen Häuser wirkten wie aus einem Feriendorf, mit sanft gerundeten Mauern aus gelbem Stein, flachen Schindeldächern und weiß umfassten Fenstern, hinter denen sich Vorhänge im Sommerwind bewegten. Ganz leicht nur, als wollten sie nicht zu hektisch wirken. Blumen blühten in Beeten, die Wege strahlten blitzsauber, die Luft roch nach Heu – ein Geruch, den Sophie in einer Stadt lange nicht mehr wahrgenommen hatte. Es gab keine Fahrzeuge in den Gassen, aber es waren einige Menschen unterwegs, gemessenen Schrittes, als könne nichts sie zur Eile antreiben.

»Sehen alle eure Städte so aus?«, fragte Sophie beeindruckt, Gin'Sah antwortete mit gedämpfter Stimme.

»Sprich bitte leiser«, bat er, »ich möchte nicht, dass du Aufmerksamkeit erregst.«

»Kann hier jeder Englisch?«

»Nein, kaum jemand.«

»Sprecht ihr in dieser Welt alle eine Sprache?«

»Nein, wie bei euch hat jede Chora ihre eigene Mundart. Doch wir reisen sehr wenig, so dass man in diesen Straßen nur selten fremde Sprachen vernimmt. Und unweigerlich auffällt, wenn man anders spricht.«

»Was ist eine Chora?«

»Ihr würdet es als ein Land bezeichnen, selbst wenn viele Choras größer sind als eure Länder. Die, zu der diese Insel gehört, heißt Cydona. Sie umfasst all das, was ihr Europa nennt, bis zur Grenze, die euer Fluss Wolga bildet.«

Das war auf halbem Wege nach Sibirien, erinnerte Sophie sich an die entsprechende Erdkundestunde.

»Zu deiner ersten Frage«, fuhr Gin'Sah fort. »Ja, die Städte in dieser Chora sehen ähnlich aus, allerdings variiert die Bauweise nach den klimatischen Gegebenheiten.«

»Ich meinte eher, ob sie so sauber sind. Und so ruhig.«

Gin'Sah bog zielgerichtet von einer Straße in die andere. Sophie ahnte, dass sie sich unweigerlich verlaufen würde, gäbe man ihr den Auftrag, zu ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren: Die Gassen waren einander zum Verwechseln ähnlich, Straßenschilder oder Hausnummern nirgends zu sehen.

»Nun, dieses Viertel besteht aus Wohnhäusern, es gibt andere, in denen sich Läden befinden oder Werkstätten. Aber wir legen sehr viel Wert auf Sauberkeit und Ordnung.«

Eine Gruppe weißgewandeter Männer kam ihnen entgegen, sie alle nickten Gin'Sah zu, er erwiderte den Gruß.

»Bedeuten diese Farben eigentlich was?«

Sophie wies auf das Kleid, dass sie trug und das Gewand, das Na'Baos lange Beine bei jedem Schritt bauschten.

»Ja. Unsere Gesellschaft gliedert sich in Gilden, jede hat ihre eigene Farbe. Beamte tragen weiß, La'Shis dunkelblaue Kleider identifiziert sie als Gelehrte. Das helle Blau bezeichnet Schüler der zweiten Schule, das helle Braun die der Dritten.«

»Zu einer Gilde gehört man wegen seines Berufes, oder?«

»Ja, das ist richtig.«

»Orientiert ihr euch bei dem, was ihr werdet, an uns? An euren Spiegeln?« Sophie hielt inne. »Wisst ihr überhaupt, was die tun? Besucht ihr alle eure Spiegel regelmäßig?«

»Wir können uns in eurer Welt zeigen, wie du ja erlebt hast«, sagte Gin'Sah. »Den Übertritt zu erlernen dauert jedoch sehr lang. Diejenigen, die das vermögen, nennen wir Weltengeher, und in dieser Chora gibt es gerade mal ein Dutzend. Die meisten Menschen hier haben deine Welt nie besucht, ihren Spiegel nie gesehen. Sie wissen, dass es die andere Welt gibt und dass sie ein Abbild haben, aber sie versuchen, möglichst wenig daran zu denken.«

»Damit sie nicht das Gefühl haben, Kopien zu sein?«

Gin'Sah dachte über diese Frage nach.

»Nein, dieses Problem kennen wir nicht. Dabei liegt es eigentlich nahe, nicht wahr? Ihr werdet zuerst geboren, das macht uns zu Abbildern von euch. Aber es gibt so wenig Berührungspunkte der Welten, dass das im Leben der Menschen keine Rolle spielt. Weltengeher sind eine Ausnahme, es ist unser Beruf, zu euch zu kommen. Und ... ja, natürlich besucht jeder Weltengeher irgendwann auch einmal seinen Spiegel. Um zu sehen, was er tut, wie er ist.«

»Wo lebt denn deiner?«, erkundigte Sophie sich, »auch in England?«

»Ja.«

»Und was ist er von Beruf? Ebenfalls Beamter?«

»Nun, zunächst solltest du wissen, dass alle Menschen, die im Palast angestellt sind, Beamte geheißen werden. Ich bin der Weltengeher, aber auch der Heiler und Apotheker des Rates«, erklärte Gin'Sah, was für Sophie um einiges interessanter klang, dann lachte er leise. »Mein Spiegel in eurer Welt ist so etwas wie ein Künstler. Er lebt im Norden dieser Insel in einer Hütte an einem See und fertigt Skulpturen. Als ich ihn das letzte Mal sah, war er gänzlich unbekleidet und bearbeitete mit der Axt einen Holzklotz, dem er den Namen seiner Frau gegeben hatte.«

Sophie musste grinsen – kaum in der Lage, sich den würdevollen Gin'Sah als verrückten Künstler vorzustellen.

»'Das letzte Mal'? Also hast du deinen Spiegel schon oft besucht«, schlussfolgerte sie, Gin'Sah nickte widerstrebend, als handele es sich um ein unfreiwilliges Geständnis.

»Ich kann das verstehen«, fuhr Sophie fort. »Wenn ich wüsste, dass es mich doppelt gibt ... Ich hätte versucht, sie zu sehen. Das ist völlig natürlich.«

Eine Bewegung zu ihrer Linken weckte Sophies Aufmerksamkeit: ein interessiertes Kopfwenden von Na'Bao, seine erste Reaktion auf dem ganzen Weg, hatte er doch den Rest des Gesprächs geschwiegen und sich durch nichts anmerken lassen, dass er überhaupt zuhörte. Er sah jedoch nicht Sophie an, sondern seinen Vater – als wäre er gespannt auf dessen Antwort.

»Ja, für junge, wissbegierige Menschen mag das natürlich sein. Den meisten hier erscheint eure gefährliche, schmutzige Welt jedoch als wenig lebenswerter Ort und ihr als keine erbauliche Gesellschaft«, erwiderte Gin'Sah. Na'Bao verzog den Mund, als wäre er enttäuscht über diese Worte, Sophie brauchte einige schweigend zurückgelegte Meter, bis sie verstand, was Gin'Sah damit über sie und ihre Welt gesagt hatte.

»Ihr haltet uns für dumm und ungesittet, euch für überlegen.«

Gin'Sah schüttelte daraufhin den Kopf, runzelte aber fragend die Stirn, als Sophie noch etwas murmelte.

»Verzeih, was sagtest du?«

Sie winkte ab. »Nichts Wichtiges. 'Morlocks und Eloi'.«

Gin'Sahs Stirnrunzeln vertiefte sich.

»Aus einem Buch, das wir in der Schule gelesen haben: 'Die Zeitmaschine' von H.G. Wells«, erklärte Sophie. »Darin gibt es eine hochentwickelte, schöne Art Menschen, die auf der Erde leben, und eine dreckige, fiese, hässliche Sorte, die im Untergrund haust.«

»Du hast ein Detail unerwähnt gelassen«, überraschte Na'Bao Sophie, nachdem er aufgelacht hatte, leise und wissend. Er hatte eigentlich eine angenehme Stimme, fand sie, wenn er nicht gerade herumkeifte. Was er meinte, war leicht zu erraten, aber Sophie kam nicht umhin, erstaunt zu sein: Woher kannte er dieses Buch?

»Die Morlocks fressen die Eloi«, ergänzte sie wiederstrebend. »Ich wollte damit aber nur sagen, dass ihr euch für besser haltet, uns für Monster.«

»So ist es nicht«, erwiderte Gin'Sah, und in seiner Stimme lag Gewissheit. »Na'Bao, du weißt das, Sophie, dir versichere ich es. Schau, unsere Welt ist nicht zuletzt deshalb so harmonisch, weil wir von euch zu lernen vermögen – eine Chance, die ihr nicht habt. Ihr müsst alle Fehler selbst machen, wir ziehen dagegen wertvolle Lehren aus den euren. Das ist auch die vornehmliche Aufgabe von uns Weltengehern: Nützliche Errungenschaften aus deiner Welt in unsere mitzubringen.«

Na'Bao gab ein ungläubiges Schnauben von sich, das Gin'Sahs Stimme schärfer machte, als er fortfuhr.

»Würden wir euch wirklich so gering schätzen, müssten wir jeglichen Kontakt meiden, aber das tun wir nicht. Doch stell dir vor, wir alle würden in deiner Welt herumstreunen, Dinge stehlen und unsere Spiegel beobachten. Was für ein Misstrauen ergäbe das! Du siehst: Es schützt uns beide, dass die Welten so wenig Berührungspunkte haben wie möglich.«

Während er das sagte, lagen seine Augen streng auf Na'Bao, dessen Gesicht nun wieder mürrisch wirkte. Sophie vernahm die indirekte Rüge mit Interesse – scheinbar hatte Na'Bao ein Hobby, das seinem Vater nicht gefiel. Das, was Gin'Sah als 'Herumstreunen' bezeichnet hatte? Wahrscheinlich.

Gin'Sahs kluge Augen huschten über Sophies Gesicht, als prüfe er, ob auch sie verstanden hatte. Scheinbar nicht zufrieden mit dem Ergebnis, wies er in eine Gasse, die vom breiteren Hauptweg abwich.

»Kommt hier entlang. Sophie, ich möchte dir jemanden zeigen. Eine Frau, von der die Weltengeher einst viel lernen konnten, die nun aber gefangen ist in ihrer eigenen Welt. Oder besser: in ihrer Sucht nach eurer.«

Sophie folgte ihm, sich nur zu bewusst, dass Gin'Sah ebenso Na'Bao angesprochen hatte wie sie.

»Die Frau, die wir besuchen, heißt Hil'Leh und zählt fast neunzig Jahre. Mittlerweile ist es auch das Alter, das sie schwächt, doch noch mehr leidet ihr Geist unter dem nicht zu überwindenden Drang, ihren Spiegel zu sehen und ihn für das zu hassen, was er ist. Du musst wissen, dass Hil'Leh schon jung zu Ruhm gelangte. Sie war die Weltengeherin des damaligen Rates und die beste, die es bis dahin gegeben hatte. Natürlich besuchte sie ihren Spiegel, und weil sich die beiden Bilder des Spiegels zumindest in ihrer Intelligenz gleichen, war sie zunächst darüber erfreut, dass ihr Abbild gleichfalls zu Ehren gelangte. Hier entlang.«

Gin'Sah ließ Sophie auf den Vorplatz eines Wohnhauses treten, in Aussehen und Größe vergleichbar mit seinem.

»Zunächst war Hil'Keh ihrem Spiegel voraus, denn sie hatte früher mehr erreicht. Und natürlich genoss sie den stummen Triumph, den Spiegel sehen und über ihn urteilen zu können, während er nichts von ihr wusste – gewiss ein Gefühl von Macht. Dann holte der Spiegel auf, doch Hil'Keh konnte das würdigen. Eine Frau, ebenso klug und stark wie sie selbst, warum sollte sie nicht ihren Weg gehen? Doch als der Erfolg des Spiegels größer und größer wurde, wandelte sich die Anerkennung in Angst. Davor, im Vergleich mit dem Spiegel kleiner zu sein, weniger geschafft zu haben. Ein Spiel zu verlieren, von dem der andere nicht einmal wusste, dass es gespielt wurde.«

Gin'Sah betätigte einen schlichten Metallring an der Tür, das Klopfen hallte kräftig durch die Gasse.

»Aus den gelegentlichen Besuchen wurden wöchentliche, dann tägliche, schließlich ging sie, wann immer sie konnte. 'Nur einen kurzen Blick', pflegte sie zu sagen und verschwand bald mehrfach in der Stunde. Verreiste ihr Spiegel und konnte sie ihm ob der großen Entfernungen nicht folgen, war sie voller Verzweiflung. Sie verlor jedes Interesse an ihrem eigenen Leben. Natürlich vernachlässigte sie ihre Pflichten, natürlich entließ man sie aus ihrer Stellung. Ab diesem Moment gab für sie nur noch ihren Spiegel – und die Frage, wann dessen Schicksal sich ebenfalls so wenden würde.«

Die Tür wurde geöffnet von einem schlanken Mann in etwa Gin'Sahs Alter. Er schien den Weltengeher zu kennen, denn die Begrüßungsverbeugung vollführte er mit einem freundlichen Lächeln. Gin'Sah sagte ein paar für Sophie unverständliche Sätze, der Mann maß Sophie mit prüfendem Blick, nickte dann Na'Bao zu als, würde er ihn kennen, und ließ sie ein.

»Hil'Leh ist heute eine Gefangene ihrer eigenen Neugierde«, fuhr Gin'Sah leise fort, während der Mann sie durch einen Flur bis zu einem Durchgang führte, »sie verlor ihren Geist über dem Zwang, diese zweite Version ihrer selbst zu sehen. Zu übertreffen. Zu beneiden, und schließlich zu hassen. Schau ihr zu: Wenn sie innehält und die Augen schließt, siehst du den Versuch, von dieser Welt in deine zu wandern. Sie vermag es nicht mehr, weil ihr Geist zu unstet ist, um die nötige Konzentration aufzubringen, doch sie vergisst dies, sobald sie die Augen wieder öffnet. Ein Teufelskreis.«

Er schlug den schweren Vorhang zur Seite, der den Durchgang verdeckte, sie traten in ein Wohnzimmer: niedrige Sofas, Teppiche an den Wänden, Kissen auf den Polstern, ein Tisch. Auch auf dem Boden lag ein Teppich, und seltsamerweise fiel Sophie als erstes auf, wie ausgetreten und fadenscheinig er war. Ausgelaugt geradezu, und zwar von den langsamen und unsicheren, dennoch aber unermüdlichen Schritten einer alten, gebeugten Frau. Ihr Gewand wetteiferte mit ihrer tausendfach gefältelten Haut und ihren watteweichen Haaren um das weißeste Weiß, eine blau geäderte Hand stach daraus hervor und umklammerte einen knorrigen Gehstock. Die Augen richteten sich ins Nichts, die dünnen Lippen murmelten unablässig leise vor sich hin. Ein Schritt, ein Schritt, ein Schritt – dann stockte die Frau. Sie schloss die Augen, presste die Lider zusammen, als konzentriere sie sich, für eine Sekunde, zwei, drei, vier. Darauf folgte ein erschöpftes Kopfschütteln, eine quälend langsame Drehung, und der Weg begann von neuem. Sie hatte die Eintretenden nicht registriert, war versunken in irgendetwas, das in ihr tobte und sie völlig einnahm.

Sophies Augen begleiteten sie auf ihrem Weg und sie verspürte Mitleid mit der Frau, deren gebeugtem Körper trotz allem anzusehen war, dass sie einmal anders gewesen war. Aufrecht, klug, stolz und überlegen. Etwas in diesem Gesicht kam ihr bekannt vor, und als die Frau bei ihrer nächsten Kehrtwende die Lippen unter der schmalen, aber fast kühn geschwungenen Nase zusammenpresste, erkannte Sophie sie.

»Ich weiß, wer ihr Spiegel in unserer Welt ist. Sie heißt Margaret Thatcher und war Premierministerin.«

Gin'Sah lächelte und nickte, doch als er schon eine Geste zum Ausgang machte, zweifellos, um sie wieder hinaus auf die Straße zu geleiten, erklang eine kratzige, heisere Stimme: Die alte Frau war erwacht aus ihrem Trott. Die hellen Augen lagen auf Sophie, geweitet, erstaunt, fordernd.

»Du beherrscht die Sprache. Ihre Sprache. Du nennst den Namen. Ihren Namen. Kommst du von dort? Kennst du sie?«

Mit jede Satz wurde die Stimme kräftiger, mit jedem Satz kam die Frau näher. Langsam, aber zielgerichtet und mit scheinbar neu entdeckter Kraft.

»Sprich, Mädchen. Kennst du sie?«

Mittlerweile war die Frau so nah, dass der saure Geruch ihres zahnlosen Mundes Sophie umwehte. Und sie war unsicher: Sollte sie antworten? Durfte sie?

»Mädchen, sprich. Sprich!«

Die Alte streckte ihre zitternde, klauenartig abgemagerte Hand aus, als wolle sie nach Sophie greifen, diese machte einen Schritt zurück – und fühlte eine kräftige Hand an ihrem Arm, die sie zur Seite zog. Doch zu ihrer Überraschung gehörte die Hand nicht Gin'Sah, sondern Na'Bao.

»Nein, sie kennt sie nicht«, antwortete La'Isas Bruder für Sophie. »Aber sie hat Nachrichten aus der anderen Welt.«

»Ist das wahr?«

Sophie nickte, verwirrt von Na'Baos unerwarteter Hilfe wie auch unsicher darüber, was sie antworten sollte.

»Ja. Ich ... ich habe gelesen, sie sei krank. Sie hat vergessen, wer sie ist und erkennt selbst ihre Familie nicht mehr.«

Hil'Leh nickte. Und noch einmal, als habe sie erst mit Verzögerung verstanden, was Sophie gesagt hatte.

»Wie ich«, antwortete sie mit tastender Stimme. »Das ist nicht gut. Oder doch? Weil wir am Ende ein Schicksal teilen?« Sie schüttelte den Kopf, als wisse sie es nicht, dann lagen die hellen Augen wieder auf Sophie. »Weißt du mehr?«

»Nein. Tut mir leid.«

»Das muss es nicht, mein Kind, ich werde selbst nachsehen. Ja, einmal noch, nur ganz kurz.«

Hil'Leh lächelte, wandte sich um – und nahm die ewige Wanderung wieder auf, in der Sophie, Gin'Sah und Na'Bao sie vorgefunden hatten, als habe es diesen kleinen, wachen Moment nie gegeben.

***

»Ich verstehe, was du mir zeigen wolltest«, sagte Sophie, als sie mit Gin'Sah und Na'Bao kurz darauf wieder durch die sonnigen Gassen ging. »Es kann zur Besessenheit werden. Aber es geht nicht allen so, oder?«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Gin'Sah, während Na'Bao sich erneut zurückfallen ließ, als gäbe es für ihn nichts interessantes zu hören. »Doch die Gefahr besteht. Ich brachte Na'Bao und La'Isa hierher, bevor ich anfing, sie den Übertritt zu lehren, denn dieses Schicksal prägt sich ein.«

»Also konnte La'Isa meine Welt wechseln?«, fragte Sophie, nun mit einem unwohlen Gefühl im Magen. Es mochte verführerisch oder auch verwirrend sein, in dieser Welt zu leben und eine andere besuchen zu können – aber wirklich unheimlich war es, wenn man in ihrer Welt steckte. In der Welt, die nichts über die andere wusste. Wenn man der war, der aus dem Schatten belauert wurde. Hatte La'Isa ihr zugesehen, wenn sie zur Schule gegangen, mit ihren Freundinnen in der Stadt herumgestreift oder mit Julian zusammen gewesen war? Sophie unterdrückte ein Frösteln: Bespitzelt von sich selbst – das war wirklich gruselig.

»Ja«, erwiderte Gin'Sah schlicht auf Sophies Frage. »Aber ich lehrte sie, verantwortungsbewusst damit umzugehen, und das nicht nur, um sie vor solch einem Schicksal zu bewahren. Das Weltengehen wird vom Rat streng kontrolliert, Übertritte sind nur mit Erlaubnis und unter Aufsicht gestattet. Vor allem, damit keine Dinge in diese Welt gelangen, die ihr schaden.«

»Was meinst du? Waffen? Drogen?«

»Ja. Aber auch schlechtes Gedankengut.«

»Wie ... Nazi-Zeug? Rassismus?«

»Ja. Die Menschen hier sind nicht schwerer zu verführen als ihr. Vielleicht noch leichter, fehlt ihnen doch jegliche Erfahrung mit solchen Dingen.«

Sophie, Gin'Sah und Na'Bao stiegen erneut eine Treppe hinab, passierten dann einen Torbogen, der eine Mauer durchquerte und von zwei Männern in enger, schwarzer Lederkluft bewacht wurde, bewaffnet mit langen Speeren. Ihre Augen unter enganliegenden Helmen musterten die Drei aufmerksam, ließen sie aber passieren. Hinter dem Tor veränderte sich das Bild der Stadt: Breitere Straßen und zusammenhängende Fassaden, in den meisten Häusern befanden sich Läden. Hölzerne Schilder prangten wie Wappen über den Türen, die Wege waren plötzlich gut gefüllt mit Leuten, die Körbe unter dem Arm trugen und scheinbar den täglichen Einkauf erledigten.

Sophie zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht, während ihre Augen von links nach rechts schossen und alles registrierten: Die farbenfrohen Auslagen der Läden, lachende Kinder, die einen Reifen durch die Gasse trieben, ein kleiner Markt mit Ständen, die Gemüse, Obst und Blumen anboten. Verkauft von durchwegs Gelbgewandeten, die Gin'Sah auf Sophies Frage als Angehörige der Händlergilde identifizierte.

»Wenn ihr so selten wie möglich zu uns kommt, holt ihr auch nicht oft Menschen her, oder?«, griff Sophie den Gesprächsfaden wieder auf – mit gedämpfter Stimme, um niemanden auf sich aufmerksam zu machen.

»Nein, aber nicht nur, um die Welten getrennt zu halten. Lebewesen sind schwierig zu transportieren – es ist, als würde sich die Seele sträuben, ihre Welt zu verlassen. Diese Kunst beherrscht keine Handvoll Menschen in dieser ganzen, großen Welt.«

»Also bin ich nicht die Erste, die ...«

Gin'Sah schüttelte sofort den Kopf. »Wie gern würde ich das sagen, aber es wäre falsch. Hil'Leh war die erste, der diese Kunst gelang, ich erlernte sie von ihr. Wir wählten Schlafende und brachten sie zurück, bevor sie erwachten. Wenn es dich freut: Du bist zwar nicht der erste Mensch aus eurer Welt, der unsere betritt, doch durchaus der Erste, der sie tatsächlich sieht und sich in ihr bewegt.«

Sophie nickte, und als sie kurz darauf an eine weitere Mauer mit schmalem Tordurchgang kamen, hielt die erhobene Hand einer Wache sie auf. Gin'Sah reichte dem Mann ein Blatt Papier, wies dabei auf Sophie und Na'Bao. Sophie musste ihre Kapuze zurückschlagen, Na'Baos Anblick löste eine kurze Diskussion aus, die ein Fingerzeig Gin'Sahs auf das Papier jedoch beendete. Man ließ sie passieren, und die Drei traten hinaus auf einen Platz, groß wie ein Fußballfeld: kreisrund, weitläufig, leer und von steinernen Stelen umgeben, die an Obelisken erinnert hätten, wenn sie nicht oben abgerundet gewesen wären. Ihnen gegenüber erhob sich das erste mehrstöckige Gebäude, das Sophie in dieser Stadt sah: ein Marmor-Palast von vielleicht vier oder fünf Etagen, mit riesigen Fenstern und Säulen vor einem hohen Portal. Der Sitz des Rates, vermutete Sophie, deren Magen prompt wieder diese dumpfe Angst vermeldete: Es wurde ernst.

Sophies Spiegel

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