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4. Liv

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Liv spähte auf das krakelig geschriebene Kennzeichen im Formular des Mietvertrages, suchte mithilfe des Schlüssels den richtigen Kombi heraus und legte die Hundedecke im Kofferraum aus. Sie probierte mehrfach die Kofferraumautomatik und war zufrieden, wenn die Klappe jedes Mal hochsurrte wie eine Zugbrücke. Dass ihr Verhalten leicht zwanghaft wirkte, war ihr bewusst, aber dieses Feature am Schlüssel eines BMWs sorgte dafür, dass sie bei Gefahr Frieda rausspringen lassen konnte. Die beobachtete mit schief gelegtem Kopf, wie Liv den Leihwagen mit der Fernbedienung verriegelte, und trottete zu ihr, als Liv sanft gegen ihr Bein klopfte. Das Hotel war so nah am Bahnhof, dass das Umparken des Wagens länger gedauert hätte als der kurze Fußweg. Der Hund wedelte mit dem Schwanz und freute sich auf den Spaziergang.

In ihrer Suite angekommen, sah sie sich erfreut um. Hier würde sie es einige Zeit aushalten können. Das Hotel hatte versichert, dass sie das Upgrade von den Spesen trennten und an sie persönlich in eine separate Rechnung packen würden. Liv hasste enge Räume und genoss die finanzielle Freiheit, zu buchen, was sie wollte.

Wieder und wieder wählte sie erfolglos die Nummer ihres Informanten.

„Verdammt. Wo steckst du?“ Genervt lief sie vor dem Fenster auf und ab. Sie setzte sich, sprang aber sofort wie ein Flummi wieder auf. Liv griff in ihre Reisetasche und zog die Laufsachen heraus. Sie brauchte ein Ventil, um ihre Unruhe abzuschütteln. Frieda bellte die Sportschuhe an, als Liv die Schnürsenkel verknotete, und drückte so ihre Begeisterung aus.

Liv rannte schon ihr ganzes Leben. Früher hatte sie hin und wieder vorsichtig in sich hineingehorcht mit der Frage, wovor sie überhaupt wegrannte. Sie hatte immer Angst gehabt, die Antwort darauf genauer zu erforschen. Seit zwei Jahren lag die Lösung vor ihr. Anders als erwartet. Es gab einen Grund, zu fliehen. Keine diffusen Kindheitserinnerungen, die sie gemeinsam mit einem Profi ans Licht zerren musste. Seit der Reportage und dem Überfall auf sie, war die Bedrohung real. Rennen alleine reichte Liv nicht mehr aus. Ein Lehrer in Frankfurt brachte ihr die aus Frankreich stammende Sportart Parkour bei. Einige Jahre zuvor war sie durch einen James-Bond-Film auf diesen Sport aufmerksam geworden. Liv hatte fasziniert den Verfolgungsjagden über Baugerüste und Autos zugesehen. Die Geschicklichkeit und das Training, das den ganzen Körper forderte, begeisterten sie. Seitdem hechtete sie über jede Art von Hindernis, die sie in einer Stadt finden konnte. Müllcontainer, Parkhausrampen, Einzäunungen, Bänke. Alles konnte überwunden werden.

Als klar wurde, dass sie mit ihrer Vorgeschichte, der Bedrohung und dem amtlich bekannten Personenschutz niemals einen Waffenschein bekommen würde, hatte sie sich zudem illegal eine Waffe besorgt. Das war in Frankfurt beängstigend einfach. Der Verkäufer hatte ihr auch einen ausreichend zwielichtigen Verein gezeigt, in dem sie mit ihrer Glock 17 trainieren konnte. Aber die Waffe war für sie nur die allerletzte Möglichkeit, wenn sie mit dem Rücken an der Wand stehen würde und jeder anderen Fluchtmöglichkeit beraubt war. Das Wegrennen und das Überwinden von Hindernissen liebte sie. Die Waffe nicht.

Liv sprang mit Frieda die Treppen hinunter und joggte zum Stadtwald. Sie checkte, dass ihr Blackberry so eingestellt war, dass er einen Anruf in voller Lautstärke ankündigte, was sie sogar neben einem startenden Flugzeug hören würde. Kaum erreichten sie den ersten Baum, tauchten sie in eine andere, friedvollere Welt ein. Im Wald vergaß sie, dass sie mitten in der Stadt war. Der Boden federte, es roch nach Moos und feuchtem Laub. Nach wenigen Metern wurden die Straßengeräusche von engagiertem Vogelgeträller überlagert und waren kaum noch zu hören.

„Und los“, rief Liv und spurtete sofort zur ersten Bank. Frieda setzte ihr nach.

Nachdem sie eine Stunde lang jedes Hindernis bezwungen hatten, stand Liv deutlich ruhiger unter der Dusche. Der Blackberry lag auf einem Hocker immer in Reichweite und schwieg. Was sollte sie jetzt als Nächstes tun?

Nachdem sie sich angezogen hatte, rief sie nochmals Edgars E-Mail auf und betrachtete das Vergewaltigungsbild. Wieso kam ihr der Typ nur so bekannt vor? Sie vergrößerte den Gesichtsausschnitt und rief ihre Fotodatenbank auf. Seit den Anfängen als Journalistin pflegte sie Visitenkarten, Fotos und Informationen über Politiker, Wirtschaftsbosse und andere Meinungsbildner dort ein. Wenn sie nach Pressekonferenzen über Konzerne einen Artikel schreiben wollte, hatte sie die Gesichter zu den Visitenkarten meist wieder vergessen. Schauspieler oder Sänger legten viel Wert auf ihre Individualität, aber Wirtschaftsbosse sahen fast alle gleich aus und trugen die gleichen Anzüge.

Liv öffnete zusätzlich ein professionelles Bildbearbeitungsprogramm. Wenn es früher schnell gehen sollte und die Zeitung ihr keinen Fotografen zur Seite gestellt hatte, musste sie damals auch die Fotos machen, bearbeiten und mit dem Artikel in die Redaktion schicken. Vorsichtig entfernte sie die schwarze Augenmaske aus dem vergrößerten Ausschnitt. Welche Augen könnte ein hellhäutiger Mann mit so blonden Haaren haben? Sie scrollte durch ein paar Modelle und wählte ein blassblaues Paar. Nachdem Liv die Augen in das Bild eingefügt und die Ränder retuschiert hatte, kribbelte es ihr bis unter die Haarspitzen.

„Dich kenn ich doch irgendwoher …“

Sie wählte aus ihrem Ordner eine seit Langem nicht genutzte Datei namens „Hannover“ und studierte bei den darin enthaltenen Porträtaufnahmen Bild für Bild. Ab und an wählte sie ein Foto aus, zog ihr selbstgebasteltes Bild daneben und schüttelte jedes Mal den Kopf. Also weiter. Liv wechselte zu den Gruppenbildern, vergrößerte die Aufnahmen und musterte jeden Kopf. Da! Sie klickte das Bastel-Bild daneben, vergrößerte den Kopf und klatschte so laut in die Hände, dass Frieda erschrocken den Kopf auf ihrer Decke hob.

„Hab ich dich!“

Weggeworfen / Vergangen: Zwei Romane in einem Band

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