Читать книгу GEGEN UNENDLICH. Phantastische Geschichten – Nr. 15 - Tino Falke, Michael J. Awe - Страница 5

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Sascha Dinse

RISSE

Das feuchte Tuch vor meinem Mund vermag kaum den beißenden Geruch fernzuhalten, der durch das Gebäude zieht wie der Hauch des Todes. Irgendwo im Erdgeschoss hat es gebrannt, und auch wenn die Flammen mittlerweile erstickt sind, liegt doch überall brenzliger Dunst in der Luft, der in den Lungen brennt. Die Beleuchtung ist weitgehend ausgefallen, nur hier und da kündet noch ein flackerndes Licht davon, dass hier bis vor Kurzem Menschen gearbeitet, miteinander geredet und gelacht haben. Es grenzt an ein Wunder, dass überhaupt noch Reste von Elektrizität zu finden sind.

Nach dem Kollaps der öffentlichen Ordnung ist es beinahe unmöglich geworden, sich durch die Stadt zu bewegen. Die Hauptverkehrsstraßen sind blockiert mit unbrauchbaren Autos und es dauert länger als je zuvor, über Schleichwege und Nebenstraßen von einem Ende der Stadt ans andere zu gelangen. Nicht, dass es vorher ein entspannendes Vergnügen gewesen wäre, sich durch diesen Schmelztiegel aus wütenden Idioten und rücksichtslosen Arschlöchern zu kämpfen, doch jetzt ist es weitaus schlimmer. Die Straßen sind voll von Menschen in Panik, Familien auf der Flucht, die allesamt versuchen, sich in Sicherheit zu bringen. Fast sind sie zu beneiden, die Hoffnungsvollen, die noch immer glauben, dass in ein paar Wochen alles wieder beim Alten sein wird. Doch es gibt keine Erlösung, keine göttliche Intervention in letzter Sekunde. Sechs Tage, so heißt es, hat Gott gebraucht, um die Welt zu erschaffen. Drei Tage sind vergangen, seit sich der erste Riss geöffnet hat. Es wird kaum weitere drei dauern, bis nichts mehr von uns übrig ist.

Ich erreiche Jacobsons Büro im fünften Stock. Die Tür steht offen und durch die Fenster fällt der Feuerschein brennender Gebäude hinein, lässt Schatten an den Wänden hin und her zucken, Abbilder des Untergangs, der die einstige Metropole mehr und mehr in eine Geisterstadt verwandelt. Aus der Manteltasche fördere ich die kleine Taschenlampe zutage, die ich seit dem ersten Stromausfall im Labor stets bei mir trage. Unmengen von Papieren sind auf dem Boden verstreut, wissenschaftliche Arbeiten, Ausdrucke, Kopien. Bei unserem letzten Gespräch hatte Jacobson noch Hoffnung, dass es eine Möglichkeit gäbe, den Untergang aufzuhalten. Ich hingegen habe mich mit der Wirklichkeit abgefunden. Das ist das Ende, nicht mehr und nicht weniger. Ich weiß, dass ich es verdient habe, doch ich will es wenigstens verstehen. Nur aus diesem einen Grund bin ich hier. Es mag zynisch klingen, aber ich bin dankbar dafür, dass Mitsuko und Katie das hier nicht mehr erleben müssen.

Die Luft knistert, schwach nur, doch ich bemerke es. Mir bleibt nicht viel Zeit. Ich schalte die Taschenlampe an, stecke sie zwischen meine Zähne und hole das Brecheisen hervor. Zielstrebig gehe ich zum Schreibtisch, hebele die Schubladen auf und hoffe, darin Jacobsons Aufzeichnungen zu finden. Typisch für ihn hat er alles aufgeschrieben, ganz altmodisch mit Stift und Papier, statt es nur digital zu erfassen. Es sind die einzigen Dokumente, die uns geblieben sind, nachdem fast sämtliche Technologie unbenutzbar wurde. Hastig greife ich alles, was nach Notizen und Dokumenten aussieht, lege es auf den Tisch und finde am Boden der ersten Schublade etwas, mit dem ich hier am allerwenigsten gerechnet hätte. Ohne lange nachzudenken, stecke ich die kleine Pistole ein, es schadet sicher nicht, sich im Notfall zur Wehr setzen zu können. Die Risse sind nicht die einzige Bedrohung da draußen, Horden von marodierenden Plünderern tun ihr übriges, um den Niedergang der Stadt zu beschleunigen. In den anderen Schubladen kommen mehr Papier, ein paar Datenträger, ein Diktiergerät und dazu passende Tonbandkassetten zum Vorschein. Ich klaube alles zusammen und fülle es in einen herumstehenden Karton. Bevor ich mich davonmache, nehme ich das Foto unserer Forschungsgruppe vom Schreibtisch mit. Vielleicht ist es das Einzige, was von uns bleiben wird.

Ich muss verschwinden, bevor sich ein Riss manifestiert, sonst ergeht es mir wie Willard und Jack. Sie dachten, sie hätten eine Möglichkeit gefunden, das alles zu beenden. Ich habe beide sterben sehen, unten im Labor. Wir können nur laufen, uns verstecken und dafür sorgen, dass sie uns nicht finden. Ein Rennen gegen die Zeit, das wir verlieren werden.

Es ist auf eine grausame Weise erstaunlich, wie unwichtig all die Errungenschaften der modernen Zivilisation, all unsere geliebte Technologie, all unser Fortschritt werden, wenn es um das nackte Überleben geht. Nachdem sich die ersten Risse draußen geöffnet hatten, dauerte es nur wenige Stunden, bis Stromversorgung und Kommunikation zusammenbrachen. Unsere Kraftwerke müssen auf diese Dinger wie ein All-you-can-eat-Buffet gewirkt haben. War es anfangs noch möglich, im Radio Informationen über die Ausbreitung des Phänomens zu erhalten, brachten die elektromagnetischen Störungen der Risse schnell jegliche Übertragung zum Erliegen. Polizei und Militär stellten schmerzhaft fest, dass das, was aus den Rissen kommt, sich nicht mit Waffen bekämpfen lässt. Wie soll man töten, was nicht lebendig ist?

Auf dem Weg nach unten denke ich unentwegt an Cassie und frage mich, ob ich sie je wiedersehen werde.


Elektronische Musik schallt durch das Labor. Felicias Playlist ist wirklich gut und lässt mich konzentriert arbeiten. Ein weiteres Mal gehe ich die Aufzeichnungen der Testläufe durch, kalibriere die Instrumente, gleiche Informationen und Messwerte ab. Auch wenn bisher alles glatt lief, so bin ich doch skeptisch, ob wir damit nicht zu weit gehen. Ich war nie ein religiöser Mensch, doch selbst mir kamen Jacobsons Worte seltsam vor, als er davon sprach, dass wir an Gottes Stelle über das Leben gebieten könnten, wenn wir nur entschlossen genug wären.

Das rote Licht blinkt auf und ich schaue zur Eingangstür des Labors. Eine junge Frau mit dunklem Haar, das zu einem geraden Pony geschnitten ist, und einer Brille auf der Nase winkt mir zu. Sie hält ein Schriftstück in die Höhe und deutet darauf. Ah, richtig, Jacobson hatte davon erzählt, dass er mir eine Assistentin besorgen wollte. Ich drehe die Musik leiser, gehe zur Tür und öffne.

»Guten Abend«, sage ich freundlich. »Du bist Cassandra, nehme ich an.«

Sie nickt und streckt mir die Hand entgegen. »Cassie«, erwidert sie lächelnd und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Dr. Jacobson sagte, ich solle mich so bald wie möglich vorstellen.«

»Komm rein«, sage ich einladend und trete beiseite. Cassie gleitet an mir vorbei, einen Hauch dezenten Parfüms mit sich bringend. Ich schließe die Tür und betrachte die Frau, die sich gerade im Labor umschaut. Sie trägt schwarze Schuhe und einen knielangen Rock, darüber eine weiße Bluse, schlicht und elegant. War ich bisher wenig begeistert von der Idee, jemanden zur Seite gestellt zu bekommen, so verfliegt meine Ablehnung zusehends.

Plötzlich fährt Cassie herum. »Flesh Field?«, fragt sie erstaunt und bewegt sich im Rhythmus der Musik.

Ich nicke. »Das ist Epiphany«, antworte ich. »Von einem uralten Album, aber noch immer gut.«

»Das läuft oft im Arcane«, grinst sie. »Ich liebe diesen Song. Der Text ist phantastisch.«

»Gleich morgen früh stelle ich dir Felicia vor«, sage ich lächelnd, »ich bin sicher, ihr werdet euch sehr gut verstehen.«


Das Dröhnen der Stadt übertönt alles. Nur hier und da kann ich einzelne Geräusche identifizieren, wie das Aufheulen eines Motors, das Rumpeln einer vorbeifahrenden Bahn oder das Piepen der Ampelanlagen, die wie Schleusen den niemals versiegenden Strom von Menschen separieren. Eine kleine Gruppe huscht über die Straße, bevor rotes Licht den Nachfolgenden Einhalt gebietet. Ich erreiche die Wartenden, reihe mich ein und richte den Blick auf die Straße vor mir, auf die diffuse Masse aus Fahrzeugen, die in der flirrenden Hitze dieses Tages verflüssigtem Metall gleich dahinfließt wie Quecksilber.

Unvermittelt krampfen meine Muskeln und die Haare auf meinen Armen stellen sich auf. Was zum …? Den Menschen in meiner Nähe scheint es ähnlich zu ergehen, ich sehe verwirrte Blicke und höre Tuscheln ringsumher. Auf der Straße kracht es. Erst einmal, dann erneut, bis es klingt, als spielte jemand auf einem Schlagzeug einen kruden Rhythmus. Auf Scheppern und Quietschen folgt ein ekstatisches Hupkonzert, Autotüren werden aufgerissen, laute Worte gewechselt, hier und da kommt es zu Handgreiflichkeiten. Mein Magen zieht sich zusammen. Etwas geschieht hier und es ist noch nicht vorbei. Aus irgendeinem Grund denke ich die Worte, die Jeanette rief, kurz bevor wir sie aus der Kammer holten.

Dann geht alles ganz schnell. Die Luft mitten auf der Kreuzung beginnt stärker zu flimmern, elektrisches Knistern gesellt sich hinzu. Ein Bus, vollbesetzt mit Fahrgästen, steht im Zentrum der Anomalie. Nur Augenblicke später reißt die Wirklichkeit von oben nach unten auf, aus etwa fünf Metern Höhe bis zum Boden herab bildet sich in Sekundenschnelle ein Spalt und durchtrennt den Bus fast genau in der Mitte. Metall knirscht, Glassplitter fliegen durch die Gegend, als Scheiben bersten. Fahrgäste drängen in Panik zu den Türen, doch diese lassen sich nicht aufschieben, zu stark deformiert ist der metallene Rumpf des Fahrzeugs bereits. Die ersten Fahrgäste beginnen, aus den geborstenen Fenstern zu klettern, Schreie dringen hinüber zu uns. War die Kreuzung Minuten zuvor noch von Motorenlärm erfüllt, so sind es jetzt die ängstlichen Laute der Eingeschlossenen, die über den bis zum Bersten mit Fahrzeugen vollgestopften Platz hallen. Etliche Fahrer umstehender Autos verlassen ihre Fahrzeuge und machen sich daran, den Passagieren des Busses zu helfen, während der Riss sich manifestiert. War er bisher nur eine Art optische Verzerrung, so gewinnt er zunehmend Substanz und nimmt dunkelgraue Farbe an. Ich bin erstarrt, weiß nicht, was ich tun soll. Der Wissenschaftler in mir will das Phänomen studieren, doch irgendwo tief im Innern weiß ich, dass ich fliehen sollte, auf der Stelle.


»Ich würde viel lieber über etwas anderes reden«, unterbricht Cassie meine Ausführungen zur Tragweite unserer Forschung. Ich halte inne und schaue in ihre funkelnden Augen. Sie kommt näher und keine Sekunde später berühren sich unsere Lippen in einem zarten Kuss. »Ist das nicht spannender als die Experimente?«

»Allerdings«, gebe ich lächelnd zurück und kann kaum glauben, was geschehen ist. Neben uns kichert es. Simultan drehen wir die Köpfe und sehen Felicia, die mit einem großen Joint in der Hand vor uns steht.

»Oh, lasst euch nicht stören«, grinst sie und wirft uns einen auffordernden Blick zu. »Es geht doch nichts über ein gutes Arbeitsklima.« Wieder kichert sie wie ein kleines Mädchen.

Cassie löst sich von mir, legt sanft ihre Hände auf Felicias Wangen und gibt ihr einen tiefen, leidenschaftlichen Kuss. Die beiden versinken förmlich ineinander, und ich sehe deutlich, dass Felicias anfängliche Überraschung gleich darauf purem Genuss weicht. Sie hat die Augen geschlossen und steht noch immer so da, als Cassie längst meine Hand genommen und mich wieder auf die Tanzfläche gezogen hat. »Teambuilding ist wichtig, nicht wahr, Doc?«, ruft sie lachend, während wir uns unter die Tanzenden mischen.

Später irgendwann hält Jacobson eine Rede vor den mehr als hundert Gästen, illustriert in blumigen Worten seine Vision von einem wissenschaftlichen Durchbruch, doch die Tatsache, dass Cassie die ganze Zeit über meine Hand hält, reduziert meine Aufmerksamkeit erheblich. Als Jacobson schließlich einen Scheck aus der Tasche zieht, brandet Jubel auf. Dunham hat endlich der Finanzierung zugestimmt und den Fortbestand des Projekts für die nächsten Jahre gesichert.


»Hier«, sagt Cassie und reicht mir das Datenpad. »Ich habe die Feinjustierung vorgenommen. Nur minimale Anpassungen, aber sie werden den Übertritt deutlich vereinfachen.« Ich nicke ihr zu und übertrage die Informationen in das System. Seit Jacobson die neue Hardware beschafft hat, können wir um den Faktor eintausend präziser arbeiten. Für das, was wir vorhaben, gerade gut genug.

»Konfiguration abgeschlossen«, meldet Willard, »alle Verbindungen sind stabil.«

»Vitalzeichen normal, leicht erhöhtes Stresslevel«, schaltet sich Felicia dazu. »Das ist nur verständlich. Alles im grünen Bereich. Aufzeichnung läuft.«

Ich starte den Ladezyklus und erhebe mich, um ein letztes Mal nach Jeanette zu sehen, bevor wir beginnen. Sie sitzt aufrecht in der Versuchskammer, schaut durch die offene Tür zu uns herüber und beobachtet die Vorbereitungen. Auch wenn sie es nie zugeben würde, sehe ich ihr die Aufregung deutlich an. »Alles in Ordnung bei dir?«, frage ich.

Sie nickt. »Ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst habe«, flüstert sie, »davor, dass etwas schiefgeht, oder davor, dass wir Erfolg haben.« Das klingt so gar nicht nach Jeanette.

»Hey, wenn du dich nicht bereit fühlst Š«, setze ich an.

Sie schüttelt den Kopf. »Nein, das ist es nicht«, erwidert sie. »Ich habe nur irgendwie ein komisches Gefühl bei der Sache.« Sie ringt sich ein Lächeln ab. »Ist sicher nur die Aufregung.«


Ich lege die kleine Kassette in das Diktiergerät ein und drücke den Wiedergabeknopf. Jacobsons Stimme ertönt, während ich den Wagen starte und mich auf den Weg zu Jeanettes Haus mache. Ein glücklicher Zufall ist es, dass das Auto noch eines der alten Generation ist, das weitgehend ohne elektronische Bauteile auskommt. Anderenfalls wäre es ebenso unbrauchbar wie der gesamte Rest unserer technologischen Errungenschaften.

»Auch wenn es dafür zu spät ist«, sagt Jacobson mit müder Stimme, »so bereue ich meinen Hochmut, bereue meine Arroganz, mit der ich die anderen dazu trieb, etwas zu konstruieren, das nun den Untergang der Welt bewirkt.« Er schluchzt und einige Sekunden lang höre ich nur Rauschen und angestrengtes Atmen. »Wir dachten, wir könnten einen Blick hinter die Kulissen der Welt werfen, dachten, wir hätten den Schlüssel gebaut, mit der sich die Tür zu Gottes geheimem Garten hinter dem Haus öffnen ließe.«

Während seiner Ausführungen durchquere ich eine zerstörte Stadt und kann ein ums andere Mal nicht glauben, dass hier vor Kurzem noch das pulsierende Leben tobte. Bereits am ersten Tag, nur wenige Stunden, nachdem ich Zeuge wurde, welch unerbittliche Gewalt die Risse mit sich bringen, brach das Chaos aus. Seitdem habe ich kaum eine Minute geschlafen.

»Spätestens nach der Sache mit Jeanette hätten wir das Experiment sofort abbrechen müssen«, fährt Jacobson fort, »vielleicht hätten wir dann eine Chance gehabt, das alles aufzuhalten. Doch ich war starrsinnig, wollte nicht begreifen, dass wir Mächte entfesselt hatten, die wir unmöglich kontrollieren konnten.« Er lacht gequält. »Was für Narren wir doch waren. Statt des Schlüssels haben wir die verdammte Tür gebaut«, sagt er mit bebender Stimme, »und irgendetwas von der anderen Seite hat sie aufgestoßen. Als hätte es nur darauf gewartet, fiel es über unsere Welt her.« Eine weitere Pause, diesmal dauert sie beinahe eine Minute. »Willard, Jack, Felicia, ich habe euch in den Tod geschickt. So wie all die anderen, die meine Hybris nun zu einem furchtbaren Ende verdammt. Es gibt keine Hoffnung und keine Vergebung für mich, nichts, womit ich diese Schuld wieder gutmachen könnte. Ich werde all meine Aufzeichnungen vernichten, vielleicht vermögen es die Flammen, auch mir Erlösung zu bringen.«


Die Sonne sinkt langsam hinter den Horizont, als ich in etwa einer Meile Entfernung Jeanettes Haus erkenne. Endlich. Das Haus ist nicht erleuchtet, es gibt kein Anzeichen von Leben. Ich drossele das Tempo und nähere mich so leise wie möglich. Ein Wagen steht in der Einfahrt. Jeanette scheint noch da zu sein. Bleibt zu hoffen, dass das Haus abgeschieden genug liegt, um uns zumindest für eine Weile Schutz vor den Rissen zu bieten.

Ich halte an, schalte den Motor aus und lausche für einen Moment in die Dunkelheit. Dann nehme ich die Waffe aus dem Handschuhfach, auch wenn ich weiß, dass sie gegen diese Kreaturen nutzlos ist. Darauf bedacht, möglichst keine Geräusche zu machen, schleiche ich einmal um das Haus herum und versuche, durch eines der Fenster einen Blick hinein zu erhaschen. Irgendjemand hat sich Mühe gegeben, jeden noch so kleinen Spalt blickdicht zu machen. Als ich wieder die Eingangstür erreiche, umklammert meine rechte Hand den Griff der Pistole, während ich mit links klopfe. Zaghaft zuerst, dann stärker. Nichts. Ich klopfe erneut. Drinnen regt sich etwas. Ich höre Schritte, gedämpft und langsam. Die Tür öffnet sich ein paar Zentimeter weit, ein schwacher Lichtschein fällt nach draußen und Jeanettes erleichtertes Gesicht kommt zum Vorschein. Ich glaube sogar, den Anflug eines Lächelns erkannt zu haben.

»Komm rein«, sagt sie leise. »Ich dachte schon, sie hätten dich erwischt.«

»So leicht kriegen die mich nicht«, gebe ich zurück und versuche, unbeschwert zu klingen, doch wir beide wissen, dass das nichts als Scharade ist. Ich stecke die Waffe hinten in den Hosenbund und trete ein.

Der kleine Raum ist von Kerzen erleuchtet, flackernde Schatten tanzen an den Wänden. Wäre dies nicht das Ende der Welt, könnte man meinen, Jeanette hätte einen romantischen Abend für uns beide geplant.

»Gib mir dein Telefon«, sagt sie und streckt die Hand aus. Ich bin unsicher, was sie damit will. Zögernd reiche ich es ihr. Telefonieren ist seit ein paar Tagen ohnehin unmöglich, was habe ich also zu verlieren. Jeanette legt das Gerät in eine der isolierten Boxen, wie wir sie auch im Labor verwenden.

»Jegliche Strahlung ist wie ein Wegweiser für diese Dinger«, sagt sie. »Deswegen treten die Risse vermehrt in dicht besiedelten Gebieten auf. Ich habe den Strom abgeschaltet, als ich das erkannt hatte.« Sie schaut mich an und für einen kurzen Moment hat sie wieder diesen Blick in den Augen, wie in der Testkammer vor ein paar Tagen. »Wir haben ein Leuchtfeuer für die Toten errichtet. Es muss bis in den hintersten Winkel der Hölle gestrahlt haben. Und nun ist es zu spät.« Ich bin nicht sicher, ob es Verzweiflung oder Verachtung ist, was in ihren Worten mitschwingt.

»Ist mit dir alles in Ordnung«, frage ich und mustere sie von oben bis unten. Jeanette nickt, doch ich bin ziemlich sicher, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Ihre blonden Haare, sonst stets sorgsam zusammengebunden, gleichen eher wildem Gestrüpp. Ich kann es ihr kaum verdenken. Noch so eine Sache, die plötzlich unwichtig wird, wenn man weiß, dass man den morgigen Tag vielleicht nicht mehr erlebt.

»Was ist mit Willard und den anderen?«, fragt sie, setzt sich auf einen kleinen Sessel und deutet auf einen anderen. Ich nehme ebenfalls Platz.

»Willard und Jack sind tot«, erwidere ich und schaue sie an. »Felicia auch.« Jeanette starrt ins Leere, scheint auf meine Worte kaum zu reagieren. »Jacobson könnte noch am Leben sein«, fahre ich fort, »aber ehrlich gesagt glaube ich es nicht.« Jeanette erhebt sich, geht zu einem kleinen Schrank, es klirrt und plätschert. Dann kehrt sie zurück, mit zwei gefüllten Gläsern. Sie schaut mich an, ich nicke. Vielleicht ist das der letzte Drink, den wir in diesem Leben nehmen.

»Ich habe etwas zu essen in der Küche«, sagt Jeanette. »Hol dir was, wenn du willst.«

Ich stehe auf, finde Brot und Gemüse in der Küche und erkenne in diesem Moment, dass ich die letzten zwei Tage überhaupt nichts Essbares zu mir genommen habe. Jeanette hat uns mehr von dem Scotch eingeschenkt, sitzt zurückgelehnt in ihrem Sessel und schaut in meine Richtung.

»Das letzte Abendmahl«, kommentiert sie trocken, als ich mich setze und heißhungrig Brot in mich hineinstopfe. Ich erhebe das Glas und proste ihr zu. Sie erwidert die Geste.

»Meinst du, dass wir hier sicher sind?«, frage ich mit vollem Mund und nehme einen Schluck Scotch. Gute Manieren sind ein Relikt aus besseren Zeiten. Brennend heiß strömt der Alkohol meine Kehle hinab. Zum ersten Mal seit Tagen spüre ich wieder etwas.

»Und, hat es sich gelohnt?«, fragt Jeanette plötzlich. Schärfe liegt in ihrer Stimme.

»Was meinst du?«, frage ich überrascht.

»Das Experiment«, antwortet sie leise, presst die Worte förmlich heraus. »Vielleicht ist unsere Blasphemie der Grund für all das hier.« Sie starrt mich durchdringend an. »Jacobson und du, ihr wart es doch, die die Parameter des Experiments ausweiten wollten. Ihr habt den Emitter gebaut, weil ihr Gott in die Karten schauen wolltet, nicht wahr? Das waren eure Worte. Weil es euch nicht reichte, einen Durchbruch zu erzielen. Nein, ihr wolltet zu Legenden werden.«

Das Lächeln auf Jeanettes Gesicht macht mir auf bedrohliche Art und Weise klar, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt. Schwindel umfängt mich. Ist das der Alkohol?

»Sie werden bald hier sein«, sagt Jeanette, als mir die Sinne schwinden und alles im Nebel versinkt. »Dann kannst du dein Werk aus nächster Nähe bewundern.«


Mit zitternden Fingern versuche ich, den Schlüssel ins Schloss zu führen und brauche drei Anläufe, bis es mir gelingt. Ich stolpere in den Flur, lasse die Tür hinter mir zufallen und sinke zu Boden. Was bei allen Höllen ist da draußen gerade geschehen? Der Riss hat die Menschen verschlungen, hat ihnen das Fleisch von den Knochen gerissen, sie zu nichts als grauem Staub gemacht. Dutzende, hunderte, einfach so, binnen eines Wimpernschlags. Der Bus wurde in den Spalt gezogen, zerquetscht wie ein Spielzeugauto. Und dann war da dieses Ding, stand dort, inmitten des Mahlstroms, unberührt von der brachialen Kraft, die alles andere zermalmte. Habe ich mir das nur eingebildet, diese Silhouette eines Menschen, der aus Staub gemacht schien?

Irgendwann schaffe ich es, mich aufzuraffen und bemerke den Zettel, der direkt vor der Tür liegt. Hat ihn jemand darunter durchgeschoben? Ich greife danach und lese die handgeschriebenen Worte.

Du weißt wo. Dort ist es sicher. Triff mich da. Ich warte zwei Tage. J.


Ich starre in das kalte Licht einer einzelnen Glühbirne. Ein Kellerraum, wie es aussieht. Kahle Wände, keine Fenster. Mein Schädel dröhnt. Was auch immer Jeanette mir ins Glas gemischt hat, es hat mich richtig umgehauen. Jeder einzelne Knochen in meinem Körper schmerzt, als wäre jemand darauf herumgesprungen. Ich drehe den Kopf, soweit die stechenden Schmerzen es zulassen, versuche mich zu bewegen, doch es geht nicht. Ich sitze auf einem Stuhl, meine Arme und Beine sind daran gefesselt.

»Jeanette, was soll der Unsinn?«, rufe ich, während ich vergeblich versuche aufzustehen. Irgendetwas bewegt sich hinter mir. »Hey, bist du das? Was, zum Teufel, machst du?«

»Wenn die Welt schon untergeht, möchte ich wenigstens dabei zusehen, wie es den erwischt, der schuld daran ist«, sagt Jeanette hinter mir, als plötzlich gleißendes Licht den Raum erfüllt. Was in aller Welt macht sie da? Panik ergreift mich. Ich versuche mich umzudrehen, stemme mich so gut es geht vom Boden hoch, komme aber nur langsam voran.

»Es wird nur wenige Minuten dauern«, sagt sie fast triumphierend. »Ich habe die Frequenzen des Emitters nachgebildet. Das wird ihnen den direkten Weg zu dir weisen.«

»Was meinst du damit, dass ich schuld daran bin?«, frage ich aufgewühlt und schaffe es endlich, einen Blick auf das zu werfen, was Jeanette hier im Keller versteckt hat. Sie hat Geräte aufgebaut, ich sehe Resonatoren und etwas, das wie eine improvisierte Version des Emitters aussieht. Sie ist wahnsinnig. Wahrscheinlich hat der Blick durch den ersten Riss sie überschnappen lassen. Ich muss hier raus, bevor sie ihr Werk vollenden kann.

»Du hast als Letzter die Frequenzen und Energieniveaus angepasst«, sagt sie und jetzt bin ich sicher, dass es blanker Hass ist, der in ihrer Stimme liegt. »Ich habe die Aufzeichnungen gesehen. Nachdem der erste Riss im Labor entstanden war, bin ich noch mal zurück gekommen. Ich wollte herausfinden, wie das passieren konnte. Du hast vor meinem Testlauf die Parameter geändert.« Sie kommt langsam auf mich zu, während sie spricht. »Du wolltest, dass das passiert.«

»Nein, ich …«, setze ich an, noch immer halb umnachtet von der Betäubung. Jeanette schlägt mir ins Gesicht, kraftvoll und rücksichtslos. Der Stuhl kippt nach hinten, mein Kopf prallt hart auf dem Boden auf, für einen Moment wird mir schwarz vor Augen.

»Leugnen ist zwecklos«, sagt sie trocken. »Ich weiß, was ich gesehen habe. Diese Werte waren kein Zufall, du hast genau gewusst, was du tatest.«

In diesem Moment beginnt die Luft zu knistern. Ich spüre, wie sich die Haare an meinen Armen aufstellen. Mit aller verbleibenden Kraft versuche ich, aus meinen Fesseln zu entkommen. Beim Sturz muss irgendwas am Stuhl gebrochen sein, denn ich schaffe es, meine Arme zu bewegen. Es dauert eine Weile, bis ich meine Hände losmachen kann, doch Jeanette scheint wie hypnotisiert von dem entstehenden Riss, so dass sie es nicht bemerkt. Gerade als ich die Fesseln um meine Füße zu lösen beginne, blickt sie zu mir herüber und erwacht aus ihrer Starre. Sie greift nach irgendetwas, das auf der Werkbank liegt und tritt mir entgegen. Ich sehe den schweren Schraubenschlüssel in ihrer Hand und ihr Blick lässt keinen Zweifel daran, dass sie ihn benutzen wird. Ich erinnere mich an etwas, greife nach hinten an meinen Gürtel und finde dort die Pistole. Früher wäre Jeanette gründlicher gewesen. Offenbar hat der Wahnsinn sie unvorsichtig werden lassen. Ich ziehe die Waffe hervor und richte sie auf ihre Brust. Hätte man mir vor einer Woche erzählt, dass ich in ein paar Tagen auf meine Kollegin schießen müsste, hätte ich gelacht. Doch das hier ist tödlicher Ernst. Jeanette sieht die Waffe, aber sie hält nicht inne, stürmt stattdessen auf mich zu. Ich drücke ab. Der Schuss dröhnt in meinen Ohren, lässt meine Sicht verschwimmen. Halb benommen sehe ich sie zur Seite fallen, der Schraubenschlüssel schlägt klirrend auf dem Boden auf. Ich lasse die Waffe fallen, löse die restlichen Fesseln und werfe einen Blick auf Jeanette. Sie ist bei Bewusstsein und presst eine Hand auf die Wunde an ihrer linken Schulter. Ein paar Zentimeter tiefer und ich hätte sie in die Lunge getroffen.

»Wie schalte ich das ab?«, schreie ich sie an.

»Es ist zu spät«, entgegnet sie, »du wirst hier sterben, wie du es verdient hast.«

Also gut, dann auf die harte Tour. Mit dem Schraubenschlüssel schlage ich auf die Apparaturen ein, wieder und wieder. Funken stieben in alle Richtungen davon, doch sonst geschieht nichts. Ich sehe keine Stromzufuhr oder etwas derartiges. Der Riss wird sich jeden Moment öffnen. Ich packe Jeanette an den Armen, schleife sie zur Treppe und versuche, sie irgendwie nach oben zu schaffen.


»Hast du bemerkt, wie Liv dich angestarrt hat?«, frage ich Cassie, als wir Arm in Arm das Arcane verlassen. »Das war richtig unheimlich. Ich dachte, sie würde dich jeden Moment anspringen.«

»Diese Wirkung habe ich auf manche Frauen«, gibt Cassie geheimnisvoll lächelnd zurück. Ich winke ein Taxi heran. Wir steigen ein und zum ersten Mal seit Stunden umgibt uns Stille. Cassie legt ihren Kopf an meine Schulter und sieht aus dem Fenster, während der Wagen sich in Bewegung setzt. Wir gleiten durch die Stadt, die ihr Nachtgewand übergestreift hat, jenes schwarze Kleid, das hier und da von aus buntem Licht gemalten Mustern verziert wird.

Plötzlich hebt Cassie den Kopf. Sie hat den Blick auf irgendetwas außerhalb des Fahrzeugs gerichtet. »Halten Sie an!«, ruft sie nach vorn. Der Fahrer hält und Cassie öffnet die Tür. Bevor ich auch nur ein Wort herausbringe, ist sie zu einem großen Bild an der Wand eines Lagerhauses auf der anderen Straßenseite gelaufen. Im Schein einer Laterne erkenne ich eine geflügelte Gestalt, die, in goldenen Schein gehüllt, auf einem Berg von Schädeln thront. Cassie steht direkt davor, der Lichtkegel der Laterne fällt von oben auf sie, in den tiefen rückseitigen Ausschnitt ihres Kleides. Sicher spielen mir meine übernächtigten Augen einen Streich, doch ich könnte schwören, dass sich das große Tattoo auf ihrem Rücken gerade bewegt hat. Es zeigt Schwingen, ähnlich denen auf dem Wandgemälde, kunstvoll gezeichnet und so detailliert, wie ich es niemals zuvor gesehen habe.

»Ist alles in Ordnung?«, frage ich und lege die Hand auf ihre Schulter. Sie zuckt zusammen, offenbar habe ich sie erschreckt. Dann legt sie ihre Hand auf meine.

»Es hat mich an etwas erinnert«, sagt sie und ist sichtlich bemüht, die Fassung zu wahren. »Etwas, das ich beinahe vergessen hatte.« Ich betrachte das Wandbild, dann fällt mein Blick auf eine Inschrift unterhalb des Schädelthrons.


Statt finstrer Nacht sind was ich fürchte

nur des Engels güld'ne Schwingen


»Es tut mir leid«, schluchzt Cassie und dunkle Spuren bahnen sich den Weg hinab an ihren Wangen.

»Das muss es nicht«, erwidere ich und lege meinen Arm um sie. »Komm, wir fahren nach Hause.«


Mit Vollgas rase ich die Straße entlang und schaue alle paar Sekunden in den Rückspiegel. Der Riss hat das Haus verschlungen, hat Holz und Stein mit sich genommen.

»Wohin fahren wir?«, fragt Jeanette mit schwacher Stimme. Von der ungestümen Wut, mit der sie mir noch vor wenigen Minuten begegnete, ist nichts mehr zu spüren.

»Cassie«, gebe ich zurück, »ich muss sie finden.« Ich schaue Jeanette an, sehe die auf die Wunde gepresste Hand, mit der sie die Blutung zu stoppen versucht, und erst jetzt denke ich daran, mich um sie zu kümmern. »Ich habe einen Verbandkasten im Kofferraum«, sage ich, und als ich einigermaßen sicher bin, dass wir genügend Abstand vom Riss haben, halte ich den Wagen an. »Es tut mir leid, dass ich auf dich geschossen habe.«

»Muss es nicht«, antwortet sie und ringt sich unter Schmerzen ein Lächeln ab. »Ich hätte dasselbe getan.«

Ich reinige die Wunde und schaue Jeanette an. »Die Blutung wird nicht stoppen, bis wir die Kugel entfernt haben«, sage ich. »Außer einer kleinen Zange im Werkzeugkoffer habe ich nichts dabei, mit dem das irgendwie …«

»Mach schon!«, unterbricht mich Jeanette. »Egal wie, hol das Ding raus.« Ein paar Minuten später gelingt es mir nach mehreren Anläufen endlich, das kleine Metallstück mit der Zange zu greifen, kurz bevor die durch den metallischen Geruch verursachte Übelkeit mich zu übermannen vermag. Vorsichtig ziehe ich die Kugel heraus und vergewissere mich, auch wirklich das ganze Projektil erwischt zu haben. Danach desinfiziere und verbinde ich das nicht unbeträchtlich große Loch im Gewebe. »Im Handschuhfach sind Schmerztabletten«, sage ich, »aber ich fürchte, die werden nur wenig helfen.«

»Danke«, flüstert Jeanette schwer atmend. Schweiß steht ihr auf der Stirn, sie ist noch immer kreidebleich im Gesicht.

Ich fahre vorsichtig, um die Erschütterungen auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Jeanette fördert von irgendwoher ein kleines metallenes Etui zutage und nimmt eine Zigarette heraus. Sie drückt auf den Anzünder und bemerkt meinen missbilligenden Blick. »Was willst du dagegen tun?«, fragt sie in gespielt offensivem Ton. »Auf mich schießen?« Gleichzeitig beginnen wir zu lachen.

Wir durchqueren die Einöde, die alle paar Meilen von bis zur Unkenntlichkeit deformierten Autowracks gesäumt wird, passieren Häuser, von denen außer Staub kaum mehr etwas übrig ist. »Es kann nicht mehr weit sein«, sage ich, mehr zu mir selbst als zu Jeanette, die nach wie vor durch die Unterlagen blättert, die ich in Jacobsons Büro gefunden habe. Das Foto des Teams liegt auf ihrem Schoß und sein Anblick erfüllt mich mit Wehmut.

»Was sagtest du gleich, wohin wir fahren?«, fragt Jeanette und klingt abwesend.

»Zu Cassie«, erwidere ich, »sie hat hier draußen ein Haus, wahrscheinlich das ihrer Eltern. Sie sagte mal, dass, sollte etwas Schlimmes passieren, ich sie hier finden würde. Ich war noch nie dort, aber aus irgendeinem Grund weiß ich, wohin ich fahren muss.«

Jeanette ist noch immer in Jacobsons Aufzeichnungen vertieft. »Cassie?«, fragt sie einige Sekunden später. »Kenne ich die?«

Unwillkürlich drehe ich den Kopf und schaue sie an. »Cassie«, entgegne ich, »Cassandra aus dem Team, meine Assistentin, natürlich kennst du sie.« Vielleicht haben die Schmerztabletten in Kombination mit dem Nikotin eine benebelnde Wirkung entwickelt.

Jeanette sieht mir in die Augen. »Es gibt niemanden namens Cassandra in unserem Team«, erwidert sie. »Nur Jacobson, Felicia, Willard, Jack und uns beide.«

Ich lache auf. »Komm schon, das Ende der Welt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um mich zu veräppeln«, sage ich und deute auf das Foto. »Da, schau, direkt vor mir, da ist sie doch.«

Jeanette greift nach dem Bild und betrachtet es einige Augenblicke lang. »Da sind nur wir sechs drauf«, entgegnet sie trocken und deutet auf die Gesichter der anderen. Das von Cassie lässt sie aus. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ist das eine Art Spiel, das sie hier mit mir spielt? Jeanette wirft mir einen Blick zu. »Also, wer Hölle ist diese Cassie und warum fahren wir zu ihr?«


Konzentriert behalte ich die Ausrichtung der Resonatoren im Auge, die von der Elektronik alle paar Mikrosekunden nachjustiert wird. Schon kleinste Abweichungen könnten verheerende Folgen haben und trotz größtem Vertrauen in die Arbeit von Jack und Willard möchte ich die Werte selbst kontrollieren, immerhin geht es um Jeanette.

»Übertritt in dreißig Sekunden«, meldet Jacobson. »Magnetfeld aufgebaut, Resonanz stabil.« Seine Stimme klingt angespannt, er weiß nur zu gut, was hier heute auf dem Spiel steht. Wir werden weiter gehen als jemals zuvor. Ich schaue zu Cassie, die neben mir sitzt und ein Datenpad in der Hand hält. Sie ist blasser als gewöhnlich, wirkt leicht abwesend und ein Hauch von Traurigkeit liegt auf ihrem Gesicht. Der Stress der letzten Tage scheint auch an ihr seine Spuren hinterlassen zu haben.

»Zehn Sekunden«, unterbricht Jacobson meine Gedankengänge. »Initiierung der Verschiebungssequenz eingeleitet.« Einer der nebenstehenden Monitore protokolliert Jeanettes Herzfrequenz, die Sauerstoffsättigung im Blut und allerlei anderes. Alles sieht gut aus.

»Phasenverschiebung eingeleitet«, ertönt Jacobsons Stimme. »Gute Reise, Jeanette.« Die Spannung im Raum ist fast greifbar. Einen Moment lang ist es totenstill, bis auf das tieffrequente Summen der Testkammer, die sich auf der anderen Seite des Sicherheitsglases befindet. Plötzlich kommt Bewegung in die bisher gleichmäßig verlaufenden Anzeigen. Jeanettes Herzfrequenz steigt, ebenso die Hirnaktivität, ihr visueller Cortex ist starker Reizung ausgesetzt.

»Erhöhung des Stresslevels innerhalb normaler Parameter«, schaltet sich Felicia ein. »Der Übertritt beeinflusst die Wahrnehmung, kein Grund zur Beunruhigung.« Nach einigen Sekunden kehren die Werte auf ein normales Maß zurück.

»Es ist wundervoll«, meldet sich Jeanette durch die Sprechanlage. »Als könnte ich zwischen die Bauteile der Wirklichkeit schauen. Unbeschreiblich!« Ihre Stimme klingt entrückt und verzerrt. Wir lauschen gebannt. Mit einem Mal flammt eine Warnleuchte auf dem Überwachungsmonitor auf. Herzfrequenz und Atmung schnellen in den kritischen Bereich. »Da oben Š«, keucht Jeanette, »was ist das?« Ich schaue zu Felicia, die hektisch Eingaben an ihrem Terminal macht, doch Jeanettes Lebenszeichen verändern sich nicht. »Oh, mein Gott!«, hören wir Jeanette hervorpressen. »Holt mich hier raus! Holt mich hier raus!«

»Dr. Mannings, Statusbericht!«, fordert Jacobson.

»Notfallprotokoll aktiviert«, gibt Felicia zurück. »Verabreiche Sedativum.«

»Jack, Willard, holt sie zurück«, ruft Jacobson. »Abschaltung des Emitters einleiten!«

»Könnt ihr es sehen?«, kreischt Jeanette. »Sie reißen es auf! Es sind Tausende!« Sie ist völlig außer sich. Während ich noch auf Messwerte starre, ist Cassie bereits an der Testkammer und macht sich daran, die Tür zu öffnen. Felicia springt auf und verlässt den Raum, ich folge ihr. Wir erreichen die Kammer nur Sekunden später und finden Jeanette in der Ecke kauernd, in einer Pfütze aus Blut. Sie hat sich sämtliche Kabel und Kanülen vom Körper gerissen und starrt an die Decke. »Sie kommen«, flüstert sie, wiederholt die Worte wieder und wieder. Cassie nimmt meine Hand und drückt sie so fest, dass ich fürchte, gleich meine Knochen brechen zu hören.


Wie ist es möglich, dass Jeanette sich nicht an Cassie erinnert? Sie war nach dem Vorfall in der Kammer mental so angeschlagen, dass Felicia drauf und dran war, sie in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Amnesie als Spätfolge eines Traumas?

Mehr als eine halbe Stunde wechseln wir kein Wort miteinander. Irgendwann schläft Jeanette ein, kein Wunder bei der Menge an Schmerzmittel, die sie zu sich genommen hat. Die Abenddämmerung senkt sich über das Land, als wir das Haus erreichen, von dem ich nicht weiß, woher ich es kenne. Ich sehe kein Auto oder irgendein anderes Fahrzeug davor und spüre, wie mich Verzweiflung umfängt. Was, wenn sie nicht hier ist? Was, wenn ich sie nie wieder sehe?

Ich steige aus und achte darauf, Jeanette nicht aufzuwecken. Die Pistole verstaue ich wieder hinten im Hosenbund und ich nehme das Foto mit, auf dem wir alle zu sehen sind. Das Haus sieht unversehrt aus, friedlich liegt es da, während am Horizont in diesem Augenblick die Sonne versinkt. Ich trete an die Tür und klopfe. Kaum einen Atemzug später schaue ich in Cassies Gesicht.

»Komm rein«, sagt sie und schließt die Tür, nachdem ich hindurchgetreten bin. Bis auf das Licht einer einzelnen Kerze ist es stockfinster hier drin, ich kann nur vage erkennen, was mich umgibt. Die zuckende Flamme spiegelt sich in Dutzenden Bilderrahmen, die die Wände säumen wie in einer Galerie, doch es ist zu dunkel, um zu erkennen, was sie zeigen.

»Jeanette ist draußen im Wagen«, sage ich.

»Ich weiß«, erwidert Cassie. Einen Moment lang bin ich verwirrt. Wie kann sie wissen, dass Š? Doch eine andere Frage brennt mir mehr auf den Nägeln.

»Cassie?«, frage ich. »Warum sagt Jeanette, dass sie dich auf diesem Foto nicht sehen kann? Und warum sagt sie, dass ihr euch niemals begegnet wärt?« Meine Stimme bebt und ich weiß nicht einmal, warum.

Cassandra verschwindet im Dunkel, kurz darauf flammt eine weitere Kerze auf, dann noch eine. Binnen weniger Augenblicke ist der Raum hell erleuchtet und ich sehe, dass nicht nur die Wände im Flur, sondern auch alle anderen mit Bildern behängt sind. »Versteh das nicht falsch«, setzt sie an, »aber ich hatte gehofft, ja, sehr sogar, dass du niemals herkommen würdest.« Sie deutet auf einen Sessel und nimmt selbst im gegenüber stehenden Platz.

»Was meinst du damit?«, frage ich verwirrt. »Du hast mir doch von diesem Ort erzählt, damals, gleich nachdem wir uns kennengelernt hatten.« Ich krame in meinen Gedanken, doch vermag ich mich partout nicht daran zu erinnern, wann genau es gewesen ist.

Sie nickt. »Ja, aber damals wusste ich noch nicht, dass es dieses Mal so anders sein würde.« Einen Moment lang hält sie inne. »Dass du so anders sein würdest.« Ich bringe kein Wort heraus. »Schau dir die Fotos an«, sagt Cassie, »dann wirst du verstehen.«

Meine Hände zittern und ich habe Mühe, mich aus dem Sessel hochzustemmen. Langsam trete ich näher an eine der Wände und betrachte die Bilder. Gänsehaut läuft über meinen Körper. Es sind Fotos unseres Teams, bei einigen ist der Rahmen beschädigt, das Glas gesprungen, an manchen klebt etwas, das Blut sein könnte. Doch sie alle haben gemeinsam, dass wir darauf sind, das ganze Team, inklusive Cassie. Unsere Frisuren sind unterschiedlich, auch die Kleidung, manche der Bilder sehen alt aus, andere erscheinen brandneu. »Was … bedeutet … das?«, bringe ich stotternd hervor. »Warum sind wir auf diesen Fotos?«

Cassandra erhebt sich und steht nun inmitten des Raumes. »Ich zeige es dir«, flüstert sie. Ihre Silhouette verschwimmt, elektrisches Knistern liegt in der Luft. Schon fürchte ich, dass sich ein Riss manifestiert, da entfalten sich hinter Cassie Schwingen, gleißend hell strahlend und begleitet von einem Rauschen, das meinen Verstand betäubt. Ich taumle zurück und stürze rücklings zu Boden, denn hinter mir ist keine Wand mehr, sondern Leere. Der Raum ist jetzt größer, breiter, hat sich ausgedehnt, wie auch immer das möglich ist. »Es tut mir leid, bitte glaub mir das«, sagt Cassie und kommt näher. Ich muss den Kopf abwenden, damit meine Augen nicht von der goldenen Pracht verzehrt werden.

»Was bist du?«, frage ich erschüttert und krieche rückwärts. »Ein … Engel?« Ich kann selbst kaum glauben, dass ich diese Frage stelle. Erst Jeanette, die mich umbringen wollte, und nun das hier.

»Du würdest es nicht verstehen«, erwidert Cassie und das Strahlen lässt nach. »Aber ja, du kannst es so nennen.« Binnen weniger Augenblicke hat sie wieder eine menschliche Form angenommen und der Raum wieder dieselben Maße wie zuvor. »Ich bin Schuld daran, dass eure Welt jetzt vergeht.«

Meine Gedanken rasen und vor meinem inneren Auge sehe ich Cassie, die den gemalten Engel auf dem Schädelthron anschaut und in Tränen ausbricht. »Das Experiment«, bringe ich hervor, während die Puzzleteile sich langsam zu einem Ganzen zusammenfügen, »es war ein Leuchtfeuer, genau wie Jeanette gesagt hat, nicht wahr? Wir haben ihnen den Weg gewiesen.«

Cassie nickt. »Diese Welt ist nichts weiter als eine von unendlich vielen im Multiversum«, erzählt sie. »Die meisten Welten vernichten sich irgendwann selbst oder werden durch Naturkatastrophen ausgelöscht. Wenige, so wie eure, erreichen ein technologisches Stadium, in dem sie kurz vor dem Sprung in andere Dimensionen stehen.« Sie kommt näher. Ich wage noch immer nicht aufzustehen. »Früher oder später kommt das Ende jeder Zivilisation. Eine jedoch, die eine unter unzähligen, hat etwas vollbracht, das unvorstellbar ist.«

Mein Verstand weigert sich, den Gedanken weiter zu verfolgen, der sich langsam in mir formt. Cassie lächelt mich an. »Ja, eine Welt, bevölkert von Menschen, wie ihr es wart, hat die nächste Stufe erklommen«, fährt sie fort. »Überall sonst scheiterte das Experiment Menschheit, weil niemand radikal genug dachte, niemand bereit war, den einzig richtigen Schritt zum Überleben zu gehen. Wieder und wieder zerfleischten sich Kontinente in Kriegen, geführt im vermeintlichen Auftrag imaginärer Götter, löschten sich gegenseitig aus. Doch eine Welt, nur diese eine in all der Unendlichkeit, erkannte, dass nur das Überwinden des Menschseins Unsterblichkeit bedeuten würde. Sie sind etwas geworden, das selbst ich nicht beschreiben kann. Brillant, nicht wahr? Unendlich viele Realitäten, unendliche Ressourcen. Jede Welt, die technologisch in der Lage ist, genug Energie für die Erzeugung eines Risses im interdimensionalen Raum aufzubringen, kann sie nähren. Sie schicken uns, um diese Welten aufzuspüren und dafür zu sorgen, dass die Tür einen Spalt breit offen steht. Wir sind ihre Kundschafter, bereiten ihnen den Weg. Ihr habt den Leuchtturm gebaut und ich habe die Flamme entfacht. Ein paar Änderungen im Detail, an Frequenzen, hier und da, unbemerkt von euch allen.«

Ich kämpfe mich vom Boden hoch und schaue Cassie an. »Warum erzählst du mir das?«, frage ich, greife nach hinten und umfasse den Griff der Pistole. »Was soll das hier?«

Cassie lächelt und für einen Augenblick sehe ich sie nur als die, die ich kannte, die ich liebte, mit der ich leben wollte. »In den meisten Welten bist du ein echtes Arschloch, weißt du das?«, sagt sie und lächelt sanft. »Doch in dieser ist es anders. Alles war wundervoll, ich genoß meine Zeit hier, so wie nie zuvor, labte mich an den Freuden des Lebens, vergaß beinah, warum ich hier war. Ich wünschte wirklich, es gäbe einen anderen Weg, doch es liegt nicht in meiner Macht, diese Welt zu retten.« Ich hole die Waffe hervor und richte sie auf Cassie. »Spar deine Kugeln, sie können mich ohnehin nicht verletzen«, sagt sie ungerührt. »Und vielleicht brauchst du sie noch.«

»Warum bin ich hier?«, frage ich erneut.

»Mit dir hat es angefangen«, erwidert Cassie. »In dieser einen Welt warst du es, der den Grundstein legte, für das, was geschehen würde.« Meine Hand zittert und ich vermag kaum die Waffe gerade zu halten. Von draußen dringt ein grässliches Knirschen an meine Ohren, gefolgt von einem Schrei, der jäh endet. Jeanette! Cassie schüttelt den Kopf. Das Knirschen verstummt. »Jemand hat deine Idee weitergeführt, hat mit aller Entschlossenheit daran gearbeitet, war bereit, jedes Opfer zu bringen, um die Menschheit wahrhaft zu vereinen«, setzt sie ihren Vortrag fort.

»Warum ist das wichtig?«, frage ich unwirsch, wild entschlossen, im nächsten Moment abzudrücken und mein Heil in der Flucht zu suchen.

»Es war Katie, deine Tochter«, antwortet Cassandra. »Sie ist der Grund, warum ich hier bin. Sie schickt mich zu dir, immer und immer wieder, in Welten, die dieser ähnlich sind.« Die Waffe gleitet mir aus der Hand und das schwere Stück Metall schlägt dumpf auf dem Boden auf. »Sie hat deinen und Mitsukos Tod nie verwunden, war besessen von der Idee, der Menschheit die Unsterblichkeit zu schenken.« Knistern dringt an meine Ohren. »Die Vorarbeit, die Jacobson und du geleistet hatten, deine visionäre Idee, alle Menschen in einen neuen Zustand zu versetzen, in Kombination mit dem brillanten Verstand deiner Tochter, hat die Menschheit auf eine Stufe mit den Göttern gehoben.«

In der Mitte des Raumes kündigt sich die Manifestation eines Risses an. Nur zu, verschling mich.

»Die Angst ist es, die uns Flügel verleiht, das hat Katie gesagt, bevor sie die Maschine aktivierte«, fährt Cassie fort. Sie beugt sich hinab, hebt das Foto vom Boden auf und reicht es mir. »Der menschliche Geist vergisst solche wie mich, wenn wir nicht mehr nahe sind«, sagt sie beiläufig, als wäre es nichts Besonderes. »Du warst der Erste, bei dem es anders war. In dir hatte die Erinnerung an mich Bestand, verblasste nicht. Irgendwann begriff ich, dass ich in deinen Gedanken blieb, weil ich es war, die an dich dachte. Ich wollte nicht, dass du mich vergisst. Nie zuvor hatte ich so etwas gefühlt.« Sie wirft mir einen Blick zu, in dem ich so etwas wie Reue zu erkennen glaube. »Für gewöhnlich pflanzte ich einfach eine Erinnerung an diesen Ort in deinen Verstand, tat, was ich musste und ließ dich zu mir kommen, wenn die Zeit reif war.«

»Wozu dieses Theater?«, rufe ich. »Töte mich einfach, dann hast du es hinter dir.«

Der Riss öffnet sich, und aus dunkelgrauem Staub tritt eine Gestalt hervor.

»Ich musste es ihr versprechen«, antwortet Cassie, »und mein Wort bindet mich mehr als alles andere.«

Ich klaube die Pistole vom Boden auf und richte sie auf die aus Staub geformte Silhouette. Cassie tritt dahinter und breitet erneut ihre Flügel aus. Das Strahlen durchdringt die graue Substanz und in ihrem Innern kommt etwas zum Vorschein, das mir den Atem stocken lässt. Eine Frau schaut mich aus dunklen Augen an. Ihre Haut ist aschfahl, wie die einer Toten, ihre Statur ist hager und wirkt befremdlich. Katie, bist das wirklich du? Was hast du nur getan?

»Du hast die Wahl«, sagt Cassie mit einer Stimme, die in meinem Kopf dröhnt. »Dir als Einzigem ist es freigestellt, dich zu entscheiden, mit ihr zu gehen oder verschlungen zu werden wie alle anderen.«

Ein kalter Schauer kriecht meinen Rücken empor bei dem Gedanken daran, zu etwas zu werden, dessen bloßer Anblick Menschen in den Wahnsinn treiben könnte. Ich denke an die Blutspuren auf den Bildern und an die Waffe in meiner Hand. Vielleicht brauchst du sie noch, das hat Cassie gesagt, nicht wahr?

GEGEN UNENDLICH. Phantastische Geschichten – Nr. 15

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