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»Bist du fertig, Holger?« Maria Hinrich steckte sich zwei Klemmen in die Haare und betrachtete sich erneut im Spiegel.

»Seit einer Stunde etwa, mein Schatz. Können wir jetzt frühstücken? Hab ich einen Kohldampf …«

Eine Woche Urlaub gönnte sich der Kriminaloberkommissar mit seiner Frau. Bereits zum achten Mal war das Leipziger Pärchen im »Seeblick« abgestiegen. Hier, in der mecklenburgischen Prärie, wie Hinrich sich gern ausdrückte, fand er zu sich selbst zurück. Der überschaubar eingerichtete Gasthof besaß das Flair längst vergangener DDR-Tage, Hinrich schien sich sicher, dass man in den letzten zwanzig Jahren an der Einrichtung nichts geändert hatte. Am Tag unternahm der Neunundfünfzigjährige ausgedehnte Spaziergänge durch die Nadelwälder, über Felder und entlang der Seen.

»Schönheit muss gepflegt werden«, brummte die Frau und griff nach der Hand ihres Mannes.

Der gab ihr einen Kuss auf die Lippen. »Für mich wirst du immer die schönste sein. Auch ohne Haarklemmen und Puder.« Hinrich schloss das Zimmer ab, gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter ins Gasthaus.

»Guten Morgen. – Was ist denn heut hier los? Da ist doch was passiert, oder?« Erstaunt beobachtete Hinrich, dass der Raum bis auf den letzten Platz gefüllt war. Der Kommissar erkannte wenigstens zehn Polizeiuniformen.

Sogleich ging er zu Ulla Kern, der Eigentümerin und Wirtin des Gasthauses »Seeblick«.

Die wirkte sichtlich nervös. »Nein, nein. Kleinen Moment, Herr Hinrich … – Stört es Sie, wenn andere mit am Tisch sitzen?«

Hinrich nahm die Frau zur Seite. »Ganz ruhig, liebe Frau Kern. Das stört uns nicht. Außerdem will ich wissen, was passiert ist. Hier sind mehr Leute, als das Dorf Einwohner hat.«

Die Kern, über deren Lippe sich ein flauschiger Damenbart gebildet hatte, flüsterte geheimnisvoll: »Kevin, der große Junge von den Frankes, der ist verschwunden. Na, die haben ja noch vier Kinder, aber …«

»Warten Sie mal, Frau Kern. – Das ist der Junge mit den blonden Locken, oder? So groß ist der aber auch noch nicht. – Verschwunden meinen Sie? Einfach so? Seit wann denn?«

»Seit gestern Morgen. Hat wohl mit dem kleinen Matti bei Semmers im Garten gezeltet. Und am Morgen war er weg.« Gewohnheitsgemäß holte Hinrich einen kleinen Zettelblock und den Bleistift aus der Hosentasche und machte sich kurze Notizen.

Währenddessen hatte die Wirtin zwei weitere Stühle an einen Tisch gestellt. »Rückt mal zusammen!«

Hinrich beugte sich zum Ohr seiner Frau. »Erzähl keinem, was ich bin. Verstanden?«

»Das beschäftigt dich … Wir sind im Urlaub, Holger.« Ein leichter Vorwurf klang in der Frauenstimme mit.

»Lass mich mal machen, Mäuschen. Ich hör mich nur so um.«

Beide setzten sich an den Tisch, an dem bereits zwei junge Männer ihren Kaffee tranken.

»Morgen«, meinte Hinrich laut.

»Morgen«, murmelten die beiden Beamten.

Während Hinrich sein Brötchen schmierte und mit Salamischeiben belegte, blickte er auf einen der beiden Männer, der recht jung wirkte. »Sie gehören wohl zum Einsatzteam? Wie viele Leute sind denn im Einsatz?«

»Fünfundzwanzig. – Stört Sie das Rauchen?«

»Nee, nee, rauchen Sie ruhig weiter. – Polizeidirektion Schwerin? – Und, gibt’s schon eine heiße Spur? Wie heißen Sie denn?«

»Sorry, ich vergaß, mein Name ist Martin Wallner. Und mein Kollege hier, das ist der Anwärter Michael Sörbig. – Nein, keine heiße Spur. Nicht die kleinste.«

»Angenehm, Hinrich. – Und das ist meine Ehefrau. Wir machen ein paar Tage Urlaub hier. Und nun diese Aufregung. Man hört ja oft, dass Kinder von zu Hause weglaufen …«

»Weglaufen?« Sörbig, der selbst noch kindlich wirkte, blickte auf. Er holte ein Bild aus der Jackentasche und legte es Hinrich neben die Kaffeetasse. »Das ist Kevin Franke, der Junge, der gesucht wird. Sieht der wie weglaufen aus?«

Hinrich nahm den Abzug zur Hand. Der blonde Junge lächelte ihn an. »Nicht direkt. – Ich kenne ihn. Wir haben ihn mal nach dem Weg gefragt. Das war unten am See. Kevin hat uns zum Fußballspielen aufgefordert. Fünf Minuten habe ich durchgehalten. Er war da mit seinem Freund, einem Jungen mit kurzen, dunklen Haaren. – Kann ich das Bild behalten? Nur für den Fall, dass …«

»Aber sicher. – Sein Freund heißt Matti. Matti Semmer. Das ist der Junge, der Kevin zuletzt gesehen hat. – Hier im Ort gibt es nur sechs Kinder. Und fünf davon heißen Franke.«

»Sie sind wohl von hier?« Hinrich goss sich Kaffee nach.

»Ja. Ich habe neben den Frankes gewohnt. Bis meine Eltern nach Schwerin gezogen sind. Das war vor zwei Jahren. Die haben den Umzug wegen mir gemacht.«

»Dann kennen Sie natürlich auch Kevin?«

»Besser, als manch anderer. Kevin war ziemlich oft bei uns. Wissen Sie, ich hatte einen eigenen Computer und er nicht.« Michael Sörbig lächelte. »Außerdem hat sich Kevin oft verkrümelt, weil er seinem Vater helfen musste. Der hat eine Werkstatt und repariert alles Mögliche, vor allem landwirtschaftliche Maschinen. Kevin ist sieben Jahre jünger als ich. Und als er acht war, hat sein Vater schon davon gesprochen, dass Kevin mal die Werkstatt übernehmen soll. Kevin will aber Kapitän werden. Bei mir hat er immer nur ein Spiel gespielt: Die Simulation einer Schiffsbrücke, auf der Kevin Kapitän sein durfte. Er beherrschte das Spiel viel besser als ich.«

»Vielleicht hat der Junge Probleme mit seinem Vater?« Hinrichs Frau mischte sich in das Gespräch ein.

Sörbig zuckte mit den Schultern. »Glaube ich nicht. – Sie waren zwar nicht immer die besten Freunde. Wissen Sie, die Miriam, das ist Kevins Mutter, die lebte mit Kevin allein. Das war noch so … als ich neun war. Ja, neun oder zehn. Dann hat sie Thomas kennen gelernt, ihren Mann. Er ist nicht Kevins richtiger Vater. Aber ich glaube, sie haben es Kevin nie gesagt. Die anderen vier Kinder, die sind von Thomas. Das letzte Mädchen wurde erst geboren, als ich nicht mehr hier wohnte. – Aber direkt Probleme mit Thomas …? Er hat seinen Großen ziemlich hart rangenommen. Aber deswegen weglaufen? Nein, das glaube ich nicht. Meine Mutter hat sich immer gefragt, wie die das machen. Fünf Kinder, und sie leben in einer Eintracht …«

»Wir müssen jetzt los«, unterbrach Martin Wallner.

»Was haben Sie denn vor?«

»Das werden wir gleich erfahren. Hauptkommissar Feldmüller, der den Einsatz leitet, lässt derzeit in alle Richtungen suchen. Favorisiert wird jedoch die Annahme, dass Kevin am Morgen das Grundstück der Familie Semmer verlassen hat, weil er Angst bekam, es könnte zu Hause Ärger geben. Er wusste nicht, dass seine Mutter mit Frau Semmer gesprochen hatte. Also ist es wahrscheinlich, dass auf dem kurzen Heimweg etwas passiert ist.«

»Was soll da passiert sein?« Frau Hinrich schüttelte ihren Kopf. »Ist es nicht eher denkbar, dass sich der Junge aus Angst versteckt hat?«

Sörbig schüttelte seinen Kopf. »Das mag man vielleicht annehmen, aus meiner Sicht ist es aber nicht so. Kevin steht zu den Fehlern, die er begangen hat. Er ist ehrlich und liebt seine Mutter über alles. Er liebt seine ganze Familie.«

Die beiden jungen Männer erhoben sich und grüßten freundlich.

»Und, was machen wir heute?« Die Frau des Kommissars wedelte Brötchenkrümel von ihrem Schoß.

»Die Augen und Ohren offen halten.«

Die Wirtin setzte sich an den Tisch. »So ein Stress«, sagte sie. »In Ihrer Stadt fällt es bestimmt nicht auf, wenn jemand verschwindet. Aber, wenn von unseren zweiundvierzig Hanseln eins fehlt, dann ist das schon bedeutungsvoll.«

Hinrich lächelte. »Nee, ganz so ist das nicht. Auch in der Stadt gibt es einen Aufruhr. Gerade bei verschwundenen Kindern. Es passiert nur häufiger als hier.« Hinrich beugte sich ein wenig zu der Wirtin. »Verraten Sie mir, wer hier im Ort als erster aufsteht. Wer von ihren zweiundvierzig Hanseln ist zuerst munter?«

»Na Sie wollen ja Sachen wissen, Herr Hinrich. – Der Kramer, der ist zuerst auf der Straße. Am Morgen sucht er seinen Hund Jockey, zum Frühstück trinkt er das erste Bier, spätestens mittags ist er besoffen und schläft ein. Darum ist er in der Nacht der erste, der wieder munter wird. – Das ist schon immer so. Außerdem ist er Frühaufsteher. Der war lang genug LPG-Vorsitzender.«

Hinrich trank seinen Kaffee aus. »Haben Sie uns wieder einen Verpflegungsbeutel gemacht, Frau Kern?«

»Aber natürlich, Herr Hinrich, warten Sie einen Moment.«

»Warum hast du es plötzlich so eilig?«, fragte die Frau des Kommissars.

»Ich will diesem Herrn Kramer einen Besuch abstatten. Bevor er besoffen ist.«

»Denkst du daran, dass wir Urlaub haben?«

»Mäuschen, glaubst du wirklich, ich kann mich erholen, wenn ich nicht sicher bin, dass ich alles getan habe, was ich tun konnte, um dem Kind zu helfen?«

»Ach, Holger, du bist und bleibst unverbesserlich.«

»Bitte! Es geht um ein Kind.«

Vogelgrippe

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