Читать книгу Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 2 - Die Stimmen von Moskau - Tino Hemmann - Страница 6

Leipzig 12. April

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Fedor, der vierzehnjährige Sohn von Anatolij Sorokin, saß still vor seinem Personalcomputer, die Ohrstöpsel in den Ohren, und lauschte der Stimme seiner Mutter. Die Lippen des Jungen bewegten sich, als würde er jedes Wort selbst sprechen, das in seinen Ohren erklang. Längst kannte er das Gesagte auswendig.

»Tolik? Hier ist Galina. Was sag ich nur, du hast es längst bemerkt. Also ... Ich hoffe, du findest den Stick nie. Du sollst ihn nur dann finden, wenn mir etwas zustößt. Ich wollte dich nicht zusätzlich belasten, doch irgendwie ... Es ist Wladislaw Komsomolzev. Er betrügt den Betrieb und die Föderation. Er zweigt Unmengen von Platin ab. Ich weiß von Beginn an davon. Viele wissen davon, doch niemand macht den Mund auf. Ich habe heute mit Moskau gesprochen, es war so ein Typ von der Regierung. Sein Name ist Boris Jerchow. Mein Gott, ich habe ihm alles berichtet, was ich weiß! Und jetzt, jetzt habe ich das Gefühl, dieser Jerchow steckt in der ganzen Korruption mit drin. Ich habe Angst – um dich. Und ich habe Angst um mein Baby. Meine Kollegen aus Abteilung 3, die bei diesem obskuren Unfall vergangene Woche starben ... ich glaube, sie wurden alle ermordet. Ich habe so schreckliche Angst! – Bitte, Tolik, also ... also wenn mir etwas zustößt, dann verlasst bitte, bitte dieses Land. Du und unser Baby. Räche dich nicht, mach auf keinen Fall diesen Fehler! Du darfst dich niemals auf deren Niveau herablassen. Es sind herzlose, geldgierige Giganten. Es sind gottlose Tiere. Bitte hör auf mich. Tust du das, Tolik? Und gib meinem Zuckernäschen jeden Tag Küsse von mir. Versprich es! Ich ... ich liebe euch so sehr.« Ein Weinen war zu hören und brach ganz plötzlich ab.

Eine Erschütterung ging durch den Körper des Jungen, der seine Mutter nie wirklich kennengelernt hatte, denn sie war vor knapp vierzehn Jahren in Magnitogorsk heimtückisch ermordet worden. Die Tonaufnahme mit ihrer Stimme war die einzig verbliebene Erinnerung. Sein Vater – damals Angehöriger einer OMON-Spezialeinheit, auch bekannt unter dem Namen »Schwarze Barette«, und heute fest in einem SEK der Polizei in Deutschland integriert – war mit Baby Fedor aus Magnitogorsk in die Bundesrepublik geflüchtet, denn niemand hatte den Mord an seiner Frau Galina Andrejewna tatsächlich aufklären wollen. Eine korrupte Gruppe des Metallurgiewerkes in Magnitogorsk verschleierte den Fund großer Mengen gediegenen Platins und bereicherte sich daran. Involviert waren über verschiedene Wege Iwan Solowjow, der wegen seiner Loyalität gegenüber Mütterchen Russland für immer verschwand, zuvor Direktor des halbstaatlichen Unternehmens Russkoye Gorno-Promysh-lennaya Kompaniya war, in dem Galina Sorokina bis zur Jahrtausendwende arbeitete und schließlich ums Leben kam. Dann gab es diesen Wladislaw Komsomolzev. Der war der Vater von Alexander Komsomolzev, einem Schulfreund von Galina und Anatolij Sorokin. Ein knappes Jahr zuvor hatte Alexander, der meist Sascha gerufen wurde und mittlerweile beim russischen Inlandsgeheimdienst FSB beschäftigt war, dafür Sorge getragen, dass Sorokin, dessen Codename »Ameise« lautete, den Vater Wladislaw in Magnitogorsk vernichten konnte. Anatolij Sorokin wurde nicht verfolgt, der Einfluss von Alexander reichte dazu aus. Die gleichsam in das Platin-Projekt involvierte Valeria Solowjowa – Ehefrau des ehemaligen Direktors von RGPK Magnitogorsk oder zu Deutsch »Russische Montanindustrielle Gesellschaft Magnitogorsk« – ließ Sorokin leben. Die alte Lady erzählte ihm damals von all den unglaublichen Dingen, von denen er bis dahin nur eine vage Ahnung gehabt hatte.

»... Und dann, als sie diese neuen Bohrkerne eingeführt hatten«, erklärte sie, »fand Galina Andrejewna im Kern gediegenes Platin mit einem unglaublichen Marktwert. Mein Gatte und auch Wladislaw erfuhren zuerst davon. Das Vorkommen schien gigantisch, größer als jedes bislang bekannte Platinvorkommen der Welt. Mein Gatte wollte den Fund sogleich nach Moskau melden, doch Wladislaw hielt ihn zunächst davon ab. Auch machte er Galina Andrejewna klar, dass sie mit absolut niemandem über den Fund zu reden habe. Sie erzählte allerdings ihrer gesamten Abteilung 3 davon, zudem sprach sie dem Direktor ins Gewissen, der schließlich in der gleichen Nacht den spektakulären Fund nach Moskau meldete. Dort nahm Boris Jerchow, schon damals enger Berater des Präsidenten, die Meldung entgegen und erklärte den Fund zum Staatsgeheimnis. Am nächsten Tag war er bereits vor Ort und bestellte Wladislaw Komsomolzev, meinen Gatten Direktor Iwan Solowjow, Galina Andrejewna Sorokina und mich zum Rapport. Ihm war längst klar, dass mein Mann mit mir über diesen Fund geredet hatte, zudem überwachte ich damals die gesamte Logistik der Russkoye Gorno-Promyshlennaya Kompaniya. Es kam zu einem heftigen Disput und es bildeten sich klare Fronten. Auf der einen Seite deine Frau und der Direktor, auf der anderen die restlichen Beteiligten, ich irgendwo in der Mitte. Am gleichen Abend kam es zu einem weiteren Treffen in der alten Wohnung von Wladislaw Komsomolzev, allerdings ohne deine Galina, jedoch mit Grigorij Schurawljow aus der Abteilung 3, der fortan in speziellem Lohn und Brot von Wladislaw Komsomolzev stand. Bei jenem Treffen in der alten Wohnung von Wladislaw Komsomolzev kamen erstmalig auch Waffen ins Spiel, denn Wladislaw hatte seinen Geheimdienstsohn Alexander beauftragt, mich und meinen Gatten auf das Ärgste einzuschüchtern. Der hörige Sohn brachte das ganz gut. Seit jener Nacht habe ich in Furcht gelebt – bis zum heutigen Tage. Ich liebte meinen Gatten zeit seines Lebens, das ist die reine Wahrheit. Am Morgen des nächsten Tages entschied er, das Spiel mitzuspielen. Platin wurde gefördert und an den Büchern vorbei deutlich unter dem Weltmarktpreis an gut zahlende Abnehmer verkauft. Bezahlt wurde in Dollar über Banken der merkwürdigsten Inselstaaten, die man sich nur vorstellen kann, von dort wurden offiziell hochwertige Waren, Grundstücke, Betriebsanteile, Gold, Aktien und auch wieder Platin gekauft. Das Geld also wurde reingewaschen. Boris Jerchow übernahm das Heft des Handelns, war aber wieder meistens in Moskau. Projektverantwortlicher wurde Wladislaw Komsomolzev. Bald schon schwieg sich herum, dass einige der Mitarbeiter der Abteilung 3 mehr wussten, als es Wladislaw Komsomolzev lieb war. Erst Jahre später erfuhr ich über meinen Gatten von diesen Vorkommnissen im Jahr 2000. Wladislaw hatte eine OMON-Einheit unter Kontrolle, die den Auftrag erhielt, diese Mitarbeiter zu eliminieren. Dazu holte er seinen Sohn aus Moskau, der damals im seit 1995 bestehenden FSB Blut geleckt hatte. Sie nannten das Projekt Platinovaya Solovey, warum auch immer. Dieser Name entsprang der Fantasie von Wladislaw. Auf einer Kontrollfahrt in den Bergen verschwand die Gruppentransportraupe der Abteilung 3 mit vier Besatzungsmitgliedern und einem Fahrer. Es hieß, sie sei in einen unerreichbaren Abgrund gestürzt. Obwohl sie die Anweisung dazu gehabt hatte, nahm Galina Andrejewna an dem tödlichen Ausflug nicht teil. Wladislaw beauftragte seinen Sohn, sich um die junge Frau zu kümmern. Doch Alexander verweigerte den Befehl des Vaters – wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben. Wladislaw soll gesagt haben, dass er seinem Sohn das riesige Erbe vorenthalten würde, wenn er sich lächerlich und nicht die Finger schmutzig machte. Er selbst bestach mit zwei Flaschen billigen Wodkas den stadtbekannten Säufer Gawriil Gennadij Gromow, einen Kran zu bedienen, zeigte ihm, wo der Container hängen müsste und auf welches Zeichen Gawriil Gennadij die Kette lösen sollte. Gemeinsam mit Grigorij Schurawljow, dem Galina maßlos vertraute, holte Wladislaw deine Frau aus der Abteilung und führte sie durch den Betrieb. Wie geplant, kam es dann zu jenem tödlichen Unfall.«

Sorokins Rache konnte angesichts dieser Erkenntnisse nur deshalb auf fruchtbaren Magnitogorsker Boden stoßen, weil er von seinem früheren Freund Sascha unterstützt wurde, der – im Auftrag seines korrupten Vaters – Fedor, den damals dreizehnjährigen Sohn der Ameise, in Moskau ent-führen sollte, Sorokin hatte ihn bei einer Frau und Zufallsbekanntschaft namens Jekaterina Ruslanowna Wolkowa im Stadtteil Tushino versteckt.

Komsomolzev und Sorokin – Sascha und Tolik – die in ihrer Kindheit zusammen mit Galina ein Magnitogorsker Dreamteam gebildet hatten, wurden erneut gute Freunde, wenngleich sie sich nach den extremen Ereignissen nur noch im Internet begegneten.

Der blinde Junge Fedor hingegen behielt nach seiner Rückkehr nach Deutschland Jekaterina Wolkowa, die er Katie nannte, in bester Erinnerung, denn die sah seiner Mutter Galina angeblich nicht nur ähnlich, sie war auch gegenüber Fedor sofort in eine mütterliche Beschützerrolle geschlüpft.

Die Ereignisse im Juni des vergangenen Jahres waren jedoch in Leipzig ausgelöst worden, als der wohlhabende Russe Sergei Michailowitsch Smirnow wegen familiärer Probleme den eigenen Sohn und dessen Kindermädchen hinrichten ließ. Fedors Nase führte schnell zum Auftrags-Mörder, der kein anderer war als der Vater von Fedors Freundin Laura Sonberg. Dieser Frank Sonberg und sein Komplize Grollmann wurden auf der Flucht aus Deutschland dingfest gemacht. Die Beweislast war erdrückend, Sonberg wurde zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Grollmann hingegen erhielt eine deutlich kürzere Strafe wegen Beihilfe zu mehrfachem Mord, eine direkte Tatbeteiligung konnte ihm jedoch nicht nachgewiesen werden. Sergei Michailowitsch Smirnow wurde in Moskau von einem Killer, angeblich im Auftrag seiner geschiedenen Frau, was nie bewiesen werden konnte, erschossen.

Fedor erhielt angesichts der Moskauer Ereignisse seelischen Beistand, bezahlt von der deutschen Krankenkasse. Diese psychologische Hilfe blieb im folgenden Januar jedoch aus, als sie tatsächlich notwendig gewesen wäre, da zu diesem Zeitpunkt Laura und ihre Mutter in ein unbekanntes Land umsiedelten. Die Furcht vor einer vorzeitigen Haftentlassung des »Schlächters von Leipzig«, wie Lauras Vater von den deutschen Medien betitelt wurde, wog schlussendlich über Heimatliebe und bestehende Freundschaften.

Lauras Abschied von Fedor kam erschreckend plötzlich und vollzog sich in nur zwei Minuten. Somit verlor Fedor innerhalb weniger Monate und während einer komplizierten pubertären Phase seine innigsten Freunde: Igor, den ermordeten Sohn von Smirnow, und Laura, das blonde Mädchen, von dem er deutlich mehr als nur Gesicht und Hände berührt hatte.

*

Dass Fedor nur noch selten lachte, dass er vielfach strauchelte und stolperte, dass sich seine Wutanfälle häuften, all diese Dinge waren dem Vater selbstverständlich nicht entgangen. Fedors Stimme veränderte sich allmählich, wurde tiefer, war ständig etwas heiser und überschlug sich oft. Doch machte die Stimme ihm ebenso wenig zu schaffen wie die meisten Veränderungen an seinem Körper. Ihn behinderten ganz andere Probleme: Fedor war in den letzten Monaten derart in die Höhe geschossen, dass er sich bereits der Einmeterachtzig-Marke näherte. Arme und Beine wirken am schmalen Körper lang und schlaksig, womit eingefahrene Bewegungen und gewisse gewohnte Abstände und Entfernungen einfach nicht mehr stimmten. Sein moderner Blindenstock, mit dem er einige Jahre bestens zurechtgekommen war, wurde zu kurz und musste eines Tages durch einen neuen Langstock ersetzt werden.

Trotz all der negativen Tendenzen in dieser pubertären Übergangsphase stellte Anatolij Sorokin häufig fest, dass sich sein Sohn auch positiv entwickelt hatte.

Fedor sah mit Hilfe seiner perfektionierten Echoortung und er bewegte sich oft schnell und sicher durch völlig unbekanntes Terrain. Das Schnalzen der Zunge optimierte er ständig, Fremde hörten es fast nicht mehr. Zeitig, bereits in frühester Kindheit, hatte der Junge die aktive menschliche Echoortung erlernt, das Klicksonar, wobei dezente Klicklaute seiner Zunge jeweils einen Schall aussendeten. Das von Gegenständen oder Hindernissen ausgehenden Echo des Klicklautes wurde sogleich im visuellen Kortex seines Gehirns ausgewertet. Über die Echos konnte Fedor Objekte bereits in einer Entfernung ab zirka zwanzig Zentimetern interpretieren. Er benutzte zwei oftmals schnell wechselnde verschiedene Klickformen. Für die unmittelbare Nähe einen schwachen, hohen Knall, den er vorn am Gaumen mit breiten Lippen erzeugte und der wegen seiner kleinen Wellenlänge eine hohe Auflösung entstehender Abbildungen ermöglichte, und einen am hinteren Gaumen erzeugten kräftigen und lauten Klick durch seinen geöffneten und zu einem O geformten Mund. Mit diesen, von seinen Mitmenschen deutlicher zu vernehmenden Klicklauten sah er Objekte in größerer Entfernung, diese allerdings in geringerer Auflösung. Der Schall wurde von den verschiedensten Materialien so reflektiert, dass Fedor ihn unterscheiden und den richtigen Oberflächen und Materialien zuordnen konnte. Häufig hatten Fedor und sein sehender Vater spielerisch die Entfernung verschiedener Bäume oder Gegenstände geschätzt. Und siehe da, Fedors Schätzungen waren wesentlich genauer gewesen.

Mit der ständigen Nutzung des Klicksonars und wegen seiner hohen Begabung gelang es Fedor, die absichtlich erzeugten Echosignale von anderen akustischen Quellen zu isolieren. Mittlerweile beherrschte er die Echoortung so ausgezeichnet, dass er viele Echos – auch die von fremden passiven Schallquellen – in Bruchteilen von Sekunden intellektuell verarbeiten konnte. Somit trennte sein Gehirn die Schallwellen in zwei unterschiedliche Gruppen. Normale Umgebungstöne wurden als solche vom Gehirn als gehörte Töne verarbeitet. Die Schallwellen seiner aktiven Klicks oder die reflektierten von passiven Quellen sammelte sein Gehirn in komplexen, leicht verschwommenen und dreidimensionalen Graustufenbildern. Sehende Menschen sagen oft – auf eine akustische Störung angesprochen: »Das höre ich schon lange nicht mehr.« Ähnlich erging es Fedor. Die Schallwellen, die in seinem Kopf Bilder erzeugten, überlagerten die tatsächlichen Töne nicht. Beispielsweise stand Fedor am Straßenrand, ein Auto kam angefahren, dessen Motorengeräusch der Junge selbstverständlich hörte. Ferner wurden die Schallwellen des Motorengeräuschs von Straßenbäumen reflektiert, in Fedors Bild waren die Bäume zu sehen. Durch zusätzliches Klicken wurde das Bild vervollständigt. Fedor sah die Umrisse des Autos, Bordsteinkanten, einen Radfahrer, Straßenschilder und einen Mülleimer, der von einer Eisenstange im Boden gehalten wurde, dazu die Bäume, Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite, eine Häuserflucht, Fenster, Türen, Stufen und andere Menschen.

Natürlich lag Fedors »Sehen« hinter dem tatsächlich Sehender zurück, Farben konnte er nicht wahrnehmen und sie sich nicht oder nur schwer vorstellen, kleine Objekte und Details unter zwei Zentimetern, wie beispielsweise flache Stufen oder Schwellen, zeigten sich nicht. Und doch hatte er es bereits mehrfach geschafft, größere Objekte in Entfernungen von über dreihundert Metern wahrzunehmen. Die Wahrnehmung als solche half dem Jungen, sich in fremden Umgebungen zu orientieren. Viel wichtiger war es für ihn jedoch, Dinge nicht nur wahrzunehmen, sondern sie anhand von Erfahrungen und Kenntnissen zu identifizieren.

Fedor benutzte mitunter den neuen, hochmodernen Blindenstock, doch dessen Handhabung entwickelte sich nicht mehr weiter, sie hatte die höchste Nutzungsstufe erreicht, und das langweilte ihn. Also verließ sich Fedor auf die aktive Echoortung und damit auf seine Ohren. In zweiter Linie nutzte er seinen ausgeprägten Geruchssinn. Er trat nie in einen Hundehaufen, denn die verrieten sich ihm zeitig. Er erkannte praktisch alle ihm vertrauten Personen am Körpergeruch, was mit der Echoortung unmöglich war. Ein dritter Sinn, der Tastsinn, dem Fedor lange Zeit wenig Beachtung geschenkt hatte, half ihm mehr und mehr, die eigene Vorstellungskraft von Form und Zustand der georteten Objekte zu verbessern. Er unterschied bei Gegenständen und Gesichtern bereits zwischen schön und hässlich, jung und neu oder alt und kaputt.

Allerdings – wie das bei einem Jugendlichen wahrscheinlich völlig normal ist – vernachlässigte er hin und wieder das einfache und gewöhnliche Verhalten, vergaß oft den Langstock und stolperte prompt durch Löcher und über flache Kanten, denn die sah er mit dem Klicksonar nicht. Zudem wollten die Beine und Arme nicht so reagieren, wie er es sich gewünscht hätte. Die Motorik seiner Bewegungen musste sich nach dem rasanten Wuchs erst wieder einjustieren.

Zusammengefasst war Fedor Sorokin ein pubertierender Vierzehnjähriger, der mit seiner Blindheit besser zurechtkam als mit seinem gegenwärtigen Leben.

*

Der Junge stand vom Rechner auf, zog die Ohrstöpsel aus den Ohren und warf sich aufs Bett. Er lauschte dem hässlichen Aprilwetter. Regen trommelte gegen das Fenster, Sturmschauer änderten die Luftdruckverhältnisse im neuen Haus, das recht einsam und außerhalb der sächsischen Stadt Leipzig gelegen war. Der Vater hatte es bauen lassen, nachdem das alte Haus an gleicher Stelle vor einem knappen Jahr von Lauras Vater zerstört worden war. Während der Planung und der Bauphase hatte Fedor beharrlich seine Forderungen und Wünsche durchgesetzt. So war ein einstöckiges Haus mit einem großzügigen Grundriss, mit Türen ohne Schwellen und unzähligen kleinen und großen Hilfen für einen blinden Jungen entstanden. Fedors Zimmer war praktisch und ohne Kanten eingerichtet, sein Weg zu den Sanitärräumen kurz und ohne Hindernisse.

Selbstverständlich hatte Fedor in der Schule den einen oder anderen Freund, doch keiner – und schon gar kein Mädchen – kam mit seiner Behinderung so zurecht wie einst Laura. Keiner der jetzigen Freunde war mit dem blonden Mädchen vergleichbar. Laura schrieb ihm über die elektronischen Medien, rief manchmal auch an, doch ihr damals erfühltes Gesicht verblasste mehr und mehr in Fedors Erinnerungen. Zudem wurden die Kontakte seltener, die Beziehungskurve neigte sich abwärts. Lauras Mutter hatte der Tochter den Kontakt in die Bundesrepublik verboten, das wusste Fedor längst.

Im neuen Haus gab es zwei kleine Gästezimmer und ein Gästebad. Dieser Bereich wurde extrem selten bewohnt und genutzt, denn Fedors Vater war seit vierzehn Jahren mehr oder minder solo.

Für eine gewisse Zeit war er mit Katie liiert gewesen, der Kriminalassistentin von Hans Rattner, einem Hauptkommissar der Mordkommission in Leipzig und dem besten Freund von Anatolij Sorokin. Doch irgendwie war die Beziehung mit Katie nach den Ereignissen des vergangenen Sommers in die Brüche gegangen. Hin und wieder war Katie anfangs im neuen Haus zugegen gewesen, Fedor erlauschte jedoch, dass sie mit seinem Vater definitiv keinen Sex mehr hatte. Dann war die Weihnachtszeit gekommen, sie hatte sich plötzlich zu einem anderen Mann hingezogen gefühlt und kam seitdem nicht mehr vorbei. Im Januar hatte sie sich versetzen lassen und war weggezogen.

Manchmal tauchte Hans Rattner auf. Er sorgte sich sehr um Fedors Befinden, gab dem Jungen gut gemeinte Ratschläge und beschäftigte sich mit ihm.

Da gab es aber noch diese zweite Frau, deren Kosename obskurerweise ebenfalls Katie war, obwohl sie Jekaterina Ruslanowna Wolkowa hieß. Sie wohnte mit ihren zwei kleinen Nervensägen Anton und Natascha in Moskau. Fedor wusste mit großer Sicherheit, dass der Vater diese Frau geliebt hatte und wahrscheinlich noch immer innig liebte. Und er war verwundert, dass Katie keinen Kontakt mit dem Sorokin-Zweiergespann in Leipzig pflegte. Vielleicht lag es ganz einfach an den in der Moskauer Wohnung fehlenden technischen Mitteln. Doch das konnte lediglich eine schlechte Ausrede sein. Jekaterina Wolkowa war einer der wenigen Menschen, dessen Gesichtszüge und -form sich in Fedors Gehirn fest eingeprägt hatten. Sie war ihm aus dem Stegreif sympathisch gewesen.

Die Einsamkeit außerhalb der Schule und seiner Integrationsklasse machte Fedor zu schaffen. Das Haus lag abseits der Stadt und der Vater war oft nicht da. Fedors beste Freunde wurden ein Android-Tablet und ein Computer, seine medialen Kontaktstellen zur Außenwelt.

Anatolij Sorokin erhielt im SEK neue Aufgaben, da sein Sohn nun selbstständiger und älter geworden war. Während er bislang meist irgendwelche unbedeutenden Aufgaben im Personenschutz zu lösen gehabt hatte, erhielt er mittlerweile komplexere Aufträge. Rattner riet ihm, sich beim MEK – dem Mobilen Einsatzkommando – zu bewerben, das, im Gegenteil zum SEK, direkt der Kriminalpolizei unterstellt war. Das passte aber den Vorgesetzten Sorokins vom SEK nicht, das in Sachsen der Landespolizeidirektion Zentrale Dienste unterstellt war. Die wollten einen guten Mann wie Sorokin nicht so einfach abgeben. Die Ameise war in der internen Hierarchie des SEK aufgestiegen und hatte bereits einige brisante Einsätze geleitet, zum Beispiel einen gefährlichen Einsatz während eines Bankraubs mit Geiselnahme in einer sächsischen Kleinstadt. Ironischerweise hatte ihn dabei auch eine MEK-Einheit unterstützt. Letztendlich lebte Sorokin häufiger mit verstecktem Gesicht als mit offenem.

Fedor bekam die Mehrarbeit des Vaters zu spüren. Normalerweise ersetzte ihm der körperliche Kontakt jeden Blickkontakt sehender Menschen. Er genoss es, wenn seine Hand von der des Vaters gehalten wurde, während er dessen Gesicht erfühlen durfte, wenn der Vater abends am Bett seinen Kopf streichelte. Außerdem fehlte dem Jungen die Kommunikation. Er liebte es, Fragen zu stellen und schaffte es, auf jede Antwort eine neue Frage zu finden, vor allem dann, wenn er etwas nicht gänzlich verstand. Der Junge lauschte oft den Nachrichten oder populärwissenschaftlichen Sendungen im Fernsehen und im Radio, ließ sich von einer computergenerierten Stimme seitenweise Informatives aus Wikipedia vorlesen und fand stets und ständig fragwürdige Dinge, die einer weiteren Erklärung bedurften. Der Drang, seine dunkle, graue Welt vollends zu erfassen, war immens. Und nebenbei schwang stets und ständig ein wenig Angst um den Vater in Fedors Gedanken mit, die sich mit der Dauer der Abwesenheit Sorokins deutlich steigern konnte.

Dieser Donnerstag vor dem Osterfest war einer jener Wartetage. Die Schule war frühzeitig beendet, der Bus brachte ihn schnell nach Hause und das Wetter sperrte Fedor ein. Zudem war er angespannt, denn sein Vater hatte versprochen, in der Ferienwoche nach Ostern Urlaub zu nehmen und mit Fedor zu verreisen. Wohin es gehen sollte, hatte er allerdings noch nicht verraten.

Der Junge angelte ein zweites Paar Ohrhörer aus einer Halterung neben dem Bett, berührte die Knöpfe seines Android-Tablets und lauschte den Worten eines Sprechers, der einen weltbekannten Thriller vorlas. Dem Sprecher gelang es allerdings nicht, die Spannung hochzuhalten, so dass Fedors lange schwarze Wimpern mit den Augenlidern allmählich die dunklen Pupillen seiner defekten Augen verdeckten. Er schlief nur so lange ruhig, bis ihn die Träume in eine Welt der Erinnerungen schickten, die für unablässige Bewegungen seiner Mimik und für das Zucken seiner Gliedmaßen sorgten.

*

Artjom, der Riese, packte ihn, trug ihn unterm Arm wie ein Plüschtier und rannte in den engen Duschraum. Er zerrte ein Gitter aus der Halterung. »Geh da hinein! Kriech, so weit es geht! Und sei ganz still!« Fedor kroch in den engen Schacht, der aufwärts führte, erfühlte die breiten Fugen und stemmte Rücken und Füße gegen die Wände. Stück um Stück kroch er aufwärts, hielt sich irgendwo an einem rostigen Eisen fest. Und wenn die Kräfte nachließen, zog er sich mit Klimmzügen höher und kroch weiter. Fedor hatte das Ende des Schachtes und das seiner Kräfte erreicht. Schüsse krachten! Der Schacht endete in einem Blechaufsatz auf dem Dach des Hauses, der ein letztes Mal abbog und dann von einem Gitter verschlossen war. Der Junge quetschte sich in dieses Ende und lauschte. Wind pfiff in den Schacht, doch zwischendurch hörte Fedor deutliche Stimmen, denn auf dem Dach waren mindestens zwei Männer! Schritte trampelten auf dem Dach herum. Fedor hielt die Luft an. Er zuckte zusammen, als erneut mehrere Maschinenpistolen gleichzeitig ratterten. Unzählige Salven steigerten Fedors Angst. Eine Pistole knallte und Fedor brüllte innerlich. Tränen liefen über seine Wangen, sein Herz raste. Dann herrschte plötzlich Ruhe, Stimmen und Schritte auf dem Dach vor Fedor waren nicht mehr zu hören. Die Zeit verging, viel Zeit. Der Junge wagte noch keine Regung. Doch dann krochen erste Rauchgase durch seine Nase, drangen in die Lunge vor, drohten ihn zu ersticken. Sirenen von Rettungswagen erklangen. Schweiß ertränkte Fedor im engen Schacht, er verspürte die beklemmende Atemnot, hustete und prustete. Der Schacht saugte heißen Qualm aus der brennenden Wohnung weit unter ihm. Mit aller Kraft trat Fedor gegen das Gitter, das endlich nachgab und über das Dach davonflog. Er kroch hastig aus dem Schacht, eingehüllt in eine Wolke Qualm, Hustenanfälle zerrissen fast seinen Brustkorb. Fedor erhob sich auf die Knie. Er wagte es nicht, sich auf dem Dach zu bewegen. Dann aber hörte er eine Stimme: »Komm her, Junge! Schnell!« Flammen loderten, die Luft kochte. »Ich kann doch nichts sehen!«, brüllte Fedor mit letzter Kraft. Er klickte hektisch, setzte die Echoortung ein, um den Abgrund des Flachdaches zu finden, kroch über das flache Dach in Richtung der fremden Stimme. Schließlich griff er ins Leere und stürzte vom Dach in eine unendliche Tiefe. Er stürzte so lange, bis er endlich eine vertraute Stimme vernahm.

*

»He, mein Schatz. Ganz ruhig. Du hast wieder geträumt.« Sorokin saß auf der Bettkante und strich schwarze Locken aus der schweißgetränkten Stirn seines Sohnes. Er sprach in der russischen Muttersprache, was er oft tat, damit Fedor diese Sprache besser beherrschen lernte. Deutsch sprach der Junge ohnehin perfekt, er verbesserte oft sogar das Deutsch des Vaters. »Khorosho. Khorosho. Alles ist okay.«

»Papa«, flüsterte Fedor und ergriff die Hand des Vaters, als wollte er sie niemals wieder loslassen.

»War es wieder der verfluchte Brand in Moskau?«

»Es ist immer der gleiche Traum. Ich wache meistens auf, wenn ich von diesem blöden Dach falle.«

Sorokin lächelte. »Du bist aber nicht gefallen. Die Feuerwehrleute haben dich gerettet, meine kleine Zuckernase.« Mit dem Zeigefinger der linken Hand stupste er Fedors Nase.

»Das sollst du nicht sagen«, flüsterte der Junge und zog sich am kräftigen Arm des Vaters hoch. »Ich habe Durst.«

»Warum darf ich dich neuerdings nicht mehr ›Zuckernase‹ nennen?«, fragte Sorokin erstaunt. »Ist es dir peinlich?«

»Weil das nur Mama durfte«, raunte Fedor. Und er setzte flüsternd hinzu: »Und Jekaterina vielleicht. Die darf es auch.«

»Du denkst manchmal an Katie?«

»Oft.« Fedor kuschelte sich an den Vater, als wäre er wieder der kleine Junge von vor zehn Jahren. »Ich mag sie sehr. Schade, dass sie nie anruft.«

Kurz darauf saß der Junge am Küchentisch und wartete auf die Bedienung durch Sorokin.

»Wohin fahren wir in den Ferien?«, fragte Fedor schließlich.

»Zu den Eskimos.«

»Wirklich?«

»Natürlich nicht. Wohin wir fahren? Das ist ein Geheimnis«, antwortete Sorokin und goss sich einen kleinen Wodka ein, »das ich noch ein wenig für mich behalten will.«

»Was hast du heute gemacht?«

»Papierkram.«

»Papierkram? Und was für einen Papierkram?«

Sorokin trank den Wodka aus und verdrehte die Augen. Die Fragerei hatte begonnen und es würde kein Zurück mehr geben. »Ich musste den Bericht vom Einsatz am Dienstag schreiben.«

»War das der peinliche Einsatz mit dieser Oma?«

»Was ist, wollen wir Currywurst essen?«

»Von mir aus Currywurst. War das nun der peinliche Einsatz mit der Oma?«

Sorokin nahm zwei Packungen mit Mikrowellen-Wurstscheiben in Tomatensoße aus dem Kühlschrank, riss sie erst unten auf, nahm die kleinen Tütchen mit Curry-Pulver heraus, riss die Wurstpackung oben auf, gab den Inhalt auf zwei tiefe Teller, streute etwas von dem Curry-Pulver darüber, deckte beide Teller mit zwei weiteren flachen Tellern ab, stellte sie übereinander in die Mikrowelle, schaltete das Gerät ein, nahm vier Toastscheiben aus einer Packung im Hängeschrank und steckte die ersten beiden in den Toaster. »So richtig peinlich wurde der Einsatz schließlich erst durch die dämlichen Medienberichte.«

Fedor grinste. »Ich wusste es. Du musstest den Papierkram machen, weil ihr eine arme, alte Oma überfallen habt.«

»Fedor! Wir haben die Frau nicht überfallen. Es hätte auch eine äußerst ernste Geschichte werden können.«

»War es aber nicht.« Fedor grinste noch immer. »Sie hat tatsächlich nur ganz laut einen Fernsehkrimi angeschaut?«

Die ersten beiden Toastschnitten flogen auf die Arbeitsplatte. Die nächsten wanderten in den Toaster. »Ja. Hat sie.«

»Und einer von nebenan hat die Polizei gerufen, weil er Schüsse gehört hat?«

Die Mikrowelle gab ein »Bing« von sich. Sorokin nahm die Teller heraus, verbrannte sich fast die Fingerkuppen, deckte die Teller ab und stellte sie mit Hilfe eines Topflappens auf den Tisch. Dann nahm er zwei Gabeln aus dem Besteckkasten und legte sie zwischen die Teller. »Ja«, sagte er wieder. »Warte noch, die Teller sind sehr heiß.«

»Ich weiß.« Fedor beschäftigte die Oma mehr als die Currywurst. »Und ihr habt die Wohnung der Oma gestürmt, die vor Schreck fast gestorben wäre?«

Sorokin griff sich das linke Ohr von Fedor, der ihn herzlich auslachte, während die nächsten beiden Toastscheiben aus dem Toaster flogen. »Du Halunke bist schlimmer als all die aufgeblasenen Zeitungsreporter.« Er gab dem Jungen einen Kuss auf die Wange, klaubte das Brot zusammen und setzte sich.

Mit der rechten Hand griff Fedor gezielt zu einer Gabel, dann nahm er einen Toast in die linke Hand und biss hinein. Mit vollem Mund fragte er: »Habt ihr in der Wohnung auch geschossen?«

Sorokin stocherte in der Currywurst-Mahlzeit herum, die er hasste und doch immer wieder kaufte. »Natürlich nicht.«

»Und hättet ihr?« Fedor schob sich die winzigen Currywurstscheiben auf dem Teller zurecht, um sie dann einzeln aufzuspießen, anzupusten und in den Mund zu stecken. Selbstverständlich fiel auch mal eine von der Gabel.

»Nur im Notfall. Stell dir vor, jemand hätte die Frau wirklich überfallen und tatsächlich in der Wohnung geschossen. Was dann?«

»Und?« Fedor schwieg zunächst. »Wirst du jetzt dafür bestraft?«, fragte er schließlich.

»Nein. Unsere Einheit hatte einen klaren Auftrag, den sie ordnungsgemäß ausgeführt hat. Bei der Oma hat man sich entschuldigt. Fertig.« Sorokin kaute. »Stell dir vor, jetzt wird ein riesiger Aufriss um die Sache gemacht. Und nächste Woche überfällt ein Verrückter oder ein Kopfkranker eine Familie, erschießt den Vater und bringt vier Kinder und die Mutter in seine Gewalt. Wir werden gerufen und alle machen sich in die Hose, aus Angst, wieder einen peinlichen Fehler zu begehen. Was dann?«

Schweigend suchte Fedor nach den letzten Wurststückchen. »Wahrscheinlich wäre das nicht gut für die Frau und die Kinder.«

»So ist es. Eben deshalb sollte die Sache nicht so aufgebauscht werden. Manchmal fahren Krankenwagen zu einem Unfall, obwohl niemand verletzt ist, weil aber jemand dachte, dass es Verletzte geben könnte. Sollten sie deshalb bei jedem Notruf überlegen, ob sie überhaupt losfahren?« Sorokin wartete auf den üblichen Satz seines Sohnes, der diesen Gesprächsabschnitt abschließen würde.

»Nein, sollten sie nicht. Sonst kommen sie bei anderen vielleicht zu spät.« Nun kam tatsächlich der obligatorische Satz: »Jedenfalls kann ich mir jetzt alles gut vorstellen.«

Erleichtert atmete Sorokin auf. »Willst du noch was trinken?«

»Ja, gern.« Fedor lächelte und räumte die Teller und die Gabeln vom Tisch in den Geschirrspüler. An diesem Abend hatte er noch nicht ein einziges Mal geklickt. Im Haus war das nur selten notwendig, hier kannte Fedor jeden Winkel.

»Onkel Hans kommt!«, rief Fedor plötzlich.

Sorokins Stirn bildete kleine Falten des Erstaunens, auch wenn ihn die Fledermausohren seines Sohnes häufig erstaunten. Er ging zum Fenster und schaute hinaus. Tatsächlich, der BMW des Hauptkommissars war vorgefahren. Gerade stieg Hans Rattner aus, hielt seinen altmodischen Hut an der Krempe fest und lief zur Haustür. »Machst du ihm auf?« Sorokin schaute ins Zimmer zurück, doch sein Sohn stand längst an der Haustür und schloss sie von innen auf.

Rattner trat sofort ein, schüttelte sich, zog den Mantel aus, hängte ihn auf, legte den Hut auf die darüber befindliche Ablage, stellte eine Einkaufstüte ab, zog die Schuhe an den Hacken aus, schlüpfte mit den Füßen in die Gästepantoffeln, die Fedor vor ihn auf den Boden geworfen hatte und drückte den Jungen herzlich. »Na, mein Junge, wohin willst du noch wachsen? Mich hast du ja längst eingeholt. Du kannst mir bequem auf den Kopf spucken.«

»Soll ich denn?«, fragte Fedor und griff nach der rechten Hand des Kommissars.

Der griff mit der anderen Hand nach seiner Tüte und ließ sich von dem Jungen durch den Flur ins Wohnzimmer führen. »Untersteh dich!«, raunte er. Dann drückte Rattner Sorokin ebenso herzlich wie zuvor den Jungen. »Ich musste mich doch noch mal bei euch sehen lassen, bevor ihr mich verlasst.«

»Wir werden nicht für immer weg sein, Hans. Nur für ein paar Tage.«

Rattner räumte seine Einkaufstüte aus, stellte eine Flasche Wodka auf den Tisch und nahm ein Paket heraus, das er unter einem Sofakissen versteckte, nachdem er sich im Zimmer umgeschaut hatte. »Nun such mal, Fedor. Der Osterhase war schon da für dich«, sprach er anschließend. »Der ist gerade aus dem Haus gehoppelt, als du mich reingelassen hast.« Gespannt beobachtete er das Gesicht des Jungen, das deutlich freundlicher wirkte, seitdem Rattner das Haus betreten hatte.

Mit drei Schritten ging Fedor grinsend auf das Sofa zu, legte das Kissen zur Seite und nahm das Paket zur Hand. Er setzte sich und begann damit, das Geschenkpapier zu entfernen. Ein eckiger Karton kam zum Vorschein, dazu eine Tüte mit einem großen Schokoladenosterhasen und mehreren Schokoladeneiern. »Spasibo!«, rief Fedor, der bis eben mit seinem Vater noch Russisch gesprochen hatte, und wechselte nun wieder die Sprache. »Danke, Onkel Hans.« Er tastete die Verpackung des Kartons ab. »Was ist denn da drin?«

»Ehrlich gesagt, das Ding ist ein Werbegeschenk. Aber ich dachte, dass du es in Moskau vielleicht gut gebrauchen kannst.«

Sorokin erstarrte, während Fedor staunend in die Richtung blickte, aus der Rattners Stimme kam. »Hast du ›Moskau‹ gesagt?« Der Junge sprang auf, hielt die Arme nach vorn und lief klickend auf den Vater zu, um ihn zu umarmen. »Papa! Wir fliegen wirklich nach Moskau?«

»Hans!«, gab Sorokin von sich. »Es sollte doch eine Osterüberraschung für den Jungen werden. Jetzt hast du alles versaut!«

»Oh ...« Rattner schaute Sorokin bedauernd an. »Das wusste ich Dummkopf doch nicht.«

»Was genau machen wir in Moskau?«, fragte Fedor. »Besuchen wir auch Anton, Natascha und Jekaterina? Wohnen wir wieder in dem kleinen Hotel am Fili-Park? Gehört es immer noch Piotr Gussew, der zum Frühstück die leckere Honigmilch macht? Treffen wir auch deinen Freund Sascha?«

»Nun sieh doch, was du mit deiner Geschwätzigkeit angerichtet hast. Er wird mich mit seinen vielen Fragen töten.« Durch Sorokins Gesicht fuhr ein Lächeln, während er Vorwürfe hageln ließ, wusste er nun doch endlich, dass Fedor das Reiseziel Moskau mit großer Vorfreude aufnahm, wovon er, Sorokin, bislang nicht ganz überzeugt gewesen war.

»Ach was ...« Hans Rattner setzte sich an den Tisch. »Du hast genügend Zeit, ihm seine Fragen zu beantworten.«

Sorokin erhob sich. Mit mehr als zwei Metern Größe und einem unglaublich breiten Kreuz wirkte sein muskulöser Körper wie ein Kleiderschrank. »Was ist, Hans, hast du dich bei deiner Hannelore abgemeldet?«, fragte er.

»Habe ich. Morgen muss ich aber früh aufstehen, die Enkel kommen mit geballter Kraft zum Mittagessen.«

Damit war die Frage nach der Anzahl der Gläser geklärt. Sorokin stellte zwei Sto-Gramm-Gläser auf den Tisch, öffnete die Wodka-Flasche und goss reichlich ein.

Währenddessen hatte Fedor den Geschenkkarton auseinandergenommen und hielt ein merkwürdiges Teil in den Händen. Die Oberfläche war glatt und es gab einen einzigen Knopf, den er zum Glück noch nicht drückte, und einen kleinen Hebel. »Was ist das?«

»Vorsichtig, mein Junge. Das ist ein Elektroschocker. Ein ganz moderner, der unserer Dienststelle gerade erst vorgestellt wurde. Damit kannst du Angreifer – aber bitte nur im Notfall – bewegungsunfähig machen. Er wird mit einem Hochleistungsakku geladen, wenn du willst, sogar per USB-Stick an einem Rechner. Ich dachte, dir könnte er vielleicht dienen. Aber du kennst das Prinzip deines Vaters ...«

»Kenne ich. Keine Frauen und Kinder«, sagte Fedor rasch.

»Und keine Tiere, es sei denn, du wirst angegriffen«, verbesserte der Kommissar. Er nahm das kleine Gerät, legte es richtig in Fedors rechte Hand und führte Fedors Daumen zu dem winzigen Hebel. »Links ist die Waffe gesichert, rechts ist sie ungesichert. Abgesehen von einer Gefahrensituation muss das Ding immer gesichert sein. Verstanden? Zum Auslösen drückst du auf den Knopf. Dann wird am oberen Ende ein Elektroschock mit hoher Spannung ausgelöst.« Er drehte den Jungen von sich und Sorokin weg und sagte: »Jetzt probier ihn aus. Du brauchst nur ganz kurz zu drücken.«

Zischende Blitze durchzuckten das Zimmer. Fedor gab einen deutlichen Ton des Staunens von sich.

»Günstig ist es, wenn du die blanke Haut deines Gegners erwischst. Den Hals, die Hände oder die Arme. Dann geht der Gegner zu Boden und du kannst flüchten. Aber denke immer dran, ein Elektroschocker ist auch eine Waffe. Zielst du auf die Augen des Gegners, dann kann er erblinden. Und was das heißt, weißt du gut genug. Du musst also immer die Verhältnismäßigkeit deines Handelns überdenken. Kapiert?«

Fedor sicherte den Elektroschocker und verstaute ihn in seiner rechten Hosenbeintasche. »Das habe ich alles kapiert«, sagte er mit Stolz in der Stimme. »Vielen Dank, Onkel Hans. Jetzt habe ich auch eine richtige Waffe. So wie Papa.«

Sorokin und Rattner stießen mit den Wodkagläsern an und auch Fedor hielt seinen Limobecher hoch, als er das Klirren hörte. »Na zdorov’ye! Auf Moskau!

»Musste das sein?«, fragte Sorokin später und spielte auf das merkwürdige Geschenke für seinen Sohn an.

Rattner, dessen Nase sich längst rot gefärbt hatte, lallte: »Er hat nicht viele Möglichkeiten, sich zu wehren. Und wenn ich von einem Menschen erwarte, dass er so ein Ding nur im Notfall einsetzt, dann ist es Fedor, glaube mir, du riesige Waldameise. Und bei deinem Umgang ist es mit Sicherheit besser für ihn, wenn er ...«

»Lass gut sein, Hans. – Wie laufen die Geschäfte?«

»Schlecht. Was gut ist. Manchmal ist schlecht eben gut. Nur ein einziger vermutlicher Mord in sechs Wochen. Aber viele Brände gab es. Viele, viele Brände. Die können einen auch mächtig beschäftigen.«

Fedor lag derweil im Bett, der Elektroschocker ruhte unter seinem Kopfkissen. Im Traum vernahm er bereits die Stimmen Moskaus.

Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 2 - Die Stimmen von Moskau

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