Читать книгу Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 2 - Die Stimmen von Moskau - Tino Hemmann - Страница 7

Moskau 13. April

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Der knapp vierjährige Pechvogel der kleinen Wolkow-Fami-lie, dem an jenem Tag – wie an jedem anderen – mehrere kleine Unglücke geschahen, hatte im simpel eingerichteten Wohnzimmer seinen Suppenlöffel unter dem Tisch aufgeklaubt, der ihm infolge seiner immensen Müdigkeit aus der Hand geglitten und auf den Boden gefallen war. Das Verlorengehen eines seiner geliebten Gegenstände löste das Herunterklappen seiner Unterlippe aus. Ein fragender Blick zur Mama folgte, die mit dem sanften Satz »Heb ihn auf, mein Schatz« das folgende Unglück auslöste. Anton glitt vom Sofa unter den Tisch, ergriff den Löffel und wollte sich erheben. Dabei stieß er deutlich vernehmbar mit dem Kopf an der Tischkante an. Begleitet von einem Schrei tauchte sein Gesicht wieder auf und vergrub sich sogleich im Schoße der Mama, die auf dem kurzhaarigen Kopf vergebens nach einer Beule suchte. Anton weinte zwar in herzerweichenden und ohrenbetäubend schrillen Klängen, doch waren wohl Schreck und Müdigkeit die Auslöser des Kraches.

Antons Schwester drehte derweil die Zöpfe zwischen ihren Fingern und wartete gespannt darauf, wie die Mutter reagieren würde. Natascha war bereits fünfeinhalb Jahre alt und fühlte sich oft sehr erwachsen, vor allem wenn es darum ging, dem kleinen Anton Befehle zu erteilen. Heute wurde Natascha enttäuscht, denn nichts passierte, außer dass die Sirenen plötzlich verstummten und Anton im Schoß der Mutter auf dem Fußboden kniend einschlief.

Im Grunde genommen war es Jekaterina Ruslanowna Wolkowa, die hätte heulen können. Sie kraulte den Hinterkopf des Söhnchens, beendete das Abendmahl und wartete, bis Natascha fertig wurde. Sie lebten in einfachsten russischen Verhältnissen, das meiste Geld verschlang die kleine Wohnung, um die die Preisexplosionen der Moskauer Mietpreise keinen Umweg gemacht hatten, zudem sie ganz in der Nähe der Metrostation Tushinskaya gelegen war. Der marode Zustand der Mietwohnung wirkte sich nicht mindernd auf den Mietpreis aus, schließlich gab es genügend andere Bewerber, die sofort zahlen und einziehen würden.

Alles in ihrem Leben war so verflixt kompliziert. Jekaterinas geliebter Mann, Jurij Jewstignejewitsch Wolkow, ruhte auf dem Friedhof Trojekurowo, weil er von einem betrunkenen Beamten bei einem Verkehrsunfall getötet worden war. Der Unfallverursacher hatte der zweifachen Mutter und jungen Witwe lebenslange Hilfe versprochen, vorausgesetzt, sie zog ihre Anzeige zurück und schwieg zum Unfallhergang. Jekaterina Wolkowa hatte in diesem Vorschlag das klügste Vorgehen für ihre Kinder gesehen, also war sie den Pakt mit dem Teufel eingegangen. Nun schuldete der Mann ihr bereits drei Monatsraten aus dem ungeschriebenen Kontrakt und die mühsam zurückgelegten Ersparnisse hatten sich in Wohlgefallen aufgelöst. Bevor sie sich ernsthaft um einen Job kümmern wollte, musste die Mutter einen Tagesplatz für beide Kinder in einem Kindergarten finden, die in Moskau eher Vorschulcharakter hatten. Doch genau dort lag das Problem. Die Wartezeiten für staatliche Einrichtungen waren extrem lang, alle anderen kosteten zwischen 500 und 2.000 Rubel monatlich! Anton, den Unglücksknaben, konnte sie unmöglich allein zu Hause lassen, Natascha vielleicht. Zudem war ihre frühere Arbeitsstelle in einem Labor längst wieder vergeben. Und Laborantinnen gab es in Moskau wie Sand am Meer.

Also schlug sie zunächst einen Weg ein, den sie an sich dringend hatte vermeiden wollen. Sie setzte sich mit dem Moskauer Nachrichtenblatt Moskowskie Nowosti in Ver-bindung. Als sie den Namen des Unfallverursachers erwähnte, erhielt sie innerhalb weniger Stunden Besuch von einem Mann, dem sie nicht so recht vertrauen wollte: Nikita Schirjajew, Redaktionschef der Moskauer Seiten des Blattes. Schirjajew war jung, dynamisch und ein mit allen Wassern der Moskwa gewaschenes Schlitzohr. Er entlockte ihr innerhalb von dreißig Minuten die gesamte Geschichte rund um den Unfall und schrieb drei Seiten mit Notizen voll. Jekaterina Wolkowa konnte ihre Entscheidung nicht mehr rückgängig machen, wenngleich ihre Sorge um das eigene Wohl und das der Kinder zunahm. Dem ersten Schritt musste trotz allem der zweite folgen. Sie kämpfte sich telefonisch von einem öffentlichen Telefon bis ins Vorzimmer von Boris Jewgenij Jerchow, ihrem Widersacher und einem engen Berater des russischen Präsidenten, durch und setzte einen Sekretär davon in Kenntnis, dass sie erste Maßnahmen einer Gegenwehr ergriffen habe. Die erhoffte finanzielle Antwort blieb aus. Ängstlich erwarb die Wolkowa täglich ein Moskauer Nachrichtenblatt, in großer Sorge, Schirjajew könne das Versprechen des vorläufigen Schweigens brechen. Erst im Nachhinein wurde ihr bewusst, dass das Nachrichtenblatt, eine regierungstreue Zeitung, vielleicht nicht die sinnvollste erste Adresse gewesen war.

»Geh dich waschen, Natascha. Ich bringe deinen Bruder ins Bett.« Im engen Zimmer der Kinder legte sie Anton vorsichtig an die Wandseite des Bettes, das er sich mit der Schwester teilen musste, nachdem sie ihn umständlich für die Nacht eingekleidet hatte, ohne dass Anton erwacht war. Sie drückte dem Söhnchen seinen Mischkabären in den rechten Arm und gab ihm einen sanften Kuss auf das rote rechte Bäckchen. »Schlaf schön, mein Schatz.«

Wie an fast jedem Abend, wenn Anton bereits schlief, kontrollierte Jekaterina Wolkowa die Abendwäsche der Tochter, führte sie ins Wohnzimmer, schloss leise die Zimmertür und setzte sich auf einen Stuhl. Natascha suchte sich aus den wenigen Kinderbüchern im Regal eines aus, setzte sich auf den Schoß der Mutter, wählte die passende Geschichte und ließ sie sich vorlesen. Zwischendurch stellte das Mädchen unablässig Fragen zu den Illustrationen, die sich Abend für Abend wiederholten.

Nach einer guten Stunde gähnte Natascha lang und ausdauernd und kuschelte sich an die Mutter an. Die nahm eine Haarbürste zur Hand, stellte das Mädchen auf die Füße, löste die beiden Zopfhalter und kämmte nun in aller gegebenen Ruhe Nataschas lange Haare. Schlussendlich machte sie einen Zopf daraus und flüsterte – wie an jedem Abend: »Nun ist es Zeit fürs Bett, meine Prinzessin.«

Sie schob das Mädchen vor sich her, öffnete die Stubentür und beide betraten den Flur und kurz darauf das Kinderzimmer. Nun machte Jekaterina Wolkowa das Licht an, damit Natascha ihren Platz im Bett finden konnte.

Das Mädchen brüllte jedoch wie am Spieß! Jekaterina Wolkowa stand fassungslos und ohne Regung da, während der kleine Anton erwachte, das Umfeld erblickte und ebenfalls kreischte, denn sein Teddybär lag in unzählige Einzelteile zerfetzt neben ihm im Bett und auf der Zudecke! Die Füllung von Mischka war im gesamten Kinderzimmer verteilt und unter Antons Kopfkissen schaute ein kleiner Zettel hervor.

Nachdem sie ihre Angststarre überwunden hatte, riss Mutter Wolkowa den Zettel an sich.

»Heute der Teddy. Morgen dein Kind?«

Ein Schluchzen durchfegte das Kinderzimmer.

*

Konstantin Bobrow saß in einem der vielen Moskauer Parks und biss herzhaft in einen Hamburger, den er gerade an einem Schnellimbiss erstanden hatte.

Den ersten Auftrag des Abends hatte er erfüllt. Die Wolkowa jedenfalls würde Augen machen! Er war wie ein Mäuschen in die Wohnung eingedrungen, hatte sie lesen hören und das Kinderzimmer betreten. Der Kleine hatte tief und fest geschlafen, während er den Teddy genommen und seine Aufgabe gewissenhaft erledigt hatte. Dann war er ebenso leise aus der Wohnung verschwunden, hatte die Tür sogar wieder von außen verriegelt.

Mit der rechten Hand griff er zur Brusttasche der Jacke und erfühlte den Umschlag. Er hätte das Geld nehmen und verschwinden können. Mehrfach suchte dieser Gedanke sein Gehirn heim. Doch kannte Bobrow die Beziehungen seines Arbeitgebers zur Genüge. Er würde damit wahrscheinlich nicht weit kommen.

Bobrow schaute sich um. Drei Gestalten näherten sich. Zwei der Männer setzten sich zu ihm auf die Bank, einer rechts und einer links von ihm. Der dritte blieb unmittelbar vor ihm stehen. Nikita Schirjajew vom Moskauer Nachrichtenblatt! Wer in Moskau kannte dessen Pockennarben-Visage wohl nicht?

»Du hast etwas für mich?«, fragte Schirjajew. »Zeig her!«

Bobrow würgte den letzten Bissen hinunter, ließ das Papier des Burgers fallen und zog den Umschlag aus der Jackentasche. Er hielt ihn hoch.

Sofort griff Schirjajew zu, erfühlte die Dicke des Kuverts, riss es auf und zog einige Scheine heraus. Dann packte er das Geld in die eigene Jackeninnentasche und holte aus einer weiteren Tasche einige lose Blätter, die er dem jungen Bobrow vor die Nase hielt. Der nahm ein Feuerzeug aus der Hosentasche, wobei die beiden Kerle neben ihm kurz zuckten, und hielt die Flamme an die Zettel, die sofort Feuer fingen. Bevor die Flammen Schirjajews Finger erreichen konnten, ließ der die Überreste der Zettel fallen. Er nickte seinen Männern zu und alle drei verschwanden in der Dunkelheit.

Bobrows linke Schuhsohle wischte die Asche auf dem Boden auseinander, dann verließ er den Ort des Geschehens. Rapport würde er seinem Arbeitgeber erst am nächsten Morgen erstatten.

*

Etwa zur gleichen Zeit telefonierte Jerchow von zu Hause aus mit einem Herrn vom Inlandsgeheimdienst FSB, auch Bundesagentur für Sicherheit der Russischen Föderation genannt. Oberst Daniel Leonidowitsch Schestakow, wusste sein Gehalt seit Jahren durch Zahlungen aus dem Umfeld des Präsidenten aufzubessern.

»Ihr Name ist Jekaterina Ruslanowna Wolkowa. Ich will, dass diese Frau rund um die Uhr überwacht wird. Falls sie mit einem Radio- oder Fernsehsender oder gar mit der Novaya Gazeta oder irgendeiner anderen Zeitung in Kontakt treten will, wird sie festgenommen. Verstanden?«

»Sie können sich auf mich verlassen, Boris Jewgenij. Wie immer.«

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