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Juli, ein Educares?

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Passus 2

Das ausschließliche Bestimmungsrecht über alle Belange der EDR liegt bei Den Zehn – den Demokraten –, wobei jeder Der Zehn für sich selbst einen Nachämter festsetzt.

Im Gleichschritt marschierten sie fast lautlos zum Terminal. Der dünne Stoff unter ihren Füßen war keineswegs mit einer festen Ledersohle zu vergleichen. Jedes Steinchen bohrte sich in die geschundenen Füße der Spunde. 01-Spundgruppenführer-Elia lief links vorn neben der ersten Linie, das Kinn leicht angehoben, die rechte Hand schwingend, die linke am GMG. Er schnalzte im Takt der Schritte und alle richteten sich danach.

Sie marschierten in Linien zu je sechs Spunden. Eine solche Linie wurde militärisch mit »Zweig« bezeichnet. Elia gehörte keinem Zweig direkt an. Der Führer eines Zweiges, der immer links in der Linie zu laufen hatte, bekleidete den Dienstgrad »Spundzweigboss«. In der Hierarchie war also die Rottenführerin ganz oben, gefolgt vom Spundgruppenführer, Spundzweigboss bis hinunter zum Spund. Wobei die Spundzweigbosse ebenfalls immer Educares waren, allerdings wenig zu sagen hatten.

Zu Beginn des Ausbildungsjahres waren es zweiundvierzig Jungen gewesen, nur sechsunddreißig hatten bis zu diesem Tag überlebt. Die fünf Geglätteten waren ausnahmslos Räudiger gewesen, während ein Educares nach einem Sturz aus dem Bett gestorben war.

Die sechs Jungen eines Zweiges verbrachten die Nächte in einem sechsstöckigen Bett. Die Betten waren aus Kunststoff und einschließlich der Liegefläche aus einem Stück gefertigt. Jeder Spund nutzte seine raue Decke aus dem gleichen dünnen, grauen Stoff, aus dem auch die Shortshirts bestanden. Die Etagen der Betten waren über eine Leiter erreichbar, der Spundzweigboss schlief immer unten. In einem Schlafraum standen vierzehn solcher Betten mit insgesamt vierundachtzig Kojen dicht beieinander, wobei jeweils am Ende der Gruppe einige nicht mehr belegt waren. Hinzu kamen die beiden Einzelbetten der Gruppenführer. Somit schliefen zwei Gruppen mit anfänglich bis zu sieben Zweigen in einem Raum. Innerhalb der Rotte existierten dreißig solcher Schlafräume. Die Nummerierungen der Namen entsprachen nie genau der Reihenfolge der Spunde in der Gruppe, denn die leer gewordenen Kojen wurden durch sogenannte »Nachrücker« aufgefüllt, meist vom Ende der Gruppe, in anderen Fällen auch von Neuankömmlingen oder durch Festlegung der Rottenführerin. Beispielsweise war 42-Spund-Jona, ein Educares, vor etlichen Monaten an die sechste Stelle des ersten Zweiges gekommen, woraufhin 07-Spund-Davi Spundzweigboss im zweiten Zweig wurde.

Die tagsüber getragenen Shortshirts wurden am Abend im Sanitärtrakt in die Klappe geworfen. Am Morgen lagen sie gereinigt im Sanitärfach des jeweiligen Spundes.

Ein Spund besaß nichts. Simo aber hütete einen kleinen Schatz. Er hielt das zusammengeklappte Skalpell in einer engen Felsspalte im Spionage-Ausbildungsgelände versteckt.

*

Simo marschierte an fünfter Stelle in der dritten Linie, verbrachte alle Nächte in der fünften Etage des dritten Bettes, wusch sich stets am fünften Wasserhahn des dritten Beckens, nutzte das fünfte Sanitärfach in der dritten Reihe und saß beim Essen auf dem fünften Hocker am dritten Tisch. 13-Spundzweigboss-Linu, natürlich ein Educares, führte Simos Zweig an, in dem es nur einen einzigen weiteren Räudiger gab: 15-Spund-Seba. 15 war unterwürfig, diskutierte nicht und benutzte niemals ein Schimpfwort. Stellte Simo ihm eine Frage, dann konnte er ewig auf eine Antwort warten und bekam sie wahrscheinlich nie. Trotzdem lag Sebas Güte fast gleichbleibend bei 80 Prozent, während die von Simo erheblich zwischen 30 und 70 Prozent schwankte. 15 lag im dritten Bett. Eine Etage tiefer schlief 14-Spund-Thom, den Simo häufiger als alle anderen mit dem Schimpfwort »Weibsbürzel« titulierte und damit auf dessen praktisch nicht vorhandenes Geschlechtsorgan anspielte.

Als »Bürzel« bezeichneten die Räudiger die verkümmerten Geschlechtsorgane der Educares. Zwar waren die Räudiger oftmals körperlich schwächer und schmächtiger gebaut als ihre künstlich erzeugten Konkurrenten, doch waren deren Penisse und Hoden normal gebildet. Nichtsdestoweniger war »normal« in den Augen der Educares etwas ganz anderes, denn die hielten ihre verkümmerten Stummel für korrekt und die deutlich größeren und zudem funktionstüchtigen Geschlechtsteile der Abtrünnigen für naturwidrig. Das gegenseitige Bombardieren mit Schimpfworten unterhalb der Gürtellinie gehörte zum üblichen Sprachgebrauch der Spunde. Geschätzt wurde stets der, der ein neues, außergewöhnliches Schimpfwort erfand. Die Kreationen kannten dabei kaum Grenzen und zielten meist auf das ab, was sich unter den Shortshirts versteckte.

Zwischen Seba und Simo marschierte 16-Spund-Levi, ein außerordentlich arroganter Educares, dem Simo nur allzu gern die Kehle durchgeschnitten hätte. An sechster Stelle und somit ganz oben im Bett befand sich 18-Spund-Flor, der Simo rein äußerlich ähnlich war und von den anderen Educares regelmäßig darauf hingewiesen werden musste, dass er ein Educares sei, auch wenn er sich den Räudigern gegenüber nicht immer wie ein solcher verhielt.

Selbstverständlich gab es in den Nächten bei vielen Gelegenheiten auch Kontakte mit den Spunden der anderen Zweige und Gruppen. Die Betten standen schließlich unmittelbar nebeneinander, sodass die Jungen jeweils Kopf an Fuß lagen. Wenn Simo in seiner Koje in der fünften Etage lag, dann schliefen die beiden Educares Luka aus dem zweiten Zweig und Feli aus dem vierten Zweig unmittelbar neben ihm. Simos bester Kamerad, 34-Spund-Paul, lag im fünften Etagenbett ganz oben. In dessen Zweig gab es drei Räudiger, im vierten Zweig hingegen nur einen einzigen, nämlich 21-Spund-Samu.

Simo war so klein, dass es nur einen einzigen Spund in der Gruppe gab, der ihn nicht überragte. Dabei handelte es sich um den Räudiger 06-Spund-Mich, der im ersten Bett in der fünften Etage liegen musste und der an jedem Abend vor dem Erklimmen der Leiter in den Sanitärtrakt eilte. Morgens drohte er in seiner Eile fast von der Leiter abzustürzen, denn gleichzeitig die Leiter zu benutzen und die Beine zusammenzukneifen, das funktionierte einfach nicht.

*

Vor dem Einschlafen kam es im düsteren Schlafsektor der Spunde oft zu kindisch-vulgären Gesprächen, die schnell ausarten konnten:

»Yäh, 17, peinlicher Räudiger, schwankt das ganze Bett, weil du deinen Tierschwanz schrubbst?«, fragte Luka laut, der den kleinen Simo beleidigen wollte, und die Educares lachten höhnisch.

»Yäh, 11, Weibsbürzel, stößt dich meins Rohr – erschlägst dich. Trifft ’s dich meins Saft – ersäuft’s dich. Ich hör wohl dein Neid!«

Nun lachten all die Räudiger und stimmten Simo zu.

»Neid? Dass ich nicht lach. Wer will schon so einen spritzenden Hundeschwanz mit sich rumschleppen?«

»Yäh, 11, ich, der Simo, werd ein’s Tag’s Kinder tun. Weiber und Jungs. G’werkeln werd ich immerzu. Bestehen werd ich in Zukunft. Euerseits wird’s all ausg’löscht sein!«

»Yäh!«, rief Paul von oben und stöhnte übertrieben laut, wie bei einem Höhepunkt der Lust, obwohl er noch nie einen gehabt hatte: »Da komms! Da komms! Machs Futterluke auf, 11, du runzelloser Retortenschiss, kannst schlucken mein lecker Saft und spülen mit mein goldigen Harn runter das G’schleimte, Schwanzlutscher, verpisster!«

»Kein Weib wird dich nehmen, 17, Heulkotz du. Kannst den Arsch von 34 ficken, Spritzpimmel, auf dass dein Tierschwanz Ruhe gibt!«, warf 14-Spund-Thom, ein Educares, von unten ein.

Paul verteidigte Simo sofort: »Yäh, 14, nehm dein Schlitz zum Einspritzen, hast doch ’n Schlitz? Bist doch ’n Weib? Hab nie an dir ’n Bürzel entdeckt! Oder hat’s Python dir’s Stummelchen und ’s Keimdrüsen auffressen, du femininer Pseudognom?«

Jetzt lachten alle lauthals auf, selbst die Educares, denn »femininer Pseudognom« war ein völlig neues Schimpfwort, das Paul für den Educares Thom nutzte. Simo hatte keine Ahnung, wo Paul das herhatte, vielleicht von einem anderen Spund aufgeschnappt.

Jedenfalls machte das Lachen der anderen auch Simo Mut. »Yäh, 14-Spund-Thom, eil dich zu mir, gleich spritzt’s. Mein Schleim tut deiner ebenen Weiberschwarte wohl, sei mein versklavter Schwanzlutscher, du femininer Pseudogeist. Kriegst ganz umsonst mein Heilsamstes! Oder fürchtest, könnt’s dir ’s Antlitz wegätzen?«

Mit »ebener Weiberschwarte« war die glatte Haut der Educares gemeint, die pubertäre körperliche Veränderungen nicht kannten und sich ihrerseits über die gelegentlich bereits auftretenden Pickelchen bei einigen Räudigern lustig machten.

Der Raum war so dunkel, dass Simo nicht sehen konnte, dass 14, dem die Koje drei Etagen unter ihm zugeordnet war, mittlerweile die Leiter erklomm. Kurz darauf fühlte Simo dessen Atem, doch er konnte keinen Laut mehr von sich geben. Die Kojen boten nur wenige Zentimeter Platz nach oben, 14-Spund-Thom hatte sich auf Simo geworfen, drückte ihm augenblicklich mit beiden Händen die Kehle zu und ein Knie derb in dessen Weichteile. Dabei brüllte er: »Dafür mach ich dich glatt, 17, du peinlicher Rattenschiss!«

Simo rang nach Luft. Die Schmerzen in seinem Unterleib waren unerträglich. Zudem war Thom nicht gewillt, den Griff an Simos Hals zu lockern. Simos rechte Hand suchte das schnaufende Gesicht des Angreifers, um dessen Ohr zu ergreifen und daran zu reißen, denn die bei allen Spunden stets kurz geschorenen Haare versprachen keinen Halt. Mit einem Finger der anderen Hand stach er Thom ins linke Auge. Eine Sekunde lang konnte Simo tief Luft holen, bis Thom losbrüllte und sein Knie erneut mit brachialer Gewalt zwischen Simos Beine stieß.

Der Lärm ließ die anderen Spunde aufhorchen.

»14, Schwanzlutscher, verpisster, stromer’ aus seim Lager! Sonst glätt ich dich!«, brüllte Paul.

Erneut drückten Thoms Hände Simos Hals zu, noch derber als zuvor. Simo krümmte sich und zuckte am ganzen Körper. Fast schloss er mit dem Leben ab, denn 14 ließ ihm keine Chance zu atmen.

Dann tauchte überraschend ein Spund auf, riss Thoms Hände von Simos Hals, schlug dem Educares mehrmals mit voller Wucht in die Seite und zerrte ihn von Simo herunter. Thom stürzte dreieinhalb Meter in die Tiefe und schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Betonboden auf, während Simo regungslos in der Koje verharrte.

»Mach endlich das Licht an, 01!«, rief einer der Spunde. 01-Spundgruppenführer-Elia, der auf der gegenüberliegenden Seite in einem einzelnen Bett lag, schlug auf den Lichtbutton. Es knirschte unter der Zimmerdecke, dann erhellte gleißendes Licht den Schlafraum der beiden Gruppen. Elia erhob sich und lief zu dem Körper, der mit zerschmettertem Kopf auf dem blutrot gefärbten Beton lag.

»Wer hat das mit 14 getan?«, schrie er mit hoher Stimme. »Wer?« Er schaute hinauf, sah einen Spund auf der Leiter, der einen anderen Spund zu küssen schien. »12-Spund-Juli, dreckiger Schwanzlutscher, was tust du da?«

Als Simo zu sich kam, spürte er, dass ihm jemand Luft in die Lungen pumpte. Er röchelte und hustete.

»Zum Glück lebst du, 17«, flüsterte der Spund in Simos Ohr. »Die Python hätte mir das nicht verziehen.«

Einen Moment lang sah Simo in die Augen seines Retters. »12?«, fragte er. »Warum?«

12-Spund-Juli legte einen Finger auf Simos Lippen, dann kletterte er rasch die Leiter hinunter.

Unten betrachtete er den nackten Körper von 14-Spund-Thom. Die Blutlache breitete sich weiter aus. Alle anderen Jungen schauten missmutig aus ihren Kojen, beobachteten erwartungsvoll den Spundgruppenführer, Nummer 12 und die Leiche von Nummer 14.

»Der Schwanzlose wollte 17 glätten«, erklärte Juli dem Gruppenführer. Beide standen sich nackt gegenüber.

»Na und? 17 ist ein peinlicher Räudiger.«

Juli, fast zwölf, um einiges größer als der Gruppenführer und zudem muskulöser als die meisten in der Rotte, blickte Elia stur in die Augen. »Hast du vergessen, was die Python dir aufgetragen hat?«, flüsterte er. Und laut, sodass es alle hören konnten: »17 ist unser wertvollster Spion. Du weißt es. Ich weiß es. Er war am längsten draußen. Eines Tages wirst du froh sein, dass er lebt, 01.« Mehr sagte Juli nicht. Er ging zu der gerade leer gewordenen Koje, zog die Zudecke heraus und legte sie über die Leiche von 14-Spund-Thom. Dann lief er zurück zu Elia. »Was ist los, 01? Du musst den Nachrücker bestimmen.«

»Frag mich, was mit dir los ist, 12. Warum ist das da?« Elia zeigte auf das für einen zwölfjährigen Educares ziemlich große Geschlechtsteil und Julis Schambehaarung. »Warum belebst du den Räudiger und glättest den Educares? Warum hast du das da und wir nicht?«

Überraschend schnell ergriff Juli das Kinn des Spundgruppenführers und drückte die Finger so derb in Elias Wangen, dass sich dessen Mund von ganz allein öffnete. »Weil ich keins von beiden bin, 01«, flüsterte Juli. »Ich bin ein Mensch. Ich bin ein Junge. Du solltest das auch sein als unser Gruppenführer, Elia, ob du nun einen Schwanz hast oder nicht. Und nun verpetz mich bei unserer Python! Sie wird dir die Leviten lesen, weil du dem Kleinen nicht geholfen hast!«

Elia stand da und atmete tief ein und aus. Er wollte auf keinen Fall wie ein Verlierer wirken. »Verpiss dich in deine Koje, verfurzter Rattenschiss!«, rief er eilig.

12-Spund-Juli führte den Befehl sofort aus. Während er die Leiter am zweiten Bett hinauf bis in die sechste Koje stieg, warf er Simo, der mit bleichem Gesicht in seiner Koje lag, einen lächelnden Blick zu.

»Morgen früh entsorgst du 14 im Totenschacht und beseitigst die Schweinerei in unserem Schlafsektor! Vergiss nicht den Chip!«, rief Elia Juli nach. »41-Spund-Manu, hinkender Heulkotz! Du rückst auf! In den dritten Zweig an die zweite Stelle! Der sechste Zweig schrumpft somit auf fünf Spunde. 41, du bist ab sofort ein Spion! Verstanden, du krebskranker Kotfresser? Jetzt sofort!«

41-Spund-Manu, ein gerade achtjähriger und recht ängstlicher Educares, kletterte zitternd aus der obersten sechsten Koje herunter, nahm seine Decke mit, warf einen traurigen Blick auf den leblosen Menschhaufen vor dem dritten Bett und kletterte dort in die zweite Etage. Mit seinem Gesicht zur Wand legte er sich in die ehemalige Koje des Toten und weinte leise.

Ohne ein weiteres Wort kroch 01-Spundgruppenführer-Elia in seine Einzelkoje und trat wütend gegen den Lichtbutton.

Dunkelheit herrschte. Und Schweigen.

Simos Atem ging schwer. Sein Unterleib schmerzte noch immer. Er krümmte und versteckte sich komplett unter der Decke. Er war bereits tot gewesen, wie Thom jetzt tot war, das wusste er. Doch Juli hatte ihn zurückgeholt, hatte ihn beatmet, ihm die Lunge geliehen. Juli, vor dem in diesem Raum alle Respekt hatten! Galt er doch als der beste Spundschütze der ganzen Rotte.

Thom war ein Educares gewesen! Juli hatte ihn umgebracht, bevor dieser eine Chance gehabt hätte, Simo zu glätten. Niemals durfte die Hand gegen einen Educares erhoben werden, der einen Räudiger bedrohte!

Der Kleine hatte ganz genau gehört, was Juli über ihn, Simo, den peinlichen Räudiger, vor allen Spunden der Rotte behauptet hatte. »17 ist unser wertvollster Spion. Du weißt es. Ich weiß es. Er war am längsten draußen. Eines Tages wirst du froh sein, dass er lebt, 01.«

*

Am Terminal rief 01-Spundgruppenführer-Elia im Takt der Schritte: »Und – jetzt – halt!« Alle blieben gleichzeitig stehen, keiner rührte sich, bis Elia rief: »Links – dreht – euch!« Bei »euch!« drehten sich alle um 45 Grad. Und dann brüllte er auch schon: »Zack, zack, ihr hinkenden Pisspimmel!«

Sogleich rannte 02-Spundzweigboss-Alex los, ihm folgte die erste Reihe, dann die zweite. Am Terminal fingen die Jungen das Paket mit der Ausrüstung für den praktischen Unterricht auf, die ein elektronisch gesteuertes Lagerfach alle drei Sekunden ausspuckte, und bildeten auf der anderen Seite des Terminals, das in die große westliche Halle des Ausbildungsgeländes integriert worden war, wieder eine wohlgeordnete Jungenrotte.

Alle Spunde wurden zum Spundschützen ausgebildet. Nur die aus dem dritten Zweig jeder Gruppe – einem solchen gehörte Simo an – wurden zum Spundspion entwickelt. Da jede der sechzig Gruppen der Pythonrotte einen Spionzweig besaß, konnten es letztendlich dreihundertsechzig Spione werden. Während die Schützen mit kleinen, automatischen Handfeuerwaffen übten, waren die Spione faktisch besser bewaffnet. Ihre eigentlichen Waffen waren Zirkler und Karte. Alle Spunde wurden zudem im Mannkampf ausgebildet, eine spezielle Kampfart, in der es ausschließlich darum ging, einen möglichen Gegner so schnell wie nur möglich zu schlachten. Kraft- und Ausdauertraining rundeten die Ausbildung ab.

Im Tunnel ließ Elia die Gruppe stoppen und abknien. Jeder Spund rollte seinen Pelz aus, einen synthetischen Anzug, der zur täglichen Ausrüstung gehörte. Das fellartige, zum Teil metallische Gewebe war elastisch, schmiegte sich an den Körper an und die Jungen packten sich von den Füßen bis zum Kopf damit ein. Der Pelz – so wurden die Anzüge genannt – war bis zu einem gewissen Maße wasser- und hitzeabweisend, war mit verstärkten Sohlen versehen, ohne dass die Bewegung der Füße eingeschränkt war, und er besaß ein lichtdurchlässiges Visier aus elektronischem Papier (EPV), das sich aus dem Kunststoffhelm über die Augen abrollte. Meist erhielt ein Zweig eine gemeinsame Aufgabe, die es zu erfüllen galt.

Linu, der Spundzweigboss, verließ sich oft auf Simos Intuition, denn Nummer 17 kam draußen wesentlich besser zurecht als die meisten Educares, die vor ihrer Rottenzeit keine natürliche Umgebung kennenlernen durften. Simo hingegen atmete auf, wenn seine Zeile den Tunnel durchschritten hatte und auf der Plattform im Gebirge stand.

Während die Rottenführerin ihre Ansprache zur Tagesaufgabe hielt, die jeden Tag mit den Worten »… eifert also jenen Spunden nach, die für die demokratische Freiheit unserer Republik in den Tod gingen!« endete, woraufhin alle Jungen kniend Beifall schlugen, genoss Simo den Blick hinunter in das herrliche Tal der Apenninen, saugte die frische Luft ein und versuchte am Horizont des weit entfernten Tieflandes den Punkt zu erreichen, wo er einen Hort der Freiheit zu erkennen glaubte.

»Yäh, 17, hast du das gehört?«

Simo schreckte auf und blickte erstaunt zu 13-Spundzweigboss-Linu. »Was meinst?«

»Du peinlicher Räudiger, hat’s dir wohl die Ohren verdichtet? Schau auf dein Display. Einzelaufgabe! Nun mach dich endlich los!«

Während Simo sein EPV herunterrollte, wandte sich Linu ab. Noch während er die Zeichen entzifferte, lief Simo bereits, stolperte mit anderen Spunden einen Pfad hinunter, weiter und weiter ins Tal, schneller und schneller, bis kein einziger der Spunde seinem Spurt mehr folgen konnte.

Mit einem geschlagenen Haken und zwei kurzen Schritten verschwand Simo hinter einem Baum, kletterte auf einen Fels, weiter hinauf, kroch über den Rand und folgte einem Bergpfad, der dicht an einem Abgrund vorbeiführte.

Schließlich erreichte er eine schmale Hängebrücke, hielt sich an den Seilen fest und lief mit großen Schritten mindestens zweihundert Meter über dem Abgrund zum anderen Ende der schwankenden Brücke.

Dort versteckte er sich im hohen Gras und nahm kauernd Zirkler und Karte zur Hand. Das EPV zeigte ein Strichmännlein, das hieß so viel wie »Einzelaufgabe«, was im Training nicht oft vorkam. Daneben standen Koordinaten, eine völlig neue Methode, welche der Morgenlandarmee angeblich unbekannt war, eine Kombination aus zehn Zeichen. Am rechten seitlichen Rand gab es drei verschiedene Zahlen, am unteren Rand zwei. Die Zahl unten links bedeutete den metrischen Abstand zum Zielpunkt. 4.719. Das war ein langer Weg im Gebirge und Simo vermutete, dass er damit fast die Randzone des Rottengebietes erreichen würde. Die Zahl unten rechts zeigte seine momentane Güte an, wobei er mit 64 über seinem persönlichen Schnitt lag. Nun nahm Simo den Zirkler zur Hand, einen durchsichtigen, aufklappbaren Fächer, auf der gesamten Fläche mit unzähligen Zeichen und winzigen geschwungenen Linien beschriftet. Er legte den Zirkler auf die Karte, suchte das erste Zeichen und legte das gleiche Zeichen auf dem Zirkler genau darüber. Nun drehte er den Zirkler so lange, bis alle vorgegebenen Zeichen übereinander lagen. Er las die drei Zahlen am rechten Rand des EPV und suchte sie auf dem Zirkler. Von jeder der Zahlen ging eine geschwungene Linie ab. Dort, wo sich die drei Linien kreuzten, befand sich der Zielpunkt seiner heutigen Aufgabe.

Simo prägte sich diesen Punkt genau ein, wusste auch, wo er im Moment war, und suchte auf der Karte einen geeigneten Weg. Der Punkt war unmittelbar neben der roten Linie der Rottengrenze, die er niemals überqueren durfte. Täte er es doch, würde Praescius, das Computersystem der Europäisch Demokratischen Republik, ihn augenblicklich glätten.

Simo lauschte. Es war sehr still, Tiere gab es hier nur wenige. Er hörte ein leises Rascheln ganz in seiner Nähe und duckte sich. Mitunter dachten sich die Führer Spiele aus, bei denen die Spione als Ziele für die Schützen herhalten mussten. Wurde ein Spion von der Übungsmunition des Ausbildungsgewehrs getroffen, dann blieb er – gesteuert über den Chip – sechzig Minuten ohnmächtig und konnte während dieser Zeit nicht die eigene Aufgabe erfüllen, was schließlich zu einer Verschlechterung der Güte führen würde.

»Simo?«, flüsterte eine Stimme in der Nähe. »Simo, bist du hier? Ich weiß, dass du hier bist. Ich muss mit dir sprechen!«

Simo hob den Kopf, verriet jedoch nicht seinen Standort. »Was fragst, Juli? Hab Monoauftrag. Kann nicht quasseln.« Juli hatte ihm das Leben gerettet und Thom das Leben genommen. Trotzdem war er immer noch ein Educares. »Was andres wirst nie sein«, sagte Simo und verriet damit die Gedanken.

»Simo, red mit mir. Was andres soll ich nie sein?«, fragte Juli und seine Stimme kam deutlich näher. »Was meinst du damit?«

»Kein Räudiger wirst sein«, antwortete Simo, der Juli durch das hohe Gras nicht entdecken konnte.

»Vielleicht bin ich aber einer und das System irrt?«

»System irrt? Verflachst mich wohl? System nie irrt. Stromer dich, muss Aufgabe tun, Juli.«

Juli sprach Simo mit dem Vierletter an, also tat es Simo auch. Zahlen waren eben nur Zahlen.

»Kein einziger Educares hätte dich ins Leben zurückgeholt. Kein einziger!« Und nach einer kurzen Pause rief Juli: »He, Simo, nimm das, dann weißt du, dass ich dir nichts tun werde!«

Ein Gegenstand kam zu Simo geflogen und landete unmittelbar vor seinen Knien. Es war Julis Waffe! Simo staunte nicht schlecht, ergriff das Übungsgewehr und erhob sich. Juli war nun unbewaffnet, es bestand keine Gefahr. Juli, der beste Schütze – wehrlos!

»Bleib unten!« Juli kam durchs Gras gekrochen, direkt auf den wesentlich kleineren Simo zu, der wie ein Häschen die Waffe in den Händen hielt, die durch den Pelz wie Pfoten aussahen. »Niemand darf wissen, dass wir miteinander sprechen.« Juli hockte dicht neben Simo, schob das EPV hoch und zog die Pelzkapuze vom Kopf. »Schau dir meinen Hals an!«, forderte er und zeigte auf eine Stelle hinter dem rechten Ohr.

Simo schaute hin. »Anschaue nichts.«

»Sieh genau hin. Ich meine den kleinen Fleck.«

»Leberfleck meinst? Was Besondres ist’s? Unverkennbar, seh ihn.«

»Was Besonderes?«, fragte Juli vorwurfsvoll. »Macula hepatica! Die ganzen Educares springen doch ständig nackt vor dir rum. Hast du jemals auf deren Haut auch nur einen Leberfleck gesehen? Oder etwa irgendeine andere Pigmentstörung?«

»Weißes nicht.« Mit der Pelzpfote berührte Simo Julis Hals. »Schau runzellose Retortenschisse nicht gern häufig an.«

»Nein, Kleiner, du wirst bei ihnen nie einen finden. Weil sie nämlich keine haben. Die Educares werden aus gereinigten Biomolekülen gezüchtet. Ihre Erbinformation ist nicht verschmutzt. Sie werden außerdem kaum krank. Und die Züchter werden immer besser. Wenn du also wissen willst, ob einer der Spunde ein Räudiger ist, dann schau dir nicht nur seinen Schwanz, sondern vor allem seine Haut an.«

Argwöhnisch zog Simo die Hand zurück. »Scheiß erzählst! Du groß und Muskeln wie Educares! Hast aber ’nen Schwanz. Räudiger ist, was ein ordentlichen Tierschwanz besitzt, kein Bürzel. Und zwei Eier. Egal mir die Leberfleck sind. Was bist wirklich?« Simo richtete die Waffe auf Juli – entsichert und schussbereit.

Der große Junge betrachtete den kleinen mitleidig. »Meinen Schwanz hast du also entdeckt, obwohl du dir die Educares angeblich nie richtig anschaust? Du glaubst mir wohl nicht, Simo? Das enttäuscht mich sehr. Ich dachte, wir könnten Freunde sein, so wie Paul dein Freund ist.«

»Paul? Freund?«, rief Simo entrüstet, fast etwas zu laut, und erhob sich. »Paul nicht Freund, nur auch Räudiger. Du aber nie Räudiger! Schwatzt zu gut. Was bist wirklich?«

Juli taumelte rückwärts, ließ sich plötzlich ins hohe Gras fallen, als wollte er sich Simo gänzlich unterwerfen. »Natürlich ist Paul dein Freund! Warum behauptest du so etwas? Du bist nicht besser als die Demokraten! Du siehst alles nur schwarz und weiß! Du siehst nur Gut und Böse! So wirst du niemals richtige Freunde finden!«

»Hab richtig Freund g’habt!«, brüllte Simo und Tränen schossen aus seinen Augen. Da war es schon wieder. Verdammtes Geheul! Warum blieb das verfluchte Tränenwasser nicht in seinem Kopf? »Hab scharenweise Freunde g’habt!«, klagte er.

»Und wo sind sie, deine angeblichen Freunde?«

»Haben’s g’glättet! So welche wie du haben’s g’glättet!« Simo drückte auf den Knopf der Waffe. Sie lud sich und feuerte gleich zweimal. Auf den Boden gepresst lag Juli da, direkt neben seinem Kopf roch es nach verbranntem Gras. Jetzt ließ Simo die Waffe fallen und rannte einfach davon.

»Warte doch, Simo!«, rief Juli, erhob sich und ergriff die Waffe. »Bitte, Simo, so warte doch!«

Doch Simo lief unaufhaltsam davon. Er atmete tief ein und aus, sprang und rannte, kletterte und sprang wieder. Seine Tränen trocknete der Wind. Immer weiter, immer weiter! Kein Sterblicher hätte ihm folgen können, so hoch hielt er die Geschwindigkeit, balancierte über Abgründe, erklomm glatte Felswände. Und obwohl die Kräfte irgendwann nachließen, rannte er noch schneller, als gehörten seine Beine einem anderen.

*

Simo hetzte durch das Unterholz, gelangte an das Ufer des großen Boddens, der nach dem Beben, lange Zeit vor Simos Geburt, entstanden war. Er hörte noch immer den Klang der Trompete, die eine aus nur einer Oktave bestehende Melodie spielte.

»Papa! Mama!«, brüllte der Fünfjährige und hörte von überall die lauten Motorengeräusche, Schreie und peitschende Salven. »Lene, Lina, Lena!«

Der Unterschlupf in seinem Dorf am Bodden wurde angegriffen! Der Winzling in den abgewetzten Kleidern, die ihm Mama zusammengenäht hatte, stürzte in einen Graben, rappelte sich auf und kroch auf der anderen Seite wieder hinauf. Er flitzte quer durch ein Feld, das die erwachsenen Männer bestellt hatten, auf dem Weizen für Brot wuchs, rannte den Feldweg hinunter, auf dem er unzählige Male an der Hand des Vaters zur Schmiede gelaufen war, in der Papa Werkzeuge herstellte, näherte sich dem Dorf und erblickte die riesigen Transporter mit den EDR-Symbolen, die der von Vater und Mutter verhassten Europäisch Demokratischen Republik gehörten. Der Junge schlüpfte durch eine schmale Öffnung zwischen zwei Katen, kletterte geschwind wie eine Ratte über eine Leiter auf den Schuppen und robbte bis zur vorderen Dachrinne. Von dort aus konnte er den großen Hof und einen Abschnitt der angrenzenden Dorfstraße sehen.

Die Angreifer trugen graue Uniformen, Helme und Handfeuerwaffen. Sie waren alle noch sehr jung, vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Rabiat drangen sie in die Häuser ein, brüllten »Rauskommen!«, schlugen Scheiben ein und schossen wie zum Spaß auf die freilaufenden Tiere – Hühner und Gänse, von denen die Familien leben mussten. Auf der Straße lagen Tote aus Simos Dorf, auch Kinder waren darunter. Die kleinsten Jungen wurden wie Vieh zusammengetrieben und von EDR-Soldaten mit Schlägen traktiert.

Jetzt kamen mindestens dreißig von ihnen auf seinen Hof! Simo rutschte ein Stück zurück, um nicht gesehen zu werden, hörte sie aber alle durcheinanderbrüllen.

»Raus mit euch, ihr peinlichen Abtrünnigen! Rattenschisse, verfluchte! Sonst brennen wir das Haus ab!«

Einige Soldaten zerschlugen die Fenster, fünf drangen ins Haus ein, zehn weitere in die Nebengelasse. Simo hörte die Schüsse ihrer Waffen. Dann sah er die dreijährigen Zwillingsschwestern Lina und Lena, die von zwei Soldaten an ihren schönen, blonden, langen Haaren aus der Scheune gezerrt wurden. Bestimmt hatten sie sich zuvor im Stroh versteckt.

Einer schlug erst Lina, dann Lena die Beine weg, sodass die Mädchen in den Dreck stürzten und vor lauter Angst schrien.

Ein anderer, noch jüngerer Soldat, näherte sich, klappte das Visier seines Helms hoch und brüllte: »Los, 17, du darfst die wertlosen Weiber glätten!« Dann lachte er. »Was ist, 17, verpisster Spritzpimmel, glättest wohl nicht deinesgleichen?«

»Glätt’s doch du, haarloser Retortenbürzel!«, rief der Soldat mit der Nummer 17 und rannte wütend vom Hof. Der Jüngere legte die Waffe an, schoss zweimal auf Simos Schwestern, deren Leiber daraufhin zuckten, um dann regungslos liegen zu bleiben, während sich ihre Kleider an manchen Stellen rot färbten. Eine halbe Sekunde später wurden die beiden Körper von inneren Explosionen zerrissen.

Papa kam aus dem Haus gerannt, schlug mit einer Axt wild um sich, ohne jedoch einen der Kindsoldaten zu treffen, und flehte. Noch bevor er seine toten Zwillinge erreichen konnte, wurde er von unzähligen Schüssen getroffen. Sein Körper wurde regelrecht zerrissen.

Ein heiserer Schrei ertönte. Simo weinte nicht. Er brüllte nur.

Die EDR-Soldaten entdeckten den Fünfjährigen auf dem Schuppendach, gleich vier von ihnen erklommen das Gebäude.

Blitzschnell wie der Wind sprang Simo auf der anderen Seite vom Dach, landete auf einem Strohballen, rannte an der Rückseite des Hauses entlang und schlüpfte durch die Hintertür zur Küche. Erschüttert blieb er stehen. Er sah Mama auf dem Küchenstuhl schlafen, Lene, das vier Monate alte Schwesterchen der Zwillinge, an die Brust gequetscht. Aus einem großen Loch in Mamas Unterleib hingen Gedärme, aus Lenes Hinterkopf tropfte Blut auf Mamas Schürze.

In diesem Moment ergriffen kräftige Hände den kleinen Simo, der kurz darauf in einem geschlossenen Fahrzeug der EDR-Soldaten verschleppt wurde. In einem schwankenden Käfig zwischen all den anderen kleinen Jungen kniend fand sich Simo wieder. Er hatte aufgehört zu brüllen. Es fröstelte ihn und sein schmächtiger Körper zitterte. Innerhalb weniger Minuten hatten sie ihm alles genommen. Jeden seiner Freunde.

*

Simo schaute auf die zitternden Spitzen seiner Finger. Er hatte Pelz und Shortshirts bis zur Hüfte abgestreift, lag auf dem Rücken unter einem uralten Baum und wischte das grauenvolle Bild von Mama und Lene aus den Gedanken.

Als er das Ziel erreicht hatte, war seine Güte bis auf 84 gestiegen – so hoch wie noch nie. Er war schneller gerannt als jedes Tier! Nun musste er wieder zurücklaufen und sich bei 01-Spundgruppenführer-Elia melden. War noch Ausbildungszeit übrig, würde er zum Kampf-, Kraft- oder Ausdauersport geschickt werden. Dazu hatte der kleine Junge keine Lust. Viel lieber lag er unter diesem Baum.

Im Himmel, weit über seinem Kopf, sah Simo plötzlich einen schwarzen Punkt, der sich stetig im Kreis bewegte und mit jeder Bewegung näherkam.

Es war ein seltener Vogel, so groß, wie Simo noch nie einen gesehen hatte, und er gab schreiende Laute von sich.

»Hiob! Hiob!«, rief der Steinadler. Und nach einigen Sekunden erneut: »Hiob! Hiob!«

Blitzschnell stand Simo auf den Füßen, legte die Hände zu einem Trichter an den Mund und rief mit hoher Stimme »Hiob! Hiob! Hiob!« hinauf, als wäre dieser Vogel am Himmel sein Vater.

Der Adler flog auf eine Felswand zu und landete geschickt in einem großen Horst, den Simo kaum erkennen konnte, weil er in einer Felsspalte versteckt gebaut war.

Nach dieser Begegnung legte sich der Junge wieder auf den Rücken und schloss die Augen. Obwohl er nicht das geringste Geräusch gehört hatte, blickte er in ein Gesicht unmittelbar über dem seinen, als er Minuten später die Augen wieder öffnete. Das war Juli, der sich ebenso wie er den Pelz vom Kopf gezogen hatte.

»Es tut mir leid, Simo. Ich wollte dich nicht beleidigen. Mit meinen Worten wollte ich dir auch nicht wehtun. Ich wollte dir anbieten, mein Freund zu sein. Nichts anderes habe ich vorgehabt. Sag mir, was daran schlimm sein könnte!«

Simo spürte Julis Atem im Gesicht. Der musste auch sehr schnell gerannt sein, doch Simo merkte es ihm ansonsten kaum an.

»Was bist wirklich, Juli?«, flüsterte der Kleine.

Juli pustete Simo leicht ins Gesicht. »Kein Educares und kein Räudiger«, hauchte er.

»Sag was bist, nicht was nicht bist.«

Noch zögerte Juli. »Du wirst es wirklich niemandem erzählen?«

»Hab Vogel g’sehn. So autonom er.« Der Kleine blinzelte und Juli über ihm musste wegen des Wortes »autonom« statt »allein« unweigerlich grinsen.

»Autonom?«

Simo blieb todernst. »Soll Freund von dir, doch vertraust nicht«, sagte Simo und pustete zurück. »Drum schweig besser.«

Statt zu schweigen fragte Juli: »Wie kann nur ein so kleiner Junge, wie du einer bist, ewig und immer ernst und störrisch sein? Los, lach gefälligst, Simo!« Er griff dem Kleinen an die unterste Rippe und kitzelte ihn kräftig durch. »So oft habe ich dich weinen sehen, nun zeig mir, dass du auch lachen kannst!«

Mit dem ganzen Körper zuckte Simo und wand sich auf dem weichen Boden. Doch er lachte nicht.

Juli stach ihm mit den Fingern in die Seiten. »Lach endlich, du kleiner, verpisster Heulkotz! Los, lach!« Aus fünf Zentimetern Entfernung sah er wieder in Simos Gesicht. Doch Simo lachte nicht. Simo weinte. Das Heulwasser stand ihm regelrecht in den Aughöhlen.

Resignierend ließ sich Juli neben Simo fallen, drehte sich auf den Rücken und schaute ebenfalls in den Himmel.

»Warum weinst du gerade jetzt, Simo? Ich habe dich zum Spaß durchgekitzelt«, flüsterte er zwei Minuten später. »Warum lachst du dabei nicht? Jeder andere würde sich totlachen.«

»Hab Freunde g’habt!«, sagte Simo. »Papa und Mama. Hab’s aber Namen vergessen. Weiß noch von drei Kleinen. Lene, Lina, Lena. Lene, Lina, Lena. Lene, Lina, Lena.

Lene, Lina, Lena …« Wiederholt nannte Simo die Namen seinen kleinen Schwestern, bis er innehielt. »Sag’s immer wieder für mich, damit’s nicht auch vergess. Lene, Lina, Lena. Haben’s g’glättet, wehrlose Kleinen. Auch Papa. Auch Mama. Haben’s g’macht, die Spunde, die ausschau’n wie ich. Wie du. Paul ist Gefährte mir. Begleiter, Kamerad, Bruder. Paul kein Freund nicht. Ist Paul nicht Spund noch, dann möglich Paul Freund von Simo.«

»Wenn Paul so etwas wie dein Bruder ist, dann ist er mit ziemlich großer Sicherheit auch dein Freund«, widersprach Juli. »Nachts, wenn Paul die Shortshirts nicht anhat, ist er dann noch ein Spund? Oder ist er dann ein Junge? Ist Paul nachts dein Freund? Wenn am Himmel ein Gewitter aufzieht, ist der Himmel dann ein Gewitter oder immer noch der Himmel?«

Der Kleine blickte hinauf in den Himmel. Eine Weile dachte er über Julis Worte nach, sprach jedoch nicht.

»Ich will dir was sagen, Simo: Paul ist dein Freund, auch wenn du ihn als Spund siehst.«

Sekunden vergingen.

»Meinst?«, flüsterte Simo schließlich.

»Ganz sicher.«

Beide schwiegen und sahen hinauf in die Krone des riesigen alten Baumes, der einhundertzwanzig Kriegsjahre überstanden hatte.

»Vertraust mir?«, fragte Simo schließlich. »Hast vor 14-Spund-Thom schon was erlegt? Vertraust mir und sprichst nicht, was bist?«

Juli musste die Worte erst sortieren. »Ich habe noch nie jemanden getötet, Simo. Das mit Thom war ein Unfall. Und er passierte, weil ich dir das Leben retten wollte. Ich bin kein Räudiger. Ich kann keiner sein, weil ich – ebenso wie mein Familie – nie abtrünnig war. Ich bin kein Educares, weil ich aus dem Leib meiner Mutter schlüpfte. Ich bin ein Mensch, verstehst du? Nur ein stinknormaler Mensch!«

Simo hob den Oberkörper an, drehte sich und kniete plötzlich über Juli. Er drückte die Arme des deutlich stärkeren Jungen an den Handgelenken auf den Boden. »’s deucht, du erdichtest was.« Er stemmte Juli die Knie in die Seiten. »Elender Fabulant! Das gibt nur Weibsbürzel und Tierschwänze. Was sonst?«

»Es gibt noch wesentlich mehr als das, was in deinem kleinen Dickschädel ist, Simo. Sag, kennst du die Kuppelstädte?«

»Die Schneekugler?«

Der Große lachte, als machte er sich über den Kleinen lustig. »Es hat noch nie in einer der Kuppelstädte geschneit, das kann ich mit Sicherheit behaupten. Ihr Räudiger mit eurer verwunderlichen Sprache!« Juli ließ Simo gewähren und warf ihn nicht von sich herunter. »Von mir aus: Kennst du die Schneekugelstädte? Eine davon heißt Neuparis. Sie haben jede Kuppelstadt nach einer im Krieg zerstörten Großstadt Europas benannt. Die Städte unter den Kuppeln haben eigenes Wetter, eigene Luft, eigene Gesetze und eigene Menschen. Für die Demokraten sind nur die Kugelstädte die Republik. Die Menschen dort wurden ausgewählt, mussten sich zur Europäisch Demokratischen Republik bekennen und haben für sie zu arbeiten. Alle Staatseigenen sind gechippt. Sie erhalten Waren und Lebensmittel für ihren Bedarf zugeteilt und dürfen Familien gründen. Ein Paar darf zwei Kinder haben, doch die Geschlechter der Nachkommen werden nach einem statistischen Verfahren bestimmt. Ein Fötus, der nicht …«

»Was ist Fötus?«, unterbrach Simo, ohne den Griff um Julis Handgelenke zu lockern.

»Das ist das Kind im Mutterleib, das ungeborene aber bereits existierende, wachsende und fühlende Kind. Ein Fötus, der nicht der Geschlechterstatistik der Oberen entsprach, wurde abgetötet. Ich wurde in der Kuppelstadt Neuparis geboren, Simo. Mein Vater musste Staatseigener sein und meine Mutter auch. Mutter hat mich heimlich zur Welt gebracht, hat mich vor den Statistikern versteckt. Sie wollte einen Sohn und durfte nur zwei Töchter gebären. Also versteckte sie mich. Eine Kuppelstadt kann man nur zu einer anderen Kuppelstadt verlassen. Über die Röhrenbahn. Nie aber kommt jemand ohne den entsprechenden Chipeintrag hinein oder heraus. Verstehst du? Einmal in der Kuppelstadt, wirst du immer dort gefangen sein, es sei denn, die haben dich für Arbeiten in äußeren Fabriken oder auf den Feldern eingeplant.«

»Du aber hier? Wie geht’s?«

»Als ich sieben Jahre alt war, haben sie mich entdeckt. Mutter wurde bestraft und ich in ein Haus der Oberen gebracht. Sie wollten mich töten, doch ein Privilegierter Beamter schickte mich hierher. Ich wurde bei vollem Bewusstsein gechippt, wie ein Räudiger. Und weil sie sich unschlüssig waren, haben sie mich als Educares deklariert. Für mich gibt es nämlich keine eindeutige Definition. Ich bin ein Städter. Doch die gehören in die Kuppelstadt und nicht hierher. – Verstehst du mich jetzt?«

Simo schaute in Julis Gesicht. »Ist schön dort in Schneekugel?«, fragte er, ohne Julis Frage zu beantworten.

»Nein«, antwortete der Große unbeherrscht laut. »Das versuch ich dir doch die ganze Zeit zu erklären. Dort ist es nicht besser als in der Rottenschule. Die Kuppelstädte sind riesige Gefängnisse mit vielen Sklaven und wenigen Herrschern. Es gibt da nur zwei Sorten Menschen: Staatseigene und Privilegierte Beamte. Staatseigene schuften und Privilegierte Beamte genießen, weil sie von manipulierten Spundrotten geschützt werden. Wer sich wehrt, wird ohne Pardon ermordet.« Nach einer kurzen Pause meinte Juli noch: »Dort, wo du gelebt hast, war es mit Sicherheit am besten.«

»Meinst als Abtrünniger? Bist albern.«

»Ich meine dich, als freien Menschen, Simo. Kapier es doch: Bis sie dich verschleppt haben, warst du ein völlig freier Mensch. Die Bezeichnung ›Abtrünniger‹ haben Die Zehn erfunden, die mächtigsten Zehn in Europa.«

Lange schaute Simo schweigend in Julis Augen. Dann fragte er: »Warum macht alles kaputt, was am besten?«

»Weil es den Menschen eigen ist, immer wieder alles Gute zu zerstören. Die Menschheit benötigt nicht den Angriff irgendwelcher Außerirdischer, Simo, wie es in manchen alten Lettersammlungen geschrieben steht. Ich habe viele davon gelesen. Die Menschheit hat es ganz gut drauf, sich selbst zu vernichten. Es ist die Gier des Menschen nach Bedeutung, Macht und Reichtum. Und diese Gier wurde in weiter Vergangenheit aus dem einfachsten Überlebensinstinkt geboren. Sie hat sich erst mit der Menschwerdung entwickelt.« Juli flüsterte. »Kein einziges Tier wird jemals so dumm sein wie ein Mensch. Intelligent sind nur die Tiere und Pflanzen.«

»Womöglich ich Tier oder Pflanze?« Simos rhetorische Frage war äußerst ernst gemeint.

Doch Juli lachte darüber. »Du? Ein Tier? Nein, Simo. Auch du bist ein Mensch. Und ganz bestimmt wird die Dummheit sich eines Tages auch bei dir einstellen. Ganz sicher.« Eine Sekunde zögerte Juli, dann fragte er erneut: »Was ist nun, Simo? Du schuldest mir noch eine Antwort. Wollen wir Freunde sein?«

Eine Antwort gab Simo dem großen Jungen nicht. Stattdessen fragte er: »Hat’s Schlange ’nen Chip?«

»Ja«, sagte Juli.

»Weißt’s?«

Der Große blickte starr in die Augen des Kleinen. »Woher ich das weiß?«

Simo nickte.

»Sie sagte es mir. Und ich habe die Narbe gefühlt.« Die Augen Simos weiteten sich.

»G’fühlt? Wie?«

»Ich darf dir nicht alles erzählen. Ich weiß, dass der Chip da ist. Ich weiß, dass Domina Hero einen Zugriff darauf hat. Die Schlange ist ein Sklave Der Zehn.« Erneut flüsterte er: »Wie auch wir Sklaven Der Zehn sind.«

Noch immer hielt der Kleine die Handgelenke fest. In seinem Kopf arbeiteten die Gedanken, entstanden neue Fragen. Doch Simo fragte nicht.

Stattdessen ergriff Juli noch einmal das Wort: »Was nun, Simo? Wollen wir Freunde sein? Vielleicht darf ich dir dann mehr erzählen. Vielleicht bist du dann bereit dazu, ein wenig mehr von der Wahrheit zu erfahren.«

Simo zögerte kurz, kletterte schließlich von Juli herunter und zog sich rasch den Pelz über Oberkörper und Kopf. »Muss eilen zu 01-Spundgruppenführer-Elia.«

Auch Juli erhob sich, rieb sich die Handgelenke und klopfte Laub und Dreck aus seinem Pelz. »Du hast dich nie dafür bedankt, dass ich dir dein Leben gerettet habe.« Das war mit Sicherheit keine Frage.

Simo antwortete auch darauf nicht, sondern rannte unvermittelt los.

Juli hatte große Mühe, dem Kleinen zu folgen. An einem Hang sah er Simo zweihundert Schritte vor sich.

Der stand breitbeinig da, zu ihm gewandt, und rief: »Hab viel Sonnenschein g’sehn, drüben in mein Tod! Du aber, dummer Spritzpimmel, bracht’s mich zurück ins Eiskaltland! Und willst wohl jetzt noch Dank dazu?«

»Verdammt noch mal, du winziger klugscheißender Hosenfurz! Es gibt nichts Wertvolleres als das Leben, Simo! Kannst du das nicht kapieren oder willst du es einfach nicht?«, schrie Juli dem Kleinen nach, der sich wieder in Bewegung gesetzt hatte und weiter den Hang erklomm. »Jetzt warte doch!«

Juli hetzte sich ab, doch er erreichte Simo bei diesem Test nicht mehr. Der kleine quirlige Kerl war einfach schneller und überquerte lange vor ihm einen umgestürzten Baum, der über einen tiefen Abgrund führte.

Juli folgte ihm, vorsichtig balancierend, und kletterte auf der anderen Seite eine äußerst steile Wand hinauf, die nur wenig Halt bot. Kurz bevor er das Plateau erreichte, bröselte ein Vorsprung unter seinem linken Fuß weg. Der Zwölfjährige verlor den Halt, krallte sich an einem Vorsprung fest und ruderte auf der Suche nach einem erneuten Halt heftig mit den Beinen. »Simo!«, brüllte er. »Simo, ich stürze ab! Hilf mir, Simo!« Seine Bewegungen wurden hektischer, als er bemerkte, dass der Pelz ihn daran hinderte, den Absturz mit den Händen zu verhindern. Der sichere Tod war nah. »Simo, komm zurück! Bitte!«, flehte Juli mit schwindender Kraft. »Bitte, Simo!«

In jenem letzten Moment des Halts griffen zwei Hände von oben zu und zerrten Juli mit kräftigem Schwung hinauf auf das Plateau. Übel gelaunt und um Atemluft ringend lag der Junge da und schaute hinauf in die geschminkten Augen der Rottenführerin Python, die in ihrer schwarzen, glänzenden Uniform mit den leuchtend weißen Streifen breitbeinig über Juli stand.

»Gut gemacht«, sagte die. »Doch pass besser auf dich auf. Denn tot wirst du der Sache herzlich wenig nützlich sein.« Daraufhin wandte sich die kolossal wirkende Frau ab und lief mit ruhigen Schritten über das moosige Felsgestein davon.

Juli lag am Rande des Abgrunds, blickte in den blauen Himmel und zögerte damit aufzustehen.

»Hab viel Sonnenschein g’sehn, drüben in mein Tod!«, hörte er Simos hohe Stimme rufen. Wie schlimm stand es um die Welt, wenn ein kleiner Kerl, wie Simo einer war, den Tod dem Leben vorzuziehen gedachte? Es wurde höchste Zeit, den Kleinen aus dem tiefen Wasser zu ziehen und ins Boot zu hieven. Höchste Zeit!

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