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Neumoskau: Angriff der Spunde

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»Schau’s dir an! Noch Kinder sind’s, und sehr ganz junge dazu!« Jonathan hockte auf dem Hochstand und blickte hinunter auf das weite, unbestellte Feld. Zu Tausenden kamen sie durch das weglose Land gelaufen, trugen nur ihre Rückensäcke und die Waffen. Dazwischen fuhren brüllend die gewaltigen Fahrzeuge.

»Sind BAT2000«, flüsterte Tatjana neben ihm. »Sind ohne Waffen.«

»Wenn’s kommen zu uns, ist’s aus. Viel zu viele sind’s, die da gehen.«

»Muss los!« Tatjana schickte sich an, von dem Hochstand zu klettern.

»Was willst?«, fragte Jonathan.

»Muss warnen! Unser Stadt muss still sein!« Jonathan folgte dem sechsundzwanzigjährigen Mädchen, das geschwind die Leiter hinunterkletterte. Gebückt liefen sie im Gras der weiten Landschaft nebeneinander zum Waldsaum.

Jonathan war dreißig, Vater eines kleinen Jungen, Mann von Tatjana, die er hier im Rückzugsraum der Abtrünnigen kennengelernt hatte, die ihm, dem schwarzen Mann, wie er von allen genannt wurde, einen Jungen geschenkt hatte, deren geschmeidigen Körper er liebte und deren Klugheit er verehrte.

Eines fernen Tages war Jonathan aus dem Gebiet der Grenze zwischen EDR und Morgenland geflüchtet. Dort lauerte ständig die Gefahr durch Spunde. Zwar griffen sie nie sein Dorf direkt an, doch sie waren fortwährend in der Nähe. Jonathan ging gen Norden. Fünf Jahre dauerte seine Reise, die ihn in verschiedene Siedlungen und Verstecke der Abtrünnigen brachte. Doch überall lauerte der Tod. Immer wieder tauchten Horden von Spunden auf, machten alle Abtrünnigen auf Geheiß Der Zehn nieder. Jonathans Augen sahen unzählige zerfetzte Leichen. Nie ging es um die Eroberung von strategischen Objekten, stets nur darum, die Abtrünnigen auszurotten.

An einem eiskalten Wintertag erreichte er diese Kolonie. Sie war gewaltig. Abtrünnige hatten eine alte Stadt inmitten eines gigantischen Waldgebietes gesichert, gelangten auch in den Besitz verbotener Waffen. Die Gegend nannten sie »Russisches Becken«. Im Osten versperrte das gewaltige Ural-Gebirge den Weg, im Westen, jenseits des Waldgebietes, existierten unendliche flache, zumeist weit einsehbare Ländereien. Es gab genügend Tiere, die gejagt und gegessen werden konnten, Früchte von Bäumen und auch bestellte Felder, auf denen Weizen wuchs. In der Stadt existierten sogar Forschungsstationen, die das Wetter voraussagen konnten. Ein altes, wiedererrichtetes Wasserkraftwerk erzeugte Strom für die Stadt. Errungenschaften der Vorkriegsgeneration wurden brauchbar gemacht, Kleidung und andere Erzeugnisse hergestellt. Viele der Abtrünnigen kamen aus dem Westen. Einige brachten die Erinnerung an eine große Metropole mit, die der Krieg in Schutt und Asche verwandelt hatte. Deshalb erhielt die Enklave den Namen »Neumoskau«.

In den Augen Der Zehn wurde die gewachsene Stadt der Abtrünnigen zur Bedrohung. Immer wieder rückten Spundeinheiten gegen die Stadt vor, doch sie wurden unter hoher Opferbereitschaft von den Abtrünnigen mit alten Waffen vertrieben.

*

Erschöpft erreichten Jonathan und Tatjana das Tor. Ein gewaltiges Brummen, erzeugt durch die Turbinen der BAT2000, lag in der Luft.

»Gebt Ruhealarm! Horden von Spunden nähern sich! Tausende sind’s!«, riefen beide den Torwächtern zu.

Sekunden später wurden die Nebelkanonen aktiviert. Weißer, künstlicher Nebel kroch durch die Gassen, hüllte Neumoskau ein, als wäre er ein natürliches Produkt von Wasser und Sonne. Die Menschen wussten nun, dass sie jeden Lärm vermeiden sollten. Und wäre es des Nachts geschehen, hätten sie die Stadt verdunkelt. Doch jetzt war Tag. Einige Wolken verdeckten die Sonne, ein wenig Nebel war überall.

Die beiden erreichten das Wohnhaus, ein mehrstöckiges Gebäude, in dem sie in zwei Räumen der ersten Etage untergebracht waren.

Paul saß unter dem Tisch. Der Vierjährige versteckte sich immer unter dem Tisch, wenn er den Nebel sah, denn nur dort fühlte der Junge sich sicher.

Sogleich hockte sich Tatjana neben Paul und drückte den zitternden Kleinen fest an sich. Sie war hier geboren, sie kannte keine andere Welt. Deshalb kroch die Angst, beginnend bei ihren Füßen, hinauf in ihren Körper und übertrug sich auf ihn, als wäre sie eine furchtbare Krankheit. Tatjana drückte Paul so fest an sich, als müsste der Kleine sie beschützen.

Paul aber breitete die Arme aus und rief: »Papa!«

Einen Moment zögerte Jonathan. Dann kroch auch er unter den Tisch, streichelte Paul über die schwarzen Haare, küsste seine dicken Lippen und hielt die beiden abstehenden Ohren mit den Händen fest. »Paulchen, muss hinaus. Werde bald z’rück sein. Pass schön auf’s Mama auf. Musst tapfer sein, Paulchen. Hab dich lieb.« Noch ein Küsschen für Paul folgte, dann eins für Tatjana.

»Paul tapfer«, sagte der Kleine und schaute den Vater mit großen schwarzen Augen an. »Papa kommt wirklich z’rück?«

»Papa bald z’rück, wenn’s Höllenspunde vertrieben sind’s. Yäh?«

»Yäh, Papa. Bitte z’rück.« Zögernd ließ Paul eine Hand des Vaters los, die er bis dahin fest umklammert hatte.

»Pass auf dich auf. Bitte, Jonathan«, flüsterte Pauls Mutter und drückte den Kleinen noch inniger an sich.

Ein weiteres Mal nickte Jonathan, dann verließ er lautlos das Gebäude.

Paul legte seine Ärmchen um den Hals der Mutter, drückte seine Wange an die ihre. Dann zitterten sie gemeinsam. Während sie warteten, sang Tatjana ganz leise das alte Lied, das sie einst in der längst verbotenen Sprache von ihrer Großmutter gelernt hatte: »Против беды, против войны/​Встанем за наших мальчишек./​Солнце, навек! Счастье, навек!/​Так повелел человек …« – »Gegen die Sorgen, gegen den Krieg, stehen sie für uns, unsere Jungs. Sonne für immer! Glück für immer! So lautet der menschliche Befehl!«

Kaum hörbar summte Paul die Melodie mit.

*

Jonathan lag neben Alexej, einem viele Jahre älteren Mann, im Graben. Das war keineswegs ein Schützen-, sondern ein alter Straßengraben, der sich entlang einer längst verwilderten Straße zog. Feuchtigkeit kroch unter die Kleidung, Jonathan fror, doch die Angst ließ ihn die Kälte vergessen. Aus der Stadt kommend krochen unscheinbare Nebelschwaden durch den Wald, die der Wind schon bald verweht haben würde.

Alexej, der wesentlich besser sprach als die meisten Abtrünnigen, nutzte ein älteres Fernglas und beobachtete die Rümpfe der riesigen Fahrzeuge.

»BAT2000«, flüsterte er. »Fünf davon! Es werden also viel mehr Spunde sein, als wir bislang vermutet haben. Und sie haben die Richtung geändert. Es scheint, als wollten sie unsere Straße nutzen.«

»Soll’n Sprengkörper einsetzen?«

»Das wird ihre Ankunft verzögern, aber nicht verhindern. – Komm!«

Beide zogen sich einige Hundert Meter in den Wald zurück. Alexej sprach mit Jegor, dem Kommandanten. Der wies an, in aller Schnelle mit den bereitgelegten Bäumen die Straße zu versperren. Es war schwere Handarbeit, bis die fünfzig Männer etwa zehn der großen Kiefern auf der Straße platziert hatten.

Jegor ließ die letzten vorhandenen verbotenen Sprengladungen unter der Brücke anbringen. Diese führte vor der dürftigen Stadtsicherung über ein nicht sonderlich gewaltiges Flüsschen. Zwei Männer blieben zurück, die anderen verteilten sich im dichten Wald vor dem Stadtrand.

Jonathan lauschte. Schon heulten die hässlichen Turbinen der BAT2000 in unmittelbarer Nähe! Er zauderte. »Sollten’s Volk ins Rückland schicken«, schlug er vor und sah abwartend hinüber zu Jegor.

»Ist zu spät, Jonathan. Längst zu spät.«

Die ersten Spunde näherten sich, ihre zerstörerischen Waffen im Anschlag. Jonathan kannte die gräulichen Projektile, die in fast jedem Körper stoppten, um eine halbe Sekunde später zu explodieren. Sie kamen wie Nadeln geflogen, wenn die Spunde gleichzeitig im Dauerfeuer schossen, zerrissen Mauern, Türen und Leiber.

Noch schwiegen die Waffen. Vielleicht ahnten die Spunde nicht, was für eine große Enklave vor ihnen lag.

Sie liefen in engen Linien, jeweils fünfzig Spunde dicht nebeneinander. Alle sahen gleich aus, denn sie trugen homogene graue Uniformen. Und sie zeigten keine Gesichter, die blieben hinter spiegelnden Visieren versteckt.

Die ersten Kolonnen trafen auf die Barrikade. Wie Ameisen stürzten sie sich darauf und zerrten die großen Bäume mühelos aus dem Weg.

Ein BAT2000 fuhr in die vordere Linie, schob die Barrikade gänzlich zur Seite, stoppte mitten auf der Straße und klappte geräuschvoll gewaltige Behälter auseinander. Unzählige Luken öffneten sich, aus denen die tödliche, graue Masse herausquoll. Zweitausend weitere Spunde nahmen Aufstellung, vereinigten sich mit denen, die ohnehin bereits zu Fuß marschierten.

Jonathan dachte an den kleinen Paul, dachte an seine Tatjana, ein zartes Mädchen, das sich oftmals mehr zutraute, als ihr Körper bewerkstelligen konnte. Das Haus war nicht weit vom Stadtrand entfernt.

»Wir ziehen uns in die Stadt zurück!« Jegor, der diesen Krieg seit siebenundsechzig Jahren miterleben musste, lief bereits durch den Graben. »Gleich sprengen wir die Brücke!«

Die war nur eine Biegung der Waldstraße von den Angreifern entfernt. Die Spunde konnten die Brücke noch nicht sehen, aber lange würden sie von der fehlenden Verbindung nicht aufgehalten werden. Die Hänge zum Flüsschen waren flach und leicht zu überwinden.

Mit schweren Beinen folgte Jonathan Jegor. Laub raschelte unter seinen Füßen.

Detonationen erschütterten den Waldboden, die Druckwelle ließ Bäume schwanken, Dreck flog durch die Luft. Als sich die Männer im Graben erhoben hatten, sahen sie vor sich, unmittelbar am Waldrand, die grauen Schatten! Die Spunde kamen nicht nur von hinten, sie kamen auch von der Seite!

»Черт ублюдки!«, zischte Jegor in der verbotenen Sprache. »Verdammte Bastarde!«

Die Männer hetzten weiter, entfernten sich aber von der Stadt. Aus allen Richtungen kamen plötzlich diese Spunde! Sie mussten den Überfall detailliert geplant haben.

Hektisch schaute sich Jonathan um. »Da! Rettungsbaum!«, rief er, kroch auf einen außergewöhnlich hohen Baum mit dichter Krone zu und erklomm bereits, gefolgt von den Kameraden, die ersten Stufen einer Leiter aus Seilen. Solche Bäume waren selten, sie wurden von den Neumoskauern nur für absolute Notfälle eingerichtet. Weit oben, im Schutz der Krone, gab es ein Baumhaus, das Jegor, Jonathan und zwei weiteren Männern Schutz bot. Die Leiter wurde eingeholt. Jegor gab das Fernglas Jonathan, der nun versuchte, etwas zu erkennen. Jonathan aber sah nichts außer den unzähligen Spunden, die ohne Pause auf die Stadt zustampften. Dann hörte er die ersten zischenden Projektile, kurz darauf die knallenden Detonationen.

»Wir müssen …«, entfuhr es ihm.

»Ja. Wir müssen ihnen helfen. Doch können wir es nicht. Es ist unmöglich, Jonathan, wir wären sofort tot. Noch bevor wir den Boden erreicht hätten. Damit würden wir nichts erreichen. Viele Schlachten haben wir gewonnen, aber diese werden wir wohl verlieren, mein Junge.«

Jonathan war nahe daran zu verzweifeln. Verlieren? Nichts tun sollte er? Aber Paulchen! Und Tatjana! Der junge Mann weinte und verfluchte Die Zehn und ihre verdammten Spunde. Erbarmungslos bohrte sich das Prasseln explodierender Projektile in Jonathans Gehirn.

Inbrünstig flehte er, irgendjemand möge Tatjana und dem kleinen Paul beistehen, damit die Spunde sie nicht fanden.

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