Читать книгу Glücklich der Mensch - Titus Müller - Страница 7
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Wenn er vor etwas Angst hatte, dann war es Lepra. Der Aussatz unterschied nicht zwischen Arm und Reich, und wen er befallen hatte, der war verurteilt, über viele Jahre allmählich dahinzusterben. Franziskus schauderte beim Anblick des Aussätzigen, der allein in der Abenddämmerung über das Feld stakste.
„Fall nicht hin“, spottete Luca, „sonst brichst du dir ein Bein ab!“
Sie lachten. Es war kein fröhliches Lachen, sie lachten aus einer hässlichen Hilflosigkeit heraus, um die Macht zu verspotten, die dieser Aussätzige über sie hatte, die Macht, den Tod zu bringen. Der Vermummte reagierte nicht auf ihren Spott. Er blieb stehen und sah stumm zu ihnen herüber.
„Wollen wir doch mal sehen, ob er sich an die Regeln hält“, sagte Matteo und stieg vom Pferd. Er trat auf die vermummte Gestalt zu.
Erschrocken ließ diese die Ähren fallen, die sie von den Halmen gerissen hatte. Sie nestelte an ihrem Gürtel, zog eine hölzerne Klapper heraus und schlug sie, zur Warnung, wie es vorgeschrieben war.
„Kommt schon, es wird dunkel, lassen wir ihn“, sagte Franziskus. Das Feld gehörte seinem Vater, aber er konnte dem Aussätzigen nicht böse sein, dass er Ähren raufte. Welche Wahl hatte der Mann? Manchmal, wenn der Diebstahl überhandnahm, zogen Bewaffnete aus Assisi los und machten Jagd auf die Aussätzigen, dann gab es für eine Weile Ruhe. Man entschuldigte die Brutalität, indem man sagte: Früher oder später sterben sie ja sowieso.
Dieses Klappern war fürchterlich. Als könnten Wesen, die auf der Schwelle zwischen Leben und Tod standen, keine menschlichen Laute mehr von sich geben, nur ein schauerliches Scheppern.
Franziskus stellte sich die abgefaulten Glieder unter den Lumpen vor und das von Geschwüren zerfressene Gesicht. Besaß die Gestalt überhaupt noch einen linken Arm? Oder war es nur mehr ein Stumpf? Der rechte Arm und die rechte Hand waren vorhanden, mit denen schlug die Gestalt die Klapper.
„Matteo, lass ihn“, versuchte er es noch einmal.
Matteo zog sein Schwert, als wollte er den Kranken erschlagen. Der Aussätzige humpelte unter Angstgeheul davon.
„Den sehen wir hier nicht wieder“, sagte Matteo befriedigt, steckte das Schwert weg und stieg wieder auf sein Pferd.
Samuele stichelte: „Oder er kommt nachts, wenn du schläfst, mit ein paar seiner Leidensgenossen, und sie stecken dich an.“
Als sie auf dem Weg nach Hause am Siechenhaus vorbeikamen, machten sie einen weiten Bogen darum. Sie führten die Pferde einhändig und hielten sich demonstrativ die Nasen zu. „Riecht ihr das?“, fragte Matteo. „Widerwärtig! Können die sich nicht waschen!“
Einen Moment lang überlegte Franziskus, ob er ein wenig mehr christliche Nächstenliebe anmahnen sollte. Schließlich konnten die Kranken nichts dafür, dass sie litten. Dann aber schluckte er die Bemerkung hinunter. Dass die Freunde ihn auf ihre Ausritte mitnahmen, war nicht selbstverständlich, er durfte ihre Gunst nicht verspielen. Sie besaßen die Pferde und die Waffen dank ihrer adligen Herkunft, er hingegen war bloß der Sohn eines Tuchhändlers. Natürlich, er hatte Fähigkeiten, er konnte die Qualität verschiedener Stoffe einschätzen, Preise verhandeln, Handelsreisen planen. Er erkannte die Gier in den Augen eines Käufers, wenn dieser sich in ein teures Tuch für ein Gewand verliebt hatte, und brachte die richtigen Argumente vor, damit er sich zum Kauf entschloss. Franziskus trat aus dem Laden hinaus ins Tageslicht, um den Glanz eines Seidenstoffs zu zeigen, und wusste sein Lächeln gekonnt einzusetzen. In seiner eigenen Kleidung – geschmackvoll und französisch – war er den Adligen Assisis voraus: der geschlitzte Reitmantel aus feinster grünblauer niederländischer Wolle, das Hemd aus syrischem Damast, da konnten sie nicht mithalten. Er trug sogar die Haare lang wie ein Edelmann.
Aber was bedeutete das alles in Anbetracht des Umstands, dass er kein Ritter war und nie einer sein würde?
Luca, Matteo und Samuele würden mit einundzwanzig Jahren eine Schwertleite erleben, sie würden zum Ritter geschlagen werden. Für ihn hingegen kam nichts mehr, nur Handelsreisen und die tägliche Arbeit hinter dem Ladentisch. Er würde nie an einem Fürstenhof in immer ruhmreichere Kreise emporsteigen oder sich ein Erblehen durch treuen Dienst bei einem hohen Herrn verdienen.
Der Anblick von Assisi im Mondschein entschädigte ihn ein wenig. Die weißen Häuser schmiegten sich an den Hang des Monte Subasio und die Obstgärten und Felder waren in Sternenlicht getaucht.
Über der Stadt thronte die Festung Rocca Alta. Seit er denken konnte, war sie besetzt von kaiserlichen Truppen unter Konrad von Urslingen, einem alten Herzog, der vom Neckar stammte. Es hieß, er sei gerade für einige Wochen hier in Assisi, plane aber, demnächst wieder nach Spoleto abzureisen. Wie würde er sich positionieren? Nach dem Tod Heinrichs IV., über den ganz Italien gejubelt hatte, waren zwei konkurrierende deutsche Kaiser gewählt worden, es lief auf einen Machtkampf hinaus. Und einen neuen Papst gab es außerdem, einen 37-jährigen Grafensohn, der sich jetzt Innozenz III. nannte. Konrad würde sich auf eine der Seiten schlagen müssen.
Aber was war das? Franziskus zügelte das Pferd. „Seht ihr, was ich sehe?“, raunte er.
Die anderen brachten ihre Pferde ebenfalls zum Stehen. „Die Fackeln am Stadttor?“, fragte Matteo scherzhaft.
„Nein. Ein Heerhaufen, dort vorn, im Dunkeln! Runter von der Straße“, zischte Franziskus, „schnell!“
Sie lenkten die Pferde zu einer Baumgruppe, etwa zwanzig Schritt von der Straße entfernt. Hinter einigen Büschen stiegen sie ab und spähten zwischen den Zweigen hindurch zur Straße.
„Du hast recht“, flüsterte Luca. „Das sind mindestens zweihundert Mann.“
Samuele raunte: „Was machen die hier? Ist das ein Überfall Perugias?“
„Unsinn. Die kommen doch von Assisi her.“
Da begriff Franziskus. „Ich würde sagen, Konrad hat die Festung verlassen.“
Luca sagte: „Das ist nicht bloß Konrad. Das sind fast die gesamten Besatzungstruppen.“
In gespenstischer Stille bewegte sich der Heerhaufen die Straße entlang. Die Krieger unterhielten sich nicht, ihre Waffen klirrten nicht, nicht einmal der Mondschein glitzerte auf den Rüstungen. Anscheinend hatten sie alles sorgfältig mit Stoff umwickelt. Die Pferde, die sie an den Zügeln führten, gingen lautlos.
„Die haben auch die Hufe mit Filz umwickelt“, flüsterte Matteo.
Warum verließen sie die Festung? Dass sie es heimlich taten, war verständlich: Niemand sollte wissen, dass die Festungsbesatzung auf ein Minimum geschrumpft war. Schlagartig wurde ihm die große Chance bewusst. Assisi konnte frei werden! Wenn sie die Festung eroberten, befreiten sie sich ein für alle Mal aus dem Griff der Deutschen.
Sie warteten in ihrem Versteck, bis die Bewaffneten vorübergezogen waren. Dann eilten sie in die Stadt und weckten die wichtigsten Familien. Oben in der Festung durfte niemand bemerken, dass der geheime Abzug aufgeflogen war. Matteo, Luca und Samuele redeten eindringlich mit ihren Vätern und gewannen sie dafür, dass ein Sturm auf die Festung gewagt werden sollte.
Manche andere Adlige wollten sich nicht anschließen. Die Festung anzugreifen, sich also vom Kaiser loszusagen, konnte einen Rachefeldzug der Deutschen nach sich ziehen, Konrad von Urslingen würde mit seinen Schwerbewaffneten zurückkehren und die Stadt belagern. Außerdem war die Festung nicht leicht einzunehmen, auch wenn die Besatzungsmannschaft verringert worden war. Es würde Tote geben.
Die anderen überstimmten sie und drohten ihnen Konsequenzen an, sollten sie das Vorhaben verraten oder ihnen mit ihren Kriegsknechten in den Rücken fallen. In fieberhafter Eile wurden die Rüstungen angelegt. Wer offiziell keine Waffe besitzen durfte, lieh sich eine. Andere gruben verbotene Waffen aus, die im Garten versteckt gewesen waren. Wegen der häufigen Scharmützel mit Perugia besaßen in Assisi viele ein Schwert oder einen Spieß, ob es nun erlaubt war oder nicht. Man band Leitern aneinander und rüstete Korbdeckel zu Schilden um.
Die Adligen, die gegen den Angriff waren, packten ihre Sachen und verließen ihre Häuser. Sie sagten nicht, wohin sie flohen, aber jeder wusste es: Sie gingen zum Feind nach Perugia.
Im Morgengrauen war ganz Assisi auf den Beinen. Die Kirchenglocken läuteten und die Einwohner stürmten hinauf zur verhassten Burg. Leitern wurden an die Mauern gelehnt, so viele, dass die verdutzten Wachen kaum wussten, wohin sie zuerst laufen sollten, um die Eindringlinge abzuwehren. Schließlich sammelte sich die Festungsbesatzung über dem Haupttor und kämpfte verbissen um ihr Leben.
Franziskus näherte sich dem Dutzend Deutscher, die sich mit Schwerthieben und Dolchstreichen ihrer Haut erwehrten. Als er sah, wie Matteo einen von ihnen im Zweikampf immer näher an die Zinnen trieb und ihn schließlich mit einem Fußtritt in die Tiefe beförderte, als er das knochenknirschende Auftreffen des Körpers unten auf dem Felsen hörte, zog er sich zitternd zurück. Er sah, wie Luca einem Deutschen den Schwertknauf ins Gesicht schlug und ihm den Wangenknochen zertrümmerte, er sah, wie Samueles Vater von einem Deutschen die Hand abgehauen wurde. Die Schreie der Verwundeten wurden immer lauter. Die Deutschen waren kriegserprobt und nutzten jede Öffnung in der Deckung aus, um ihre Klingen ins Fleisch der Angreifer zu stoßen. Am Ende aber hatten sie keine Aussicht auf Erfolg. Bevor die Sonne sich vom Horizont gelöst hatte, starb der letzte Verteidiger.
Noch am selben Tag begannen sie, die Festungsmauern abzutragen. Mit Hacken, Meißeln und Schaufeln rückten sie ihnen zu Leibe, sie kratzten die Fugen frei, erweiterten die Schießscharten zu großen Löchern, stießen die Zinnen in die Tiefe und schleppten Steine fort. Das Tor wurde ausgehängt und weggetragen.
Franziskus schämte sich, dass er keinen einzigen Schwertstreich geführt hatte. Verbissen arbeitete er an der Zerstörung der Festung mit, bis ihm der Schweiß in Strömen über den Körper lief. Am Abend wählte die Stadtbevölkerung einen Vorsteher. Kein kaiserlicher Vogt sollte mehr über sie herrschen.
Das Schleifen der Festung forderte alle Kräfte, auch noch in den folgenden Wochen. Sie wussten: Wenn sie Konrad von Urslingen loswerden wollten, musste er sich bei seiner Rückkehr vor vollendete Tatsachen gestellt finden.
Aber obwohl Franziskus am Tag so hart arbeitete, schlief er nachts schlecht. Er träumte von den Todesschreien der Deutschen. Er sah sie von der Mauer in die Tiefe stürzen und wachte auf, nassgeschwitzt und keuchend vor Angst.
An einem heißen Nachmittag erschienen päpstliche Legaten und verlangten die Unterwerfung der Stadt. Vertreter Konrads von Urslingen begleiteten sie. Dort war er also gewesen, beim Papst. Der neue Stadtvorsteher und die Adligen Assisis lehnten die Forderung ab. Auch dem Papst wollten sie sich nicht fügen, sagten sie, schließlich seien sie gerade dem Maul des Wolfs entronnen, da wollten sie sich nicht gleich darauf in die Klauen des Fuchses begeben.
Die Legaten zogen sich erbost zurück, und die Stadtbevölkerung arbeitete nun jeden Tag daran, mit den herausgebrochenen Festungssteinen die Mauern Assisis zu erhöhen, um einer Belagerung besser standzuhalten.
Der Papst verhängte den Kirchenbann über die Stadt. Die Kreuze wurden verhüllt und die Kirchentüren fest verschlossen. Gottesdienste fanden nicht mehr statt. Als von der Festung nur noch ein Haufen Schutt übrig war, konnte Franziskus endlich wieder ruhiger schlafen. Die Bilder der Ermordeten verblassten.
Seine Freunde und er veranstalteten ein Fest, um den Sieg zu feiern. Wieder gab ihm der Vater großzügig das Geld dazu. Er sah es gern, dass Franziskus sich in den Kreisen der Adligen bewegte. „Da lernst du was“, sagte er. „Pass gut auf, wie sie sich die Welt untertan machen. Eines Tages mischst du ganz oben mit.“
Franziskus lud die hübschesten Frauen der Stadt ein. Eigentlich war es den jungen Frauen nicht erlaubt, zum Fest zu kommen, ihre Familien schimpften. Aber bei aller öffentlich zur Schau gestellten Strenge duldeten sie es doch, dass die Töchter hingingen. Man hoffte auf gute Partien. Den Mädchen gefiel es, mit den Männern zu turteln, sich umwerben lassen und in den hübschen blauen, grünen und weißen Kleidern gesehen zu werden. „Alles Stoffe von uns“, prahlte Franziskus.
Musiker spielten die Schalmei und die Laute. Franziskus tanzte, und der Tanz durchspülte ihn wie eine reinigende Wäsche. Sie tanzten den Tripudium und stampften die Füße fest auf den Boden, fest bei der Eins, leicht bei Zwei und Drei, im Daktylus.
Als er außer Atem war und sich wieder setzen musste, sah er einige Kinder, die sich an die Tafel mit den Speisen heranschlichen. Er sprang auf und verscheuchte sie. Eine Frechheit, ihnen die guten Pasteten zu stehlen! Er kannte diese Bengel, sie gehörten zu den zwei Familien, die sich von den Küchenabfällen seiner Familie ernährten. Auf ihren dünnen Beinen wirbelten sie davon.
Natürlich wusste er, dass Umbrien unter einer Missernte litt und die Preise für Getreide sich vervierfacht hatten. Aber man musste eben vorsorgen für solche Zeiten! Wer klug wirtschaftete, überstand auch eine Hungersnot. Die ärmere Bevölkerung war nur deshalb arm, weil sie faul war. Was taten die schon groß, um etwas an ihrem Unglück zu ändern? Sie hingen in ihren Lehmhütten vor den Stadtmauern Assisis herum, kochten Seife aus alten Knochen oder sammelten Brennholz, aber ihr Leben wirklich anzupacken und sich eine Zukunft zu erkämpfen, kam ihnen nicht in den Sinn.
In dieser Sache musste man Vater loben. Er kaufte mit Zähigkeit und Raffinesse Güter dazu, bald gehörte ihm mehr Land im Gebiet von Assisi als Favarone di Offreduccio, und der war adlig.
Dass er jetzt über die hungrigen Kinder nachdenken musste, machte ihn ärgerlich. Er streckte den Becher in die Höhe und brüllte: „Auf die Freiheit Assisis!“
Die Feiernden hoben ebenso ihre Becher und antworteten mit lauten Rufen. Dann begannen die Musiker ein neues Lied, und viele sprangen von den Bänken auf, um zu tanzen. Aus den Fenstern der Nachbarhäuser ertönte Protest, irgendwer rief etwas von schlafen. Franziskus und seine Freunde lachten nur.